Abschiedsbrief einer verlorenen Generation

Italien: Das Schreiben eines Mannes, der Suizid beging, hat in Italien eine große Resonanz. Sie zeigt, dass die Krise längst nicht vorbei ist

„Ich habe dreißig Jahre lang (schlecht) gelebt, einige werden sagen, dass es ein zu kurzes Leben war. Diese Leute aber können nicht die Grenzen der Geduld und des Erträglichen bestimmen, denn diese Grenzen sind subjektiv, nicht objektiv. Ich habe versucht, ein guter Mensch zu sein. Ich habe Fehler begangen. Ich habe viele neue Versuche gestartet. Ich habe versucht, meinem Leben einen Sinn zu geben und mir selbst ein Ziel zu setzen und dabei meine Fähigkeiten einzusetzen. Ich habe versucht, aus dem Unbehagen eine Kunst zu machen.“

Mit diesen Zeilen[1] beginnt ein Brief[2], der in Italien für Aufsehen, Trauer und Empörung sorgt. Es ist der Abschiedsbrief eines 30-Jährigen, der Suizid verübte und in diesen Schreiben seine Gründe darlegte.

Dass der sehr persönlich gehaltene Brief so große Resonanz erfährt, liegt daran, dass dort etwas formuliert wurde, das die Erfahrungen von vielen Menschen in Italien wiedergibt. Es sind die Menschen, die als „Generation Praktikum“ bezeichnet werden. Von der Kindheit an wird ihnen eingebläut, dass sie flexibel sein müssen, dass sie autonom und selbstständig für ihr Leben verantwortlich sind und dass sie, wenn sie sich anstrengen, auch Erfolg haben können.

Und sie machen eine Erfahrung, die der Verfasser des Briefes, der auf Wunsch seiner Eltern veröffentlicht wurde, aber anonym bleiben soll, so zusammenfasst:

Ich bin es leid, den Erwartungen Anderer gerecht zu werden, obwohl meine eigenen Erwartungen nie erfüllt wurden. Ich bin es leid, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, Interesse vorzutäuschen, mich selbst zu enttäuschen, auf den Arm genommen zu werden, aussortiert zu werden und mich selbst sagen zu hören, dass Sensibilität eine besonders tolle Charaktereigenschaft ist. Alles Lügen.

Brief eines Unbekannten

Da nimmt einer die ideologischen Prämissen des modernen Kapitalismus auseinander und erkennt, dass das Gerede über Sensibilität, Diversität, Individualität und Flexibilität die zeitgemäße Ideologiesegmente sind, hinter denen sich die aktuelle Ausbeutung gut verbirgt.

Gerade Italien war Pionier bei der Zerschlagung der teils von der Arbeiterbewegung erkämpften, teils als Kompromiss zugestandenen Rechte. Die Prekarität der Lebens- und Arbeitsverhältnisse bekamen vor allem junge gut ausgebildete Menschen zu spüren. Sie waren es auch, die vor ca. 20 Jahren zum Anwachsen der starken Protestbewegungen in Italien führten[3]. Bekannt wurden die blutig niederschlagenen Proteste der Globalisierungsgegner in Genua im Jahr 2001.

Doch sie waren nur der Höhepunkt eines Protestzyklus, der danach repressiv niedergekämpft wurde. Es gab auch danach neue Versuche, sich zu organisieren und für Rechte zu kämpfen: Die Euromayday-Bewegung [4]ging unter anderem von Italien aus und strahlte auf andere Länder aus. Es waren Suchbewegungen, so flexibel wie die aktuellen Verhältnisse.

Vielen waren diese Organisierungsversuche zu langwierig oder sie hatten schlicht in ihrem prekären Alltag keine Zeit dafür. Tausende gut ausgebildete junge Menschen wanderten aus Italien aus, viele nach Deutschland, wo sie sich erneut im Niedriglohnsektor wiederfanden. In Berlin ist es die Gastronomie, und es gibt auch dort Organisierungsversuche von Menschen, die an den Protestzyklus beteiligt waren.

So gründete sich in Berlin das Netzwerk der Migrantstrikers[5]. Doch viele der Prekären resignierten und versuchten, nur noch zu überleben. Nicht alle schafften es, wie der Brief zeigt, der ausdrückt, was viele denken und fühlen.

Heute wissen wir, dass die Entsicherung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse zum Kennzeichen der gegenwärtigen Regulationsphase des Kapitalismus gehört und sie sich in allen Ländern ausbreitet. Daher ist das, was der Verfasser des Briefes ausdrückt, durchaus auch über Italien hinaus aktuell. Wenn der Schreiber die sinnlosen Bewerbungsgespräche beklagt, dann fühlen sich auch viele Menschen, die im Hartz IV-Regime gefangen gehalten werden, angesprochen.

Das Gefühl, einer staatlichen Instanz hilflos ausgeliefert zu sein, ist auch das Erfolgsgeheimnis des preisgekrönten Films Ich, Daniel Blake[6] von Ken Loach. Er zeigt, dass das Prekariat längst sämtliche Segmente der Lohnabhängigen erfasst hat. Die Generation Praktikum wird zur Erfahrung einer ganzen Klasse.

Es stellt sich nun die Frage, ob aus der Betroffenheit und Trauer, die der Brief in Italien ausgelöst hat, eine neue Bereitschaft zum Widerstand gegen diese Verhältnisse erwächst. In Marokko hatte schließlich der Suizid eines jungen Prekären mit zur Aufstandsbewegung geführt, die zum kurzzeitigen arabischen Frühling wurde.

Auch in Europa sind die Platzbesetzungen und die Krisenproteste der Jahre 2011- 2013 noch nicht vergessen. Damals gehörten Selbstmorde der Krisenbetroffenen in vielen Ländern der europäischen Peripherie zum Alltag. Heute versuchen die Regierungen und die EU-Instanzen alles, um uns glauben zu machen, es gebe gar keine Krise. Damit aber werden die Menschen, die im System nicht aufsteigen, zu Schuldigen erklärt, was in Krankheit und Suizid enden kann. Der Brief aus Italien macht noch einmal deutlich, dass für viele Menschen in Italien und anderswo in der EU die Krise nie vorbei war. Es ist die Frage, ob sich daraus neues Widerstandsbewusstsein gibt.

Die EU-Kommission hat gerade Italien wieder im Visier[7] und fordert die Radikalisierung der Austeritätspolitik. Doch es ist gerade diese Politik, die für die Entsicherung der Lebensverhältnisse vieler Menschen verantwortlich ist.

So ist auch dieser Abschiedsbrief eine Anklage gegen eine Politik, in der alles darauf gerichtet ist, dass die Banken, der Dax und die Börse nicht verärgert werden. Wenn Menschen nicht mehr mitkommen ist das in diesem System nicht mal eine Fußnote wert.


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[1] http://www.huffingtonpost.de/2017/02/08/verlorene-generation-selbstmord_n_14638152.html
[2] http://messaggeroveneto.gelocal.it/udine/cronaca/2017/02/07/news/non-posso-passare-il-tempo-a-cercare-di-sopravvivere-1.14839837?ref=hfmvudea-1
[3] https://prekaer.at/san-precario-history-best-practice
[4] http://euromayday.at
[5] https://berlinmigrantstrikers.noblogs.org/
[6] http://www.imdb.com/title/tt5168192/
[7] http://www.n-tv.de/politik/Italien-will-EU-Strafen-abwenden-article19565681.html

Aufstand der Unsichtbaren?

Zum Aktionstag am 1. März

„Invisible  Care Work“ und „Migrants without Labour Rights“ ist auf den bunten Schirmen zu lesen, die Lucia aufgespannt hat. Sie gehört zu den „Migrant Strikers“, einer Gruppe von italienischen ArbeitsmigrantInnen in Berlin, die am  1. März, einen Internationalen Aktionstag gegen Grenzregieme und Prekarisierung einen Spaziergang durch das Berlin der migrantischen Arbeit organisierte.

Beschlossen  wurde  die diesjährige Aktion   auf einer Konferenz, die unter dem Motto  „Dem transnationalen Streik  entgegen“, im Oktober 2015 im polnischen Poznan  stattgefunden hat. An ihr haben BasisgewerkschafterInnen  und außerparlamentarische Linke aus verschiedenen europäischen Ländern teilgenommen (siehe Express 11/2015). Stattgefunden haben Aktionen in Österreich, Frankreich, Italien, Schweden, Großbritannien, Poleln, Schottland und Slowenien. In Deutschland    beteiligten sich Gruppen in Dresden und Berlin an den Aktionstag.

In Berlin wurde er neben den Migrants Strikers auch von dem Oficina Prekaria unterstützt, in dem spanische MigrantInnen organisiert sind. Auch polnische Gruppen und die Blockupy-Plattform waren an der Vorbereitung beteiligt.  Ca. 100 Menschen haben sich am Potsdamer Platz eingefunden, darunter auch eine Sambagruppe, die musikalisch für Stimmung sorgt. Einige AktivistInnen mit Clownsmasken fragen PassantInnen nach ihren Arbeitsbedingungen. Die meisten schweigen. Vor dem Eingang der Mall of Berlin wird in einem Beitrag der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) an die acht rumänischen Bauarbeiter erinnert, die nun seit mehr als 15 Monaten um den ihnen vorenthaltenen Lohn kämpfen. Trotz zahlreicher Protestveranstaltungen, juristischer Klagen und gewonnener Prozesse haben sie bis heute kein Geld erhalten. Denn das juristische Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Zudem hat eines der beteiligten Subunternehmen Metatec  mittlerweile Insolvenz angemeldet.  „Was in der letzten Zeit fehlt, ist eine kritische Öffentlichkeit, die solange vor dem Eingang der Mall of Berlin protestiert, bis die Kollegen ihren Lohn bekommen haben“, erläutern die KollegInnen der FAU.

An der zweiten Station vor einem Gebäude der HistorikerInnenfakultät der Humboldt-Universität sprechen KommilitonInnen über prekäre Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb. Sie  sind Teil einer von verdi und GEW unterstützten Initiative, die eine Kampange für einen neuen einen Tarifvertrag für die ca.6.000 studentisch Beschäftigen an allen  Berliner Hochschulen fordern. Der aktuelle Tarifvertrag ist seit mehr als 10 Jahren nicht mehr verändert worden. Seit 2001 gab es keine Lohnerhöhung mehr.  Vor dem Jobcenter in der Charlottenstraße sprechen dann VertreterInnen der Erwerbsloseninitiative „Basta“ über Widerstand gegen Sanktionen und Schikanen. Auf dem Weg nach Kreuzberg wird in Kurzbeiträgen an die Beschäftigten in den zahlreichen Restaurants erinnert: „Die Gastronomiebranche ist ein zentraler Motor der prekären migrantischen Arbeit in Berlin“, meint Nicola von den Migrant Strikers. Pablo vom „Oficina Precaria Berlin“, in dem sich ArbeitsmigrantInnen aus Spanien koordinieren, zeigt sich mit dem Ablauf des Spaziergangs zufrieden. „Wir hatten nur einen knappen Monat Vorbereitungszeit und haben unterschiedliche Gruppen prekär beschäftigter KollegInnen erreicht“. Dazu gehören auch die Beschäftigten des Botanischen Gartens an der FU Berlin. Sie wehren sich gegen Outsourcing und haben mit einen Banner der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di an dem Spaziergang teilgenommen. Erwin von der Berliner Blockupy-Plattform, die in den letzten Jahren Krisenproteste organisiert hat, will aber erst von einem Erfolg sprechen, wenn „der Kampf gegen prekarisierte migrantische Arbeit auch über den 1. März hinaus fortgesetzt wird“.

Kampf um das Streikrecht und gegen Leiharbeitsfirmen

In Dresden organisierte die FAU am 1. März eine zentrale Diskussionsrunde zum Thema: Politischer Streik. Dabei ging es um Möglichkeiten der Verteidigung und Ausweitung  des Streikrechts, das derzeit  in verschiedenen europäischen Ländern eingeschränkt wird.

Größere Aktionen gingen am gleichen Tag von der anarchosyndikalistischen Arbeiterinitiative IP in Polen. In mehreren polnischen Städten prangerte sie vor Zeitarbeitsfirmen die dort üblichen prekären Arbeitsbedingungen an. „Wir fordern gleiche Löhne, gleiche Rechte und gleiche Verträge für alle. Ob wir das durchsetzen können, hängt nicht nur von den Managern ab. Wenn wir zusammen agieren, können wir ein Wort bei der Organisation unserer Arbeit mitreden“, heißt es in einem Aufruf der IP zum 1. März. Tatsächlich stellt die transnationale Initiative, die den Kampf gegen das europäische Grenzregime mit dem Kampf gegen Austerität und Prekarität verbindet und dabei das Korsett der Landesgrenzen überwindet, einen Ansatz dar, der ausgewertet und ausgebaut werden sollte.

express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

2-3/2016

http://www.labournet.de/wp-content/uploads/2016/03/nowak_aktion1mrz.pdf

Peter Nowak