Marie Rotkopf, Émile Durkheim Deutschland über alles Die deutsche Mentalität und der Krieg 155 Seiten, 978-3-7518-0381-6, 18 Euro

Deutschland über alles – Émile Durkheim neu aufgelegt“

Besonders, weil sich die Herausgeberin Marie Rotkopf kluge Gedanken über Durkheims Schrift gemacht hat, ist das Buch mit Gewinn zu lesen. Dabei geht sie auch auf den neuen deutschen Militarismus ein, der sich in der unkritischen Parteinahme für „unsere Ukraine“ ausdrückt. Vor 30 Jahren wäre der schmale Band bei deutschlandkritischen Linken ein Beststeller geworden. Viele von ihnen haben heute die Parole „Nie wieder Deutschland“ durch „Nie wieder Russland“ getauscht und so verspätet doch noch Anschluss an die deutsche Volksgemeinschaft gefunden.

„Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon

Diesen klugen Satz hat die deutsch-französische Schriftstellerin Marie Rotkopf in der von ihr neu herausgegebenen und kommentierten Schrift „Deutschland über alles“ geschrieben. Verfasst hatte den Text der französische Soziologe …

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Marie Rotkopf: Deutschland über alles. Die deutsche Mentalität und der Krieg. Verlag Matthes & Seitz 2023. 155 Seiten. ca. SFr. 24,00. ISBN: 978-3-7518-0381-6

Nie wieder Deutschland vor 110 Jahren

Die kleine Schrift von Durkheim und Rotkopf ist so wie eine Flaschenpost aus einer Zeit, wo es undenkbar schien, dass kritische Linke einen Staat bedingungslos unterstützen, in dem NS-kollaborateure und Antisemiten wie Stepan Bandera Denkmäler gesetzt werden.

„Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon“. Marie Rotkopf hat den klugen Satz in der von ihr neu herausgegebenen und kommentierten Schrift „Deutschland über alles“ geschrieben. Verfasst hatte den Text der französische Soziologe Emile Durkheim 1915 während des 1. Weltkriegs angesichts der …

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„Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon“: Marie Rotkopf, "Die deutsche Mentalität und der Krieg“

Wie Deutschland im Ukraine-Konflikt seine Geschichte entsorgt

Marie Rotkopf, Émile Durkheim, "Deutschland über alles. Die deutsche Mentalität und der Krieg", Verlag Matthes & Seitz, 155 Seiten, Übersetzung: Daniel Creutz, Jacques Hatt, Preis: 18,00 €, ISBN: 978-3-7518-0381-6

Geschichtsrevisionismus: Wie Deutschland im Ukraine-Konflikt seine Geschichte entsorgt

„Bald war es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon“

Marie Rotkopf, „Die deutsche Mentalität und der Krieg“ 

Ein in der Ukraine zerstörter russischer Panzer wurde zum Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine auf dem Mittelstreifen des Berliner Boulevards unter den Linden gegenüber der russischen Botschaft aufgebaut. Das Rohr zielte direkt auf dieses russische Territorium in Berlin. Die Idee kam von einer …

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Einige Deutsche fühlen sich durch den Ukraine-Krieg endlich befreit. Auch wenn sie betonen, wie grausam er ist. So können sie guten Gewissens "Nie wieder Russland" schreien.

Panzerrohr auf russische Botschaft: Deutscher Geschichtsrevisionismus marschiert

Merkwürdigerweise kritisieren viele Antifaschisten nur die Querfrontansätze auf Seiten der Friedensbewegung. Das ist völlig berechtigt, aber da fragt man sich, warum nicht auch die proukrainische Querfront ebenso kritisch unter die Lupe genommen wird. "Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon" bringt die französische Schriftstellerin Marie Rotkopf sie Umdeutung der Geschichte auf den Punkt. Sie hat den klugen Satz in dem von ihr neu herausgegebenen und kommentierten Schrift "Deutschland über alles geschrieben, den der französische Soziologe 1915 während des Ersten Weltkriegs verfasst hat und der hierzulande kaum bekannt ist. Verlag Matthes & Seitz diese fast 110 Jahre alte Deutschlandkritik wiederaufgelegt hat. Noch erfreulicher sind die klugen Gedanken, die sich Marie Rotkopf über Durkheims Schrift und seine Aktualität gemacht hat. Vor 20 Jahren wäre der schmale Band bei deutschlandkritischen Linken ein Bestseller geworden. Doch einige von ihnen tragen jetzt lieber "Nie wieder Russland"-Plakate.

„Wenn Sie zur Veranstaltung wollen, gehen Sie nach rechts!“ Diese Ansage machte die Polizei am Samstag nach 14 Uhr an die Menschen, die zur Friedenskundgebung am Brandenburger Tor wollten. Wegen des großen Andrangs waren der Pariser Platz und auch die dortige S- und U-Bahn gesperrt, so dass die Menschen über mehrere Ecken den noch mit Zäunen abgegrenzten Kundgebungsort erreichten. „Hoffentlich müssen nicht so weit nach rechts gehen, dass wir am AfD-Stand landen“, sagte ein junger Mann lachend. Er nahm Bezug auf die Debatte, die sich in den letzten Tagen intensiviert hat. Da hatte man gelegentlich den Eindruck, dass man mit Tausenden

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Die Poesie der Klasse

Der entstehende Kapitalismus brachte nicht nur massenhaftes Elend hervor, mit ihm bildeten sich in den unteren Klassen auch neue Formen der Dichtung und des Erzählens heraus, in denen die Misere der Gegenwart und Formen des Widerstands eindrücklich beschrieben werden. Nur wenige dieser Schriften sind heute noch bekannt.

Manche von ihnen wurden in den Schriften von Marx und Engels zitiert, beispielsweise der Arbeiterdichter Wilhelm Weitling. Marx würdigte ihn als einen der ersten, der sich für die Organisierung des Proletariats einsetzte. So heisst es auf der Homepage www.marxist.org über Weitling: «Trotz späteren Auseinandersetzungen achteten Marx und Engels den ‹genialen Schneider› (Rosa Luxemburg) sehr hoch und betrachteten ihn als ersten Theoretiker des deutschen Proletariats.» Allerdings wird gleich auch betont, dass Weitlings Ansätze an theoretische und praktische Grenzen stiessen. Inhaltlich gibt es für diese Kritik gute Gründe, doch hat der Umgang mit Weitling in der marxistischen ArbeiterInnenbewegung auch etwas Paternalistisches. Schliesslich blieb Weitling sein Leben lang Schneider, hatte nie eine Universität besucht und schon deshalb hatten seine Arbeiten es schwerer, wahrgenommen und gehört zu werden.

Träume und Sehnsüchte
Dabei gehört Weitling zu den wenigen Chronist-Innen der frühen ArbeiterInnenbewegung, deren Namen überhaupt einem grösseren Kreis bekannt ist. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe hat in seinem Buch «Die Poesie der Klasse» viele der frühen Texte der ArbeiterInnenbewegung dem Vergessen entrissen. Er beklagt, dass sie lange Zeit nur durch die Brille des Marxismus gesehen und als romantischer Antikapitalismus beiseite gelegt wurden. Schon im Klappentext des Buches heisst es über die oft vergessenen AutorInnen: «Die buntscheckige Erscheinung, die Träume und Sehnsüchte dieser allen ständischen Sicherheiten entrissenen Gestalten fanden neue Formen des Erzählens in romantischen Novellen, Reportagen, sozialstatistischen Untersuchungen, Monatsbulletins. Doch schon bald wurden sie – ungeordnet, gewaltvoll, nostalgisch, irrlichternd und utopisch, wie sie waren – von den Vordenkern der Arbeiterbewegung als reaktionär und anarchisch verunglimpft, weil sie nicht in die grosse lineare Fortschrittsvision passen wollten.» So verdienstvoll es von Patrick Eiden-Offe ist, diese Texte wieder bekannt gemacht und mit grossem Engagement in einem Buch präsentiert zu haben, das auch für NichtakademikerInnen Freude und Erkenntnisgewinn bereitet, so muss man doch die Kritik des Autors an den MarxistInnen hinterfragen. Gerade nach der Lektüre der Texte zeigt sich, dass diese Kritik oft berechtigt war.

Widerstandsstrategien
Dabei ging und geht es gerade nicht darum, den VerfasserInnen der Texte zu unterstellen, sie wären reaktionär. Es geht vielmehr darum, zu analysieren, dass sie in ihren Texten ihre Vorstellungen von der Welt und dem hereinbrechenden Kapitalismus zum Ausdruck brachten. Sie nahmen dabei Gerechtigkeitsvorstellungen zum Massstab, die sie aus dem Feudalismus und der ständischen Gesellschaft übernommen hatten. Nur waren diese Vorstellungen mit dem Einzug des Kapitalismus verdampft und obsolet geworden. Es war gerade das grosse Verdienst von Marx und Engels, dass sie die Ausbeutung und nicht den Wucher als zentrales Unterdrückungsinstrument im Kapitalismus analysierten. Das hatte auch Folgen für die Widerstandsstrategien. An einem romantischen Kapitalismus festzuhalten, wäre dann nur anachronistisch und birgt noch die Gefahr einer reaktionären Lesart der Kapitalismuskritik, die die Schuldigen für die Misere nicht im kapitalistischen Konkurrenz- und Profitstreben, sondern in WuchererInnen sieht. Das war übrigens ein Schwungrad für den modernen Antisemitismus. Dem Autor sind solche Bestrebungen fern. Dass Eiden-Offe auf diese Gefahren eines romantischen Antikapitalismus nicht besonders eingeht, liegt wohl vor allem daran, dass er voraussetzt, dass seine LeserInnen mit der Problematik einer reaktionären Kapitalismuskritik vertraut sind.

Gegen den Klassenkompromiss
Ihm geht es um etwas anderes, wie er im letzten Kapitel des Buches, das unter dem Titel «Die Rückkehr des romantischen Antikapitalismus» steht, erläutert: Wenn es seit dem Vormärz eine Uniformierung und Normierung des Proletariats gegeben hat, dann wird diese Klassenfiguration vom Gespenst des «virtuellen Paupers» verfolgt, der durch keine sozialstaatliche Absicherung und durch keine Verbürgerlichung des sozialen Imaginären zu bannen ist. Parallel zur Einhegung des Klassenkampfs in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften und zur Integration der offiziellen ArbeiterInnenbewegung in die Gesellschaft gibt es eine andere Geschichte, die Geschichte einer anderen Arbeiter-Innenbewegung, die Geschichte all jener sozialen Gestalten, in denen das Gespenst des «virtuellen Paupers sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts verkörpert und die gehegte soziale Ordnung bespukt hat». Damit bezieht sich der Autor auf sozialrevolutionäre Debatten der 1970er Jahre, als der linke Historiker Karlheinz Roth ein Buch mit dem Titel «Die andere Arbeiterbewegung» veröffentlichte, in dem er die Pauperierten zum neuen revolutionären Subjekt erklärte. Er setzte sie von den Teilen der ArbeiterInnenklasse ab, die im Rahmen des nationalen Klassenkompromisses befriedet wurden. Man könnte auf sie den Begriff der ArbeiterInnenaristokratie anwenden.

Nationalismus als Sargnagel
Eiden-Offe zeigt, wie sich auch dies Einhegung eines Teils des Proletariats in den zeitgenössischen Schriften niederschlägt, beispielsweise in Ernst Willkomms fünfbändigem Roman «Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes» von 1845. Hier ging es zum Schluss um die nationale Einhegung der ArbeiterInnen. Eiden-Offe beschreibt die Konsequenzen sehr präzise: «Ab jetzt sollte es keine ‹vaterlandslosen Gesellen›, keine ‹heimatlose Klasse› mehr geben, sondern nur noch ‹deutsche Arbeiter›». Die «vaterlandslosen Gesellen», die es natürlich weiterhin gibt, werden marginalisiert und ausgeschlossen – ideologisch wie materiell, wenn sie aus der staatlichen Fürsorge rausfallen. Der Autor beschreibt präzise, dass diese nationale Einhegung zum «Sargnagel des buntscheckigen Proletariats des Vormärz» wurde, dessen Geschichte in dem Buch erzählt wird. In einer Fussnote merkt Eiden-Offe an, dass die Erosion des nationalstaatlichen Klassenkompromisses, den wir aktuell beobachten, nicht bedeutet, dass damit Nationalismus und Chauvinismus in Teilen der ArbeiterInnenklasse automatisch auf dem Rückzug sind. Allerdings zeigte sich in der letzten Zeit das veränderte Gesicht der heutigen ArbeiterInnenklasse, beispielsweise bei den zahlreichen Arbeitskämpfen im Pflege- und Gesundheitsbereich, aber auch bei Kurierdiensten.

Es sind dort sehr viele Frauen aktiv und nicht wenige der ProtagonistInnen dieser Kämpfe haben einen Migrationshintergrund. Vielleicht wird hier in Ansätzen diese bunte und gar nicht so homogene ArbeiterInnenklasse sichtbar, die in dem Buch so anschaulich beschrieben wird. «Es kommt darauf an, die Fäden neu zu verknüpfen – oder sie endlich beherzt zu kappen», schreibt der Autor im letzten Kapitel in Bezug auf die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung. Nun wird auch der Linken der Abschied vom Proletariat seit mehr als dreissig Jahren vollzogen, mit dem Ergebnis, dass in vielen Ländern der Welt, die Linke nur noch isolierte Minderheiten und keine Klassen mehr kennen will. Die real existierenden Lohnabhängigen werden dann rechts liegen gelassen. «Die Poesie der Klasse» aber bietet die Chance, sich auf eine neue Art und Weise auf die Lohnabhängigen zu beziehen. Dadurch, dass in dem Buch aufgezeigt wird, dass das Proletariat historisch immer bunt war und sich nicht in auf die berühmt-berüchtigten Stahl- und Bergarbeiter beschränkte, könnten den Marginalisierten und Prekarisierten von heute die Möglichkeit geben, sich selber als Teil dieser Klasse zu erkennen.


Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse, Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Matthes & Seitz, Berlin. 30,00 Euro

aus: vorwärts – Schweiz

Die Poesie der Klasse

Peter Nowak