„Ich krich vom Amt“. Diese ungewöhnliche Aufschrift auf einem T-Shirt regte vor über 20 Jahren viele Menschen auf. Denn der Träger des Kleidungsstücks Arno Dübel gehörte nicht zum akademischen Prekariat. Dort hätten solche ironischen Slogans auf Kleidungsstücken kein besonderes Aufsehen erregt. Dübel hatte eine Malerlehre abgebrochen und auch später immer wieder deutlich gemacht, dass für ihn Lohnarbeit um jeden Preis kein erstrebenswertes Ziel für sein Leben war. Das äußerte er sogar in …
„Solidarität mit Arno Dübel“ weiterlesenSchlagwort: Michael Fielsch
Arno Dübel: Warum „Deutschlands frechster Arbeitsloser“ für manche ein Ehrentitel war
„Ich krich vom Amt“. Diese ungewöhnliche Aufschrift auf einem T-Shirt regte vor mehr als 20 Jahren viele Menschen auf. Denn der Träger des Kleidungsstücks, Arno Dübel, gehörte nicht zum akademischen Prekariat. In diesem Milieu hätten solche selbstironischen Slogans auf Kleidungsstücken kein besonderes Aufsehen erregt. Dübel hatte eine Malerlehre abgebrochen und auch später immer wieder deutlich gemacht, dass für ihn Lohnarbeit um jeden Preis kein erstrebenswertes Ziel für sein Leben war. Das machte er sogar in Talkshows deutlich und brachte es so zu großer medialer Bekanntheit. Denn er war durchaus …
„Arno Dübel: Warum „Deutschlands frechster Arbeitsloser“ für manche ein Ehrentitel war“ weiterlesenWie die Krise tötet
Eine Studie britischer Forscher zeigt auf, wie die Zahl der Suizide in der Krise steigt, die Steuerwirkung der Politik wird allerdings überschätzt
„Kapitalismus tötet“ ist eine Parole, die in der außerparlamentarischen Linken gelegentlich skandiert wird. Jetzt hat eine Studie britischer Wissenschaftler der Universität Oxford und der London School of Hygiene & Tropical Medicine , die im „British Journal ofPsychiatry“ [1] erscheinen wird, gezeigt, dass die Krise in Europa und Nordamerika zu mehr als 10.000 zusätzlichen Selbstmorden geführt hat. Die Forscher schreiben, wie die BBC berichtet [2], dass die Zahl der Selbstmorde „deutlich angestiegen“ sei – und dass dies zumindest teilweise vermeidbar gewesen wäre.
Arbeitslosigkeit, Schulden, Verlust der Wohnung
Die Wissenschaftler haben für ihre Studie Daten aus 24 EU-Ländern sowie aus den Vereinigten Staaten und Kanada ausgewertet. Die Zahl der Selbstmorde sei in Europa bis zum Jahr 2007 zunächst zurückgegangen. Im Jahr 2009 gab es dann einen Anstieg um 6,5 Prozent, der in
dieser Deutlichkeit bis 2011 anhielt. In den Vereinigten Staaten sei die Zahl der Suizide bereits früher gestiegen, die Entwicklung habe sich aber mit Ausbruch der Wirtschaftskrise verstärkt. Als die größten Risikofaktoren machte die Untersuchung dementsprechend Arbeitslosigkeit, Verschuldung und den Verlust des Eigenheims aus.
Eine Überraschung sind die Zahlen allerdings nicht. Bereits 2012 titelte der Spiegel: „Steigende Selbstmordraten. Wenn die Krise tötet“ [3]. Damals machte der öffentliche Suizid [4] eines Rentners in Athen Schlagzeilen, der in einem Abschiedsbrief die Politik der Troika heftig angriff (Rezession treibt mehr Menschen in den Selbstmord [5]).
Sowohl in dem Spiegel-Artikel vor zwei Jahren als auch in den Berichten über eine Studie aus dem Jahr 2009 (Mehr Selbstmorde in Zeiten von Wirtschaftskrisen [6]) wird der Eindruck erweckt, als wären die Suizide vor allem ein Problem in den Ländern der europäischen Peripherie wie Griechenland, Spanien, Italien und Portugal. Natürlich sind die Suizide in diesen Ländern besonders hoch gewesen, weil viele Menschen durch die Krise existentiell betroffen waren und ins Elend gestürzt wurden. Doch gerne wird vergessen, dass der Standort Deutschland gerade deshalb so gut durch die Krise kam, wie immer wieder behauptet wird,weil dort der Preis der Ware Arbeitskraft besonders stark gesenkt wurde. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Agenda 2010, deren zehntes Jubiläum sich bald jährt.
Im Gedenken an die Opfer der Krise auch in Deutschland
Michael Fielsch widmet [7] sich den Menschen, die die Agenda 2010 nicht überlebten. „Jeden Freitag platzieren wir im Rahmen von polizeilich angemeldeten Kundgebung vor Jobcentern (Opfer-)Kreuze, auf denen die Schicksale von Menschen stehen, die im Zusammenhang mit der Agenda 2010ums Leben kamen“, erklärt er gegenüber Telepolis.
Mittlerweile hat er 54 Opfer im Zusammenhang mit der Agenda 2010 dokumentiert. „Überwiegend handelt es sich um Suizide. Aber wir erinnern auch an Menschen, die bei Hausbränden ums Leben kamen, die von Kerzen verursacht waren, nachdem in ihren Haushalten Strom und Gas abgestellt wurde“, erklärt Fielsch. An die Berliner Rentnerin Rosemarie Fließ [8], die zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung starb, erinnert ebenso ein Kreuz wie an die Mutter, die mit ihrem Sohn in der Wohnung verhungerte, nachdem das Jobcenter die Zahlungen völlig eingestellt hat. Ein Großteil der dokumentierten Todesfälle ist, wenn überhaupt, nur regional bekannt geworden, sie wurden aber als Einzelschicksale behandelt.
Es handelt sich um einen Systemfehler
„Wir wollen mit unserer Aktion zeigen, dass es tausende Einzelfälle gibt und es nicht um individuelle Schicksale, sondern um einen Systemfehler geht“, erklärt Fielsch. Damit ist seine Kritik grundsätzlicher, als die der britischen Forscher, die vor allem eine falsche Politik als Ursache für die Krise und die Selbstmorde ausmachen. So sei die Zahl der Selbstmorde in Finnland, Schweden und Österreich auch deshalb in der Krise nicht gestiegen, weil die dortigen Regierungen Beschäftigungsprogramme aufgelegt und Löhne subventioniert hätten, argumentieren die Wissenschaftler und outen sich hier als Anhänger linkskeynsianistischer Wirtschaftskonzepte.
Sicher gibt es im Rahmen des Kapitalismus bestimmte Spielräume für Sozialreformen, die meistens auch durch gewerkschaftliche und außerparlamentarische soziale Bewegungen erkämpft werden. Es ist auch richtig, dass die Austeritätspolitik, wozu auch die Agenda 2010 gehört, politisch mit dem Ziel geplant wurden, den Preis der Ware Arbeitskraft so weit zu senken, dass der deutsch-europäischen Wirtschaftsstandort mit anderen Standorten weltweit konkurrieren kann. Diese Mechani
ine Studie britischer Forscher zeigt auf, wie die Zahl der Suizide in der Krise steigt, die Steuerwirkung der Politik wird allerdings überschätzt
„Kapitalismus tötet“ ist eine Parole, die in der außerparlamentarischen Linken gelegentlich skandiert wird. Jetzt hat eine Studie britischer Wissenschaftler der Universität Oxford und der London School of Hygiene & Tropical Medicine , die im „British Journal ofPsychiatry“ [1] erscheinen wird, gezeigt, dass die Krise in Europa und Nordamerika zu mehr als 10.000 zusätzlichen Selbstmorden geführt hat. Die Forscher schreiben, wie die BBC berichtet [2], dass die Zahl der Selbstmorde „deutlich angestiegen“ sei – und dass dies zumindest teilweise vermeidbar gewesen wäre.
Arbeitslosigkeit, Schulden, Verlust der Wohnung
Die Wissenschaftler haben für ihre Studie Daten aus 24 EU-Ländern sowie aus den Vereinigten Staaten und Kanada ausgewertet. Die Zahl der Selbstmorde sei in Europa bis zum Jahr 2007 zunächst zurückgegangen. Im Jahr 2009 gab es dann einen Anstieg um 6,5 Prozent, der in
dieser Deutlichkeit bis 2011 anhielt. In den Vereinigten Staaten sei die Zahl der Suizide bereits früher gestiegen, die Entwicklung habe sich aber mit Ausbruch der Wirtschaftskrise verstärkt. Als die größten Risikofaktoren machte die Untersuchung dementsprechend Arbeitslosigkeit, Verschuldung und den Verlust des Eigenheims aus.
Eine Überraschung sind die Zahlen allerdings nicht. Bereits 2012 titelte der Spiegel: „Steigende Selbstmordraten. Wenn die Krise tötet“ [3]. Damals machte der öffentliche Suizid [4] eines Rentners in Athen Schlagzeilen, der in einem Abschiedsbrief die Politik der Troika heftig angriff (Rezession treibt mehr Menschen in den Selbstmord [5]).
Sowohl in dem Spiegel-Artikel vor zwei Jahren als auch in den Berichten über eine Studie aus dem Jahr 2009 (Mehr Selbstmorde in Zeiten von Wirtschaftskrisen [6]) wird der Eindruck erweckt, als wären die Suizide vor allem ein Problem in den Ländern der europäischen Peripherie wie Griechenland, Spanien, Italien und Portugal. Natürlich sind die Suizide in diesen Ländern besonders hoch gewesen, weil viele Menschen durch die Krise existentiell betroffen waren und ins Elend gestürzt wurden. Doch gerne wird vergessen, dass der Standort Deutschland gerade deshalb so gut durch die Krise kam, wie immer wieder behauptet wird,weil dort der Preis der Ware Arbeitskraft besonders stark gesenkt wurde. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Agenda 2010, deren zehntes Jubiläum sich bald jährt.
Im Gedenken an die Opfer der Krise auch in Deutschland
Michael Fielsch widmet [7] sich den Menschen, die die Agenda 2010 nicht überlebten. „Jeden Freitag platzieren wir im Rahmen von polizeilich angemeldeten Kundgebung vor Jobcentern (Opfer-)Kreuze, auf denen die Schicksale von Menschen stehen, die im Zusammenhang mit der Agenda 2010ums Leben kamen“, erklärt er gegenüber Telepolis.
Mittlerweile hat er 54 Opfer im Zusammenhang mit der Agenda 2010 dokumentiert. „Überwiegend handelt es sich um Suizide. Aber wir erinnern auch an Menschen, die bei Hausbränden ums Leben kamen, die von Kerzen verursacht waren, nachdem in ihren Haushalten Strom und Gas abgestellt wurde“, erklärt Fielsch. An die Berliner Rentnerin Rosemarie Fließ [8], die zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung starb, erinnert ebenso ein Kreuz wie an die Mutter, die mit ihrem Sohn in der Wohnung verhungerte, nachdem das Jobcenter die Zahlungen völlig eingestellt hat. Ein Großteil der dokumentierten Todesfälle ist, wenn überhaupt, nur regional bekannt geworden, sie wurden aber als Einzelschicksale behandelt.
Es handelt sich um einen Systemfehler
„Wir wollen mit unserer Aktion zeigen, dass es tausende Einzelfälle gibt und es nicht um individuelle Schicksale, sondern um einen Systemfehler geht“, erklärt Fielsch. Damit ist seine Kritik grundsätzlicher, als die der britischen Forscher, die vor allem eine falsche Politik als Ursache für die Krise und die Selbstmorde ausmachen. So sei die Zahl der Selbstmorde in Finnland, Schweden und Österreich auch deshalb in der Krise nicht gestiegen, weil die dortigen Regierungen Beschäftigungsprogramme aufgelegt und Löhne subventioniert hätten, argumentieren die Wissenschaftler und outen sich hier als Anhänger linkskeynsianistischer Wirtschaftskonzepte.
Sicher gibt es im Rahmen des Kapitalismus bestimmte Spielräume für Sozialreformen, die meistens auch durch gewerkschaftliche und außerparlamentarische soziale Bewegungen erkämpft werden. Es ist auch richtig, dass die Austeritätspolitik, wozu auch die Agenda 2010 gehört, politisch mit dem Ziel geplant wurden, den Preis der Ware Arbeitskraft so weit zu senken, dass der deutsch-europäischen Wirtschaftsstandort mit anderen Standorten weltweit konkurrieren kann. Diese Mechanismen hat Albert F. Reiterer inseinem Buch //www.labournet.de/politik/eu-politik/wipo-eu/albert-f-reiterer-der-euro-und-die-eu-zur-politischen-okonomie-des-imperiums/:“Der Euro und die EU. Zur politischen Ökonomie des Imperiums“ gut herausgearbeitet. Aber die Konkurrenz der Standorte ist keine Erfindung der Politiker, sondern gehört zu den Zwängen des Kapitalismus.
http://www.heise.de/tp/news/Wie-die-Krise-toetet-2280776.html
Peter Nowak
Links:
[1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6]
[7]
[8]
„Es geht hier um einen Systemfehler“
SOZIALPROTEST Die Agenda 2010 kostet Menschenleben, sagt Michael Fielsch – und protestiert, indem er Kreuze vor Jobcenter platziert
taz: Herr Fielsch, Sie organisieren vor Jobcentern Proteste gegen die Agenda 2010. Was genau kritisieren Sie?
Michael Fielsch: Wir platzieren im Rahmen von polizeilich angemeldeten Kundgebungen Opferkreuze, auf denen die Schicksale von Menschen stehen, die im Zusammenhang mit der Agenda 2010 ums Leben kamen. Mittlerweile konnten wir 40 Fälle mit 54 Opfern im Zusammenhang mit der Agenda 2010 dokumentieren, überwiegend handelt es sich um Suizide. Aber wir erinnern auch an Menschen, die bei Hausbränden ums Leben kamen, die von Kerzen verursacht waren, nachdem in ihren Haushalten Strom und Gas abgestellt wurden. Auch der Rentnerin Rosemarie Fließ gedenken wir, die zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung starb. Oder der Jobcenter-Sachbearbeiterin, die von einem Kunden erstochen wurde. Wir erinnern auch an die Mutter, die mit ihrem Sohn in der Wohnung verhungerte, nachdem das Jobcenter die Zahlungen völlig eingestellt hatte.
Ihr Protest ist also vor allem eine Mahnwache für die Opfer?
Ein Großteil der dokumentierten Todesfälle ist, wenn überhaupt, nur regional bekannt geworden und wurden als Einzelschicksale wahrgenommen. Wir wollen mit unserer Aktion zeigen, dass es Tausende Einzelfälle gibt und es nicht um individuelle Schicksale, sondern um einen Systemfehler geht.
Welche Reaktionen erzielen Sie mit Ihren Aktionen?
Der Zuspruch ist groß. Viele Menschen sind erschrocken, wenn sie die Opferkreuze mit den Schicksalen sehen. Die emotionale Wirkung ist auch deshalb hoch, weil es bei der Aktion keinerlei politische Propaganda gibt. Wir wollen die Menschen zum Nachdenken anregen. Es geht um Aufklärung und Bewusstmachung. Die Konsequenzen aus den Informationen muss jeder für sich selber ziehen.
Wer unterstützt Sie?
Eine kleine Gruppe von Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die hauptsächlich von der BGE-Lobby kommen, einer Unterstützerorganisation, die sich für das bedingungslose Grundeinkommens engagiert. Wir legen großen Wert auf unsere Unabhängigkeit von politischen Parteien. Bisher haben wir unsere Aktionen hauptsächlich vor Jobcentern und belebten Plätzen in Berlin und Umgebung durchgeführt. Mittlerweile haben wir Anfragen aus dem gesamten Bundesgebiet.
Interview: Peter Nowak
Die Protestaktion findet in der Regel immer freitags statt. Infos und Orte: www.die-opfer-der-agenda-2010.de
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2014%2F07%2F28%2Fa0106&cHash=cfc76522e0f31dd63b15d7bb6574b0b9
Rechtsfreier Raum Jobcenter
Auf Verarmung folgen häufig Verschuldung und Räumung. Obwohl die Folgen der Hartz-IV-Reformen in Studien dokumentiert werden, sind weitere Verschärfungen geplant.
Peter Hartz schmiedet wieder Pläne. Der ehemalige Manager von VW mit SPD-Parteibuch wurde als Namensgeber der Hartz-Reformen berühmt und berüchtigt. Doch erst als Hartz 2007 im Rahmen des VW-Skandals vor Gericht stand und wegen Untreue in 44 Fällen verurteilt wurde, versuchte man, den Namensgeber vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Nun will er erwerbslose Jugendliche in Spanien mit einem Konzept beglücken, das sich wie eine Neuauflage der Agenda 2010 liest.
Ein persönlicher Entwicklungsplan für die erwerbslosen Jugendlichen soll am Anfang stehen. Experten sollen herausfinden, wo deren persönliche Stärken und Schwächen liegen. Menschen, die sich im vergangenen Jahrzehnt mit den Hartz-IV-Gesetzen in Deutschland auseinandergesetzt haben, ist solches Profiling als Instrument der Ausforschung bekannt, mit dem die »Kunden« der Jobcenter vermeintlich passgenauer in bestimmte Maßnahmen gepresst werden können. Überdies wird Erwerbslosigkeit damit als Problem mangelnder individueller Marktfähigkeit definiert. Während sich Peter Hartz knapp ein Jahrzehnt nach der der Durchsetzung der Agenda 2010 nun für den Export seines Konzepts stark macht, bestreitet in Deutschland kaum jemand mehr, dass Hartz IV für viele Menschen Verarmung bedeutet.
»Mindestens die Hälfte aller erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger hat Schulden- und Suchtprobleme sowie psychosoziale Schwierigkeiten«, lautete das Fazit einer Untersuchung, die der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kürzlich vorstellte. Für das Jahr 2012 geht der DGB von etwa 1,1 Millionen Harzt-IV-Empfängern mit Schuldenproblemen aus. Zu dem gleichen Fazit kommt eine 400seitige Studie, die im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums bereits im vorigen Jahr erstellt wurde.
In beiden Studien wird der Schwerpunkt auf Schulden- und Suchtprobleme von Hartz-IV-Empfängern gelegt. Das ist eine gleich in mehrfacher Hinsicht problematische Methode. Dies fängt schon bei der Wortwahl an. Was bei Hartz-IV-Empfängern als Sucht gebrandmarkt wird, ist bei Menschen mit mehr Geld als individueller Genuss Privatsache. Ein Recht auf Rausch wird Hartz-IV-Empfängern aber weder bei der Errechnung des finanziellen Bedarfs noch in der öffentlichen Diskussion zugestanden. Mit dem Verweis auf die Sucht wird einmal mehr die Schuld und Verantwortung auf die Hartz-IV-Bezieher selbst abgeschoben. Ein Großteil der Bevölkerung sieht sich im Vorurteil vom Hartz-IV-Bezieher bestätigt, der lieber sein Bier vor dem Fernseher konsumiert, als an einer vom Jobcenter verordneten Maßnahme teilzunehmen. Weil er sich zu einer solchen Lebensweise offensiv in einer Talkshow bekannte, wurde Arno Dübel von der Bild-Zeitung »Deutschlands frechster Arbeitsloser« genannt. Den medialen Shitstorm, der daraufhin über ihn hereinbrach, analysierten die Sozialwissenschaftlerin Britta Steinwach und ihr Kollege Christian Baron in dem im Verlag Edition Assemblage erschienenen Buch »Faul, frech, dreist« (Jungle World 29/2012).
Konnte »Deutschlands frechster Arbeitsloser« noch als Ehrentitel durchgehen, griff Bild mit dem Titel vom 13. Mai diesen Jahres eindeutig in die sozialchauvinistische Schublade: »Sozialschmarotzer erklärt, warum ihm Hartz IV zusteht«. Darunter fand sich das Foto von Michael Fielsch, der in der Sendung »Menschen bei Maischberger« erklärt hatte, dass er sein Engagement in der Erwerbslosenbewegung für sinnvoller erachtet als Maßnahmen des Jobcenters. Derzeit tourt Fielsch mit der Ausstellung »In Gedenken an die Opfer der Agenda 2010« durch die Republik. Diese Installation sammelt Daten von Hartz-IV-Beziehern, die Suizid verübten, weil sie keinen Ausweg mehr sahen, die erfroren, nachdem ihre Wohnung geräumt wurde, oder die verhungerten, nachdem sie vom Jobcenter keinerlei Unterstützung erhalten hatten, wie im April 2007 der 20jährige Andre K. in Speyer. Sein Tod wurde in den Medien als Einzelschicksal abgehandelt. Das passierte bei fast allen Todesfällen, die Fielsch dokumentiert und in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt hat. »Die Agenda 2010 sowie die aus der Hartz-Gesetzgebung resultierende, gewollte Armut und Entrechtung betrifft uns alle, direkt oder indirekt, gestern, heute oder morgen«, heißt es auf der Startseite der Homepage zur Ausstellung. Der Referent für Arbeitslosen- und Sozialhilferecht und Mitbegründer des Vereins Tacheles e. V., Harald Thomé, kann diesen Befund mit vielen Beispielen untermauern. Die Verschuldung sei bei Strom, Gas und Mieten besonders gravierend, sagt er der Jungle World.
»Die Verelendung durch Hartz IV erfolgt schleichend«, betont Thomé. Als besonders schwerwiegende Konsequenzen für die Betroffenen nennt er den Ausschluss von der gesellschaftlichen Teilhabe. Menschen, die sich keinen Restaurantbesuch und kein Ticket für eine Fahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr leisten können, bleibt oft nur der Rückzug in die eigenen vier Wände. Daher trifft sie eine drohende Räumung oder die Abschaltung von Strom und Gas besonders hart.
Verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht. »Es gibt nur die Schätzung, dass weniger als ein Drittel der Haushalte von ALG-II-Beziehenden von Sperrungen betroffen sind«, sagt Anne Allex im Gespräche mit Jungle World. Sie ist Mitherausgeberin der noch erhältlichen Broschüre »Strom und Wasser bleiben an – auch bei wenig Geld«. Auf ihrer Homepage (pariser-kommune.de) informiert Allex über die neuesten juristischen und sozialpolitischen Debatten im Zusammenhang mit Erwerbslosigkeit und sozialer Ausgrenzung. Einen wesentlichen Grund für die Verschuldung im Bereich Energie sieht sie in den zu gering bemessenen Stromkosten im Regelsatz von Erwerbslosen. So werden in Hamburg für Hartz-IV-Bezieher Stromkosten zwischen 35 und 38 Euro pro Person monatlich berechnet. »Das entspricht einem Verbrauch unter 1 100 Kilowattstunden jährlich. Der Sparverbrauch liegt allerdings bei 1 200 Kilowattstunden. Der Durchschnittsverbrauch eines deutschen Haushalts liegt bei 2 250 Kilowattstunden im Jahr«, rechnet Allex vor.
Neben der systematischen Unterversorgung, die zu Verschuldung führen muss, weist Harald Thomé auf gesetzwidrige Auslegung der Bestimmungen zuungunsten der Betroffenen in vielen Jobcentern hin. Die Behörden lassen es auf Klagen ankommen, die die Hartz-IV-Bezieher in der Regel gewinnen. Doch vielen Menschen fehlt die Kraft, eine Klage einzureichen. Auch der Sprecher der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, Martin Künkler, moniert einen »rechtsfreien Raum Jobcenter«. Erwerbslose erleben immer wieder, dass Jobcenter ihnen Leistungen zu Unrecht vorenthalten, auf die sie Anspruch haben. Neben den Kosten für Energie betrifft das auch die Miete. »Bei Kosten für die Wohnung setzt das Amt häufig die Obergrenze dessen, was gezahlt werden muss, zu niedrig an«, erklärt Künkler.
Am Ende steht nicht selten die Räumung. Widerstand von Erwerbslosen ist die absolute Ausnahme, betont Thomé. Schulden werden als individuelles Problem gesehen, das die Menschen eher gesellschaftlich stigmatisiert als politisch mobilisiert. Doch es gibt Ausnahmen. In Forst gründete sich im vorigen Jahr der »Freundeskreis Bert Neumann«, nachdem ein in antifaschistischen Gruppen aktiver Erwerbsloser mit einer Totalsperre seiner Leistungen bedacht wurde (Jungle World 5/2013). In Berlin hat die Jobcenter-Aktivistin Christel T. in Kooperation mit der Gewerkschaft FAU einen Antisanktionskampffond gegründet. Der soll Erwerbslosen, die von einer Totalsperre betroffen sind, finanzielle Unterstützung sichern.
Solche Hilfsmaßnahmen könnten noch öfter gebraucht werden. Unter dem unverfänglichen Titel »Rechtsvereinfachung im SGB II« listete eine aus wirtschaftsnahen Verbänden und Vertretern der Bundesagentur für Arbeit zusammengesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf mehr als 40 Seiten Maßnahmen auf, die die Verarmung von Hartz-IV-Empfänger noch beschleunigen könnten. So drängt die Bundesagentur für Arbeit (BA) auf schärfere Sanktionen für Langzeiterwerbslose, die wiederholt Termine beim Jobcenter versäumten. Bislang werden die Leistungen in diesen Fällen um maximal 30 Prozent gekürzt, künftig sollen sie nach dem Willen der BA auch ganz gestrichen werden können. Die Möglichkeit, Bescheide der Jobcenter auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen, soll eingeschränkt werden und mit Kosten verbunden sein. Ab September soll es in mehreren Städten gegen diese Ausweitung der rechtsfreien Zone Jobcenter Protestaktionen geben. Martin Künkler hat bei einem bundesweiten Treffen von engagierten Erwerbslosen Mitte Juni eine neue Proteststimmung nach Jahren der Resignation ausgemacht.
Ob sich indes der Hartz-IV-Export so problemlos durchsetzen lässt wie das Original in Deutschland, ist noch nicht ausgemacht. In Spanien existiert schließlich eine große Protestbewegung, die auch die Initiativen gegen Wohnungsräumungen in Deutschland inspiriert hat. Peter Hartz hat aber nicht nur Spanien im Visier. Er war auch schon als Berater für Sozialreformen beim französischen Präsidenten François Hollande im Gespräch. Auch dort dürfte die Verarmung per Gesetz nicht so reibungslos durchzusetzen sein wie in Deutschland. Aber es gibt auch Menschen, die dank der Hartz-IV-Reformen gut verdienen. Zu ihnen zählt die konservative Publizistin Rita Knobel-Ulrich. Mit ihrem viel verkauften Buch »Reich durch Hartz IV«, in dem sie Erwerbslosen vorwirft, den Sozialstaat zu schröpfen, tingelt sie durch viele Talkshows und fordert härtere Sanktionen für Erwerbslose.
http://jungle-world.com/artikel/2014/27/50157.html
Peter Nowak
Sondergesetze für Arme
Erwerbslosengruppen kündigen Kampagne gegen geplante weitere Verschärfung für Hartz IV-Empfänger an
Die bundesdeutsche Gesellschaft betont unentwegt, wie vorbildhaft sie sich gegen Neonazis und offene Rechte stellt und die Bild-Zeitung will dabei natürlich nicht hintanstehen. Allerdings werden oft genug die Parolen der Rechtsaußengruppierungen dort einfach übernommen, die für große Empörung gesorgt hätten, wenn sie in einer der Publikationen am rechten Rand erschienen wären.
So verwendeteBild Mitte Mai eine Schlagzeile bei der sich Rechtsaußenblätter wie die Nationalzeitung wahrscheinlich schon aus juristischen Gründen durch die Verwendung von Anführungszeichen abgesichert hätten. „Sozialschmarotzererklärt, warum ihm Hartz IV zusteht“ [1] wird dort der Sprachduktus aus dem LTI [2] gegen Michael Fielsch [3] gehetzt. Dieser erinnert mit seiner Installation „In Gedenken an die Opfer der Agenda 2010“ [4] an die Hartz IV-Empfänger, die wie die Rentnerin Rosemarie Fliess [5] nach einer Zwangsräumung starben oder die aus Angst vor einem Leben in Armut Selbstmord verübt haben. Für Bild führt die in ruhigem Ton vorgebrachte Erklärung von Fielsch, dass er eine solche Tätigkeit für sinnvoller als irgendwelche Maßnahmen des Jobcenters hält, zu dem menschenverachtenden Ausfall.
Im Duktus gemäßigter,im Inhalt ähnlich sozialchauvinistisch argumentiert die Autorin Rita Knobel-Ulrich, die Bücher mit den zynischen Titel „Reich durch Hartz IV“ verfasst und dafür in Bild, aber auch viel weiter rechts [6] viel Lob erfährt.
Widerspruch soll kostenpflichtig werden
Knobel-Ulrich fordert in Talkshows eine weitere Verschärfung für Hartz IV-Empfänger und geriert sich damit als Lautsprecher für entsprechende Bestrebungen in der Politik.
Unter dem unverfänglichen Titel „Rechtsvereinfachung im SGB II“ [7] hat eine vornehmlich aus wirtschaftsnahen Verbänden und Vertretern der Bundesagentur für Arbeit zusammengesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf mehr als 40 Seiten Maßnahmen aufgelistet, die Verschlechterungen für Hartz IV-Empfänger mit sich bringen. Erleichtert würde damit die Arbeit der Mitarbeiter von Jobcentern und Arbeitsagenturen, betont [8] Inge Hannemann, die wegen ihrer kritischen Haltung zu Sanktionen ihre Arbeit an einer Arbeitsagentur verlor.
24 der 120 Änderungsvorschlägen fanden am Mittwoch bei einem ersten „Fachgespräch“ im Bundestag bereits Anklang. Der Referent für Erwerbslosen- und Sozialrecht, Harald Thomé [9], rechnet damit, dass die Gesetzesnovelle im Herbst beschlossen wird und kommt aufgrund seiner Stellungnahme [10] zu dem Fazit [11], dass vielen Betroffenen mit der geplanten Novelle ein „Bewegen im rechtsfreien Raum“ droht. Beispielsweise könne das Amt überzahlte Beträge auch ohne Bescheid zurückfordern. Familienangehörige würden noch stärker als bisher für Rückforderungen haften. Rechtloser sollen auch Hartz-IV-Bezieher werden, denen das Jobcenter zu geringe Leistungen gezahlt hat. Komme die Arbeitsgruppe mit ihren Plänen durch, werde „eine Sonderrechtszone zementiert, die immer stärker vom einst gültigen Sozialrecht abweicht“. Thomé listet auch die wenigen Verbesserungen für Hartz IV-Empfänger durch die geplanten Reformen auf.
Vor allem die Bundesagentur für Arbeit drängt in diesem Zusammenhang auf schärfere Sanktionen für Langzeiterwerbslosen, die wiederholt Termine beim Jobcenter platzen lassen. Bislang werden die Leistungen in diesen Fällen um maximal 30 Prozent gekürzt, künftig sollen sie nach dem Willen der BA auch ganz gestrichen werden können. Auch die Möglichkeit, Bescheide der Jobcenter auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen, soll eingeschränkt werden und mit Kosten verbunden sein. Das wäre für Erwerbslose eine gravierende Einschränkung, weil die Anzahl der Widersprüche gegen Bescheide vom Jobcenter seit der Einführung der Agenda 2010 massiv zugenommen hat und in vielen Fällen im Sinne der Betroffenen entschieden worden ist.
Im Herbst Proteste gegen Verschärfungen geplant
Auf einem bundesweiten Treffen haben sich ca. 60 Erwerbslosengruppen ab September Widerstand gegen die geplanten Verschärfungen angekündigt. In einer gemeinsamen Erklärung [12] prangern sie den „permanenten Rechtsbruch im Jobcenter“ an. „Im Jobcenter erleben die Erwerbslosen schon heuteständig Unrecht und durch die neuen Reformen soll es noch einmal verschärft werden“, begründet Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen [13] den neuerwachten Widerstandsgeist von manchen Erwerbslosenaktivisten
In den letzten Jahren hat es wenig kollektive Widerstandsformen gegeben. Dass es keine gesellschaftliche Reaktion darauf gibt, wenn die Bildzeeitung Erwerbslosenaktive als Sozialschmarotzer abqualifiziert, ist auch ein Symptom dafür, wie weit die Ideologie der Abwertung von einkommensarmen Menschen schon in der Gesellschaft verankert ist. Dafür ist allerdings die Zahl der Menschen gewachsen, die sich zu ihren Terminen am Amt haben begleiten [14] lassen. Es wird sich zeigen, ob die geplanten Verschärfungen tatsächlich zu einem neuen Aufschwung von Erwerbslosenprotesten führen.
http://www.heise.de/tp/news/Sondergesetze-fuer-Arme-2222112.html
Peter Nowak
Links:
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