Buchtipp: Raul Zelik: Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart

Es ist schon einige Jahre her, als Spanien an der Spitze einer EU-weiten Protestbewegung gegen die wesentlich von Deutschland ausgehende Austeritätspolitik stand. Massendemonstrationen und Platzbesetzungen in vielen spanischen Städten wurden zum Vorbild für Proteste in anderen europäischen Ländern.
Besonders wichtig war, dass in Spanien auch die gewerkschaftlichen Aktivitäten spürbar zunahmen. Höhepunkt war der transnationale Generalstreik am 12.November 2012, an dem sich Gewerkschaften aus Italien, Portugal, Griechenland und Zypern beteiligten. Hier hatten sich Ansätze einer europäischen Widerstandsbewegung entwickelt, die die Austeritätspolitik infragestellte.
Warum ging der Impuls für diese Bewegung damals vor allem von Spanien aus? Und warum konnte sich die Bewegung nicht ausbreiten? Das sind einige der Fragen, die der Politikwissenschaftler Raul Zelik in seinem neuen Buch Spanien – eine politische Geschichte der Gegenwart stellt und teilweise beantwortet. Zelik, der sich seit langem mit der linken Bewegung im Spanischen Staat beschäftigt, beginnt mit seiner Geschichtsbetrachtung Mitte der 70er Jahre, beim als transición bezeichneten Übergang vom faschistischen Francostaat zur bürgerlichen Demokratie, an dem sich die Kommunistische Partei Spaniens (PCE) maßgeblich beteiligte. Dieser Prozess ermöglichte den Institutionen des Franco-Regimes einen reibungslosen Übergang und führte zu einer massiven Enttäuschung der damals starken außerparlamentarischen Linken.
In den Folgejahren wechselten sich die Postfrankisten und die Sozialdemokraten an der Regierung ab. Marktliberalismus und Repression gegen die Reste einer linken Opposition waren die Kennzeichen der Politik beider Parteien. Ausführlich geht Zelik auf die von einer sozialdemokratischen Regierung unterstützten Todesschwadronen der GAL ein, die zwischen 1983 und 1987 in Südfrankreich 29 Menschen töteten, die dem Spektrum der baskischen Unabhängigkeitsbewegung zugerechnet wurden. «Die Attentate richteten sich gegen baskische Kneipen, JournalistInnen und Linke», beschreibt Zelik die Opfer des heute weitgehend vergessenen Staatsterrors in der Europäischen Gemeinschaft (EG). Repression und ein wirtschaftlicher Aufschwung auf Pump schien die linke Opposition in Spanien stillgelegt zu haben.
Doch nicht erst mit dem Bankenkrach und der Immobilienkrise begann die Rückkehr der Bewegungen, die Zelik mit viel Hintergrundwissen beschreibt. Die Bewegung V wie Vivenda mobilisierte bereits 2006 Tausende Menschen gegen die Wohnungsnot einkommensschwacher Mieter. «Die Bewegung, die diesen Zusammenhang sichtbar machte, entstand ähnlich wie fünf Jahre später die 15M: scheinbar aus dem Nichts», schreibt Zelik.
Fünf Jahre lang gab die 15M-Bewegung Impulse in viele europäische Länder. Zelik beschreibt Aufstieg und Niedergang der außerparlamentarischen Linken in Spanien sehr detailliert. Nachdem die Polizeirepression gegen die Platzbesetzungen immer massiver wurde, verlegten sich die Aktivisten auf den Kampf im Stadtteil.
Dort entstanden auch die Konzepte von kommunalen und später auch landesweiten Kandidaturen, um der Protestbewegung auch eine Stimme in den Parlamenten zu geben. So entstand die Partei Podemos, die mit der Parole «Den Himmel stürmen» ihre erste Wahlkampagne begann. Auf soviel illusionären Überschwang musste die Enttäuschung folgen, wenn die neue Partei in den Mühen der Ebenen reformistischer Realpolitik angelangt sein würde. Auch hier beschreibt Zelik kenntnisreich, wie schnell die Partei, die alles anders machen wollte, zu einer neuen Sozialdemokratie mutierte.
Im letzten Kapitel setzt sich Zelik differenziert mit dem Kampf der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung auseinander. Dort sieht er viele emanzipatorische Potenziale, verschweigt aber auch die Gefahr nicht, dass am Ende nur ein bürgerlicher Nationalismus gestärkt werden könnte.
Zelik legt kein optimistisches, sondern ein realistisches Buch vor. Es ist nützlich, weil es Erfahrungen von Kämpfen mit ihren Erfolgen und Niederlagen zusammenfasst. Daraus können die zukünftigen Protestbewegungen lernen.

aus: SoZ, Sozialistische Zeitung

Buchtipp: Raul Zelik: Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart

Buchtipp: Raul Zelik: Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart
Berlin: Bertz+Fischer, 2018. 240 S., € 14

von Peter Nowak

Dem Volk nah – aber irgendwie links

Warum ein Vorschlag von Sahra Wagenknecht für Aufregung sorgt, obwohl er inhaltlich weitgehend Konsens bei der Linken ist

Zum Jahresauftakt setzen die Parteien Akzente für die nächsten Monate ihrer politischen Agenda. Die CSU positionierte sich stramm rechts mit der „konservativen Revolution“, die Grünen als „offen für alle“, die FDP als „AFD light“[1]. Die SPD streitet weiter darüber, ob sie weiter mit der Union regieren will.

Es wären eigentlich gute Zeiten für die Linke, um diejenigen zu sammeln, die gegen Kriege und die Fortsetzung des Sozialabbaus sind. Mehr kann man von einer sozialdemokratischen Partei, und das ist Die Linke nun mal, nicht erwarten. Wenn sie aber selbst diese Minimalziele nicht vertritt, macht sie sich schlicht überflüssig.

Nun geistert seit einiger Zeit der Begriff der „linken Sammlungsbewegung“ durch die Medien und sorgt in der Partei nicht etwa für Einigkeit und Aufbruch, sondern für neuen Streit und sogar für Spaltungsgerüchte.

Wagenknecht schockt nicht mehr mit Bekenntnissen zum Kommunismus, sondern zur linken Volkspartei

Anlass für die neu entstandene Debatte ist ein Interview der Fraktionsvorsitzenden der Linken, Sahra Wagenknecht, im Spiegel[2]: „Ich wünsche mir eine linke Volkspartei“, ist die Zusammenfassung ihrer Auslassungen. Das ist das Gegenteil von radikal und kollidiert auch mit den Positionen, die Wagenknecht noch vor einem Jahrzehnt hatte.

Damals hatte sie als bekannteste Exponentin der parteiinternen Kommunistischen Plattform[3] einen neuen Kommunismus gewünscht und sie wollte die DDR nicht in Bausch und Bogen verurteilen. Sie war ein rotes Tuch für alle in der PDS, einer der Vorläuferorganisationen der Linken, die endlich in dem real existierenden Staat ankommen wollten.

Gregor Gysi hatte sogar verhindert, dass Wagenknecht in den Parteivorstand gewählt wurde. Das ist lange her und Wagenknecht hat ihre Wendung zur Reformistin mit Bekenntnissen zu Ludwig Erhard und der sozialen Marktwirtschaft schon lange unter Beweis gestellt. Auch in der Flüchtlingsfrage hat sie schon längst den Anschluss an die ganz große Koalition gefunden, als sie vom Gastrecht sprach.

Keine große Aufregung also für alle, in und außerhalb der Linken, die diese Ziele gar schon viel länger favorisieren und gerade deshalb lange Zeit Sahra Wagenknecht an exponierter Stelle in der Partei verhindern wollten. Eigentlich müssten sie doch zufrieden sein, dass Wagenknecht nun auch in den großen Konsens derer eingeschwenkt ist, die eine Volkspartei „irgendwie links“ wünschen.

Dies zu kritisieren, wäre von einer radikal staats- und kapitalismuskritischen Position aus auch berechtigt. Doch es ist nicht bekannt, dass entsprechende Auffassungen nun der Linkspartei Mehrheiten gefunden haben.

Daher ist die Kritik an Wagenknecht nur ein Ausdruck des innerparteilichen Kampfes um Pfründe und Einfluss. Diejenigen, die nun Wagenknecht für ihr Interview kritisieren, sind schließlich nicht gegen eine linke Volkspartei. Sie wollen nur nicht, dass damit Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine identifiziert werden.


Sammlungsbewegung: Mit wem und zu welchem Ziel?

Lafontaine hatte schon vor einigen Wochen einen Versuchsballon gestartet, als er von einer linken Sammlungsbewegung geredet[4] hatte. Wenn man die innerparteilichen Befindlichkeiten außer Acht lässt, welche die Diskussion begleiten, müsste man feststellen: „Dagegen hat in der Linken kaum jemand etwas.“

Gerade der eher bewegungsorientierte Flügel um Katja Kipping, der sich nun besonders dagegen wehrt, dass das Projekt mit ihrer Konkurrentin verbunden wird, hat vor einigen Jahren immer wieder Bewegungen wie Podemos in Spanien als Vorbild für die Linke ins Gespräch gebracht. Was ist das anderes als eine linke Bewegungspartei?

Der frankophile Lafontaine orientiert[5] sich mehr an dem französischen Linksnationalisten Mélenchon. Daher bekam der Neujahrsauftakt der Linken, auf dem beide gesprochen haben, in diesem Jahr eine besondere mediale Aufmerksamkeit. Nur die von manchen Medien herbeigewünschte Spaltung der Linken fand dort nicht statt.

Es waren schließlich auch erklärte Gegner des Duos Wagenknecht/Lafontaine wie Gregor Gysi dort anwesend, der sicher gegen eine linke Volkspartei nichts einzuwenden hat, wenn sie mit seinem Namen verbunden wird. Zudem hat der Neujahrsempfang am gleichen Ort mit fast exakt dem gleichen Personal seit Jahren stattgefunden. Zu Spaltungen hat er nie geführt.

Nun wäre die von Bernard Schmid gut herausgearbeitete linksnationalistische Wende von Mélenchon[6] Gegenstand von berechtigter Kritik. Schließlich bräuchte sich Lafontaine gar nicht zu wenden, um solche Positionen zu vertreten. Er hat als führender SPD-Politiker mit dazu beigetragen, dass die Flüchtlingsgesetze verschärft wurden und auch in der Linken immer wieder die nationale Flanke bedient.

Allerdings müssten auch die Freunde von Podemos dann die Frage beantworten, ob die nicht auch längst ihr basisdemokratisches Konzept zugunsten von Orientierung an staatlichen Strukturen und einigen Führungsfiguren aufgegeben haben[7]. Ähnlich wie in Frankreich wurde auch bei Podemos der Klassenbegriff durch das den Terminus von der „widerständigen Bevölkerung“ ersetzt.

Kaum Grundlagen für linke Sammlungsbewegung?

Die Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Konzepten einer linken Sammlungsbewegung bzw. einer linken Volkspartei wären also nicht so unüberwindbar, wenn in der Linken eine Diskussion geführt würde, die nicht schon durch Vorfestlegungen personeller Art verunmöglicht wird.

Wenn es dann tatsächlich zu Spaltungen kommt, dann nicht wegen unvereinbarer inhaltlicher Gegensätze, sondern weil bestimmte Personen nicht in einer Partei sein können. Versuche, die Debatte auf inhaltliche Differenzen zu konzentrieren, wie sie die Autoren der im Laika-Verlag herausgegebenen Flugschaft „Jenseits von Interesse und Identität“[8] unternehmen, kommen von außerhalb der Linken. Es wird sich zeigen, ob sie und andere tatsächlich erreichen können, dass über Inhalte und nicht über Personen und Befindlichkeiten gestritten wird.

Zumal die Debatte ja aktuell im luftleeren Raum geführt wird. Es ist nicht absehbar, wo denn in Deutschland das Potential für die neue linke Sammlungsbewegung bzw. die neue linke Volkspartei herkommen soll. Die Linke ist durch die Bewegung gegen Hartz IV mitinitiiert worden, als Teile der SPD der Linie ihrer Partei nicht mehr folgen wollte.

Podemos und ähnliche Bewegungen in anderen Ländern stehen noch klarer für die Konsequenzen einer starken sozialen Bewegung. Davon aber ist in Deutschland im Jahr 2018 nichts zu sehen. Dafür stehen noch andere linke Reformisten in den Startlöchern, die überparteiliche Organisationen gründen wollen. So gibt es das Projekt DIEM25[9], das vom kurzzeitigen griechischen Finanzminister Varoufakis[10] mitgegründet wurde und zu den EU-Wahlen antreten will.

Da sie explizit EU-freundlich ist, dürfte eine Kooperation mit dem Wagenkecht/Lafontaine-Projekt nicht einfach sein. Solche Projekte sind natürlich auch immer abhängig von den innenpolitischen Faktoren. Sollte die SPD gegen großen innerparteilichen Widerstand mit der Union in eine Regierung gehen, könnte ein Teil der Opposition Gefallen an den Vorstellungen von Wagenknecht und Co. finden.

Sollte die SPD aber in der Opposition bleiben, dürfte sie die soziale Opposition abdecken und sich als linke Volkspartei profilieren wollen. Denn da, wo Wagenkecht hinwill, wo Lafontaine immer war und wo auch die meisten ihrer innerparteilichen Kritiker ihren Sehnsuchtsort entdeckt haben – „dem Volk nah, irgendwie links“, da gibt es bekanntlich großes Gedränge.
Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Dem-Volk-nah-aber-irgendwie-links-3943727.html
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2017/august/afd-light-lindners-neue-fdp
[2] https://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2690.ich-w%C3%BCnsche-mir-eine-linke-volkspartei.html
[3] https://www.die-linke.de/partei/parteistruktur/zusammenschluesse/kommunistische-plattform
[4] https://www.heise.de/tp/features/Zwei-unvereinbare-Tendenzen-in-der-Linkspartei-3927842.html?seite=all
[5] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-01/linkspartei-oskar-lafontaine-jean-luc-melenchon
[6] https://www.heise.de/tp/features/Jean-Luc-Melenchons-linksnationalistische-Wende-und-neue-Angriffspunkte-3930803.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Jean-Luc-Melenchons-linksnationalistische-Wende-und-neue-Angriffspunkte-3930803.html)
[8] https://www.laika-verlag.de/laika-diskurs/jenseits-von-interesse-identitat
[9] https://diem25.org/home-de/
[10] https://diem25.org/manifesto-lange-version/
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Die Linkspartei muss sich nach dem Aufstieg der AfD neue Strategien überlegen

Lager der Solidarität statt Bündnisse mit SPD und Grünen?

Wenn die beiden Vorsitzenden der Linkspartei Katja Kipping und Bernd Riexinger das Wort Revolution in die Debatte werfen, müsste das eigentlich die mediale Aufregung groß sein. Es ist schließlich erst einige Jahre her, dass die damalige Parteivorsitzende Gesine Lötzsch große Empörung auslöste, als sie über die Perspektive Kommunismus[1] auf einer öffentlichen Veranstaltung diskutierte (Der Weg zum Kommunismus wird weiter beschritten[2]).

Als Riexinger und Kipping unter dem Motto „Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie“[3] Vorschläge für die innerparteiliche Debatte vorlegten, dürften sie vielleicht sogar auf etwas Pressewirbel gehofft haben. Doch der hielt sich in engen Grenzen. Schließlich wird heute ja in Wirtschaft, Werbung und Kultur jedes Lüftchen zu einer Revolution hochgejazzt. Und auch Kipping und Riexinger wollten nun weder die Pariser Kommune noch den Roten Oktober 1917 wiederholen.

Allerdings wurde in der Erklärung deutlich hervorgehoben, dass die Linkspartei auf den Aufstieg der AfD nicht mit Anpassung an deren Programm reagieren darf, aber auch nicht deren Wähler pauschal als Rassisten abschreiben darf. In dem Text wird der sächsische Linksparteivorsitzende Rico Gebhardt[4] mit den Worten zitiert:

Den größten Beitrag, den wir als Linke gegenwärtig gegen den Rechtstrend leisten können, ist, wenn wir die Arbeiterschaft und die Arbeitslosen zurückgewinnen. Das ist eine soziale Herausforderung mit hohem antifaschistischem Effekt!Rico Gebhardt

Rico Gebhardt

Nun bestünde ja eigentlich die größte Frage darin, wie es der Linkspartei gelingen kann, Gewerkschaftsmitglieder, prekär Beschäftigte und Erwerbslose, die bei den letzten Wahlen für die AfD gestimmt haben, zurückzuholen, ohne deren Diskurse und Programmpunkte auch nur ansatzweise zu übernehmen. Zudem hat gerade Gebhardt in Sachsen bisher einen besonders ausgeprägten Mittekurs gefahren und seine letzte Wahlkampagne auf ein Bündnis mit SPD und Grünen ausgerichtet.

Dass diese Pläne an dem Wahlergebnis gescheitert sind, ist das eine. Damit ist kein Politikwechsel verbunden, wenn man nur die Tatsachen zur Kenntnis nimmt, dass es schlicht in noch mehr Bundesländern keine Grundlage mehr für ein sogenanntes rot-rot-grünes Bündnis, also die Koalition mit Linkspartei, SPD und Grünen, gibt.

Privatsphäre für Höcke oder auch für die Roma-Flüchtlinge?

Diese Tatsache zu benennen, ist für die Linkspartei sicher schmerzlich, weil sie ja erst im letzten Jahr ihren ersten Ministerpräsidenten Ramelow als Pilotprojekt ausgerufen hat. Wie die Grünen ihren Winfried Kretschmann zum politischen Rollenmodell aufbauen, wollten auch die Linken mit Bodo Ramelow ihren Kurs Richtung Mitte fortsetzen.

Dass Ramelow erst vor wenigen Tagen persönlich[5] eine geplante Demonstration[6] von Thüringer Antifaschisten vor dem Haus des AFD-Rechtsaußen Björn Höcke in die Nähe von Naziaktionen rückte[7], macht nur einmal mehr deutlich, dass Linken an der Regierung immer eine besondere Vorleistung an Anpassung abverlangt wird.

Wenn Ramelow sich um die Privatsphäre von Höcke mehr sorgt, als um die der Roma, die jahrelang in Thüringen lebten und abgeschoben[8] wurden, zeigt bei aller antirassistischen Rhetorik, dass auch der erste Ministerpräsident der Linkspartei die Rechte von Menschen, die in Deutschland leben, unterschiedlich gewichtet. Die durchaus diskutable Kritik, Proteste auch an die Privatadresse von Funktionsträgern aus Wirtschaft und Politik zu tragen, hätte nur dann Glaubwürdigkeit, wenn man den Menschen ohne deutschen Pass diese Privatsphäre auch ausdrücklich und explizit zubilligt. An solchen Fragen wird sich aber erweisen, ob die Bildung eines Lagers der Solidarität, das Kipping und Riexinger einfordern, mehr als ein Lippenbekenntnis ist.

Ein anderer zentraler Punkt ist der Umgang mit Grünen und SPD. Dazu werden in dem Papier Fakten benannt, die seit Jahren bekannt sind:

SPD und Grüne sind von sozialer Gerechtigkeit derzeit weiter entfernt als je zuvor, es gibt kein linkes Lager der Parteien mehr. Mehr noch: SPD und Grünen haben sich offenbar mit ihrer Rolle als Mehrheitsbeschaffer in einer „marktkonformen Demokratie“ (Merkel) abgefunden.Kipping/Riexinger

Kipping/Riexinger

Nur müsste dann die Frage kommen, hatte Rico Gebhardt in Sachsen und Wulff Gallert in Sachsen-Anhalt diese Rolle von SPD und Grünen vergessen, als sie unbedingt mit diesen Parteien die neue Regierung bilden wollten? Und wer sagt eigentlich dem Berliner Landesverband der Linkspartei, dass es kein linkes Lager gibt? Die will bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen nach den Wahlen in Berlin gerne wieder mitregieren, obwohl sie sich gerade erst von den Blessuren zu erholen beginnt, die sich die Partei beim Mitverwalten der kapitalistischen Krise in Berlin geholt hat. In der Erklärung aber, darüber darf das Gerede von einer Revolution nicht hinwegtäuschen, werden neue Regierungsbündnisse mit SPD und Grünen explizit nicht ausgeschlossen.

Von Sanders, Corbyn und Podemos lernen und Tsipras schon vergessen?

Dieser Kurs wird im letzten Abschnitt noch bekräftigt, wenn nun empfohlen wird, von Sanders und Corbyn zu lernen, die beide regieren wollen.

Podemos in Spanien hat zumindest zunächst eine totale Kapitulation abgelehnt, den die spanischen Sozialdemokraten ihr als Preis für eine Tolerierung abverlangen wollten. Nun muss sich zunächst zeigen, ob sie bei den Neuwahlen in Spanien gestärkt werden und so gegenüber den Sozialdemokraten legitimieren können. Werden diese doch wieder stärker oder gehen gar die spanischen Konservativen erfolgreich aus den Wahlen hervor, könnte der Druck auf Podemos wachsen, ihre Prinzipien über Bord zu werfen.

Hier kommen eben die Mechanismen einer Orientierung auf Wahlen zum Tragen, denen nur monolithische Parteien wie die Kommunistische Partei Griechenlands trotzen können. Die ist allerdings trotzdem nicht in der Lage, eine zeitgemäße linke Programmatik zu entwickeln und hat auch keine Strategie für einen außerparlamentarischen Kampf über Parteigrenzen hinweg. Podemos zumindest hat sich mit ihren Zugehen auf die alte Linke, der sie bei den letzten Wahlen noch die kalte Schulter gezeigt hat, als in bündnispolitischen Fragen flexibel erwiesen. Auffällig ist, dass Syriza und deren Vorsitzender nicht explizit als Vorbild die Linkspartei erwähnt wurden.

Schließlich waren er und seine Partei nach den Wahlen vom Januar 2015 für einige Monate der große Held. Hier greift eine Kritik des Publizisten Linkspartei-Politikers Dominik Heilig[9], der in einer Kolumne im Neuen Deutschland moniert[10];

Es ist ein wiederkehrendes Schauspiel, das die Linke in Europa von einer Euphorie zur nächsten Niederlage treibt. Mit großer Aufmerksamkeit werden emanzipatorische und progressive Phänomene wie die Indignados, Nuit debout oder die Regierungsübernahmen in Athen und Lissabon zur Kenntnis genommen und sogleich zu Vorbildern erklärt. „Man müsste“, „man sollte“, „so funktioniert es“, hallt es dann in vielen Papieren und auf Parteitagen. Selten aber gelingt die Übersetzungsleistung auf die eigenen gesellschaftlichen Problemstellungen.Dominik Heilig

Dominik Heilig

Wie organisiert man sich mit den Prekären?

Die zentrale Frage aber beantwortet auch er nicht. Wie kann sich eine Linkspartie mit Menschen organisieren, die in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen die AFD wählen? Schließlich ist nicht nur die Klassenlage und ihre soziale Situation entscheidend, sondern auch die Frage, wie die Menschen sich diese Lage erklären. Wer nun die AfD wählt, muss nicht zwangsläufig Rassist sein, aber doch zumindest Erklärungsansätze für akzeptabel halten, die auf Ausgrenzung und Hierarchisierung beruhen.

Wie aber passt das zu einer Linkspartei, die ihren Anspruch Ernst nimmt, soziale und politische Rechte nicht an Hautfarbe, Pass und Herkunft festzumachen? Das ist im Kern auch der Auseinandersetzung mit Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, wenn man sie vom innerparteilichen Flügelstreit löst. Der drückt sich schon darin aus, dass Wagenknechts Äußerungen zur Obergrenze für Geflüchtete von Realpolitikern der Linkspartei heftig kritisiert werden, die sich nicht äußern, wenn in Thüringen Roma abgeschoben werden. Diese innerparteiliche Gemengelage hat der Publizist Raul Zelik im Neuen Deutschland so beschrieben[11]:

Parteilinke, die bisher v.a. für ihren Widerstand gegen falsche Kompromisse bekannt waren, pochen auf Realpolitik. Offene Grenzen seien unrealistisch, so sagen sie, wenn man nicht gleichzeitig den Kollaps des Sozialstaats in Kauf nehmen wolle. Ohne Umverteilung auf Kosten der Reichen werde die Zuwanderung nämlich die öffentlichen Haushalte überlasten und die Lebensverhältnisse der Unterschicht noch weiter verschlechtern. … Parteilinke, die bisher v.a. für ihren Widerstand gegen falsche Kompromisse bekannt waren, pochen auf Realpolitik. Offene Grenzen seien unrealistisch, so sagen sie, wenn man nicht gleichzeitig den Kollaps des Sozialstaats in Kauf nehmen wolle. Ohne Umverteilung auf Kosten der Reichen werde die Zuwanderung nämlich die öffentlichen Haushalte überlasten und die Lebensverhältnisse der Unterschicht noch weiter verschlechtern.Raul Zelik

Raul Zelik

Zuwanderung auch eine Klassenfrage

Zelik geht dann sowohl auf die Argumente derer ein, dass die Zuwanderung für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Auswirkungen hat.

Für die Putzkraft oder den ungelernten Arbeiter auf dem Bau erhöht Zuwanderung den Druck auf das Lohnniveau – weswegen man in diesen Tagen auch so manche türkische Migrantin über die Einwanderung stöhnen hören kann. Für den urbanen Akademiker, der trotz seiner Projekt-Prekarität eigentlich ganz gut über die Runden kommt (falls der Hedonismus nicht zu teuer wird), stellt Migration hingegen sicher, dass die frisch zubereitete Kokos-Tofu-Suppe im Schnellrestaurant auch in Zukunft für fünf Euro zu haben ist. Im Segment der Medienkreativen wird die Konkurrenz durch ZuwandererInnen erst einmal überschaubar bleiben.Raul Zelik

Raul Zelik

Zudem warnt er auch vor manchen linken Romantisierungen, die in den Migranten das neue revolutionäre Subjekt erkennen wollen. Aber gerade daraus zieht Zelik nicht die Schlussfolgerung, dass nun auch Linke für Abgrenzung und Obergrenzen eintreten müssen.

Trotzdem bleibt richtig, dass die Vielen, die als „Schwarm“ der Migration ein besseres Leben suchen, Proletariat im Marxschen Sinne sind. Ihre Situation ist zu flüchtig und unsicher, als dass ein handlungsfähiges politisches Subjekt aus ihnen werden könnte, aber das ändert nichts dran, dass diese Vielen ein grundlegendes soziales Recht einfordern: die Teilhabe am längst global produzierten gesellschaftlichen Reichtum. Die einzige mögliche Antwort von links kann hier lauten: „Wir alle haben ein Recht auf ein gutes Leben und das können wir nur gemeinsam und organisiert erkämpfen.“Raul Zelik

Raul Zelik

Daraus zieht er aber auch sehr konkrete und praktische Schlussfolgerungen. Es gehe darum, sich mit den Migranten zu organisieren und mit ihnen für gleiche soziale und politische Rechte zu kämpfen. Das kann in einen Mietenbündnis ebenso passieren wie in Erwerbslosengruppen oder in einer Gewerkschaft. Am Ende bringt er ein sehr anschauliches Beispiel von einem Ortsverband der Linken: „Ein Ortsverband in einer kleinen, rechts dominierten Stadt wie Suhl (Thüringen) zum Beispiel: Die meisten hier sind ältere Frauen. Mit großen Zweifeln an sich selbst und ihrer Arbeit organisieren sie Erwerbslosenfrühstück, Ämterbegleitung, Flüchtlingssolidarität, Anti-Pegida-Proteste.“ Was Zelik hier andeutet, könnte die Leerstellen in den Parteierklärungen und Dokumenten füllen. Dort wird immer betont, die Partei müsse die Menschen im Alltag erreichen, müsse ihnen zeigen, dass die AfD keine Alternative ist. Das geht aber nur in konkreten Alltagskämpfen gegen Vertreibung und Zwangsräumung, gegen Dumpinglöhne, gegen Sanktionen in Jobcentern. In diesen Auseinandersetzungen agieren Betroffene unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Alter, ihrer Religion. Dort könnte auch ein AfD-Wähler erkennen, dass es solidarische Alternativen gibt, mit den Zumutungen des kapitalistischen Alltags umzugehen.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48122/2.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/2011/01-03/001.php

[2]

http://www.heise.de/tp/artikel/33/33986/

[3]

http://www.die-linke.de/nc/die-linke/nachrichten/detail/zurueck/nachrichten/artikel/revolution-fuer-soziale-gerechtigkeit-und-demokratie/

[4]

http://www.rico-gebhardt.de/

[5]

http://www.youtube.com/watch?v=ZEUPBjBVlJY

[6]

http://straighttohellbornhagen.wordpress.com/aufruf/

[7]

http://www.mdr.de/thueringen/ramelow-beschimpft-antifa-100.html

[8]

http://breakdeportation.blogsport.de/2016/01/17/pressemitteilung-von-roma-thueringen-zu-der-sammelabschiebung-vom-16-12-2015/

[9]

http://dominic.linkeblogs.de/

[10]

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1010099.man-muesste-reicht-nicht.html

[11] https://www.neues

Links regiert? Skepsis bleibt

Außerparlamentarische Gruppen und ihr zwiespältiges Verhältnis zu Parteien

Linke Parteien in Europa sorgen derzeit für Hoffnung auf Veränderung – auch in der außerparlamentarischen Bewegung? Eine Debatte in Berlin machte einen anhaltenden Zwiespalt deutlich.

Die Linke und der Staat, über diese sensible Frage sind viele Bücher geschrieben worden. Großes Interesse zeigte sich auch am Freitagabend, als das Museum des Kapitalismus nicht alle Interessierten fassen konnte, die an einer Diskussionsveranstaltung zu dieser Fragestellung teilnehmen wollten. Das Podium war international besetzt. Henning Obens von der Interventionistischen Linken und Chris vom »Ums Ganze«-Bündnis repräsentierten jenen Teil der außerparlamentarischen Linken, der eine Kooperation mit linken Parteien nicht grundsätzlich ablehnt.

Die Parteien brauchen eine starke außerparlamentarische Bewegung ebenso wie umgekehrt die außerparlamentarische Linke Parteien braucht, die ihre Themen in der Öffentlichkeit platzieren – so lassen sich die Statements beider Aktivisten zusammenfassen. Beide benannten zugleich die Gefahr von Vereinnahmungsversuchen durch politische Parteien. Juliane Wiedemann von der Linkspartei räumte ein, es sei ein großes Problem, dass politische Parteien in Bündnissen oft außerparlamentarische Initiativen dominieren wollten oder sich auch manchmal arrogant über deren Arbeitsweisen hinwegsetzen. Dabei bekannte Wiedemann mit Verweis auf Thüringen und Brandenburg, dass die LINKE zuweilen gar den Staat repräsentiert. Trotzdem wollte Wiedemann darin keinen Widerspruch zu außerparlamentarischen Aktivitäten ihrer Partei sehen.

Diesen Spagat müssen zurzeit auch die linken Parteien SYRIZA in Griechenland und Podemos in Spanien aushalten. Dionisis Granas, der in Berlin für SYRIZA arbeitet, betonte, dass die Situation seiner Partei aus zwei Gründen besonders kompliziert sei. Bei SYRIZA arbeiten sowohl Aktivisten der radikalen Linken als auch ehemalige Sozialdemokraten mit. Zudem sei der Druck der EU-Institutionen so stark, dass der Partei bisher wenig Zeit für linke Reformen in Griechenland geblieben sei. Die Frage, ob SYRIZA derzeit dabei ist, sich dem EU-Diktat zu beugen, das vor einer Woche noch mehr als 60 Prozent der griechischen Bevölkerung abgelehnt hatten, war wohl zu frisch. Sie spielte in der Debatte keine größere Rolle.

Die Erfahrung, dass eine linke Partei zuvor als »rechts« kritisierte Politik machen muss, könnte auch Podemos in Spanien bevorstehen. Miguel Sanz Alcantara, der in Berlin für die neue spanische Linkspartei warb, betonte, dass die Zeit kommen könnte, wo er und andere Podemos-Mitglieder gegen Maßnahmen der eigenen Regierung auf die Straße gehen. Er betonte, dass eine linke Partei diesen Spagat aushalten müsse. Erst wenn es Versuche geben sollte, solche Proteste unter Hinweis auf die Parteiräson zu unterbinden, wäre für Alcantara die Mitgliedschaft in Frage gestellt.

Die Erfolge von Podemos-Kandidatinnen bei den Bürgermeisterwahlen in Barcelona und Madrid inspirierten einen Zuhörer zum Wunsch, hierin ein Vorbild für Berlin zu sehen. Beide waren in außerparlamentarischen Bewegungen aktiv, beispielsweise im Kampf gegen Zwangsräumungen von Mietern. Noch ist die Amtszeit zu kurz, um zu analysieren, wie sich ihre neuen Aufgaben auf diese sozialen Bewegungen auswirken. Anders die Erfahrungen von Sehnaz Ildan von der linken Partei HDP. Sie berichtete, wie ihre Partei vom Staat nicht kooptiert, sondern bekämpft wird.

Das Museum des Kapitalismus in der Böhmischen Straße 11 in Berlin-Neukölln ist Di, Do und Freitag von 11 bis 21 Uhr und Sonntag von 11 bis 19 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/977605.links-regiert-skepsis-bleibt.html

Peter Nowak

Lässt sich Tsipras in die deutsche EU einbinden?