Revolutionärer Wille

 Wie standen AnarchistInnen zur Oktoberrevolution in Russland vor hundert Jahren? Einen guten Überblick über die Debatte liefert der von Philippe Kellermann herausgegebene Sammelband «Anarchismus und Russische Revolution».

AnarchistInnen und Bolschewiki sind feindliche Brüder. Diese Vorstellung ist in allen Teilen der Linken weit verbreitet. Daher war es für viele überraschend, dass bekannte AnarchistInnen aus aller Welt die Oktoberrevolution begrüssten und sich am Aufbau der neuen Gesellschaft in der Sowjetunion beteiligten.
In 11 Aufsätzen werden im Sammelband «Anarchismus und Russische Revolution» die Reaktionen von AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen verschiedener Länder auf die Oktoberrevolution nachgezeichnet. Die Differenzierung, der im Titel des Buches nicht Rechnung getragen wird, ist wichtig. Denn die syndikalistische Bewegung stand in vielen Ländern schon vor 1917 der marxistischen Theorie näher als der anarchistischen. Innerhalb der anarchistischen Bewegung gab es unterschiedlichen Strömungen. Kellermann weist darauf hin, dass viele AnarchistInnen positiv überrascht waren, dass die Bolschewiki 1917 den revolutionären Umsturz auf die Tagesordnung setzten und mit den Etatismus der Zweiten Internationale brachen. Zudem gehörten die Bolschewiki zu den Kräften, die den Ersten Weltkrieg von Anfang ablehnten. Dagegen haben nicht nur fast alle SozialdemokratInnen, sondern auch führende AnarchistInnen darunter Kropotkin den Krieg auf der Seite «ihrer» Bourgeoisie begrüsst. Auch in Frankreich hatten sich erklärte AnarchistInnen 1914 zu nationalistischen KriegsbefürworterInnen gemausert. Da ging für viele AnarchistInnen mit der Oktoberrevolution die Sonne im Osten auf, wie Franco Bertulocci seinen Aufsatz über die italienischen AnarchistInnen betitelt. Dabei muss natürlich auch berücksichtigt werden, dass die Nachrichten über das, was sich im nachrevolutionären Russland konkret abspielte, vor 100 Jahren nur sehr spärlich eintrafen.
Mit diesen Argument begründen mehrere Buchautoren, es sind ausschliesslich Männer, dass viele AnarchistInnen mit den Umbrüchen in Russland sympathisierten. Als Beleg für diese mangelnden Informationen wird angeführt, dass viele AnarchistInnen annahmen, die Bolschewiki hätten ihr Programm übernommen. Umgekehrt haben 1917 die Menschewiki und andere GegnerInnen der Oktoberrevolution Lenin des Anarchismus bezichtigt. Bei manchen der AnarchistInnen, wie Rudolf Rocker oder Enrico Malatesta, die nur kurze Zeit hofften, die Bolschewiki wären zu AnarchistInnen geworden, lag es an mangelnden Informationen. Sie wurden auch sehr schnell zu deren vehementen KritikerInnen. Bei anderen hingegen, überwog die Hoffnung, dass mit der Oktoberrevolution ein neues Kapitel in der revolutionären Bewegung aufgeschlagen würde und die alten Gräben von vor 1914 überwunden werden müssten.
Diese Hoffnung wird am Beispiel von Victor Serge gut geschildert. Der US-Historiker Mitchell Abidor beginnt seinen informativen Aufsatz mit dem Satz: «Victor Serge hat immer darauf hingewiesen, dass er 1919 als Anarchist nach Sowjetrussland gegangen und als Anarchist den Bolschewiki beigetreten ist.» In dem Aufsatz wird deutlich, dass Serge schon früh Kritik an bestimmten autoritären Entwicklungen in der Sowjetunion hatte, aber aus Gründen der Solidarität die Sowjetunion verteidigte. So geriet er auch nicht als Anarchist, sondern als vermeintlicher Anhänger Trotzkis ins Visier der sowjetischen Staatsorgane. Nachdem er schliesslich ausreisen konnte, wurde er in seinem anarchistischen Milieu als Verräter betrachtet. Dass er auch nach seinem Bruch mit der KPdSU zu Kronstadt differenzierte Ansichten äusserte, war für viele AnarchistInnen untragbar. Abidor urteilt differenzierter, in dem er über Serge schreibt: «Dabei machte er deutlich, dass es verschiedenste Interpretationen zum Kronstadtaufstand geben würde.» Serge hatte auch als klarerer Gegner der Bolschewiki seit Ende der 1920er Jahre nicht vergessen, dass an den Häuserwänden des damaligen Petersburg «Tötet die Juden» stand, um gegen die Bolschewiki zu mobilisieren. Mit solchen AntibolschewistInnen wollte sich Serge nie gemein machen und das spricht für ihn.

Keine Vereinnahmung
In den Buch wird deutlich, dass viele überzeugte KommunistInnen der ersten Stunde vorher Teil der syndikalistischen und anarchistischen Bewegung waren. Das wird am Beispiel von Spanien, den USA, Frankreich, aber auch der Schweiz im Detail nachgezeichnet. So beschreibt Werner Portmann die für vorwärts-LeserInnen sicher interessanten Anfänge der kommunistischen Bewegung in der Schweiz und zitiert dabei aus den Erinnerungen des Zürcher Arztes Fritz Brupbacher, der sich dort selbst als Sozialist mit anarchistischen Adern beschreibt. «Man merkte sehr gut, dass das meiste, was unter dem Titel Anarchismus gegangen, einfach revolutionärer Wille war, und als im Bolschewismus eine Lehre auftauchte, die das revolutionäre Element enthielt, dass in der Sozialdemokratie nicht enthalten war, so wurden die scheinbaren Anarchisten und Syndikalisten mit Leib und Seele Bolschewisten.» Das schreib der Mitbegründer und langjährige Aktivist der Kommunistischen Partei der Schweiz noch nach dem Bruch mit der Sowjetunion Anfang der 1930er Jahre. Anders als der Schweizer Anarchist Werner Portmann spricht Brupbacher auch 1935 nicht davon, dass sich die AnarchistInnen haben «vom Bolschewismus vereinnahmen lassen».
Das ist nicht das einzige Beispiel, wo in dem Buch die überwiegend anarchistischen Autoren einen Ton in den Text bringen, der den AnarchistInnen und SyndikalistInnen von vor 100 Jahren nicht gerecht wird. Sie hätten sich wegen falscher Informationen oder aus fehlgeleiteten Idealismus für ein politisches Projekt vereinnahmt lassen, das ihren ursprünglichen Intentionen von Anfang an entgegengestanden habe. Der Zeitzeuge Brupbacher schreibt demgegenüber noch seinen Bruch mit den Bolschewiki über die Monate nach der Oktoberrevolution in der Schweiz: «Es war die Zeit, wo sogar die paar Anarchisten, die der Krieg noch übrig gelassen hatte, sich dem totalen Bolschewismus zuwandten.» Es war auch die Zeit, als der Anarchokommunist Erich Mühsam seine Aktivitäten in der Bayerischen Räterepublik als Rechenschaftsbericht an den Genossen Lenin adressierte. Er war damals in Bayern selber am Aufbau einer nichtkapitalistischen Gesellschaft beteiligt und stand wie viele Linke, seien es KommunistInnen, AnarchistInnen oder SyndikalistInnen vor ähnlichen Problemen.

Neue Gesellschaft
In dem leider nur noch antiquarisch erhältlichen Standardwerk «Aufstand der Räte» beschreibt der Historiker Michael Seligmann wie die Anhänger-Innen der bayerischen Räterepublik mit dem Hass der alten Mächte konfrontiert waren, die mit Mordhetze und Antisemitismus den Verlust ihrer Privilegien verhindern wollten. In dieser Situation sprach sich sogar der Libertäre Gustav Landauer, zeitlebens ein scharfer Kritiker des Marxismus, für eine Zensur der konterrevolutionäre Presse aus. Der strikte Gegner von Gewalt wurde nach der Zerschlagung der bayerischen Räterepublik von einer entfesselten Soldateska ebenso erschlagen, wie viele andere VerteidigerInnen der neuen Gesellschaft, egal ob sie sich AnarchistInnen, KommunistInnen oder einfach ArbeiterInnen nannten, die nicht länger schlimmer als Tiere behandelt werden wollten. Ist es da verständlich, dass viele AnarchistInnen und SyndikalistInnen die Räterepublik verteidigten, die den Kräften der Reaktion stand gehalten haben?

Philippe Kellermann (Hrsg.): Anarchismus und Russische Revolution. Dietz-Verlag, Berlin 2017, 416 Seiten, 29.90 Euro.

aus: Vorwärts, 18.5.2018

Revolutionärer Wille


Peter Nowak


Artikel dokumentiert in Schattenblick:


http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1379.html

Linke und Gewalt

Durch Hendrik Wallats neues Buch »Gewalt und Moral« zieht sich wie ein roter Faden die Frage, wann die Oktoberrevolution und die von ihr ausgehenden weltweiten linken Bewegungen ihren emanzipatorischen Anspruch verloren haben. Neben Wallat versuchen sich sieben Autoren, ausschließlich Männer, an einer »historisch-philosophischen Annäherung an die Gewaltfrage in Emanzipationsbewegungen«. Dieser im Klappentext formulierte Anspruch wird in dem Buch auf hohem wissenschaftlichem Niveau eingelöst. Oskar Negt erinnert an Nikolai Bucharin, den auch seine Selbstbezichtigung im Interesse der Partei nicht vor der Hinrichtung durch den stalinistischen Terrorapparat bewahren konnte. Sebastian Tränkle beschäftigt sich mit der Reaktion von progressiven Intellektuellen auf revolutionäre Gewalt in der Geschichte. Mit dem Aufsatz »Sozialrevolutionäre versus reaktionäre Gewalt« des Frankfurter Soziologen Detlev Claussen macht das Buch einen linken Grundlagentext wieder zugänglich. Wallats Buch liefert Material, um an die früh abgebrochene Debatte wieder anzuknüpfen. Allerdings sind einige der Beiträge in akademischem Jargon verfasst. Das gilt besonders für Ingo Elbes Beschäftigung mit Carl Schmitt sowie für Gerhard Schweppenhäusers Aufsatz über den Stellenwert der Gewalt bei den Theoretiker_innen der Frankfurter Schule. Philippe Kellermann hingegen schreibt gut verständlich über die denkbar unterschiedlichen Positionen zur Gewalt in der anarchistischen Bewegung.

Peter Nowak

Hendrik Wallat (Hg.): Gewalt und Moral, Eine Diskussion der Dialektik der Befreiung. Unrast Verlag, Münster 2015. 284 Seiten, 18 EUR.

aus: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 610 / 17.11.2015

https://www.akweb.de/ak_s/ak610/05.htm