Müssen die Grünen fürchten, unter die 5-Prozent-Hürde zu fallen?

Das Ende eines künstlichen Hypes um eine Partei, die eigentlich keiner braucht – ein Kommentar

Jüngere Zeitgenossen werden es für Fake-News halten. Doch vor knapp 15 Jahren haben die damaligen Spitzenpolitiker einer Partei namens FDP auf Talkshows durch auffällige Schuhsohlen für Spott und Aufmerksamkeit gesorgt. Dort prangte die Zahl 18[1]. Das war die Marge, mit der die damaligen Vorturner der Liberalen in den Bundestag einziehen wollten.

Das Duo hatte sich das Ziel gesetzt, nicht mehr Funktionspartei von Union oder SPD sein zu wollen. Vielmehr wollten sie als dritte eigenständige Kraft Sozialdemokraten und Konservativen Paroli bieten. Sogar eine eigene Kanzlerkandidatur der Liberalen war im Gespräch. Möllemann hatte wahrscheinlich das Beispiel Österreich vor Augen, wo damals Jörg Haider mit einem scharfen Rechtskurs die FPÖ tatsächlich in die Liga der führenden Parteien hievte. Möllemann stürzte im buchstäblichen Sinne ab und wurde kein Berliner Haider.

Doch 7 Jahre späte spukte das Projekt 18 Prozent[2] weiter in den Köpfen mancher FDP-Politiker. Die Geschichte ist darüber hinweggegangen. Westerwelle und Möllemann sind tot und die FDP ist derzeit nicht im Bundestag vertreten. Wenn sie es beim nächsten Mal wieder schafft, wird sie sehr wahrscheinlich wieder zu der Funktionspartei zwischen SPD und Union.

Das ist das eigentlich Interessante, glaubt man den Prognosen nach der Wahl von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten. Das Zweiparteien-System, das die Nachkriegsordnung nach 1945 in Westberlin dominierte, hat auch heute noch immer eine gewisse Stabilität.

Das ist schon deshalb erstaunlich, weil dieses Modell in Ostdeutschland keine Grundlage hat. Dort hatte auf der sozialdemokratischen Seite die PDS in den 1990er Jahren die Rolle einer sozialen Volkspartei übernommen. In manchen Regionen eroberten Rechtsaußen-Gruppierungen die Hegemonie als sozialrassistische Heimatparteien.

Das klassische Modell mit zwei hegemonialen Parteien, an denen sich die kleineren Parteien auszurichten haben, wird schon seit Jahrzehnten als Auslaufmodell gehandelt. Doch wer ist der Rammbock, der es zum Einsturz bringen kann? Vor 5 Jahren wurde kurze Zeit die Piratenpartei gehandelt[3]. Doch deren Hype war bereits vorüber, bevor sie überhaupt in den Bundestag einzog.

Als Zeugnisse des kurzen Hypes der Piratenpartei sind noch einige Landtagsmandate übriggebliebenen, die bei den nächsten Wahlen verschwinden werden. Lediglich in dem Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg konnte eine Piratenpartei als undogmatische Linke überleben.

Auch die Grünen haben seit Jahren den Drang, das Zwei-Parteien-System zu durchbrechen. Sie wollen nicht mehr Funktionspartei sein, sondern wie es im Politsprech so schön heißt, mit SPD und Union auf Augenhöhe verhandeln. Dass die Grünen ausgerechnet im strukturkonservativen Baden-Württemberg einen ersten Ministerpräsidenten stellen und der auch noch bei den folgenden Wahlen bestätigt wurde, hat die grünen Blütenträume gesteigert.

Die Wochenend-Taz entwickelte sich zum Sprachrohr dieser Strömung. Der Journalist Peter Unfried veröffentlichte in den letzten Monaten zahlreiche Beiträge, in denen er den Grünen Ratschläge gab, wie sie von Funktionspartei zur führenden Kraft werden und dann den sozialökologischen Umbau vorantreiben könnten. Mit diesem Begriff wird eine kapitalistische Regulationsphase bezeichnet, die sich vor allem auf erneuerbare Energie und neue Technologien stützt.

Im Diskurs von Unfried und seinen Anhängern soll Deutschland Motor dieses sozialökologischen Umbaus in Europa und auch darüber hinaus werden. So wird versucht, einen grünen Standortnationalismus zu kreieren, der vor allem in der letzten Zeit einen betont antirussischen Einschlag bekommen hat. Die Nato wird nicht mehr wie in der Frühphase der Grünen in Frage gestellt, sondern soll im Gegenteil gegen Russland einsatzbereit gehalten werden.

Mit dem Diskurs des Aufstiegs der Grünen zu einer mit Union und SPD ebenbürtigen Partei ist also ein expliziter Rechtskurs der Parteien verbunden. Doch das waren vor allem Papierdiskurse, die in der Taz und einigen anderen Medien geführt wurden. In der politischen Praxis hat sich immer gezeigt, dass die Grünen mit der Ausnahme von Kretschmann eine Funktionspartei blieben. Selbst in Berlin scheiterten[4] sie 2011 mit dem Versuch, mit Renate Künast zur Regierenden Bürgermeisterin zu machen.

Nach den Prognosen der letzten Wochen sind sie nun näher an der Fünf-Prozent-Hürde als den angestrebten 20 Prozent[5]. Der Niedergang in den Prognosen hat sich schon lange vor Schulz‘ Antritt für die SPD abgezeichnet, aber wurde durch den noch verschärft. Schließlich hatten sich die Grünen ja schon auf eine Allianz mit der Merkel-Union eingerichtet, was für sie Sinn machte, wo es scheinbar keine Alternative zu Merkel auf der politischen Ebene gab und die Parole „Merkel muss weg“ von AfD und Pegida vertreten wurde.

Nun könnte mit Schulz tatsächlich ein SPD-Herausforderer Merkel ablösen und die Grünen müssen sich fragen, ob sie wieder Juniorpartner der Sozialdemokraten werden wollen. Für Unfried und Freunde ist das ein Greuel. Dagegen machen sie seit einigen Wochen mobil.

Doch der Hype, den Schulz bei der Sozialdemokratie und darüber hinaus ausgelöst hat, hat wenig mit realen Alternativen zur Merkel-Politik zu tun. Vielmehr versteht er es anscheinend, zumindest vorübergehend, ehemalige SPD-Wähler für ihre Partei zurückzugewinnen. Manche sprechen davon, dass er wieder Vertrauen zurückgewinnt. Doch das ist schon mal eine unbewiesene Behauptung.

In einer politischen Atmosphäre, wo grundlegende Inhalte nicht mehr bei Wahlen verhandelt werden und kein Sozialdemokrat nur einen Steuersatz für Unternehmen, wie er noch bei der Regierung Helmut Kohl bestand, mehr zu fordern wagt, ist eine Stimme für die SPD weniger eine Frage des Vertrauens, sondern die Frage nach dem Ausprobieren eines neuen Produkts. Die Wähler handeln wie Kunden, die im Supermarkt eine neue, besonders angepriesene Zahnpasta kaufen. Man probiert was Neues aus, hat aber keine besonderen Erwartungen daran. Die theoretischen Prämissen legte der Politologie Johannes Agnoli bereits 1967, als er das damals viel beachtete Buch „Transformation der Demokratie[6] verfasste.

Zu den wichtigsten Aspekten dieses Versuchs, den Kapitalismus stabil zu machen und politisch zu sichern, gehören: a) die Auflösung der Klasse der Abhängigen in einem pluralen System von Berufskategorien. Sie erwies sich schon in der faschistischen Fassung als geeignet, der objektiven Polarisierung der Gesellschaft von der subjektiven, organisatorischen und bewußtseinsmanipulativen Seite her entgegenzutreten. Dem organisierten Kapitalismus stehen hier wirksamere Mittel zur Verfügung als dem früheren Konkurrenzkapitalismus. Und aus den Fehlern des faschistischen Pluralismus hat der demokratisch genannte schließlich auch gelernt.

b) In der staatlichen Reproduktion der Gesellschaft schlägt dies um in die Formalisierung der Parteienpluralität. Gemeint ist, dass zwar mehrere, den Herrschaftstendenzen nach allerdings am besten zwei Parteien um den Machtanteil konkurrieren, die einzelnen Parteien dabei aber weitgehend sich angleichen. Sie verzichten darauf, konkrete gruppen- oder klassengebundene Interessen zu vertreten, werden zur allgemeinen Ausgleichsstelle und stehen in einem nach außen hin unterschiedslosen Austauschverhältnis mit allen realen Gruppen und allen idealen Positionen ausgenommen die an Strukturveränderungen interessierten Gruppen und die revolutionären Ideen. Solche Parteien trennen sich von der eigenen gesellschaftlichen Basis und werden zu staatspolitischen Vereinigungen: zu den Amtsträgern des staatlichen Ausgleichs.

Johannes Agnoli

Darin hat sich auch 50 Jahre nach der Abfassung des Traktats in Deutschland wenig geändert, auch in den USA ist es nicht gelungen, die Dualität Demokraten versus Republikaner zu überwinden. Das ist auch der Grund dafür, dass Bernie Sanders den dringenden Aufrufen seiner jüngeren, aktionistischeren Anhänger nicht nachgekommen ist und sein Wirkungsfeld nicht außerhalb der großen Parteien verlegt.

Agnoli hat noch in den 1980er Jahren die sich damals noch als Protestpartei gerierenden Grünen mit in sein Modell der Einheitspartei einbezogen. Auch damit kann er sich posthum bestätigt sehen.

Natürlich muss neuen Produkten im Supermarkt genauso wie am Politmarkt ein Markenkern, etwas Unverwechselbares, angedichtet werden. Wenn diese Erzählung dann funktioniert, läuft das Produkt gut.

Der Berliner Journalist Rainer Balcerowiak hat in der Edition Berolina ein gut lesbares Buch veröffentlicht, das einen Begriff kritisch unter die Lupe nimmt, der im anstehenden Wahlkampf eine zentrale Rolle spielten dürfte. Es geht um den Begriff Reform. Mit dem Titel „Die Heuchelei von der Reform“[7] macht der Autor schon deutlich, dass er das ganze Reformgerede für Ideologie hält. Er macht einen Exkurs bis zu den Römern, als es auch schon Reformbedarf gab. Sehr gut zeichnet der Autor nach, wie der Begriff einen neuen Bedeutungsgehalt bekommen hat.

Noch in der Ära Willi Brandt trugen Reformen dazu bei, das Leben vor allem von Lohnabhängigen zu verbessern, es war also klassisch sozialdemokratische Politik. Doch schon in der Ära seines Nachfolgers Helmut Schmidt wurden Reformen zum Schrecken für die Subalternen. Der Begriff Reform wird seit mehr als drei Jahrzehnten häufig dann verwendet, wenn einst erkämpfte Rechte auf dem Arbeits- oder Rentensektor, im Bereich von Wohnungen und Mieten abgebaut und diese Bereiche den Interessen der Wirtschaft unterworfen wurden. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war die Agenda 2010, die Gerhard Schröder und Co. als Reform verkauften.

Balcerowiak findet erfreulich klare Worte, wenn er davon spricht, dass mit den Hartz-Gesetzen neben der politisch gewollten Verarmung eine „Unterwerfung unter ein bisher für unmöglich gehaltenes Kontroll- und Repressionssystem“ verbunden war. Nun gehörte Martin Schulz immer zu den Befürwortern der Reform, die er jetzt auch nicht abbauen, sondern nur an einigen Punkten modifizieren will. Weder will er Sanktionen aufheben, wie es Erwerbslosengruppen und soziale Initiativen seit Jahren fordern, noch will er die Politik der Verarmung abschaffen. Doch schon für die vage Ankündigung von Modifizierungen beim Hartz IV-Regime hagelt es Kritik von Wirtschaftsverbänden, der Union und auch Teilen der Grünen[8]. Balcerowiak hat in einem Kapitel den Mythos vom Reformlager, das angeblich bei den kommenden Wahlen im Angebot sei, gut gekontert und vor allem aufgezeigt, dass die Grünen als neoliberale Partei gut mit der FDP harmonieren.


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Peter Nowak

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[1] http://www.n-tv.de/politik/Westerwelle-fuer-Projekt-18-article118035.html
[2] https://www.welt.de/politik/article3188102/Projekt-18-Westerwelles-Albtraum-ist-zurueck.html
[3] https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article106242600/Hoehenflug-der-Piraten-gebremst.html
[4] http://www.welt.de/politik/wahl/berlin-wahl/article13539983/Wie-sich-Renate-Kuenast-in-Berlin-vergaloppiert-hat.html
[5] https://philosophia-perennis.com/2017/01/31/gruene-historischer-tiefstand/
[6] http://copyriot.com/sinistra/reading/agnado/agnoli06.html
[7] http://buch-findr.de/buecher/die-heuchelei-von-der-reform/
[8] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-02/wahlkampf-gruene-kritik-martin-schulz-acht-punkte-plan

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Aus diesen Beitrag zitierte der in den Artikel erwähnte Taz-Kommentator Peter Unfried ohne Quellengabe:

„Wie ich lese, plane ich außerdem einen sozialökologischen Umsturz, also eine „kapitalistische Regulationsphase, die sich vor allem auf erneuerbare Energie und neue Technologien stützt“. Schlimm. Und als ob das nicht schon genug wäre: Wer steckt hinter dem perfiden Plan, eine schwarz-grüne Bundesregierung zu installieren? Sie ahnen es.“
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