Fast drei Jahrzehnte war Trend-Infopartisan auch ein Medium, in dem Kritik an Staat, Kapital und Nation zu lesen war, die man sonst kaum wo findet. Immer wieder finden sich auch in Büchern Beiträge vom Trend als Quelle. Das wird bleiben, auch wenn es bald keine neue Trend-Ausgabe mehr gibt. Er wird fehlen.

Linke zwischen Pessimismus und Reformillusionen

Während außerparlamentarische Linke eine Demo absagen, weil ein Tagesspiegel-Journalist einen Tweet absetzt und Ex-Linksradikale aus Leipzig wie SPD-Politikberater*innen klingen, haben Danila Dahn und Rainer Mausfeld keine Hoffnung in die Reformfähigkeit des Kapitalismus

Am 31. Dezember wird es keine linke Demonstration für ein solidarisches 2021 geben. Daher entfällt auch die am 20. Dezember angekündigte Klage gegen das im Zuge der Coronaschutzmaßnahmen erlassene Demonstrationsverbot am 31. Dezember und 1. Januar. Dass es dabei nicht um Gesundheitsschutz ging, zeigt sich ja bereits daran, dass am 30. Dezember und am 2. Januar wieder demonstriert werden kann. Man will nur übers Jahresende, wo es in den vergangenen Jahren immer auch unkontrollierte Aktionen oft im vorpolitischen Raum gab, Ruhe auf den Straßen haben. „Das pauschale Verbot aller Versammlungen an Silvester und Neujahr ist ein schwerer Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, das auch nicht mit Infektionsschutz begründet werden kann“, begründete Bündnissprecher Kim Huber noch am 20. Dezember die angekündigte Klage. Doch zwei Tage später folgte eine kurze Pressemeldung mit ganz anderen Inhalt: ….

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Die Corona-Krise macht die Konkurrenz der Nationalstaaten in der Union überdeutlich. Die europäischen Werte sind nur moralische Politur

EU in der Hegemoniekrise

So ist es wichtig, die EU nicht als linke Utopie zu begreifen, sondern als Zusammenballung von kapitalistischen Nationalstaaten mit gleichen und unterschiedlichen Interessen und einem Machtgefälle, das es sich mit sich bringt, dass unterschiedliche Staaten ihre Interesse unterschiedlich stark einbringen und durchsetzen können.

Ein großer Moment für Europa, der beispiellos in der Geschichte ist. Mit solchen Superlativen wird das Vorhaben der EU-Kommission bezeichnet, 750 Milliarden als sogenannte Aufbauhilfe vor allem in Länder der europäischen Peripherie zu investieren, die, so die gängige Erzählung, besonders hart von der Corona-Krise betroffen sind.  Nun sind es nicht nur die EU-Funktionäre, an der Spitze die konservative von Deutschland oktroyierte von der Leyen, die hier mit markiger Propaganda Stimmung machen. Auch die keynesianistische Taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Hermann ….

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Ist Rassismus oder Ausländergewalt in Chemnitz das Problem?

Die Ereignisse der letzten Woche zeigten auch die fatale Schwäche einer linken Position

„Giffeys Besuch führt sie als erstes zu dem Tatort“, titelt Die Welt [1] über den Chemnitz-Besuch der Bundesfamilienministerin, die als erstes Mitglied der Bundesregierung in die sächsische Stadt gereist ist, seit sie im Brennpunkt steht. Doch was war die Ursache? Und was ist der Tatort?

Darüber tobt seit einer Woche der Streit, nicht nur in den Medien und sozialen Netzwerken, sondern auch auf Chemnitz Straßen. Das zeigte sich auch beim Giffey-Besuch: Im Welt-Artikel war der Tatort die Stelle in der Brückenstraße, wo ein Mann nach einer Messerattacke verblutet ist.

In anderen Meldungen wurde hervorgehoben, dass die Ministerin die Stadt besuchte, die in den vergangenen Tagen wegen rechter Demonstrationen in die Schlagzeilen geraten ist. Tatsächlich hat sich beides in den letzten Tagen in Chemnitz zugetragen. Doch seit einer Woche tobt der Streit, was das zentrale Problem in Chemnitz ist.

Von der Bürgerrechtlerin zur rechten Bürgerin

Da stehen sich zwei Lager gegenüber, die nicht so einheitlich sind, wie es den Anschein hat. Da ist das konservativ-nationalistische Lager, das die Grenzen in Deutschland dicht machen will und sich durchaus eine Art Orbán-Regierung für Sachsen wünscht. Dort sind Grenzen dicht und der christliche Bezug wird dort nicht über die Bergpredigt und das Kirchenasyl, sondern über das sogenannte „christliche Abendland“ definiert, das sogar bei manchen Ex-Linken heute auf Sympathie stößt.

Innerhalb dieses national-konservativen Spektrums tummeln sich Personen aus verschiedenen rechten Zirkeln. Erklärte Neonazis sind dabei aber nicht die Mehrheit. Manche, wie der PI-News Autor Michael Stürzenberger, der einen prowestlichen Rechtskonservatismus im Sinne der CSU unter F.J. Strauß mit einer klaren Islamfeindschaft kombiniert, bezeichnet die offenen Neonazis als „Linksnationalisten“ und fordert sie auf, ihre eigene Demonstrationen zu organisieren.

Andere aus dem rechtskonservativen Lager haben keine Probleme, mit offenen Neonazis zu demonstrieren. So setzt sich mit den Ereignissen in Chemnitz nur eine Entwicklung fort, die nicht erst 2015 mit der Zunahme der Migration einsetzte.

Seit mehr als 10 Jahren demonstrieren sogenannte konservative Bürger gemeinsam mit organsierten Neonazis gegen den Bau einer Moschee wie in Berlin-Heinersdorf, gegen Flüchtlingsunterkünfte und dann eben bei den Montagsdemonstrationen und Pegida.

Eigentlich aber reicht die Kooperation zwischen Neonazis und rechten Bürgern bis in den Herbst 1989 zurück, als aus der Parole der linken DDR-Opposition „Wir sind das Volk“ das nationalistisch „Wir sind ein Volk“ geworden ist.

Zwei der bekannten Bürgerrechtlerinnen, die heute die Sorgen der rechten Bürger teilen, sind Vera Lengsfeld [2] und Angelika Barbe [3]. Doch wie sie sehen auch andere ehemalige DDR-Bürgerrechtler in Pegida und Co. eine Fortsetzung der Demonstrationen vom Herbst 1989 in der DDR und meinen das positiv. Das hat Vera Lengsfeld in ihrer in national-konservativen Kreisen viel diskutierten Medienschelte „Die Hetze gegen das Volk“ [4] klar formuliert:

Den Anfang machte Bild mit einer Berichterstattung, die alle Regeln eines seriösen Journalismus verletzt. „Rechte ziehen durch Chemnitz“, titelt das Blatt und zieht dann vom Leder: 1000 Menschen, darunter viele Rechte, hätten sich am Sonntagnachmittag versammelt. Sie skandierten „Wir sind das Volk“. Der Ruf der Friedlichen Revolution von 1989 wird so en passant zum „rechten“ Slogan erklärt.

Vera Lengsfeld

Damit blamiert sie allerdings die vielen Grünen und Linksliberalen, die die DDR-Bürgerrechtler als die neuen Demokraten missverstanden hatten und jeglichen Vergleich mit den Rechten als SED-Propaganda bekämpften.

Es waren nur wenige schlaue Linke auch in der BRD, wie der Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremlitza [5], die von Anfang an nicht an die Erzählung von den großen Demokratiepotentialen der Bürgerrechtsbewegungen in der DDR glaubten und das völlig unabhängig davon, wie man das DDR-System einschätzte.

Daher ist es umso erstaunlicher, dass manche ehemals deutschlandkritische Linke wie der Rote Salon Leipzig [6] in dem Bemühen, Anschluss an die liberale Moderne zu finden, fast all ihre früheren Erkenntnisse dementieren und sowohl den Anschluss der DDR als auch den Jugoslawienkriege nachträglich verteidigen.

Weltoffen für den Wirtschaftsstandort Deutschland oder für die Menschenrechte?

Aber auch das sogenannte liberal-weltoffene Lager, das sich im Streit um die Interpretation der Ereignisse von Chemnitz in der letzten Woche den Rechten entgegenstellte, ist keineswegs homogen. Da finden sich viele, denen es um den Erhalt von Menschenrechten geht, manche sehen hierin die Voraussetzung für weitergehende linke Utopien.

Doch auch Wirtschaftsliberale, die wissen, dass die deutsche Wirtschaft schon mittelfristig Arbeitsplätze braucht, heißen natürlich Migranten willkommen. Da wird auch schon geklagt, dass die Negativpresse über Chemnitz die Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 [7] gefährden könnte.

Einer derjenigen, der diese Bewerbung unterstützt, wird in der Taz als parlamentarischer Vertreter des weltoffenen Chemnitz bezeichnet: der Unternehmer Lars Fassmann [8]. Fassmann hat auch nichts dagegen, als Gentrifizierer bezeichnet zu werden, was dann in der Taz als „Räume besetzen“ [9] umschrieben wird.

Was aber nicht nur in der Auseinandersetzung um Chemnitz fehlt, ist eine linke staats- und kapitalismuskritische Position, bei der eben „weltoffen“ nicht zum Synonym für Gentrifizierung wird. Es ist dann nicht ausgeschlossen, dass es zwischen einer solchen eigenständigen antagonistischen Position und der liberalen Fraktion in bestimmten Fragen Kooperationsmöglichkeiten gibt.

Aber das würde bedeuten, dass eine Linke erst einmal eigenständig wahrnehmbar ist. Das Fehlen einer solchen Position lässt sich am Beispiel Chemnitz in den letzten Tagen gut beobachten. Da fragt die liberale Taz, die Polizeieinsätze gegen Demonstrationen sonst heftig kritisiert, warum in Chemnitz nicht Polizei aus anderen Bundesländern angefordert wurde – was inzwischen auch geschehen ist.

Linke sollten nicht die Position des Staatsschutzes übernehmen

Es ist natürlich völlig berechtigt, darauf hinzuweisen, mit welchem Polizeiaufgebot die Staatsmacht im letzten Jahr gegen eine Antifa-Demo in Wurzen [10] vorgegangen ist. Doch das kann aus einer linken und eigentlich auch aus einer liberalen Perspektive nicht dazu führen, dass nun beklagt wird, dass nicht auch in Chemnitz SEK eingesetzt wird.

Auch die Titulierung der Chemnitzer Demonstrationen als „Aufmärsche“ oder „Aufzüge“ ist zu hinterfragen. Solche Begrifflichkeiten werden in der Regel bei Demonstrationen angewandt, die den liberalen Rahmen, den die Staatsmacht wünscht, überschreiten. Dabei nehmen erst einmal Menschen mit unterschiedlicher politischer Gesinnung ein Demonstrationsrecht wahr. Es ist für eine Linke klar, dass sie sich gegen rechte Positionen auf der Straße wendet, auch mit Gegendemonstrationen und Blockaden.

Es ist aber nicht sinnvoll, sich dabei auf die Position einer Polizeibehörde zu begeben, die solche Demonstrationen möglichst ganz verhindern will. Dabei sollte man auch die Taktik der Überskandalisierung hinterfragen. Die harten Polizeieinsätze gegen linke Demonstrationen werden dadurch vorbereitet, indem wochenlang vor Gewalt gewarnt wird wie im Vorfeld von Wurzen [11].

Es sind vor allem diese rechten Bürger, die jetzt in Chemnitz auf die Straße gehen, die dann harte Hand gegen die Linke fordern. Nun sollten diese nicht den Fehler machen, eine ebenso harte Hand gegen die Rechte zu fordern. Und es ist auch noch eine illusionäre Forderung, weil repressive Staatsorgane strukturell rechts sind, was sich auch an Polizeieinsätzen gegen Punks und Unangepasste in der DDR zeigte.

Jetzt also die Staatsmacht aufzufordern, sie solle doch jetzt mal genau so hart gegen Rechte wie gegen Linke vorgehen, zeugt von der Schwäche der Linken. Da hilft es auch nicht, wenn man dann besonders drastische Begriffe für die Zustände in Chemnitz benutzt und von „Pogromen“ auf den Straßen der Stadt spricht.

Damit wird man auch den Opfern von tatsächlichen Pogromen in der Vergangenheit und Gegenwart nicht gerecht. Vor allem besteht die Gefahr, dass durch solche alarmistischen Meldungen die Sensibilität für reale Probleme sinkt. Denn manchen, die in den letzten Tagen in Chemnitz auf der Straße waren, sind solche Gedanken durchaus zuzutrauen.

Der geleakte Haftbefehl

Das Fehlen einer linken Position wurde auch bei dem geleakten Haftbefehl [12] deutlich. Was auch immer das Motiv des verantwortlichen Justizangestellten gewesen ist, im Sinne der Transparenz von staatlichen Akten ist nicht einzusehen, warum solche Dokumente geheim bleiben sollen.

Es geht dabei nicht um den Schutz des Verdächtigten, sondern um Staatsschutz. Daran sollte sich eine Linke nicht beteiligen. Die Rechte kann daraus nur Vorteile ziehen, weil scheinbar alle Anhänger des weltoffenen Lagers hier die Staatsraison verteidigen. Dabei kann mit dem Haftbefehl, die in rechten Netzwerken verbreitete Story von den 25 Messerstichen widerlegt werden können, die zur Emotionalisierung der rechten Klientel diente.

Das aber bedeutet nicht, die tödlichen Stiche irgendwie zu relativieren oder unter den Tisch zu kehren. Auch hier konnte das rechte Lager von den Fehlern der anderen Seite profitieren. Anfangs schien der Tote fast nur eine Fußnote und die rechten Demonstrationen standen im Mittelpunkt für das weltoffene Lager. Die Rechte konnte dann noch damit punkten, dass das Opfer einen kubanischen Vater hatte und man so kein Rassist sein könne.

Warum konnte die Ablehnung der rechten Demonstrationen auf Seiten der Gegner nicht verbunden sein mit einer Kritik an den zuweilen toxischen Männergruppen, die dann auch Tote in Kauf nehmen?

Dabei sollten ausdrücklich keine ethnischen Zuschreibungen gemacht werden. Die Täter handelten nicht als Syrer, Iraker etc., sondern als Individuen in konkreten Lebenssituationen. Wieweit dabei Prägungen in ihren Heimatländern, auf der Flucht oder bei ihrem Leben in Deutschland eine Rolle spielen, muss Gegenstand von weiteren Ermittlungen sein.

Zwangshomogenisierung unterschiedlicher Wirklichkeiten

Doch schon jetzt ist klar, dass die Zwangsunterbringung von Migranten an Orten, wohin sie nie wollten, solche Taten eher fördern als verhindern, weil damit auch eine Zwangshomogenisierung völlig unterschiedlicher Individuen verbunden ist, die nur eines gemeinsam haben: Dass sie aus dem gleichen Land oder der gleichen Region geflohen sind.

Die Gründe dafür sind so unterschiedlich wie ihre Lebensrealitäten. Da können ehemalige syrische IS-Kämpfer und ihre Opfer im deutschen Flüchtlingsheim zwangsweise zusammen treffen. Der Kampf gegen diese Zwangshomogenisierung der Migranten müsste ebenso Teil einer linken Praxis „nach Chemnitz“ sein wie die Abwehr der Romantisierung von Flucht und Migration, wie sie in Teilen der Refugees-Welcome-Bewegung anzutreffen war.

Jenseits von rassistischen Ressentiments und Verklärung

Der preisgekrönte Film Global Family [13], der noch bis 3.9. in der Arte-Mediathek [14] abgerufen werden kann, bietet ein solches Bild jenseits von rassistischen Ressentiments und Verklärung. Am Beispiel einer somalischen Familie wird gezeigt, wie auch innerhalb der Familie selbst gegen eine 90-Jährige Gewalt ausgeübt wird. Man will den Wunsch der alten Frau unterstützen, in Deutschland, wo einer ihrer Söhne lebt, ihre letzten Jahre zu verbringen und bekommt Wut auf die Verhältnisse, die das verhindern.

Man bekommt aber auch einen Grimm auf ihren Sohn, der lieber sein ungebundenes Leben weiterführen will, als seiner Mutter ihren Herzenswunsch zu erfüllen. Denn die Übersiedlung der Mutter nach Deutschland scheitert im Film zumindest daran, dass er keine geregelte Arbeit und auch keine geeignete Wohnung für sie nachweisen konnte.

Nun hätte man annehmen können, dass so ein Nachweis mit etwas Anstrengung hätte beigebracht werden können. Es ist nur eins von vielen Beispielen, wo man sich einen differenzierten Blick wünscht. Das ist die Voraussetzung, dass eine Linke auch wieder Mehrheiten in der Bevölkerung gewinnen kann.

Momentan ist da in Chemnitz wenig Hoffnung. Die Teile der Bevölkerung, die für eine Orbanisierung Deutschlands eintreten, sind nicht offen für linke Themen und da kann sie sich auch alle Versuche sparen.

Doch die Linke soll sich vorbereiten auf Situationen, in denen die Zumutungen der kapitalistischen Gesellschaft auch durch die Ethnisierung des Sozialen und Politischen nicht zugekleistert werden können.

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4152859
https://www.heise.de/tp/features/Ist-Rassismus-oder-Auslaendergewalt-in-Chemnitz-das-Problem-4152859.html

Peter Nowak

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article181372086/Familienministerin-in-Chemnitz-Giffeys-Besuch-fuehrt-sie-als-Erstes-an-den-Tatort.html
[2] https://vera-lengsfeld.de
[3] https://www.cicero.de/taxonomy/term/2653
[4] https://vera-lengsfeld.de/2018/08/28/die-hetze-gegen-das-volk/
[5] https://konkret-magazin.de/start/gremlizas-kolumne.html
[6] http://roter-salon.conne-island.de/abschied-ohne-traenen-warum-sich-die-linke-angesichts-der-krise-des-westens-so-ungeruehrt-zeigt/
[7] http://www.chemnitz2025.de/
[8] https://www.brandeins.de/corporate-publishing/sachsen-machen/der-leise-visionaer
[9] http://www.taz.de/!5529389/
[10] https://www.mdr.de/sachsen/leipzig/demo-in-wurzen-nach-ausschreitungen-100.html
[11] http://www.lvz.de/Region/Wurzen/Wurzen-zwischen-Angst-und-Resignation-Polizei-zeigt-Praesenz-vor-Antifa-Demo
[12] https://www.tagesspiegel.de/politik/sachsen-geleakter-haftbefehl-justizbeamter-stellt-sich-ermittlungen-gegen-abgeordnete/22976240.html
[13] http://www.max-ophuels-preis.de/programm/film_detail/movie-5a37dd3da1679
[14] https://www.arte.tv/de/videos/058915-000-A/global-family/

Nach dem Rausch der Revolte

Die Ereignisse in Hamburg hatten weniger mit klassischer autonomer Politik zu tun, sie hatten einen insurrektionalistischen Charakter. Die radikale Linke sollte sich mit der Frage befassen, wie Widerstand in die Gesellschaft zu tragen ist.

»Beim Streik herrscht Disziplin. Der Riot hingegen ist spontan und chaotisch – die führende Rolle haben nicht die Arbeiter, sondern das von Marx verachtete Lumpenproletariat.« Joshua Clover, »Riot. Strike. Riot: The New Era of Uprisings«

»Rote Karte für den schwarzen Block! Linksterror stoppen«, steht auf einem Wahlplakat, mit dem sich die rechtspopulistische AfD als law and order-Partei profilieren will. Doch damit unterscheidet sie sich kaum von der großen Koalition von CDU/CSU, FDP und SPD, die nach den militanten Auseinandersetzungen beim G20-Gipfel wieder einmal die letzten Reste von politischem Widerstand bekämpft. Nicht nur linke Zentren wie die Rote Flora in Hamburg sollen kriminalisiert werden. Auch alle, die sich mit der Roten Flora solidarisieren, geraten schnell ins Visier staatlicher Repression. Das kann das Hamburger Gängeviertel ebenso treffen wie das linke Zentrum »Faites votre jeu!« und das Café Exzess in Frankfurt am Main. Obwohl die Drohungen nicht bedeuten, dass Räumungen vollzogen werden – schließlich besitzen viele der bedrohten linken Einrichtungen gültige Verträge –, erinnert die Hetze gegen vermeintliche oder tatsächliche Sympathisanten der Roten Flora an die Kampagne, mit der sich im Deutschen Herbst 1977 fast alle auf die Seite der Staatsmacht stellten.

Der Insurrektionalismus ist keineswegs eine neue Modeströmung und auch nicht unpolitisch, wie viele Linke kritisieren.

Gerade Linke sollten diesem Distanzierungswahn widerstehen und sich nicht mit der Staatsmacht gemein machen oder gar in ein Loblied auf den Rechtsstaat einstimmen, wie es der Rote Salon des Leipziger Conne Island in dieser Zeitung schon vor dem G20-Gipfel getan hat. Da kann man der Berliner Gruppe TOP nur zustimmen, die in ihren Disko-Beitrag vergangene Woche schrieb: »Wer tatsächlich im Rechtsstaat ›den Fluchtpunkt restlinker Vernunft‹ (Roter Salon) sieht, hat die bei Marx und Adorno gelernten Einsichten über die immanente Gewalt des bürgerlichen Staates in den Wind geschlagen.«

Ebenso verfehlt ist es, wenn Lars Quadfasel in einem Beitrag für die aktuelle Ausgabe der Monatszeitschrift Konkret »sich als neostalinistische Ghettokids gebärdende Grüppchen« für die Riots verantwortlich macht, als hätte er die Militanten von Hamburg vorher einem Ideologiecheck unterzogen. Die kleinen ML-Gruppen werden sich freuen, von ihren politischen Kontrahenten eine solche Aufwertung zu erfahren.

Manche Kommentatoren der Hamburger Krawalle haben zumindest erkannt, dass das Konzept der Ereignisse in Hamburg nicht neo- oder altstalinistisch, sondern insurrektionalistisch ist. Damit ist eine wachsende Tendenz innerhalb der anarchistischen Strömung vieler europäischer Länder gemeint, die auf die Taktik des permanenten Aufstands setzt. Der Insurrektionalismus ist keineswegs eine neue Modeströmung und auch nicht unpolitisch, wie viele Linke kritisieren. Es wäre aber auch verfehlt, ihn einfach unter die klassisch autonome Politik der vergangenen Jahrzehnte zu subsumieren. Vor allem die Absage an jegliche politische Vermittlung und das Fehlen von Forderungen jeglicher Art unterscheidet den Insurrektionalismus von der klassischen Politik der Autonomen.

So wollten beispielsweise militante AKW-Gegner mit ihren Aktionen in den späten siebziger und achtziger Jahren ganz konkret die Stilllegung der Meiler beschleunigen beziehungsweise den Bau von Atomanlagen verhindern. Sie wurden von der autonome Publikation Wildcat damals polemisch als »bewaffneter Arm der Grünen« bezeichnet. Später wollten Autonome mit militanten Aktionen den Preis für Häuserräumungen in die Höhe treiben oder die Rodung von Bäumen etwa im Hambacher Forst verhindern. Die Praxis der Insurrektionalisten ist also auch eine Zäsur in der heterogenen autonomen Bewegung, denn es geht dabei nicht mehr darum, bestimmte Forderungen, wie die Abschaltung der AKWs, militant durchzusetzen.

Doch diese Praxis hat Vorläufer in der Geschichte. So begann in Frankreich nach der Zerschlagung der Pariser Kommune eine Serie von Attentaten auf Politiker, Unternehmer, aber auch auf Cafés und Restaurants, in denen sich das wohlhabende Bürgertum traf.

Der linke US-amerikanische Theoretiker Joshua Clover prognostizierte in seinem vergangenes Jahr erschienenen Buch »Riot. Strike. Riot: The New Era of Uprisings« eine Zeit der immer stärker aufflammenden Riots. Wobei der Riot bei Clover nicht gleichzusetzen ist mit gezielten Sachbeschädigungen oder dem Gekabbel mit der Polizei. »Er umfasst eine ganze Reihe von Aktivitäten wie Sabotage, Unterbrechungen, Diebstahl, Störungen und Haus- und Platzbesetzungen«, ist in der Übersetzung des Bloggers Achim Szepanski (non.copyriot.com) zu lesen.

Clover stellt eine Verbindung zwischen dem Wiedererstarken der insurrektionalistischen Strömung und dem Ende der fordistischen Arbeitsgesellschaft in den siebziger Jahren her. Das Ende dieser spezifischen Produktionsbedingungen sei durch regionale Deindustrialisierung und eine wachsende Bedeutung von »Kapitalbewegungen in der Zirkulation« gekennzeichnet gewesen, womit er die Ausdehnung des Dienstleistungs- und Verwaltungssektors beschreibt. Clover ordnet Streiks der Phase der fordistischen Produktion zu und die Riots der Zeit, in der der Fordismus an Bedutung verloren hat.
»Der Streik ist eine kollektive Aktion, die sich um den Preis der Arbeitskraft und bessere Arbeitsbedingungen dreht, während der Aufstand den Kampf um die Preise und die Erhältlichkeit von Marktgütern inkludiert«, fasst Szepanski die von Clover in dessen Buch vertretenen Thesen zusammen. Bis heute suchte der als Übersetzer arbeitende Szepanski vergeblich nach einem deutschen Verlag für Clovers Buch. Eines von Clovers wenigen Interviews in einer deutschsprachigen Zeitung gab er der Jungle World vergangenes Jahr. Doch formulierte er einige Thesen, die nach den Riots von Hamburg eine neue Bedeutung bekommen haben. In dem Interview ordnet Clover den Insurrektionalismus historisch ein: »Die Ära des sozialistischen Kampfes wird identifiziert mit dem Aufstieg der industriellen Produktion – und der Streik geht damit einher. Gerade die großen Theoretiker des Sozialismus erheben den Streik zur Idealform des Kampfes im Gegensatz zum Riot. Beim Streik herrscht Disziplin. Der Riot hingegen ist spontan und chaotisch – die führende Rolle haben nicht die Arbeiter, sondern das von Marx verachtete Lumpenproletariat. Der Streik ergab also in der Zeit des Industriekapitalismus vor dem Hintergrund derselben Strukturen Sinn, die den klassischen sozialistischen Horizont ausmachten. Demnach sollte die organisierte Partei des Proletariats die Staatsmacht ergreifen, um jenes Übergangsregime zu errichten, in dem der Staat dann abstirbt.«

Mit dem Niedergang der fordistischen Arbeiterklasse und ihrer Organisationen und Parteien hat Clover zufolge die neue Ära der Riots begonnen. Genau hier müsste eine linke Kritik ansetzen.
Denn Clovers These, dass heute die Riots die Streiks ersetzen, ist nicht mit Fakten belegt. Schließlich gibt es gerade im Logistiksektor, der im heutigen ökonomischen System eine zentrale Rolle spielt, viele neuralgische Punkte, an denen Streiks die Kapitalseite unter Druck setzen können. Die gewachsene Macht der Streikenden zeigt sich sehr deutlich bei den Kämpfen der Beschäftigten in der norditalienischen Logistikindustrie. Diese teils erfolgreichen Arbeitskämpfe waren möglich, weil der Kampfwille der oft migrantischen Beschäftigten im Niedriglohnsektor und die Erfahrungen der linken Basisgewerkschaft Si Cobas zusammenkamen. Wie in Italien sind auch in anderen Ländern linke Organisationen nötig, um solche Auseinandersetzungen zu führen. Dass solche Organisationen in Deutschland fehlen, ist genau das Problem. So bleiben die Riots von Hamburg ein kurzes Event, von dem die Beteiligten den künftigen Generationen erzählen können.

Der Insurrektionalismus hat keine Antwort auf die Frage, wie eine Transformation der Gesellschaft aussehen könnte, wenn der Rausch der Revolte vorbei ist. Hier müsste die Diskussion einer Linken beginnen, die sich damit nicht zufriedengibt.

https://jungle.world/artikel/2017/33/nach-dem-rausch-der-revolte
Peter Nowak