Großbritannien soll für den Brexit zahlen

Während sich die EU-Staaten selber für ihre Härte gegen über einen Staat loben, der ein demokratisches Recht wahrnimmt, bekommen sie Unterstützung von linken Ökonomen

„Weniger als 15 Minuten dauerte das – manche behaupteten später gar, es wären weniger als 60 Sekunden gewesen, ein Gipfel-Rekord. Keiner scherte aus, die EU-27 demonstrierten Zusammenhalt.“ So wurde ein EU-Gipfel gefeiert[1], auf dem sich die EU-Staats- und Regierungschef über die Leitlinien der Verhandlungen mit Großbritannien verständigt haben.

Neben den berechtigten Anliegen, den Status von EU-Bürgern in Großbritannien und von Menschen mit britischem Pass im EU-Raum festzulegen, hat die EU finanzielle Ansprüche an London aufgestellt und kommt dabei auf die exorbitant hohe Summe von 60 Milliarden Euro. Dieser Punkt wird völlig nebulös als Vereinbarung über Verpflichtungen, die Großbritannien als EU-Mitglied eingegangen ist, bezeichnet. Warum aber ein Land, das aus dem Verein austreten will, dafür weiter zahlen soll, ist eine Frage, die sich sicher nicht nur in Großbritannien viele Menschen stellen. Hier handelt es sich eindeutig um ein Muskelspiel[2], um ein Mitglied für den Austritt zu sanktionieren.

Wenn darüber nicht diskutiert und die scheinbare Einigkeit noch in den Medien gefeiert wurde, ist das eine demokratische Bankrotterklärung. Während überall in den EU-Ländern die gemeinsame Basis bröckelt, die ungarische Regierung gerade eine rechtspopulistische Kampagne unter dem Motto „Stoppt Brüssel“ inszeniert, Polen wegen seines nicht Deutsch-EU konformen Rechtsstaatsverständnis unter Druck gesetzt wird, und die Frage, wie weiter mit der Erdogan-Türkei umzugehen ist, was die Unfähigkeit einer gemeinsame EU-Außenpolitik deutlich machte, soll nun an einem Mitglied, das durch eine demokratische Entscheidung für den Austritt votiert hat, exekutiert werden, was mit künftigen Nachahmern geschieht, die vielleicht auch auf die Idee kommen, dass es auch ein Leben außerhalb der EU gibt.

Austritt aus der EU ist kein Austritt aus Europa

Wobei hier gleich klar gestellt werden muss, dass es hier um ein Abwenden der von Deutschland dominierten EU geht und nicht um einen Austritt aus Europa, was immer das sein soll. Selbst wenn sich ein Staat entscheiden sollte, bessere Beziehungen mit Russland einzugehen oder auch nur eine Neutralitätspolitik zwischen Russland und dem Deutsch-EU-Block favorisiert, so mag das politisch kritikabel sein, ein Austritt aus Europa ist es aber mitnichten.

Es war die deutsche Rechte, die Russland schon vor dem 1. Weltkrieg aus Europa raus drängen wollte und dieses Projekt im 2. Weltkrieg blutig durchzusetzen sich anschickte. Die besiegten Nazis gerierten sich im Kalten Krieg als Vorkämpfer des europäischen Abendlandes gegen den Bolschewismus – und nachdem auch der besiegt ist, wird wieder auf die Kampagne vor 100 Jahren zurückgegriffen. Aber nicht nur Russland ist im Visier der Deutsch-EU, was Großbritannien nun erfahren muss.

Auf neun Seiten geben die Regierungschefs vor, wie der Brexit abgewickelt wird – und zwar knallhart, ohne Rücksicht auf britische Sonderwünsche wie zum Beispiel parallele Gespräche über die Zeit nach dem Brexit. EU-Ratspräsident Donald Tusk stellte klar: Phase eins der Gespräche werde sich um drei – und nur drei – Themen drehen: „Bevor es um die künftige Beziehung zu GB geht, müssen wir erst ausreichend Klarheit bei Bürgerrechten, den Finanzen und der Grenze in Irland haben.“ Und wer bestimmt, was „ausreichend“ heißt? Auch da seien die Brexit-Leitlinien der EU deutlich, so Tusk: „Es wird eine einstimmige Entscheidung der Regierungschefs der EU-27 sein“ – also ohne Großbritannien.

Polen – zwischen Deutschlandschelte und Anpassung

Nun ist erst einige Wochen her, dass dieser Tusk eine kleine Krise in der EU ausgelöst hat. Die nationalkonservative Regierung wollte eine erneute Nominierung des Ratspräsidenten aus Polen verhindern und bot sogar einen chancenlosen Gegenkandidaten auf. Offiziell wurden Strafverfahren in Polen als Grund genannt, doch eigentlich handelte es sich um einen Streit zwischen der deutschlandkritischen und der prodeutschen Rechten in Polen. Tusk gehört zu letzterer und die gegenwärtige Regierung hat denn auch kräftig gegen „Merkels Mann in Brüssel“ gewettert. Polnische Regierungsvertreter zeterten nach Tusks Wiederwahl gar über ein „Diktat aus Berlin“[3].

Nun könnte man denken, dass diese polnische Regierung nun Deutsch-Europa bremst, wenn es um die Bestrafung Großbritanniens wegen des Brexits geht. Tatsächlich gab es solche Signale aus Warschau. Weil viele polnische Arbeitsmigranten, die in Großbritannien leben, betroffen waren, hatte die Regierung in Warschau auf einen Kompromiss unter der Bedingung gedrängt, dass die polnischen Arbeiter nicht zum Faustfand werden

Tatsächlich sah die nationalkonservative Regierung in den britischen Konservativen, mit der sie in derselben Parlamentsfraktion war, politische Verbündete gegen die deutsche Hegemonie. Daher war der Brexit für sie besonders schmerzlich, weil es auch ein politischer Rückschlag im Machtkampf innerhalb der EU bedeutete. Die Art, wie die polnische Regierung von den EU-Verantwortlichen für ihre Opposition gegen die erneute Kandidatur von Tusk behandelt wurde, machte den Regierenden in Warschau aber auch klar, wo die Macht in der EU liegt. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass es von Warschau keine Opposition gegen den harten Kurs der Deutsch-EU bei den Austrittsgesprächen gibt. Doch wie weit die Einigkeit reicht, muss sich noch zeigen.

Das gilt auch für die nationalkonservative ungarische Regierung, der auch schon von der Deutsch-EU-freundlichen Presse vorgeworfen[4] wurde, der EU in den Rücken zu fallen. Die ungarische Regierung wollte eine Regelung für die Arbeitsmigranten in Großbritannien und sei dafür zu Zugeständnissen gegenüber London auf anderen Gebieten bereit, hieß es da. Deshalb darf der aktuelle Verhandlungstext mit der harten Haltung gegenüber Großbritannien auch nicht überbewertet werden. Dass es keine strittige Diskussion gab, könnte auch ein Zeichen dafür, dass der Streit erst beginnt, wenn es um Grundsätzliches geht. Dann dürfte der Risse im deutsch-europäischen Block noch deutlich werden.

Allerdings darf natürlich nicht übersehen werden, dass es auch politische Gemeinsamkeiten der polnischen und ungarischen Regierung mit dem deutsch-europäischen Block gab und gibt, wenn es um die Durchsetzung der Austeritätspolitik beispielsweise gegen die Länder der europäischen Peripherie geht. Gemeinsam hatten sie ein Interesse daran, jegliche Versuche, ein sozialeres Europa aufzubauen, im Kein zu ersticken. Die Töne gegen die Syriza-Regierung aus Warschau und Budapest waren teilweise noch harscher als die aus Berlin. So gibt es hier gemeinsame Interessen, die stärker sind, als die Zerwürfnisse innerhalb der EU. Es wird sich nun zeigen, ob es diese gemeinsamen Interessen auch bei der Verhandlungsstrategie gegenüber Großbritannien gibt.

„Die Briten sollen sich warm anziehen“

Auf Reformlinke wie den Ökonomen Rudolf Hickel[5]) kann sich die Bundesregierung bei ihren harten Kurs gegenüber Großbritannien auf jeden Fall verlassen. Der sieht in einem Interview[6] der harten Linie der Deutsch-EU gegenüber Großbritannien als Erziehungsfaktor.

Das war ja auch eine klare Aussage, da ist viel mit Populismus operiert worden, die Menschen wussten gar nicht so richtig, was sie da entscheiden, und jetzt in den Austrittsverhandlungen werden eigentlich erst mal die ökonomischen, sozialen Konsequenzen und die fiskalischen Konsequenzen des Austritts in Großbritannien jetzt richtig erst mal auch bekannt. Und ich setze einfach darauf, dass es so was gibt wie eine Gegenbewegung, dass man merkt – bei den jungen Leuten haben ja eh schon gegen den Brexit gestimmt – dass man da merkt, man hat eine Entscheidung getroffen, die ist katastrophal.
Rudolf Hickel

Damit jeder begreift, was Hickel damit meint, erklärt es noch mal:

Und deshalb würde ich immer sagen, die Verhandlungen müssen so geführt werden, dass es offen bleibt, dass der gesamte Prozess offen bleibt – jetzt nicht in Artikel 50, sondern Artikel 49, wie tritt man wieder ein in die EU – den immer offen zu lassen, um die Diskussion hierhin zu führen.
Rudolf Hickel

Der ewige Sozialdemokrat Hickel, der auch für einige Zeit mal als der Linkspartei nahestehend galt, erklärt hier unumwunden, die Menschen in Großbritannien, die die aus seiner Sicht falsche Entscheidung gefällt hätten, wären unwissend gewesen. Wenn ihnen nun die Konsequenzen durch besonders rigide Austrittsverhandlungen vor Augen geführt werden, könnten sie doch noch reumütig darum bitten, wieder in den erlauchten EU-Club aufgenommen zu werden. Da hat selbst der Moderator noch einmal nachgefragt:

„Müller: Herr Hickel, ich muss da mal nachhören: Sie sagen Opportunismus der britischen Premierministerin. Halten Sie das für opportunistisch, wenn demokratische Entscheidungen konsequent umgesetzt werden?

Hickel: Ja, ich halte es insoweit für opportunistisch, weil sich jetzt ja die Frage nicht mehr stellt. Generell, das würde ich dann akzeptieren als Entscheidung, aber schweren Herzens natürlich, aber jetzt, wie die Verhandlungen geführt werden, jetzt, was die Forderungen, die jetzt gestellt werden von Theresa May, um das Ganze auch sozusagen für die Briten wieder einigermaßen attraktiv zu machen, das ist für mich Machtpolitik und Opportunismus, und das geht natürlich nicht.“
Eher eine Mafia als eine demokratische Organisation

Der Regierungslinke Hickel gibt hier ein gutes Beispiel des Demokratieverständnisses der Eurokraten. Er spricht von „ökonomischen, sozialen Konsequenzen und die fiskalischen Konsequenzen des Austritts“, wenn er das von der Deutsch-EU formulierte Diktat meint, mit dem mögliche Nachahmer eines Austritts abgeschreckt werden sollen. Damit suggeriert Hickel, es handele sich um ökonomische, politische und fiskalische Naturgesetze und nicht um durch politische Machtverhältnisse diktierte Vorgaben.

Genauso haben Schäuble und Co. vor zwei Jahren gegen die griechische Regierung argumentiert, als sie das Austeritätsdiktat trotz Wahlen und eines Referendums exekutierten. Damals gehörte Hickel zu den prononcierten Kritikern der deutsch-europäischen Politik. Im Fall von Großbritannien gehört er zu den Epigonen des Machtblocks. Er macht das ganz klar deutlich:

Erst mal ist es so, sie geht zurzeit sehr konfrontativ vor, und das muss sie auch, weil natürlich immer sozusagen die Drittwirkungen bedacht werden müssen. Was mit Großbritannien passiert, hat am Ende natürlich auch eventuell Folgen für Länder, die beispielsweise Ähnliches vorhaben.
Rudolf Hickel

Nur könnten sich Hickel und die anderen Eurokraten mit ihrem Kalkül verrechnen. Denn eine Organisation, die zunächst gar keine Ausstiegsmechanismen hat und dann eine Austrittsverhandlung zur Schocktherapie macht, könnte in den Ruf geraten, sie handele im Grunde nicht wie eine demokratische Organisation, in der sich Staaten gleichberechtigt und auf Zeit zusammenfinden und jederzeit wieder trennen können. Strafen bei Austritt erinnern hingegen eher an die Mafia als an eine demokratische Organisation.
https://www.heise.de/tp/features/Grossbritannien-soll-fuer-den-Brexit-zahlen-3700648.html

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.tagesschau.de/ausland/eu-brexit-verhandlungen-105.html
[2] http://www.focus.de/politik/ausland/brexit-gipfel-in-bruessel-betont-einig-die-eu-laesst-vor-den-brexit-verhandlungen-die-muskeln-spielen_id_7052071.html
[3] http://www.tagesspiegel.de/politik/europaeische-union-polen-nennt-tusks-wiederwahl-ein-diktat-aus-berlin/19497378.html
[4] http://www.pesterlloyd.net/html/1716brexithungary.html
[5] http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2017/04/01/stoppt-bruessel-ungarns-regierung-startet-kampagne-gegen-eu/
[6] http://www.deutschlandfunk.de/brexit-gipfel-der-eu-das-ganze-muss-bis-zum-bitteren-ende.694.de.html?dram:article_id=384946