Rechte Agendasetzung bei der Debatte um Kindergeld-Betrug durch Nichtdeutsche

Der eigentliche Skandal besteht darin, wie einig sich alle Parteien sind, und dass die Logik des Verdachts bereits ausreicht

„AfD entdeckt altes Thema – 343 Millionen Euro Kindergeld fließen ins Ausland“, lauteten Pressemeldungen im März 2018 [1](vgl. dazu: Kindergeld für Kinder im Ausland: Häufiger, aber in der Summe weniger[2]). Fünf Monate später diskutieren Medien und Politiker aller Parteien über dieses Thema. Was wie gutes rechtes Agendasetting aussieht, zeigt eher, wie nahe sich doch SPD, FDP und beide Unionsparteien sind, wenn es um konkrete Themen geht.

Die Logik des Verdachts wird vom Focus in der Doppelüberschrift Rekord bei Kindergeld-Empfängern im Ausland. Nahles will Missbrauch Riegel vorschieben[3] praktiziert. Schon in der Überschrift wird suggeriert, die hohen Kindergeldzahlungen können nur eine Folge des Missbrauchs sein.

Beweise sind dann gar nicht mehr nötig. Sollte sich dann herausstellen, dass es die gar nicht gibt, hat sich in vielen Köpfen schon festgesetzt, dass der deutsche Steuerzahler von Nichtdeutschen ausgenutzt wurde.

Erst der Rufmord – dann die Recherche?

Auch bei der Bremer BAMF-Affäre[4] ist längst nicht überall durchgedrungen, dass die herbei phantasierten Betrugsfälle nie verifiziert werden konnten und dass der eigentliche BAMF-Skandal darin besteht, dass die Behörde oft für die Migranten negative Bescheide ausstellt, die dann von Gerichten korrigiert werden mussten[5].

„Erst der Rufmord – dann die Recherche?“[6] hinterfragte der Regensburger Jurist Henning Ernst Müller[7] den medialen Umfang mit den Vorgängen um die Bremer BAMF. Diese Frage kann man auch beim medialen Umgang mit den Kindergeldzahlungen ins europäische Ausland stellen.

Da suggerieren Ruhrgebietsoberbürgermeister überwiegend mit SPD-Parteibuch, der soziale Friede sei in Deutschland durch die Kindergeldzahlungen ins Ausland gefährdet. Hat man schon mal irgendwo gelesen, dass der soziale Friede durch die horrenden Beträge für Stuttgart 21, den immer noch im Bau befindlichen Berliner Flughafen oder andere deutsche Pleiteprojekte gefährdet ist?

Der Zentralrat der Sinti und Roma kritisierte[8] den Duisburger SPD-Oberbürgermeister Link, weil er die Diskussion um die Kindergeldzahlungen mit rassistischen Angriffen gegen Roma und Sinti garniert habe:

„Selbstverständlich muss gegen jede Form des Betrugs ermittelt werden, und ebenso selbstverständlich muss jeder Missbrauch von Leistungen unterbunden werden. Dies muss ohne Ansehen der Person geschehen, entsprechend den Vorgaben unseres Rechtsstaates. In diesem Kontext aber durch eine gezielte, an der Abstammung festgemachte Kennzeichnung die Angehörigen der Minderheit zur alleinigen Ursache dieses Problems zu machen, steht in der Tradition der Herstellung von Sündenböcken und birgt, gerade jetzt, die Gefahr von Gewalt gegen Sinti und Roma in Deutschland“, erklärte Romani Rose.

Es sei darüber hinaus ein Kennzeichen zutiefst rassistischer Bilder, wenn der Duisburger Oberbürgermeister erst kriminelle Schlepperbanden verantwortlich macht, die „Sinti und Roma“ nach Duisburg bringen würden [Der Duisburger OB zeigt sich hier wenig informiert : Sinti leben seit über 600 Jahren im deutschen Sprachraum; weder in Bulgarien noch Rumänien gibt es Sinti], und er dann erklärt : „Ich muss mich hier mit Menschen beschäftigen, die ganze Straßenzüge vermüllen und das Rattenproblem verschärfen. Das regt die Bürger auf.“

Genau diese Verbindung von „Rattenproblem“ und Vorwürfen gegen die gesamte Minderheit mache Sinti und Roma zur Zielscheibe potentieller Gewalt. Einzelne Medien, wie zum Beispiel ntv, nehmen diese Hinweise auf, wenn sie kommentieren, dass „Bürger vor Ort zunehmend gegen die Entwicklungen und möglichen Sozialbetrug“ aufbegehren. „Dies ist eine Einladung an rechtsextremistische Gewalt“, so Rose.

Aus der Presseerklärung des Zentralrats der Sinti und Roma[9]

Es ist erschreckend, dass ein deutscher Politiker nicht stärker unter Druck gerät, wenn er nur wenige Jahre nach dem Internationalen Roma-Gedenktag[10], der an die Menschen erinnerte, die im NS ermordet wurden, die Bevölkerungsgruppe erneut massiv angreift. Hier können sich Politiker aller Parteien als Interessenvertreter der deutschen Steuerzahler gerieren, der angeblich von Ausländern abgezockt wird.

Daneben kann noch die EU-Kommission angeprangert werden. Denn die hat schon klargemacht, dass in der deutschen Politik diskutierten Pläne, das Kindergeld an die Kaufkraft der Länder zu koppeln, in denen die Empfänger leben, nicht mit EU-Recht vereinbar sind. Die österreichische Rechtsregierung will solche Pläne ebenfalls umsetzen, was auch deutlich macht, dass der gegenwärtige Vorstoß auch eine Folge des europäischen Rechtsrucks ist.

Wie der Streit zwischen Bundesinnenminister und Merkel über die Frage, ob Deutschland ein freundliches oder unfreundliches Gesicht bei der Abschiebung zeigen soll, nur möglich war, weil Seehofer die Regierungen von Italien, Österreich und Ungarn zumindest solange an seiner Seite wusste, wo es nicht um die Aufnahme von Flüchtlingen in diesen Ländern ging, so wird auch die aktuelle Kindergeld-Debatte durch den europäischen Rechtsruck gefördert.

Ein anderer „Pulse of Europe“ wäre nötig

Die aktuelle Kampagne Seebrücke[11] hat den Anspruch, sichere Häfen für Migranten zu schaffen, muss diese aber schon durch das Symbol der Rettungswesten als hilflose Opfer darstellen. Die ganze Argumentation läuft darauf hinaus, dass es keine Diskussionen geben darf, wo es um Leben und Tod geht. Doch eigentlich müsste es um die Lebensbedingungen der Menschen in Deutschland und Europa gehen.

Da geht es auch um die Frage, warum sollen Hochschulabsolventen aus Afrika ihr Leben für einen Transfer auf das Spiel setzen, wo für sie nach einer Rettung nur schlecht bezahlte, gesundheitsschädliche Arbeit angeboten wird. Es gibt nur wenige Ansätze von gewerkschaftlichen Organisierungsversuchen von solchen Beschäftigten, aber es gibt sie beispielsweise in Spanien und Italien. In Deutschland ist davon wenig bekannt.

Der versuchten Entrechtung von EU-Bürgern, die durch die Diskussion um das Kindergeld vorangetrieben wird, müsste mit einer europaweiten basisgewerkschaftlichen Organisierung gekontert werden, die sich den Kampf für die sozialen Rechte aller in der EU lebende Menschen auf die Fahnen schreibt.

Die EU wird hier als Bezugspunkt genommen, weil es hier um einen Rechtsraum geht, mit Institutionen, an die Forderungen gestellt werden können. Eine solche Bewegung könnte anders als die liberale Puls of Europe-Bewegung[12] auch deutlich machen, dass es bei der Europadebatte um ökonomische Interessen geht, die oft von humanitären Parolen überblendet werden.

So wird auch in der „Pro-Migrationsbewegung“ selten thematisiert, dass die deutsche Wirtschaft wesentlich mehr Interesse daran hat, dass sie genügend Nachschub an Arbeitskräften hat, als die Visegradstaaten – und dass sich diese ökonomischen Interesse auch in der dominierenden Migrationspolitik ausdrücken.

Die Merkelregierung propagiert ein freundliches Gesicht zur Abschiebung, damit sich noch immer genügend Migranten die Hoffnung machen können, sie gehören zu den wenigen Glücklichen, die durchkommen. So wird auch die US-Regierung die Migration aus dem Süden des amerikanischen Kontinents nicht vollständig stoppen, weil auch in der dortigen Wirtschaft immer billige Arbeitskräfte gebraucht werden.

Die Visegradstaaten hingegen wollen mit ihrem harten Gesicht der Abschreckung das Signal aussenden, dass möglichst keine außereuropäischen Migranten die Festung Europa erreichen. Sie sieht sie als Konkurrenz um die Arbeitsplätze in den EU-Kernländern. Denn aus diesen Länder, besonders Ungarn, Rumänien, Bulgarien, suchen viele Menschen Lohnarbeit in Deutschland.

Diese Menschen sind es, die nun im Fokus der aktuellen Debatte um die Kindergeldzahlungen stehen. Dabei handelt es sich allerdings keinesfalls um eine Einwanderung in das deutsche Sozialsystem, wie die populistische Erklärung nicht nur in Deutschland lautet. Denn beim Kindergeld handelt es sich gar nicht um Sozialleistungen, sondern um Steuerrecht.

Menschen, die den gleichen Steuersatz zahlen, würden, wenn es nach den Plänen einer großen Koalition von deutschen Politikern geht, beim Kindergeld benachteiligt, da sie nach ihrer Auffassung nur einen Bruchteil bekommen sollen.


Der EFA-Vorbehalt oder die deutsche Verarmungspolitik

Deswegen leistet auch die EU-Kommission anders als beim EfA-Vorbehalt[13] nachhaltigen Widerstand gegen diese Pläne. Der EfA-Vorbehalt sieht vor, dass EU-Bürger, die zum Zwecke der Arbeitssuche nach Deutschland eingereist sind, kein Arbeitslosengeld II beziehen dürfen.

Weil es sich hier um eine Sozialleistung handelte, konnten diese Pläne, anders als es einige Juristen erhofften, nicht durch EU-Recht gestoppt werden. Da das Kindergeld nun eben keine Sozialleistung ist, stehen in diesem Fall die Chancen besser. Gegen die besondere Form der europäischen Entsolidarisierung der deutschen Politik[14] wandte sich eine Initiative gegen den EFA-Vorbehalt[15], in der migrantische Gruppen, Erwerbsloseninis und Basisgewerkschaften zusammen arbeiteten.

Eine solche Kooperation bräuchte es auch in der aktuellen Debatte um das EU-Kindergeld. Da müsste darüber geredet werden, dass immer wieder Arbeiter aus Osteuropa in Deutschland um ihren Lohn betrogen werden. Der Kampf der acht Bauarbeiter der Mall of Berlin[16] war nur in dem Sinne einmalig, dass sich die Betroffenen in diesem Fall wehrten und ihren Lohn einforderten.

So müsste auch darüber geredet werden, wie geschäftstüchtige Hauseigentümer an Arbeitsmigranten aus Osteuropa für viel Geld enge Zimmer in baufälligen Bruchbuden vermieten und die Menschen auf die Straße setzen, wenn es öffentliche Kritik gibt. Es ist der Grundfehler dieser EU, dass sie Verhältnisse schafft oder zulässt, die solche Praktiken zulassen.

Dass aber nun nicht über Lohnbetrug und Mietabzocke, sondern über Kindergeldbetrug gesprochen wird, ist Ausdruck einer rechten Hegemonie, wo nicht die Herstellung sozialer Gleichheit zumindest in der EU das Thema ist, sondern die weitere Verarmung und Entsolidarisierung.

Dass auch die migrationsfreundliche Bewegung solche Themen nicht mehr thematisiert, könnte auch darin liegen, dass sie selbst meist von einem liberalen Mittelstand getragen wird. Das betrifft nicht nur die „biodeutschen Akteure“ der Antirassismusbewegung, sondern auch oft die Menschen mit Migrationshintergrund, die sich in Deutschland über ihre Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung artikulieren.

Der Taz-Journalist Jörg Wimalasena hat kürzlich die Kritik prägnant auf dem Punkt gebracht[17], als er begründete, warum er sich als Deutscher mit Migrationshintergrund nicht an der Me Two-Debatte beteiligte:

Womöglich würden sie von ärmeren Menschen mit Migrationshintergrund auch ganz andere Klagen zu hören bekommen als die über peinliche „Komplimente“. Etwa über die Aussicht auf schmale Rente (über 40 Prozent der Migranten waren 2013 von Altersarmut bedroht), niedrige Löhne (35 Prozent arbeiten im Niedriglohnsektor) und Hartz IV (die Hälfte der ALG-II-Empfänger hat einen Migrationshintergrund).

Doch für solche Verteilungsfragen interessiert sich die Twitter-Elite kaum – etwa weil sie selbst nicht betroffen ist? Ist das der Grund dafür, warum sich Linke für Menschen mit Migrationshintergrund stets nur als Opfer von Rassismus interessieren und nur selten als Opfer der herrschenden Wirtschaftsverhältnisse? Womöglich auch deshalb, weil sie selbst Nutznießer dieser Verhältnisse sind?

Die Überhöhung des Opferstatus bestimmter Minderheiten sorgt jedenfalls nicht dafür, dass antirassistische Forderungen gesellschaftlich anschlussfähig werden – höchstens bei einer vermeintlich progressiven wohlsituierten Mittelschicht, die sich längst von Verteilungsfragen abgewendet hat und ihren Wohlstandsscham affirmativ auf Minderheiten projiziert, anstatt gegen Hartz IV und für gerechtere Löhne ins Feld zu ziehen.

Die Leiharbeiter jeglicher Hautfarbe fragen sich vielleicht, warum man in den Altbauvierteln deutscher Großstädte über die Ausbeutung Afrikas durch Westeuropa diskutiert, dabei aber die Verteilungsfragen weitgehend ignoriert, die Schwarze und Menschen ohne sichtbaren Migrationshintergrund vor der eigenen Tür gleichermaßen betreffen. Nicht weiße Männer, die migrantische Perspektiven nicht verstehen, sind das hervorstechendste Problem dieser Gesellschaft, sondern dass viele wenig und wenige viel besitzen.

Die gemeinsame Erfahrung, sich die Miete nicht mehr leisten zu können und keine Rente, von der man leben könnte, erwarten zu dürfen, verbindet Millionen Menschen – Schwarze und Weiße, Homos und Heteros, Männer und Frauen. Es ist Zeit, wieder stärker Verteilungsfragen in den Mittelpunkt zu stellen, anstatt lediglich die identitätspolitische Anerkennung des eigenen Leids einzufordern.

Jörg Wimalasena, Taz

Vielleicht könnte eine EU-weite basisgewerkschaftliche Organisierung für gleiche Löhne, gleiches Kinder- und Arbeitslosengeld, für gleiche Arbeits- und Lebensbedingungen ein solches sozialpolitisches Projekt sein.

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4133718

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/343-Millionen-Euro-Kindergeld-fliessen-ins-EU-Ausland-article20347193.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Kindergeld-fuer-Kinder-im-Ausland-Haeufiger-aber-in-der-Summe-weniger-4000372.html
[3] https://www.focus.de/politik/deutschland/sozialer-friede-sei-gefaehrdet-rekord-bei-kindergeld-empfaengern-im-ausland-nahles-will-missbrauch-riegel-vorscheiben_id_9394173.html
[4] https://www.focus.de/politik/deutschland/sozialer-friede-sei-gefaehrdet-rekord-bei-kindergeld-empfaengern-im-ausland-nahles-will-missbrauch-riegel-vorscheiben_id_9394173.html
[5] http://www.fr.de/politik/meinung/kommentare/bamf-der-andere-skandal-a-1519751
[6] https://community.beck.de/2018/06/14/der-eigentliche-bamf-skandal-erst-der-rufmord-dann-die-recherche
[7] https://community.beck.de/user/profil/henning-ernst-muller
[8] http://zentralrat.sintiundroma.de/kindergeld-zentralrat-deutscher-sinti-und-roma-kritisiert-duisburgs-spd-oberbuergermeister-link-scharf/
[9] http://zentralrat.sintiundroma.de/kindergeld-zentralrat-deutscher-sinti-und-roma-kritisiert-duisburgs-spd-oberbuergermeister-link-scharf/
[10] http://zentralrat.sintiundroma.de/veranstaltungen/internationaler-roma-gedenktag-gedenkfeier-in-der-gedenkstaette-auschwitz-birkenau/
[11] https://seebruecke.org/
[12] https://pulseofeurope.eu/de/
[13] http://www.fachkanzlei-sozialrecht.de/efa-vorbehalt.html
[14] https://www.heise.de/tp/news/Wenn-Hartz-IV-Leistungen-vom-deutschen-Pass-abhaengen-1996723.html
[15] http://efainfo.blogsport.de/
[16] ps://berlin.fau.org/kaempfe/mall-of-shame
[17] http://www.taz.de/!5524188/

Gute Populisten – schlechte Populisten

Nach der Hollandwahl werden wir noch öfter hören, eine Erfolg sei gut oder schlecht für Europa. Doch welches Europa ist eigentlich damit gemeint? – Ein Kommentar

„Der Europäische Frühling ist nah“ titelte[1] die ökoliberale Taz vor zwei Monaten. Gestern ist für das Blatt der Europäische Frühling angebrochen. Kalendarisch hat das ja seine Richtigkeit, doch für die Zeitung ist es natürlich eine Metapher, dass nach Brexit und Trump-Wahl die Anhänger der realexistierenden EU angeblich in die Offensive gehen.

Da wird die Tatsache, dass auch die Liberalen wieder mal den Straßenprotest entdeckt haben und mit EU-Fahne und den gesamten Phrasenapparat des neoliberalen Kapitalismus die EU auf den Straßen und Plätzen verteidigen[2] wollen, als europäischer Frühling verkauft. Doch wer außer überzeugten Eurokraten kann sich eigentlich von dieser Mischung aus liberalem Politik-Sprech und einem Schuss Esoterik angesprochen fühlen?

Wir sind überzeugt, dass die Mehrzahl der Menschen an die Grundidee der Europäischen Union und ihre Reformierbarkeit und Weiterentwicklung glaubt und sie nicht nationalistischen Tendenzen opfern möchte. Es geht um nichts Geringeres als die Bewahrung eines Bündnisses zur Sicherung des Friedens und zur Gewährleistung von individueller Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Leider sind aber in der Öffentlichkeit vor allem die destruktiven und zerstörerischen Stimmen zu hören! Deshalb: Lasst uns lauter und sichtbarer werden! Wir alle müssen jetzt positive Energie aussenden, die den aktuellen Tendenzen entgegenwirkt. Der europäische Pulsschlag soll allenthalben wieder spürbar werden!

Pulse of Europe

Da die liberale Klientel bestimmt nicht vor hat, viel in diese affirmativen Straßenaufzüge zu investieren, müssen schnelle Erfolge her. Und so hat man sich die diesjährigen Wahltermine in mehreren europäischen Ländern herausgepickt, dort die Rechtspopulisten zum Popanz aufgeblasen, um damit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

Wenn die Rechten nicht so stark werden, wie sie erst durch die Propaganda gemacht werden, dann ist das natürlich ein Sieg. Gleichzeitig kann man einen Teil der rechten Politik in die eigene Agenda integrieren. Denn die Liberalen und Sozialdemokraten aller Länder haben schon immer klargestellt, dass sie sich das Monopol auf Flüchtlingsabwehr, die Festung Europa, beim Schleifen von Grundrechten etc., nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Wilders, Le Pens oder Grillos nehmen lassen wollen. Als Stichwortgeber sind sie aber tauglich. Denn wie lässt sich besser rechte Politik verkaufen als mit der Drohung, dass die bösen Rechtspopulisten an die Regierung kommen und dann alles noch schlimmer wird, wenn wir es nicht selber machen.

Das Spiel funktionierte schon in Deutschland in den 1970er Jahren, als F.J. Strauß von jener Sozialdemokratie als gefährlicher rechter Demagoge aufgebaut wurde, die ihn nach seinem Sturz durch die Spiegel-Affäre in der großen Koalition überhaupt erst wieder regierungsfähig gemacht hat. Aber mit der Drohung, wenn ihr nicht mitmacht, kommt der böse F.J. Strauß an die Macht, hatte die SPD unter Helmut Schmidt der SPD die Flausen ausgetrieben, dass Reformen den Subalternen mehr Einfluss und ein etwas besseres Leben garantieren könnten. Diese Idee gab es bei der SPD unter Willi Brandt schließlich noch, wie es der Journalist Rainer Balcerowiak in seinem Buch „Die Heuchelei von der Reform“[3] gut darlegt.

Wilders wurde zum Popanz aufgebaut, um dann seine Politik modifiziert umzusetzen

Auch bei der Holland-Wahl konnte man den Mechanismus gut beobachten: Baue einen rechten Popanz auf, verkünde den erfolgreichen Kampf gegen Rechts, wenn der Popanz platzt, und erzeuge so einen Rechtsruck.

Politische Beobachter wussten schon lange, dass Wilders nicht holländischer Ministerpräsident wird und dass es einen EU-Austritt von Holland, einen Nexit, nicht geben wird. Dafür gäbe es in Holland auch gar keine Mehrheit. Dass doch immer der Eindruck erweckt wurde, es handele sich um eine Schicksalswahl und Wilders könne zum Ministerpräsidenten von Holland werden, hat eine Grundstimmung im Land erzeugt, die keine wirklichen Alternativen mehr zuließ. Es ging nur noch um den schlechten Populismus à la Wilders und den vermeintlich guten Populismus à la Rutte. Nach seinen Wahlerfolg erklärte[4] Rutte: „Nach dem Brexit und nach den Wahlen in den USA haben die Niederlande Stopp gesagt zu einer falschen Sorte Populismus.“ Den richtigen Populismus hingegen scheint er für sich monopolisieren zu wollen und damit hatte er Erfolg. Es gab einen massiven Rechtsruck bei den Wahlen in Holland und der Motor war nicht die Wilders-Partei, sondern es waren die Rechtsliberalen von Rutters.

Linke oder zumindest sozialdemokratische Alternativen wurden weitgehend marginalisiert. Eine grün-soziale Partei hatte noch Erfolg. Zu den guten Populisten gehört auch christliche Kleinstparteien[5], die bis heute nicht akzeptieren, dass Frauen gleichberechtigt sind. Obwohl ihr Programm zumindest in diesem Punkt wesentlich reaktionärer als das von Wilders ist, werden sie zu den Guten gerechnet, denn sie gelten als proeuropäisch. Das können letztlich auch offen Rechtsaußenparteien sein, wie sich in der Ukraine oder in Kroatien zeigte.

Wann ist ein Wahlergebnis gut für Europa?

Nach der Hollandwahl hörten wir eine Bewertung des Ergebnisses, das wir in diesem Jahr noch häufiger lesen werden. Die Wahl sei ein Sieg für Europa oder gut für die Europäer gewesen. Nur wer ist damit gemeint? Eine Bewohnerin Russlands, Albaniens oder Serbiens sicher kaum. Geographisch leben sie in Europa, doch der politische Begriff des Europas, das hier gemeint ist, bezeichnet die EU unter der Hegemonie Deutschlands.

Wenn also in der nächsten Zeit wieder einmal eine Wahl gut oder schlecht für Europa ist, dann sollte man wissen, was gemeint ist. Die von Deutschland dominierte EU sieht ihre Interessen gewahrt oder nicht. Wer kein Freund dieses deutschen Europas ist, ist eben ein schlechter Populist, wer mit dem deutschen EU-Block harmoniert, hingegen ein guter Populist.

Die nationalkonservative polnische Regierung hat in der letzte Woche, als sie sich gegen den Kandidaten der Deutschen-EU wehrte, zu spüren bekommen, was es heute heißt, sich gegen den Hegemon zu stellen. Wie schnell auch die liberalen Freunde der EU die Unterscheidung in gute und schlechte Populisten verinnerlicht haben, zeigt ein Interview mit dem stets wendigen ökoliberalen Claus Leggewie. Im Deutschlandfunkinterview[6] rief er nach der Hollandwahl eine Trendwende auf und begrüßte eindeutig, dass der holländische Ministerpräsident Wilders mit rechter Rhetorik die Grenzen gesetzt hat.

Rechte Politik als Mittel gegen Rechtspopulismus

Auch der Publizist Robert Misik, der anders als Leggewie auch mal Marx zitiert, nennt in einem Taz-Beitrag[7] zwei Gegenmodelle gegen den Rechtspopulismus aufgeführt.

Die große Frage, die die demokratischen Parteien beinahe überall zerreißt, ist, wie der Rechtspopulismus denn bekämpft werden solle. In Österreich präsentierte der Ex-Grüne van der Bellen als klares proeuropäisches, weltoffenes, menschenrechtlich orientiertes Gegenmodell zu seinem Rechtsrivalen – und gewann. Mark Rutte, der rechtsliberale Premier in den Niederlanden, verfolgte exakt das Gegenmodell: Er rückte scharf nach rechts, bekundete, „niederländische Interessen kommen für mich zuerst“, antieuropäische Ressentiments umgarnte er und der xenophoben Stimmung im Land gab er Zucker: „Wer unsere Werte nicht teilt, soll gehen“, inserierte Rutte. Und auch er gewann mit dieser Strategie, jedenfalls in dem Sinn, dass Wilders bei den Wahlen klein gehalten wurde und über 13 Prozent kaum hinauskam.

Robert Misik

Nun könnte man denken, Misik wird die Strategie Ruttes klar kritisieren. Doch dem ist nicht so:

Nun kann man den sozial-liberalen Heroismus des entschiedenen Dagegenhaltens für sympathischer, die Anbiederung an das rechte Narrativ für unsympathischer halten. Darüber hinaus kann man auch noch die Frage stellen, was eigentlich die Anforderung der Stunde ist? Das rechte Agenda-Setting auch noch stärken, indem man ihre Thematiken übernimmt, ist nicht sonderlich empfehlenswert, sagen die einen. Wenn in der Migrationspolitik eine liberale, humanitäre Haltung absolut nicht mehr mehrheitsfähig ist, dann wäre es sträflich dumm, diese Tatsache zu ignorieren, sagen die anderen. Es ist, unter rein wahltaktischen Gesichtspunkten, nicht von vornherein klar, welches der beiden Argumente das richtigere ist – oder das weniger falsche. Und beide Strategien haben nun Erfolgsbeispiele, auf die sie verweisen können, und natürlich gibt es zwischen beiden auch eine Art Mittelweg. Eines sollte man jedenfalls nicht übersehen: Auch wenn der Aufstieg des Rechtspopulismus gerade eingebremst ist, gibt es weder Einigkeit noch einen Königsweg hinsichtlich der Frage, wie er am besten gestoppt wird.

Robert Misik

Damit hat auch Misik jede linke oder sogar nur sozialdemokratische Perspektive aufgegeben. Er hält es auch durchaus für einen Weg gegen den Rechtspopulismus, selber rechte Politik zu machen. Damit befinden sich Misik und Leggewie ganz im Fahrwasser eines deutsch-europäischen Konzepts, das als Alternative gegen den Rechtspopulismus eine rechtsbürgerliche Politik propagiert. Soziale Fragen und eine politische Linke sollen dort gar nicht mehr vorkommen.

Deshalb wird in Frankreich auch der Kandidat Macron so gehypt, der sich als besonders deutschfreundlich geriert und auch gleich die Agenda 2010 nach Frankreich exportieren will. Schließlich hat es ja dieses Deutsch-Europa auch geschafft, mit seinem Troika-Diktat über Griechenland die soziale Frage in Europa erst einmal zum Schweigen zu bringen und so den Rechtspopulismus erst stark gemacht.

Als Syriza gewählt wurde, hat man auch schon von einer Wahl gegen Europa und gegen die Märkte geredet. Nun hat mit der Unterwerfung von Syriza hat der deutsch-europäische Block scheinbar gesiegt und überall wurde behauptet, die Unterwerfung sei gut für die Märkte und Europa. Dabei wurde die Öffentlichkeit in den letzten Tagen mit den Sprengstoffpaketen an das deutsche Wirtschaftsministerium an die Rolle Deutschlands beim Troika-Diktat über Griechenland erinnern.

Mögen solche Sprengstoffpakete auch nur von kleinen anarchistischen Gruppen versandt werden, so ist in der griechischen Bevölkerung die Wut auf die deutschen Politiker mit Schäuble an der Spitze sehr groß. Neue soziale Proteste in diesem Land genauso wenig ausgeschlossen, wie in anderen Ländern der Peripherie. Und was wird passieren, wenn ein französischer Präsident Marcron tatsächlich ernst damit macht, die Agenda 2010 mit all ihren Zumutungen in Frankreich zu implementieren? Damit es dann nicht wieder zu sozialen Protesten kommt, werden die Rechtspopulisten gebraucht. Um diese zu begrenzen, soll dann noch mehr rechte Politik gemacht werden. So bleibt alles beim Alten, weil über die wirklichen Alternative gar nicht mehr geredet wird.


https://www.heise.de/tp/features/Gute-Populisten-schlechte-Populisten-3658324.html

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-3658324

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.taz.de/!5371885/
[2] http://pulseofeurope.eu/
[3] http://buch-findr.de/buecher/die-heuchelei-von-der-reform/
[4] http://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5184322/NiederlandeWahl_Niederlande_Stopp-gesagt-zu-einer-falschen-Sorte%20title
[5] http://www.christenunie.nl/
[6] http://www.deutschlandfunk.de/rechtspopulismus-wir-haben-es-in-ganz-europa-mit-einer.694.de.html?dram:article_id=381413
[7] http://www.taz.de/!5389753/