Auch in der Klimabewegung können sich viele eher ein Ende des Lebens auf der Erde als ein Ende des Kapitalismus vorstellen

Nach dem Erfolg vom Freitag sollte es eine Perspektivdebatte der Klimaaktivisten geben

Doch hier stellt sich sofort die Frage, was mit Systemchange gemeint ist. Denn auch der Wechsel eines kapitalistischen Akkumulationsmodells kann so interpretiert werden. Damit nicht dem Fordismus die Uberisierung folgt, müsste der kapitalistische Verwertungszwang als wichtiger Urheber der Klimakrise in den Mittelpunkt gestellt werden.

In Berlin ging am 20.September über viele Stunden nichts mehr. Viele große Straßen waren gesperrt, dafür waren kleinere Straßen überfüllt, weil die PKW-Nutzer Ausweichstrecken suchten. Der Klimastreik und die Demonstrationen und Blockaden hielten den ganzen Tag an. Der zentrale Demonstrationszug, der sich…..

…. vor dem Brandenburger Tor versammelte und durch Mitte zog, war nur ein Bestandteil des Klimastreiks. An anderen Stellen trafen sich Aktivisten zu Blockaden und den ganzen Nachmittag zogen Raver durch die Innenstadt, die sich ebenfalls auf das Klimathema bezogen. Überall dominierten selbstgemalte Plakate. Die darauf geschrieben Parolen waren so unterschiedlich wie die Teilnehmenden.

Es gab Klassiker, die immer wieder auftauchten, wie: „Es gibt keinen Planeten B“. Doch dann gab es auch sehr individuelle Lösungen. „Alte weiße Männer statt Bäume absägen“ war ein solches Motto oder: „Wenn wir so weitermachen wird nicht nur Bielefeld verschwinden“. Die Schreiber bezogen sich auf die von Titanic-Redakteuren in die Medienwelt gesetzte Behauptung, dass die ostwestfälische Stadt nicht existiert. Wenn eine Demonstration eine Großstadt wie Berlin so bestimmt wie die Klimaaktionen am 20.September, dann wird deutlich, dass hier eine Bewegung auf die Straße gegangen ist, deren Themen einen zentralen Stellenwert erlangt haben. Wenn man noch in Rechnung stellt, dass allein in Deutschland in hunderten Städten Menschen „für das Klima“ auf die Straße gegangen sind, dann wird erst recht deutlich, welche Bedeutung das Klimathema auf der politischen Bühne heute erlangt hat.

Und dann muss man den globalen Charakter der Bewegung betonen. Die Proteste fingen in Australien an und breiteten sich im Uhrzeigersinn über den Globus aus. Eine solche über transnationale Protestbewegung gab es in den letzten Jahren selten. Man könnte höchstens die Proteste gegen den Irakkrieg heranziehen, die allerdings auf weniger Länder beschränkt geblieben waren. Eine solche transnationale Bewegung ist auf sozialem Gebiet leider bisher nie gelungen.

Klimathema ist älter

Nun könnte man sagen, die neuen Proteste werden durch die Dringlichkeit beschrieben, die die Aktivisten ihrem Thema selber geben. Sie rechnen in Jahren, nicht in Jahrzehnten, um ein Überleben der Menschheit, wie wir sie kennen, eine Zukunft zu geben. Allerdings wäre es falsch, das Klimathema und auch sein Beharren auf Dringlichkeit erst in der jüngeren Zeit zu verorten. Schmutziges Wasser, Robbensterben, verpestete Luft und verkümmernde Wälder beschäftigen die Bürger mehr als Politiker-Reden von der Roten Gefahr, wusste der Spiegel vor 30 Jahren Anfang 1989. Damals schlugen Militär und konservative Politiker Alarm, weil sie den natofreundlichen Grundkonsens der Bevölkerung in Gefahr sahen.

Trotzdem haben nationale und nationalistische Themen die Umweltproblematik nach dem Mauerfall so verdrängt, dass die Grünen ein Jahr später aus dem Parlament geflogen sind. Sie hatten damit geworben, dass sie über das Klima und nicht über die deutsche Einheit reden wollten, was später Realpolitiker in der eigenen Partei als großen Fehler bezeichneten. Die Bewegung gegen die autoritäre SED-Herrschaft, die zunächst von der linken DDR-Opposition ausging, die alles andere als die Wiedervereinigung wollte, wurde mit Hilfe der Unionsführung und großer Teile der DDR-Bevölkerung in deutschnationalistische Bahnen gelängt.

Was der „Spiegel“ noch Anfang 1989 diagnostizierte, hatte plötzlich keine Grundlage mehr. Das zeigt, wie schnell solche Massenstimmungen wieder verschwinden können, gerade wenn nationalistische Themen gepusht werden. Auch die Radikale Linke, ein parteiunabhängiges Bündnis, das im Frühjahr 1989 zu einem Kongress einlud, auf dem man gegen die sich anbahnende rot-grüne Besoffenheit eine linke Alternative diskutieren wollte, hatte nicht mit diesen nationalistischen Schub gerechnet, der ab Herbst 1989 alle anderen Themen verdrängte. „Mittlerweile haben sich die politischen Koordinaten unter dem Eindruck der Veränderungen in Osteuropa geändert: Nicht mehr der Ökokapitalismus, sondern der deutsche Nationalismus steht auf der Tagesordnung“, schrieb die Taz über das zweite Treffen der Radikalen Linken im Januar 1990.

An die politische Gemengelage im Jahr 1989 in der BRD erinnert auch die aktuelle Printausgabe der Publikation OXI mit zahlreichen Einschätzungen und Quellen von vor 30 Jahren. In einem Text wird auch darauf hingewiesen, dass die BRD schon lange Vorsorge getroffen hat, die DDR heim in die BRD zu holen. Dieser Prozess wird heute gerne als friedliche Revolution beschrieben. Leider wird dieser offizielle Terminus auch von den OXI-Autoren unkritisch benutzt.

Warum ist die Jugend Vorreiter der Klimabewegung?

Es könnte also auch aktuell sein, dass andere weltpolitische oder ökonomische Ereignisse von kriegerischen Verwicklungen bis zur Verschärfung der Wirtschaftskrise das Klimathema zeitweise wieder etwas in den Hintergrund treten lässt. Doch es ist nicht zu erwarten, dass es ganz aus der Tagesordnung fällt. Das liegt weniger an der Bewegung selber, die sicherlich in der nächsten Zeit ähnliche Klärungsprozesse mit Spaltungen und internen Differenzen durchmacht, wie andere Bewegungen in der Vergangenheit. Das liegt einfach am Wesen von solchen spontanen Bewegungen.

Doch selten erwähnt werden die kapitalistischen Veränderungsprozesse, die diese Bewegung erst haben entstehen lassen. Es ist der Übergang zu einem neuen kapitalistischen Akkumulationsregime vom fordistischen zum digitalen Kapitalismus. Nicht von ungefähr trägt der lange dominierende Akkumulationstypus den Namen des Autobauers Ford, obwohl die dort praktizierte kapitalistische Produktionsweise sich in großen Teilen der industriellen Produktion ausgebreitet hatte. Mittlerweile aber sind die digitalen Konzerne die Motoren des modernen Kapitalismus und große Teile der fordistischen Industrie werden ausgemustert.

So sind viele gegen das Auto in Form des PKW gerichtete Proteste also durchaus kapitalismusimmanent. Und dass Angehörige der oft mittelständischen Jugend die Avantgarde dieser Bewegung stellen, kann auch materialistisch erklärt werden. Es sind gerade jungen Menschen, die heute die modernen technologischen Gerätschaften wesentlich besser beherrschen als die Generationen davor. Das ist durchaus eine Zäsur.

Lange Zeit war das Wissen über die technische Beherrschung von Werkzeugen, Geräten und Maschinen bei der älteren Generation verortet, die es an die jüngere Generation weitergeben. Im Handwerk ist diese Wissensübergabe von Meistern auf die Gesellen und Lehrlinge streng geregelt. Doch indem jüngere Menschen die modernen Geräte beherrschen, wächst auch ihr Selbstbewusstsein, sich in gesellschaftliche Fragen einzumischen. Das ist ein wesentlicher Grund für das Engagement vieler junger Menschen in der Klimabewegung.

Dass sich dort als Leitfiguren oft junge Frauen herausgebildet haben, die als gesellschaftliche Außenseiterinnen wahrgenommen wurden, worauf sich die Medien besonders stürzen, ist historisch gesehen nichts Besonderes. Der Historiker und Autor des Buches „Poesie der Klasse“ Patrick Eide Offe erklärte auf einer Veranstaltung im Brecht-Haus zur Poetik der Solidarität, dass in der Literatur häufig gesellschaftliche Outlaws wichtige Impulse für soziale Umbrüche gegeben haben.

Beim politischen Engagement spielte auch in der Vergangenheit die Produzentenmacht eine wichtige Rolle. Im Fordismus war es oft die ausgebildete Facharbeiterklasse, die sich mit der Arbeit der Maschinen auskannte, die auch politisch in Gewerkschaften und linken Parteien die Welt in ihrem Sinne verändern wollten. Sie waren die Akteure der parteiförmig organisierten Arbeiterbewegung in Frankreich und Italien bis in die 1970er Jahre.

Mit der Krise des fordistischen Akkumuiationsmodells erodierte diese Produzentenmacht in den Fabriken und damit auch der Einfluss der linken Arbeiterparteien und der Gewerkschaften. Sie verloren auch die Hegemonie in der Gesellschaft. Das konnte man bei den Demonstrationen am Freitag gut beobachten. Der Großteil der Beteiligten war unorganisiert. Erst in den hinteren Reihen kamen einige organisiert Blöcke, von Menschen und Initiativen getragen, die auf verschiedenen politischen Feldern aktiv sind. Sie konnten sich an der Demonstration beteiligen und ihre Interpretation der Klimakrise auf Transparenten, Flugblättern und Sprechchören verbreiten. Aber sie waren nur ein sehr kleiner Teil der Demonstration. Schon ihr Platz im hinteren Teil ist ein Zeichen dafür, dass sie keine Hegemonie in der Bewegung haben. Nur dann könnten sie im vorderen Teil der Demonstration gehen.

Was ist mit Systemchange gemeint?

Doch, wenn auch eine Einflussnahme von linken Gruppen in der Klimabewegung abgelehnt wird, so gibt es doch Losungen und Parolen der Linken, die auch bei den Klimaaktivisten auf Zustimmung stoßen. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann vielleicht die Parole „Systemchange not Klimachange“ gelten.

Doch hier stellt sich sofort die Frage, was mit Systemchange gemeint ist. Denn auch der Wechsel eines kapitalistischen Akkumulationsmodells kann so interpretiert werden. Damit nicht dem Fordismus die Uberisierung folgt, müsste der kapitalistische Verwertungszwang als wichtiger Urheber der Klimakrise in den Mittelpunkt gestellt werden. Der Autor der Krisis-Gruppe Norbert Trenkle hat in einem aktuellen Beitraggut begründet, warum es keinen ökologischen Kapitalismus geben kann.

Grundsätzlich ist die Vorstellung einer „ökologischen Marktwirtschaft“ nichts anderes als eine Seifenblase. Zwar kann der Kapitalismus prinzipiell in vielfältiger Weise reguliert und „eingehegt“ werden, auch wenn das im Zeitalter der Globalisierung immer schwieriger wird. (Ein „freier Markt“ ohne Regulierung existiert nur in den Horror-Phantasien der Hardcore-Liberalen; es hat ihn nie gegeben und es kann ihn nie geben.) Aber die Grundlogik des Wachstumszwangs, die auf dem Selbstzweck der Kapitalakkumulation beruht, lässt sich nun einmal nicht wegregulieren, weil sie den Wesenskern des marktwirtschaftlichen Systems ausmacht. Selbst wenn es also tatsächlich gelänge, die energetische Basis kurzfristig umzustellen, würde das die Wucht der ökologischen Zerstörung bestenfalls ein wenig abbremsen und auf andere Gebiete verschieben.

Norbert Trenkle

In dem Beitrag wird auch deutlich, warum es mindestens naiv ist, sich auf vielen Zeitungseiten darüber aufzuregen, warum dieser Politiker oder jener Wirtschaftsführer nicht mehr für das Klima getan hat. Solange sie die kapitalistische Verwertungslogik nicht infrage stellen, können sie nur Symbolpolitik auf dem Umweltsektor anbieten – und sie können diese dann noch für weitere sozialen Zumutungen bei den Menschen nutzen, die schon heute wenig Geld haben. Auch auf diesen Aspekt hat Norbert Trenkle in seinen Beitrag hingewiesen:

Wenn also die Gegner der CO2-Steuer diese als „unsozial“ brandmarken, dann haben sie durchaus starke Argumente auf ihrer Seite. Natürlich sind das ganz überwiegend Leute, denen die „soziale Frage“ sonst vollkommen egal ist und die sie hier nur aus durchsichtigen politischen und ideologischen Motiven instrumentalisieren. Dennoch verweisen sie auf ein durchaus ernst zu nehmendes Problem. Die ohnehin bestehenden sozialen und regionalen Disparitäten würden sich zweifellos deutlich vergrößern, und damit verschärften sich auch die gesellschaftlichen Verteilungskonflikte, wie jetzt schon an den Protesten der Gelbwesten deutlich wurde.

Norbert Trenkle

Wenn man manche Verlautbarungen der Klimaaktivisten zur sozialen Frage hört, könnte man ihnen glatt unterstellen, sie wären in der FDP gut aufgehoben. So fiel der Berliner Klimaaktivistin Clara Mayer im Taz-Interview zur Debatte um Verlierer der Klimadebatte nur ein:

Dass es die Konflikte gibt, ist ja nicht zu bestreiten. Aber ich finde es sehr schade, dass es immer diese VerliererInnendebatte gibt, da habe ich das Gefühl, das ist eher AfD-Niveau. So von wegen: Der Klimaschutz wird einen Großteil der Bevölkerung total benachteiligen und die arbeitende Bevölkerung ins Unglück stürzen. Das ist doch kompletter Unsinn. Es gibt so viele Studien, die zeigen, dass es unserer Wirtschaft auch mit Klimaschutzmaßnahmen besser gehen wird, dass es auch für Kohlekumpel Umschulungen gibt, dass es für diese Menschen Beschäftigung gibt.

Clara Meyer

Einmal abgesehen davon, dass der kapitalistische Mythos, wenn es den Konzernen gut geht, es auch den Arbeitern gut geht, hier unkritisch reproduziert wird, wird schon der Hinweis, dass es Menschen gibt, die sich die Verteuerungen im Zuge der neuen Klimapolitik nicht leisten können, in die rechte Ecke gestellt. Angesichts solcher Positionen in Teilen der Klimabewegung wäre eine Kooperation derjenigen, die in der Klimafrage auch eine Klassenfrage sehen, wichtig. Dabei hat eine Studie des Umweltbundesamtes klar zu Jahresbeginn klar festgestellt:

„Der Einfluss des Einkommens ist dabei besonders groß: Die Befragten in der untersten Einkommensgruppe haben im Mittel einen Gesamtenergieverbrauch von rund 10.000 Kilowattstunden pro Jahr (kWh/a), bei Befragten mit hohen Einkommen liegt er mit knapp 20.000 kWh/a fast doppelt so hoch.“

Angehörige der prekären Milieus haben also den geringsten Energieverbrauch. Das bringt die linksliberalen Klimabewegten und die Taz-Journalistin, die darüber berichtet, fast zum Verzweifeln. Doch individuelle Lösungen oder Selbstgeißelungen helfen da wenig. Es sollte vielmehr erkannt werden, dass es für strukturelle Probleme kaum individuelle Lösungen geben kann.

Es wird sich in Zukunft also zeigen, ob die Klimabewegung erkennt, dass sie, wenn sie Erfolg haben will, über den Kapitalismus hinausdenken muss. Doch genau hier liegt das Problem und einige Demonstranten haben es mit einer Parole auf ihren Transparenten gut auf den Punkt gebracht. „Manche können sich eher ein Ende des Planeten als ein Ende des Kapitalismus vorstellen“. Die, die hier gemeint sind, fanden sich auch in großer Menge auf den Klimademonstrationen. Solange sich das nicht ändert, könnte der von vielen geforderte Systemchange tatsächlich bedeuten, dass Uber Ford ablöst.

Peter Nowak

Solidarität in der Kunst

Kein Roman über Emmely?

Was meint linkes solidarisches Handeln im Jahr 2019, insbesondere in Bezug auf Kultur und Literatur? Diese Frage wurde am Dienstag im Berliner Brecht-Haus diskutiert.

Vorwärts und nicht vergessen: die Solidarität«, lautet der Refrain des berühmten Song, den Ernst Busch für den Film »Kuhle Wampe« von Slatan Dudow (1932) geschrieben hat. Die Nazis sprachen nicht von Solidarität, sondern von »Volksgemeinschaft«, was Unterordnung bedeutete. Heute skandieren die Rechten: »Hoch die nationale Solidarität. «Was meint linkes solidarisches Handeln im Jahr 2019, insbesondere in Bezug auf Kultur und Literatur? Diese Frage wurde am Dienstag im…

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#unten – Kummerkasten jetzt auch für sozial Diskriminierte?

Die Debatte über Verarmung und soziale Ausgrenzung, von der nun auch häufiger Akademiker betroffen sind, ist ein guter Anfang. Die Frage ist, welchen Effekt sie haben wird

Die Debatte über Verarmung und soziale Ausgrenzung, von der nun auch häufiger Akademiker betroffen sind, ist ein guter Anfang. Die Frage ist, welchen Effekt sie haben wird

Nach #MeToo und #MeTwo, wo sich von Sexismus und Rassismus Betroffene zu Wort meldeten, hat die linksliberale Wochenzeitung Freitag kürzlich mit dem Hashtag #unten ein Forum für soziale Diskriminierung eröffnet [1]. Das ausgerechnet eine Wochenzeitung, die sich vor allem kulturellen Melangen widmet, diese Initiative startete, ist nur auf den ersten Blick überraschend.

Schon längst sind auch prekäre Akademiker von sozialer Ausgrenzung und auch von Armut betroffen und das ist auch ein wichtiger Grund, warum Armut im Spätkapitalismus in der letzten Zeit zum großen Thema in Medien und Öffentlichkeit geworden ist. Genau wie hohe Mieten wird die real existierende Armut erst dann zum Problem, wenn sie eben nicht nur die trifft, denen in der Öffentlichkeit dann gern die Schuld für ihre soziale Lage zugesprochen wird.

Dann gibt es noch einen biographischen Grund für die Kampagne. Der Journalist Christian Baron [2] hat das Feuilleton des Neuen Deutschland verlassen und in der Wochenzeitung Freitag einen neuen Arbeitsplatz gefunden. Baron hat mit seinen vieldiskutierten Buch Pöbel, Proleten, Parasiten [3] (vgl. Wird die Rechte stark, weil die Linke die Arbeiter verachtet? [4]) auch mit biographischen Zugängen die Armut in Deutschland zum Thema gemacht.

Auch die Soziologin Britta Steinwachs, die ebenfalls #unten initiierte [5], beschäftigt sich seit Jahren damit, wie Armut in Deutschland produziert wird und was das bei den Betroffenen auslöst [6].

Klassenpolitische Dimension von #unten?

Steinwachs stellte diese Frage am Anfang: „#unten – Warum gibt es noch keine klassenpolitische Ergänzung zu #MeToo und #MeTwo?“ Die Frage ist einerseits berechtigt und andererseits irritierend. Es ist natürlich völlig richtig zu fragen, warum die sozialen Diskriminierungserfahrungen nicht ebenso Gegenstand von öffentlichem Interesse sind wie Rassismus- und Sexismuserfahrungen. Die Reaktionen der Freitag-Leserinnen und Leser bestätigten die Notwendigkeit einer solchen Initiative. Hier nur eine von zahlreichen Zuschriften an den Freitag.

Sehr geehrte Redaktion des Freitag,
haben Sie vielen Dank für die Artikel. Selbst bin ich von zwei Seiten im Thema. Ich arbeite als Honorarkraft im ambulant betreuten Wohnen und habe mit armen Menschen zu tun. Ich kenne ziemlich gut, was Christian Baron und Britta Steinwachs beschreiben. Auch die Scham. Und die Hoffnungen. Selbst habe ich mit Ende 40 nicht mehr weitermachen können wie bisher. Ich habe Soziale Arbeit studiert und bin dabei auch politisiert worden.

Jetzt habe ich nach zwei Jahren das Bewerbungen-Schreiben aufgegeben. Das wird nichts mehr, ich bin inzwischen 57 Jahre alt. Es kostet total viel Kraft, die Ursachen für das Scheitern nicht bei mir zu suchen. Ich erfahre die Abwertung: „Wer arbeiten will, findet Arbeit.“ Ich bin überzeugt, dass ich nicht allein bin mit „meinem“ Problem. Nicht im Hilfesystem. Knapp drüber, und aus Scham bloß nicht reinrutschen (und nicht drüber reden).

Leserbrief an den Freitag

Es schrieben auch Menschen, die durch #unten ihre Scham überwunden haben und die Briefe oder Mails mit vollständigen Namen zeichneten, weil ihnen jetzt bewusst geworden hat, dass ihre soziale Situation nicht ihr individuelles Problem ist. Das Problem ist vielmehr ein auf Profit orientiertes System, dass diese Armut produziert. Hier stellt sich dann die Frage, folgt auf #unten eine klassenkämpferische Initiative oder ist es ein Ersatz dafür?

Da müssen an #unten die gleichen kritischen Fragen gestellt werden wie an MeToo – „Kummerkasten von Mittelstandsfrauen oder neues feministisches Kampffeld“ [7] lautete hier eine Frage. Und MeTwo könnte zu einer Erweiterung und Stärkung von antirassistischer Praxis beitragen. #unten könnte der Anfang einer klassenkämpferischen Intervention sein.

Dann wären die Erzählungen der Betroffenen ein Anfang – ähnlich wie vor mehr als 150 Jahren in der frühen Arbeiterbewegung, als auch Berichte über das elende Leben der Arbeiter den Anstoß zur Organisierung gaben, wie Patrick Eiden-Offe in seinem Buch „Die Poesie der Klasse“ [8] für die Zeit des Vormärz gut herausgearbeitet hat.

Wie wird mit den Erfahrungen von Armutsbetroffenen umgegangen?

Und da sind wir bei der angedeuteten Irritation, wenn die Soziologin Britta Steinwachs von der klassenpolitischen Dimension von #unten schreibt. Denn die wäre dann ja der nächste Schritt – aber nicht mit #unten identisch. Hier geht es zunächst um das aufklärerische Benennen der Situation, das Bewusstsein schafft.

Das kann eben darin bestehen, dass man begreift, dass man nicht selbt schuld an der schlechten sozialen Situation ist. Doch damit #unten eine klassenpolitische Dimension bekommt, müsste der nächste Schritt erfolgen. Es müsste eine Form der praktischen Organisierung geben und ein Bewusstsein, dass Armut und Reichtum zwei Seiten einer Medaille im Kapitalismus sind. Bert Brecht hat diesen Zusammenhang in der ihm eigenen Prägnanz so zusammengefasst [9]:

Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
»Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.

Bert Brecht

Dass sich auch die arme und reiche Frau gegenüberstehen könnten, braucht wohl keiner weiteren Erläuterung. Doch wenn dieser Erkenntnisschritt nicht gegangen wird, bleibt es beim Räsonieren über Armut, das, worauf die Publizistin Mely Kiyak mit Recht hinwies [10], so neu nicht ist.

Neu ist aber, dass nicht auf Armutskonferenzen oder „Runden Tischen gegen Armut“, sondern auch im Wochenblatt des linken Bürgertums über Armut diskutiert wird. Dafür muss sich der Freitag nicht rechtfertigen. Es ist natürlich positiv, wenn eben prekäre Akademiker über Armut reden. Das wäre nur dann zu kritisieren, wenn sie nur über ihre Arbeit debattieren wurden und wenn sie die jahrzehntelange Arbeit von Armutskonferenzen, Runden Tischen der Betroffenen etc. einfach ignoriert würden.

Noch ist nicht klar, wie bei in den von #unten angestoßenen Diskussionen die jahrelange Arbeit dieser Armutsbetroffenen einfließt. Noch ist die Kampagne zu neu, um da ein klares Urteil zu bilden.

Es fällt aber tatsächlich auf, dass darauf in den bisher publizierten Beiträgen kaum Bezug genommen wird. Man wird die weitere Debatte beobachten müssen, um sich ein Urteil bilden zu können. Es gibt aber für die Initiatoren von #unten nicht die Ausrede, die Ergebnisse der jahrelangen Arbeit von Armut Betroffener seien kaum bekannt.

Tatsächlich gab es oft wenig Resonanz auf Pressekonferenzen, wo sie ihre Arbeit und ihre Forderungen darstellten. Doch es gibt Studien über Armut und ihre Auswirkungen unter Anderem von Anne Allex zu Frauen in Armut und prekärer Beschäftigung [11]. Das ist nur eins von zahlreichen Beispielen.

Was folgt auf #unten?

Ob #unten also tatsächlich der Beginn einer neuen klassenkämpferischen Organisierung wird oder ein weiteres Beispiel für das „Räsonieren über Armut“ wird sich praktisch erweisen.

Doch es zeigte sich bereits, dass solche Initiativen bei den Betroffenen durchaus auf Resonanz stoßen und auch die Probleme einer Gesellschaft im Spätkapitalismus zeigt, in dem die Menschen oft so voneinander isoliert sind, dass sie solche Anstöße zur Kommunikation brauchen.

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-4232205
https://www.heise.de/tp/features/unten-Kummerkasten-jetzt-auch-fuer-sozial-Diskriminierte-4232205.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/armut-spricht
[2] http://www.christian-baron.com
[3] https://www.eulenspiegel.com/verlage/das-neue-berlin/titel/kein-herz-fuer-arbeiter.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Wird-die-Rechte-stark-weil-die-Linke-die-Arbeiter-verachtet-3452409.html
[5] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/sag-mir-wo-du-herkommst
[6] http://www.sebastian-friedrich.net/das-maerchen-vom-boesen-armen-die-soziologin-britta-steinwachs-lueftet-den-ideologischen-schleier-des-privatfernsehens/
[7] https://www.heise.de/tp/features/Metoo-Kummerkasten-von-Mittelstandsfrauen-oder-neues-feministisches-Kampffeld-4153174.html
[8] https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/die-poesie-der-klasse.html
[9] https://www.zitate-online.de/sprueche/kuenstler-literaten/18900/reicher-mann-und-armer-mannstanden-da-und.html
[10] https://www.zeit.de/kultur/2018-11/armut-unten-hashtag-klassengesellschaft-chancengleichheit
[11] https://www.rosalux.de/dokumentation/id/13725/frauen-in-armut-und-prekaerer-beschaeftigung/

Die Poesie der Klasse

Der entstehende Kapitalismus brachte nicht nur massenhaftes Elend hervor, mit ihm bildeten sich in den unteren Klassen auch neue Formen der Dichtung und des Erzählens heraus, in denen die Misere der Gegenwart und Formen des Widerstands eindrücklich beschrieben werden. Nur wenige dieser Schriften sind heute noch bekannt.

Manche von ihnen wurden in den Schriften von Marx und Engels zitiert, beispielsweise der Arbeiterdichter Wilhelm Weitling. Marx würdigte ihn als einen der ersten, der sich für die Organisierung des Proletariats einsetzte. So heisst es auf der Homepage www.marxist.org über Weitling: «Trotz späteren Auseinandersetzungen achteten Marx und Engels den ‹genialen Schneider› (Rosa Luxemburg) sehr hoch und betrachteten ihn als ersten Theoretiker des deutschen Proletariats.» Allerdings wird gleich auch betont, dass Weitlings Ansätze an theoretische und praktische Grenzen stiessen. Inhaltlich gibt es für diese Kritik gute Gründe, doch hat der Umgang mit Weitling in der marxistischen ArbeiterInnenbewegung auch etwas Paternalistisches. Schliesslich blieb Weitling sein Leben lang Schneider, hatte nie eine Universität besucht und schon deshalb hatten seine Arbeiten es schwerer, wahrgenommen und gehört zu werden.

Träume und Sehnsüchte
Dabei gehört Weitling zu den wenigen Chronist-Innen der frühen ArbeiterInnenbewegung, deren Namen überhaupt einem grösseren Kreis bekannt ist. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe hat in seinem Buch «Die Poesie der Klasse» viele der frühen Texte der ArbeiterInnenbewegung dem Vergessen entrissen. Er beklagt, dass sie lange Zeit nur durch die Brille des Marxismus gesehen und als romantischer Antikapitalismus beiseite gelegt wurden. Schon im Klappentext des Buches heisst es über die oft vergessenen AutorInnen: «Die buntscheckige Erscheinung, die Träume und Sehnsüchte dieser allen ständischen Sicherheiten entrissenen Gestalten fanden neue Formen des Erzählens in romantischen Novellen, Reportagen, sozialstatistischen Untersuchungen, Monatsbulletins. Doch schon bald wurden sie – ungeordnet, gewaltvoll, nostalgisch, irrlichternd und utopisch, wie sie waren – von den Vordenkern der Arbeiterbewegung als reaktionär und anarchisch verunglimpft, weil sie nicht in die grosse lineare Fortschrittsvision passen wollten.» So verdienstvoll es von Patrick Eiden-Offe ist, diese Texte wieder bekannt gemacht und mit grossem Engagement in einem Buch präsentiert zu haben, das auch für NichtakademikerInnen Freude und Erkenntnisgewinn bereitet, so muss man doch die Kritik des Autors an den MarxistInnen hinterfragen. Gerade nach der Lektüre der Texte zeigt sich, dass diese Kritik oft berechtigt war.

Widerstandsstrategien
Dabei ging und geht es gerade nicht darum, den VerfasserInnen der Texte zu unterstellen, sie wären reaktionär. Es geht vielmehr darum, zu analysieren, dass sie in ihren Texten ihre Vorstellungen von der Welt und dem hereinbrechenden Kapitalismus zum Ausdruck brachten. Sie nahmen dabei Gerechtigkeitsvorstellungen zum Massstab, die sie aus dem Feudalismus und der ständischen Gesellschaft übernommen hatten. Nur waren diese Vorstellungen mit dem Einzug des Kapitalismus verdampft und obsolet geworden. Es war gerade das grosse Verdienst von Marx und Engels, dass sie die Ausbeutung und nicht den Wucher als zentrales Unterdrückungsinstrument im Kapitalismus analysierten. Das hatte auch Folgen für die Widerstandsstrategien. An einem romantischen Kapitalismus festzuhalten, wäre dann nur anachronistisch und birgt noch die Gefahr einer reaktionären Lesart der Kapitalismuskritik, die die Schuldigen für die Misere nicht im kapitalistischen Konkurrenz- und Profitstreben, sondern in WuchererInnen sieht. Das war übrigens ein Schwungrad für den modernen Antisemitismus. Dem Autor sind solche Bestrebungen fern. Dass Eiden-Offe auf diese Gefahren eines romantischen Antikapitalismus nicht besonders eingeht, liegt wohl vor allem daran, dass er voraussetzt, dass seine LeserInnen mit der Problematik einer reaktionären Kapitalismuskritik vertraut sind.

Gegen den Klassenkompromiss
Ihm geht es um etwas anderes, wie er im letzten Kapitel des Buches, das unter dem Titel «Die Rückkehr des romantischen Antikapitalismus» steht, erläutert: Wenn es seit dem Vormärz eine Uniformierung und Normierung des Proletariats gegeben hat, dann wird diese Klassenfiguration vom Gespenst des «virtuellen Paupers» verfolgt, der durch keine sozialstaatliche Absicherung und durch keine Verbürgerlichung des sozialen Imaginären zu bannen ist. Parallel zur Einhegung des Klassenkampfs in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften und zur Integration der offiziellen ArbeiterInnenbewegung in die Gesellschaft gibt es eine andere Geschichte, die Geschichte einer anderen Arbeiter-Innenbewegung, die Geschichte all jener sozialen Gestalten, in denen das Gespenst des «virtuellen Paupers sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts verkörpert und die gehegte soziale Ordnung bespukt hat». Damit bezieht sich der Autor auf sozialrevolutionäre Debatten der 1970er Jahre, als der linke Historiker Karlheinz Roth ein Buch mit dem Titel «Die andere Arbeiterbewegung» veröffentlichte, in dem er die Pauperierten zum neuen revolutionären Subjekt erklärte. Er setzte sie von den Teilen der ArbeiterInnenklasse ab, die im Rahmen des nationalen Klassenkompromisses befriedet wurden. Man könnte auf sie den Begriff der ArbeiterInnenaristokratie anwenden.

Nationalismus als Sargnagel
Eiden-Offe zeigt, wie sich auch dies Einhegung eines Teils des Proletariats in den zeitgenössischen Schriften niederschlägt, beispielsweise in Ernst Willkomms fünfbändigem Roman «Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes» von 1845. Hier ging es zum Schluss um die nationale Einhegung der ArbeiterInnen. Eiden-Offe beschreibt die Konsequenzen sehr präzise: «Ab jetzt sollte es keine ‹vaterlandslosen Gesellen›, keine ‹heimatlose Klasse› mehr geben, sondern nur noch ‹deutsche Arbeiter›». Die «vaterlandslosen Gesellen», die es natürlich weiterhin gibt, werden marginalisiert und ausgeschlossen – ideologisch wie materiell, wenn sie aus der staatlichen Fürsorge rausfallen. Der Autor beschreibt präzise, dass diese nationale Einhegung zum «Sargnagel des buntscheckigen Proletariats des Vormärz» wurde, dessen Geschichte in dem Buch erzählt wird. In einer Fussnote merkt Eiden-Offe an, dass die Erosion des nationalstaatlichen Klassenkompromisses, den wir aktuell beobachten, nicht bedeutet, dass damit Nationalismus und Chauvinismus in Teilen der ArbeiterInnenklasse automatisch auf dem Rückzug sind. Allerdings zeigte sich in der letzten Zeit das veränderte Gesicht der heutigen ArbeiterInnenklasse, beispielsweise bei den zahlreichen Arbeitskämpfen im Pflege- und Gesundheitsbereich, aber auch bei Kurierdiensten.

Es sind dort sehr viele Frauen aktiv und nicht wenige der ProtagonistInnen dieser Kämpfe haben einen Migrationshintergrund. Vielleicht wird hier in Ansätzen diese bunte und gar nicht so homogene ArbeiterInnenklasse sichtbar, die in dem Buch so anschaulich beschrieben wird. «Es kommt darauf an, die Fäden neu zu verknüpfen – oder sie endlich beherzt zu kappen», schreibt der Autor im letzten Kapitel in Bezug auf die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung. Nun wird auch der Linken der Abschied vom Proletariat seit mehr als dreissig Jahren vollzogen, mit dem Ergebnis, dass in vielen Ländern der Welt, die Linke nur noch isolierte Minderheiten und keine Klassen mehr kennen will. Die real existierenden Lohnabhängigen werden dann rechts liegen gelassen. «Die Poesie der Klasse» aber bietet die Chance, sich auf eine neue Art und Weise auf die Lohnabhängigen zu beziehen. Dadurch, dass in dem Buch aufgezeigt wird, dass das Proletariat historisch immer bunt war und sich nicht in auf die berühmt-berüchtigten Stahl- und Bergarbeiter beschränkte, könnten den Marginalisierten und Prekarisierten von heute die Möglichkeit geben, sich selber als Teil dieser Klasse zu erkennen.


Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Matthes & Seitz, Berlin. 30,00 Euro

aus: vorwärts – Schweiz

Die Poesie der Klasse

Peter Nowak

Poesie der Klasse

Der entstehende Kapitalismus brachte nicht nur massenhaftes Elend hervor. Mit ihm bildeten sich in den unteren Klassen auch neue Formen der Dichtung und des Erzählens heraus, in denen die Misere der Gegenwart und Formen des Widerstands ei drücklich beschrieben werden. Nur wenige dieser Schriften sind heute noch bekannt. Manche von ihnen wurden in den Büchern von Marx und Engels zitiert, beispielsweise der Arbeiterdichter Wilhelm Weitling. Marx würdigte ihn als einen der ersten, der sich für die Organi-ierung des Proletariats einsetz- te. So heißt es auf der Homepage www.marxist.org über Weitling: „Trotz späteren Auseinandersetzungen achteten Marx und Engels den ‚genialen Schneider‘ (Rosa Luxemburg) sehr hoch und betrachteten ihn als ersten Theoretiker des deutschen Proletariats.“
Allerdings wird gleich auch betont, dass Weitlings Ansätze an theoretische und praktische Grenzen gestoßen sind. Inhaltich gibt es für diese Kritik gute Gründe, doch hat der Umgang mit Weitling in der marxistischen ArbeiterInnenbewegung auch etwas Paternalistisches. Schließlich blieb Weitling sein Leben lang Schneider, hatte nie eine Universität besucht und schon deshalb hatten seine Arbeiten es schwerer, wahrgenommen und gehört zu werden. Dabei gehört er zu den wenigen Chronisten der frühen Arbeiterbewegung, deren überhaupt ei- nem größeren Kreis bekannt ist. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe hat in seinem Buch „Die Poesie der Klasse“ viele der frühen Texte der ArbeiterInnenbewegung dem Vergessen entrissen. Er beklagt, dass sie lange Zeit nur durch die Brille des Marxismus gesehen und als romantischer Antikapitalismus beiseite gelegt.

Schon im Klappentext des Buches heißt es über die AutorInnen: „Die buntscheckige Erscheinung, die Träume und Sehnsüchte dieser allen ständischen Sicherheiten entrissenen Gestalten fanden neue Formen des Erzählens in romantischen Novellen, Reportagen, sozial- staatlichen Untersuchungen, Monatsbulletins. Doch schon bald wurden sie – ungeordnet, gewaltvoll, nostalgisch, irrlichternd und utopisch, wie sie waren – von den Arbeiterbewegung als reaktionär und anarchistisch verunglimpft, weil sie nicht in die große Fortschrittsvision passen wollten“.
So verdienstvoll es von Patrick Eiden-Offe ist, diese Texte wie- der bekannt gemacht und mit großem Engagement in einem Buch präsentiert zu haben, dass auch für NichtakademikerInnen zu lesen Freude und Erkenntnisgewinn bereitet, so muss man doch die Kritik des Autors an den Marxistinnen hinterfragen. Gerade, nach der Lektüre der Texte zeigt sich, dass diese Kritik oft berechtigt war. Dabei geht es gerade nicht darum, den VerfasserInnen der Texte zu unterstellen, sie wären reaktionär. Es geht vielmehr darum, zu analysieren, dass sie in ihren Texten ihre Vorstellungen von der Welt und dem hereinbrechenden Kapitalismus zum Ausdruck gebracht haben. Sie haben dabei Gerechtigkeitsvorstellungen zum Maßstab genommen, die sie aus dem Feudalismus und der ständischen Gesellschaft übernommen hatten. Nur waren diese Vorstellungen mit dem Einzug des Kapitalismus obsolet geworden. Es war ein Verdienst von Marx und Engels, dass sie die Ausbeutung und nicht den Wucher als zentrales Unterdrückungsinstrument im Kapitalismus analysiert haben. An einem romantischen Kapitalismus festzuhalten wäre dann nur anachronistisch und birgt noch die Gefahr einer reaktionären Lesart der Kapitalismuskritik, die die Schuldigen für die Misere nicht im kapitalistischen Konkurrenz- und Profitstreben, sondern in Wucherern sieht. Das war übrigens ein Schwungrad für den modernen Antisemitismus. Dem Autor sind solche Bestrebungen fern. Dass Eiden-Offe auf diese Gefahren eines romantischen Antikapitalismus nicht besonders eingeht, liegt wohl vor allem daran, dass er voraussetzt, dass seine LeserInnen mit der Problematik einer reaktionären Kapitalismuskritik vertraut sind.

Die Rückkehr des virtuellen Pauper

Ihm geht es um etwas Anderes, wie er im letzten Kapitel des Bu- ches, das unter dem Titel „Die Rückkehr des romantischen Antikapitalismus“ steht, erläutert: Wenn es seit dem Vormärz eine Uniformierung und Normierung des Proletariats gegeben hat, dann wird diese Klassenfiguration vom Gespenst des „virtuellen Paupers“, der durch keine sozialstaatliche Absicherung und durch keine Verbürgerlichung des sozialen Imaginäten zu bannen ist. Parallel zur Einhegung des Klassenkampfs in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften und zur Integration der offiziellen Arbeiterbewegung in die Gesellschaft gibt es eine andere Geschichte, die Geschichte einer anderen Arbeiterbewegung, die Geschichte all jener sozialen Gestalten, in denen das Gespenst des „virtuellen Paupers sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts verkörpert und die gehegte soziale Ordnung bespukt hat“. Damit bezieht sich der Autor auf sozialrevolutionäre Debatten der 1970er Jahre, als der linke Historiker Karlheinz Roth ein Buch mit dem Titel „Die andere Arbeiterbewegung“ veröffentlichte, in dem er die Pauperierten zum neuen revolutionären Subjekt erklärte. Er setzte sie von den Teilen der Arbeiterklasse ab, die im Rahmen des nationalen Klassenkompromisses befriedet wurden. Man könnte auf sie den Begriff der Arbeiteraristokratie anwenden. Eiden-Offe zeigt, wie sich auch diese Einhegung eines Teils des Proletariats in den zeitgenössischen Schriften niederschlägt, beispielsweise in Ernst Willkomms Roman „Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes“ von 1845. Hier ging es zum Schluss um die nationale Einhegung der ArbeiterInnen. Eiden-Offe beschreibt die Konsequenzen präzise: „Ab jetzt sollte es keine ‚vaterlandslosen Gesellen‘, keine ‚heimatlose Klasse‘ mehr geben, sondern nur noch ‚deut- sche Arbeiter‘, die vaterlands- losen Gesellen‘, die es natürlich weiterhin gibt, werden marginalisiert und ausgeschlossen: ideologisch wie materiell, wenn sie aus der staatlichen Fürsorge rausfallen“.
Der Autor beschreibt präzise, dass diese nationale Einhegung zum „Sargnagel des buntscheckigen Proletariats des Vormärz“ wurde, dessen Geschichte in dem Buch erzählt wird. Allerdings zeigte sich in der letzen Zeit das veränderte Gesicht der heutigen ArbeiterInnenklasse, beispielsweise bei den zahlreichen Arbeitskämpfen im Pflege- und Gesundheitsbereich, aber auch bei Kurierdiensten. Es sind dort sehr viele Frauen aktiv, und nicht wenige der ProtagonistInnen dieser Kämpfe haben einen Migrationshintergrund. Vielleicht wird hier in Ansät- zen diese bunte, gar nicht so heterogene ArbeiterInnenklasse sichtbar, die in dem Buch so anschaulich beschrieben wird.

libertäre buchseiten
graswurzelrevolution oktober 2018/432

Peter Nowak