Der Enkel-Trick

Der Täter des Nationalsozialismus gedenken? Hohenschönhausen macht’s möglich.

Die Kritik an den rechtsradikalen Positionen des Berliner Historikers ist von der Meinungsfreiheit gedeckt«, kommentierte der Jura-Professor Andreas Fischer-Lescano im Juni 2016 in einem Gastbeitrag in der »Frankfurter Rundschau« eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln. Es hatte entschieden, dass der Lehrstuhlinhaber für die Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität, Jörg Baberowski, als rechtsradikal und rassistisch bezeichnet werden darf.

Im Februar 2014, ein Jahr vor Erscheinen seines Buches Räume der Gewalt, hatte Baberowski in einem Interview mit dem »Spiegel« den revisionistischen Historiker Ernst Nolte verteidigt. Nolte »wurde Unrecht getan. Er hatte historisch Recht.« Baberowski bezog sich auf Noltes Leugnung der Singularität des Holocaust, die 1986 den Historikerstreit ausgelöst hatte. Damals warnten Fachkollegen wie Jürgen Habermas vor einem revisionistischen Trend in der Geschichtswissenschaft. Die NS-Verbrechen sollen durch aufrechnende Vergleiche mit anderen Massenverbrechen zugunsten eines einheitlichen nationalkonservativen deutschen Geschichtsbilds eingeebnet werden, so die Kritiker Noltes.

Es versteht Baberowski allerdings miss, wer ihm vorwirft, dass er Hitler und Stalin auf eine Stufe stelle: »Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird. Stalin dagegen hat die Todeslisten voller Lust ergänzt und abgezeichnet, er war bösartig, er war ein Psychopath.« Solche Aussagen qualifizieren Baberowski für seine neue Aufgabe. Für die Gedenkstätte Hohenschönhausen koordiniert er einen »Forschungsverbund zur Erfassung und Analyse der politischen Repression in SBZ und DDR«. Er soll ein Register mit den Namen aller Opfer des Kommunismus in Deutschland erstellen.

Am 27. Juli hat das erste Arbeitstreffen dieses Forschungsverbunds stattgefunden. Das Vorhaben wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit mindestens 5,3 Millionen Euro gefördert. »Eingang in die Datenbank sollen zunächst lediglich jene Kommunismus-Opfer finden, die zwischen 1945 – der Einrichtung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) – und 1989 inhaftiert, deportiert oder getötet wurden. Wenn wir den Opferbegriff zu weit fassen, also auch die von Zersetzungsmethoden der Stasi Betroffenen einschließen, werden es zu viele«, erläuterte der Sprecher der Gedenkstätte Hohenschönhausen, André Kockisch.

Der Opferbegriff ist allerdings weit genug gefasst, um alle NS-Täter aufzunehmen. Jeder verhaftete Nazi: ein Opfer des Kommunismus. Besonders perfide ist die Tatsache, dass die Gedenkstätte Hohenschönhausen die Datenbank der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, in der die Opfer der Shoah namentlich verzeichnet sind, zum Vorbild für ihr Projekt erklärt hat. NS-Judenmörder, die auf dem Gebiet der SBZ verhaftet oder während der Waldheimer-Prozesse verurteilt wurden, werden mit ihren Opfern gleichgesetzt.

Die Angeklagten der Waldheimer-Prozesse konnten, nachdem die BRD-Justiz auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wieder galt, ihre Rehabilitierung beantragen. Einige noch lebende Richter und Staatsanwälte der Prozesse wurden wegen Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung angeklagt. Die für die Waldheimer-Prozesse zuständige Justizministerin Hilde Benjamin konnte einer Anklage nur entgehen, weil sie wenige Monate vor dem Fall der Mauer starb. Die Antifaschistin und NS-Verfolgte, die wesentliche Reformen im Familienrecht der DDR angestoßen hatte, war wegen ihrer kompromisslosen Verfolgung der NS-Täter zum besonderen Hassobjekt von Rechten aller Couleur geworden. Die mit ihrer Hilfe Verurteilten können nun im Register der Gedenkstätte Hohenschönhausen als Opfer des Kommunismus aufgeführt werden.

Vor einigen Wochen musste sich Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte, von Siegmar Faust, einem ehemaligen »DDR-Bürgerrechtler« und langjährigen Mitstreiter, trennen. Im Gespräch mit der »Berliner Zeitung« hatte sich Faust nicht nur zur AfD bekannt, sondern auch die Verurteilung von Horst Mahler wegen seiner notorischen Holocaust-Leugnung gerügt. Mit Blick auf die Shoah fragte Faust, ob die Zahl von sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden denn »heilig« sei. Er verstehe, dass die Verbrechen der Nazi-Zeit noch heute ein Thema seien, »aber irgendwann muss das mal ein bissl aufhören. Man darf es nicht übertreiben.«

Man darf Faust Glauben schenken, wenn er sagt, dass es in Hohenschönhausen nur wenige gibt, die anders denken als er. Der Historiker Jens Gieseke, der Mitglied im Beirat der Gedenkstätte Hohenschönhausen und Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ist, teilt diese Einschätzung. »Ich betrachte mit Sorge die wachsende Nähe der Gedenkstätte Hohenschönhausen zur AfD und ihrem Rechtspopulismus«, erklärte er der »Berliner Zeitung«. Der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Stephan Hilsberg wirft dem Vorsitzenden des Fördervereins der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Jörg Kürschner, AfD-Nähe vor. Er habe zudem den Beitritt des AfD-Vorstandsmitglieds Georg Pazderski in den Förderverein forciert.

In Hohenschönhausen können die Nazis von heute also bald ganz offiziell der Nazis von gestern gedenken. Von der DDR verurteilt und bestraft zu werden adelt noch jeden Kriegsverbrecher. So geht gelebter Geschichtsrevisionismus; und Ernst Nolte rotiert im Grab – vor Freude.

Peter Nowak schrieb in konkret 6/18 über die Propaganda der Polizeigewerkschaften

aus: konkret 9/18
https://www.konkret-magazin.de/hefte/id-2018/heft-92018/articles/der-enkeltrick.html

Peter Nowak

Von 68 reden?

Verändert die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse!
„Die Kugel Nummer Eins kam aus Springers Zeitungswald Ihr habt dem Mann die Groschen auch noch dafür bezahlt.“ Wolf Biermann, Drei Kugeln auf Rudi Dutschke

Was 2017 Luther war ist jetzt Marx, es ist ein runder Geburtstag und die Standortförderung gibt sich redlich Mühe, den Jubilar zu vermarkten. 2017 gab es Luther-Brötchen in der Lutherstadt Wittenberg, 2018 Marx-Bier in Trier, das sich dann doch nicht den Zusatztitel Marxstadt zugelegt hat. Es ist halt Kommerz. Und im nächsten Jahr wird der nächste Jubilar an der Reihe sein. Doch nicht nur historische Personen, sondern auch Jahreszahlen und damit verbundene geschichtliche Ereignisse geraten in die Zeitschleifen. So ist in diesem Jahr auch das 68er-Jubiläum – und das hat eine politische Botschaft. Die 68er-Bewegung hat die BRD zivilisiert, die Grundlage für die Wiedervereinigung gelegt und die heutige Stellung Deutschlands als Hegemonialmacht in der EU ist letztlich auch ein später Sieg von 68. 50 Jahre danach kämpft ein Groß- teil der Protagonist_innen um die Deutungshoheit. Schließlich ist es das letzte Jubiläum, bei dem noch viele von ihnen sehr aktiv beteiligt sind. Von Daniel Cohn-Bendit bis Gerd Coenen, Wolfgang Kraushaar und Stefan Aust wollen hier Apo-Senioren noch einmal der Nachwelt deutlich machen, wie sehr sie doch beigetragen haben zur deutschen Renaissance. Dazu haben sie zuerst die Ideen des 68er-Auf- bruchs entstellt, teilweise in ein Gegenteil verkehrt und so zum Herrschaftsinstrument gemacht. Wo es vor 50 Jahren um den Sturz der Mächtigen und den Kampf gegen Staat und Kapital ging, haben die selbsternann- ten Nachlassverwalter, es sind doch meist nur Männer, daher die männliche Form, eine neue Macht kreiert und sie sitzen heute längst in den Aufsichtsräten jener Konzerne, die sie einst bekämpft haben. Cohn-Bendit sitzt heute im Aufsichtsrat der Universität von Nanterre, die Studierende von der Polizei räumen lässt, wenn sie einen Besetzungsversuch an der Uni wagen. Cohn-Bendit ist auch stolz, zu den Beratern von Macron zugehören, des neoliberalen Präsidenten, der in Frankreich endgültig die Widerständigkeit ausmerzen will.
In Deutschland verkauft Stefan Aust, der 68-Mitläufer, zum Jubiläum des Attentats auf Rudi Dutschke seine Erinnerungen an den rechten Mordanschlag an die Tageszeitung „Die Welt“, also an den Springerkonzern, der damals nach Ansicht Tausender Apo-Anhänger_innen mit auf Dutschke geschossen hat. Nachdem 1968 ein durch die Hetze von BILD und Nationalzeitung verhetzter Mann auf den linken Studenten Dutschke geschossen hat, wurde gegen den Springerkonzern in vielen Städten demonstriert und die Auslieferung der BILD-Zeitungen blockiert. Noch Jahre später hatte Wolf Biermann, als er noch nicht zum Bettvorleger der CSU geworden war, in seinen Song „3 Schüsse auf Rudi Dutschke“, die benannt, die mit geschossen haben.

Das andere 68
50 Jahre später kennt man in Deutschland keine Täter und Opfer mehr, sondern nur noch 68er, die alle schon immer nur Deutschland größer und grüner machen wollten. Dazu müsste man erst einmal einen großen Teil der Protagonist_innen des Aufbruchs vor 50 Jahren vergessen. Sie wurden entweder weggesperrt als Militante oder auf andere Art zum Schweigen gebracht. Es waren viele. Die Jungarbeiter_innen und Lehrlinge, die sich angesteckt von der 68er-Bewegung, auch zu rühren begannen. Die proletarischen Frauen, die nicht rebellierten, um Gleichberechtigung bei der Bundeswehr und im Aufsichtsrat von Dax-Konzernen zu bekommen, den vielen radikalen Stadtteil- und Umweltinitiativen, die nicht nur die AKWs, sondern die herrschenden Klassen abschalten und damit inDeutschland anfangen wollten. Sie alle sind nicht dabei, wenn in diesem Jahr die 68er sich abfeiern, die mit dem Marsch durch die Institutionen am Ziel angekommen sind. Die herrschende Meinung ist immer die Meinung der Herrschenden, die Erkenntnis von Karl Marx wird aktuell zum 68er Jubiläum immer wieder bestätigt. Diejenigen, die sich von der Herrschaft haben kooptieren lassen, interpretieren jetzt die Geschichte. Die vielen anderen, die sich nicht haben korrumpieren lassen, sollen vergessen werden. Doch bisher gibt es noch immer die Möglichkeit das Bild eines anderen 68 zu vermitteln. Dafür steht das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) ebenso wie der Psychologieprofessor Peter Brückner, der jahrelang gegen Rufmord und Berufsverbot ankämpfen musste. Dafür steht die Lehrlingsbewegung ebenso wie die Menge heute unbekannter Jugendlicher, für die 68 auch eine ganz persönliche Befreiung war. Dieses andere 68 ist es, was Menschen heute inspirieren kann, wenn sie gegen die heutige Macht und Autorität ankämpfen.
Während 50 Jahre 68 abgefeiert wird, werden im Vergleich dazu kleine Proteste fast schon kriminalisiert und die in den Staat kooptierten 68er sind mit dabei. Kürzlich wurde in der taz studentischer Protest gegen den Historiker Jörg Baberowski, ein Vertreter der neuen wissenschaftlichen Rechten, als linke Zensurversuche abgeurteilt. Bereits im letzten Jahr wurden in der taz Kritiker_innen von Baberowski im Duktus der Neuen Rechten als Volkskommissare abgewatscht. Vor einigen Wochen folgte dann gleich auf mehreren Seiten eine Verteidigung des rechten Professors.
Umso schärfer wird auf die kleine linke ne Gruppe der studentischen Baberowski-Kritiker_innen eingedroschen. Dabei könnte man die doch als wahre Erben der 1968er bezeichnen. Die haben schließlich auch nicht gewartet, bis sie an der Reihe waren, wenn sie Kritik vorzubringen hatten. In Brandenburg an der Havel bekamen einige engagier- te Schüler_innen eine Anzeige. Sie hatten sich dagegen ausgesprochen, dass ein AfD-Politiker zum Politikertalk in ihre Schule eingeladen wird. Die hat schließlich die Auszeichnung: Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Die couragierten Schüler_innen schrieben auf ein Transparent als Protest gegen den AfD-Talk: „Schule mit Rassismus – Schulleiter ohne Courage“. Das reichte für die Anzeige.
Das zeigt, wie notwendig ein neuer gesellschaftlicher Aufbruch ist, damit die Mächtigen, ob Schuldirektor_innen, Vorarbeiter_inen oder Rektor_innen doch nicht ganz so sicher sitzen. In diesem Sinne. Es kommt darauf an, die Welt zu verändern.

Peter Nowak

Hinweis auf diesen Artikel in der jungen Welt:
https://www.jungewelt.de/artikel/334786.neu-erschienen.html
Graswurzelrevolution
Eine Aktivistin berichtet über die im April und Mai durchgeführten Räumungen auf einem besetzten Gelände bei Nantes, wo die französische Regierung jahrzehntelang Pläne für den Bau eines Großflughafens verfolgte. Anfang 2018 wurden diese aufgegeben. Michèle Winkler hält das neue bayerische Polizeiaufgabengesetz für »eindeutig verfassungswidrig«: »Der Skandal ist, dass die CSU es dennoch mit unüberbietbarer Arroganz vorgelegt und beschlossen hat.« Gisela Notz setzt den Aufbruch von 1968 und die »neuen Frauenbewegungen« der Gegenwart im Interview ins Verhältnis. »Während 50 Jahre 68 abgefeiert wird, werden im Vergleich dazu kleine Proteste fast schon kriminalisiert, und die in den Staat kooptierten 68er sind mit dabei«, meint Peter Nowak. An eine öffentliche Verbrennung von Wehrpässen vor 40 Jahren erinnert Johann Bauer.

Graswurzelrevolution, Jg. 47/Nr. 430, 24 Seiten, 3,80 Euro, Bezug: Verlag Graswurzel­revolution e. V., Vaubanallee 2, 79100 Freiburg, E-Mail: abo@graswurzel.net

„Erklärung 2018“ – der rechte Resonanzboden ist größer geworden

Aber auch das linksliberale Milieu ist nach rechts offener geworden

Die Erklärung hat nur zwei Zeilen und sorgt doch für viel Aufsehen.

„„Erklärung 2018“ – der rechte Resonanzboden ist größer geworden“ weiterlesen

Paralyse der Kritik: Gesellschaft ohne Opposition?

Ein Kongress in Berlin zeigt, wie ein Teil der ehemaligen 68er-Bewegung mit dazu beigetragen hat, dass sich die Verhältnisse, gegen die man einst kämpfte, noch mehr stabilisierten

Studierende opponieren gegen den in Berlin lehrenden Historiker Jörg Baberowski, dem nicht nur von ihnen, sondern auch in einem Gastbeitrag in der linksliberalen Frankfurter Rundschau rechtslastiges Gedankengut vorgeworfen wird.

Eigentlich ist es doch sehr erfreulich, dass 50 Jahre nach 1968, zumindest einige Studierende nicht nur über diese Ereignisse resümieren, sondern die damalige Parole „Unter den Talaren der Muff von Tausend Jahren“ heute zu aktualisieren versuchen. Dass die kritischen Studierenden von den konservativen Medien, FAZ und Welt verurteilt werden, ist nicht verwunderlich.

Diese Zeitungen haben auch vor 50 Jahren wütend auf diejenigen reagiert, die damals die Parole propagierten. Verwunderlicher ist dann schon, dass die grünennahen Taz, die ja immer ihre Nähe zur 1968er-Bewegung herausstellt, ganz klar Front gegen die Kritiker Baberowski macht und ihn in einen langem Artikel als Opfer linker Ideologen hinstellt. Das ist ein gutes Beispiel für die „Paralyse der Opposition“.

So beschrieb Herbert Marcuse 1968 die Gesellschaft in der BRD. Die Neue Gesellschaft für Psychologie, ein Kreis von Sozialwissenschaftlern, die sich selbst in der Tradition von 1968 sehen, hat auf ihrem diesjährigen Kongress, der am vergangenen Wochenende in Berlin zu Ende gegangen ist, Marcuses Verdikt auf die heutige Zeit übertragen. Auch seine Aufforderung „Weitermachen“ wollen sie in die heutige Zeit übernehmen.

Entkollektivierung und Prekarisierung und welchen Anteil die 68er daran hatten

Dabei übersehen sie die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens nicht, wie das Programm ausweist:

Gleichzeitig müssen wir berücksichtigen, dass und wie sich die Welt (der Kapitalismus) seit der Verweigerungsrevolte von ’68 verändert hat – Stichwörter: Entkollektivierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in ihrer gesamten sozialen Bandbreite, Unterwerfung von Wissenschaft, Bildung und Gesundheitswesen unter das direkte Diktat der Kapitalakkumulation, zerstörerische Aspekte der forcierten internationalen Arbeitsteilung und der globalen Zyklen seit 1971/73.

Aus dem Vorwort zum Konferenzprogramm

Die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Individuen wurden in verschiedenen Arbeitsgruppen veranschaulicht. So stellte die Erziehungswissenschaftlerin Andrea Kleeberg-Niepage Texte vor, in denen sich Jugendliche, eine Gymnasiastin und eine Hauptschülerin, der Frage widmen, was sie von der Zukunft erwarten.

Trotz vieler Unterschiede machte Kleeberg-Niepage eine Gemeinsamkeit fest: In beiden Texten fehlt jeder Hinweis auf eine Protesthaltung. Unzufriedenheit mit den Verhältnissen war zwar durchaus vorhanden, aber es herrscht die Vorstellung „wenn ich es nicht schaffe, ist es mein eigenes Verfehlen“. Gesellschaft wurde in den Schreiben nicht adressiert und so war es nur folgerichtig, dass es auch keine gesellschaftskritischen Gedanken gab. Aber es gab in den Schreiben auch keinen Hinweis auf die Vorstellung einer glücklichen Zukunft im Kapitalismus.

Vielmehr sahen sich die Schreiberinnen als Objekte blinder Mächte und die einzige Möglichkeit, die sie haben, ist, sich zu arrangieren und das Beste daraus zu machen. Es wäre interessant gewesen, diese Ergebnisse mit Befragungen von Jugendlichen in der DDR zu kontrastieren.

Ein Beispiel ist das Langzeitfilmprojekt „Die Kinder von Golzow“, in dem eine Landschulklasse ab 1961 filmisch begleitet wurde. Die Hoffnungen, Wünsche und Ängste der Menschen kamen zu Sprache. Auch beim Bankett der 500 Träumer, einem Preisausschreiben in der DDR im Jahr 1970 sollen sich Jugendliche die Welt im Jahr 2000 vorstellen. Man kann heute darüber spotten, aber man kann sich auch darüber Gedanken machen, warum die Jugendlichen damals weniger Zukunftsangst hatten, weniger das Gefühl, dass „blinde Mächte“ über ihr Schicksal bestimmen, als heute.

Wie aus dem Individualismus der Egotrip wurde

Eine Stärke des Kongresses bestand dahin, dass immer wieder auch die Frage gestellt wurde, wie Akteure der 1968er -Bewegung, den Kapitalismus mit stabilisieren halfen, anfangs oft gegen ihren Willen. So hat der Historiker Karl-Heinz Roth in seinem Vortrag dargelegt, wie die Betonung des Individuums zum „Egotrip“ und zum „Selfismus“ geriet und auch die Funktion veränderte.

Anfangs stärkte die Betonung der Individualität den Widerstand gegen die Verhältnisse, die die Menschen auch persönlich nicht mehr aushalten wollten. Doch der heutige Selfismus verhindert jede Solidarität. Roth vermied wie die meisten anderen Referentinnen und Referenten allerdings moralische Kritik. Man verwies auf die massive Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Karl-Heinz-Roth erklärte, dass er selber als „bekannte rote Socke“ mit dicker Verfassungsschutzakte immer sofort einen Job als Assistenzarzt bekommen hat. Mit der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse hingegen sei die Angst wieder das beherrschende Gefühl vieler Menschen geworden; doch Angst mobilisiere in der Regel nicht, sondern lähme.

Kritik der repressiven Toleranz

Einen wichtigen Aspekt haben Julia Plato und Falk Sickmann in ihrer Beschäftigung mit Slavoj Žižeks Toleranzbegriff angesprochen: Teile der Restlinken haben sich zum Wurmfortsatz des Liberalismus gemacht.

In den USA hat dies zum Aufstieg und zur Wahl von Trump entscheidend beigetragen – und nicht die angeblichen russischen Hacker, die gerade von den liberalen Kreisen ins Feld geführt werden. Sie wollen natürlich vermeiden, dass ihre Rolle bei dem Wahlergebnis diskutiert wird.

Plato und Sickmann haben dann noch zu Illustration ihrer „Kritik der repressiven Toleranz“ ein Foto vom Eingang eines angesagten Cafés in einem Berliner Szenebezirk eingeblendet, wo eine Tafel verkündete, dass Rassismus, Antisemitismus und Homophobie nicht akzeptiert werden. Eine Zeile darüber wurden Zahlungsmittel und -arten aufgelistet, die akzeptiert werden. Eine wahrscheinlich alltägliche Hinweistafel.

Die meisten Menschen nehmen je nach Gesinnung mit Freude oder Wut zur Kenntnis, was in der Lokalität nicht akzeptiert wird. Dass die Grundlage erst einmal der Besitz von Bargeld oder Kreditkarten ist, wird gar nicht besonders wahrgenommen, weil das eben zum Wesen des Kapitalismus gehört. Dass die Referenten genau dieses Schild als Exempel für eine repressive Toleranz nahmen, war gut gewählt.

So leistete der Kongress Aufklärung über den Zustand unserer Gesellschaft und der von vor 50 Jahren. Nur hätte man bei dem Titel „Deutschland ohne Opposition“ ein Fragezeichen setzen sollen. Denn es gibt im gegenwärtig in Deutschland durchaus eine Opposition – die aber steht rechts.

Die Vorstellung, dass Opposition immer staats- und kapitalismuskritisch sein muss, stimmt schon längst nicht mehr Aber das wäre unter Umständen ein Thema für den nächsten Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie. Das in einem ideologiekritischen Brief befürchtete Abtriften des Kongresses in Antiamerikanismus und Verschwörungstheorien hat sich beim diesjährigen Programm zum Glück nicht feststellen lassen.

Die Unterzeichner kritisieren einige Interviewäußerungen eines federführend für den Kongress verantwortlichen Wissenschaftlers. Es wäre wünschenswert, wenn beim nächsten Kongress eine kritische Debatte über die Streitpunkte auf einer wissenschaftlichen Basis möglich wäre.

https://www.heise.de/tp/features/Paralyse-der-Kritik-Gesellschaft-ohne-Opposition-3990642.html

Peter Nowak
RL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3990642

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/geosteuropas/personen/1683840
[2] http://www.fr.de/wissen/joerg-baberowski-die-selbstinszenierung-eines-rechten-a-1294450
[3] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/der-diffamierte-joerg-baberowski-erhaelt-beistand-14960798.html
[4] https://www.welt.de/geschichte/article163535334/Linksextremisten-wollen-nichts-verstehen-sondern-denunzieren.html
[5] http://www.taz.de/!5485962/
[6] https://www.ngfp.de/
[7] https://www.ngfp.de/wp-content/uploads/2017/12/GoO_Programm.pdf
[8] https://www.ngfp.de/wp-content/uploads/2017/12/GoO_Programm.pdf
[9] https://www.uni-flensburg.de/psychologie/wer-wir-sind/personen/andrea-kleeberg-niepage/
[10] http://www.kinder-von-golzow.de/
[11] https://www.hoferichterjacobs.de/produktionen/das-bankett/
[12] https://www.tagesspiegel.de/politik/vor-30-jahren-ertraeumten-sich-einige-ddr-jugendliche-das-jahr-2000/116046.html
[13] http://www.stiftung-sozialgeschichte.de/joomla/index.php/de/publikationen/literaturlisten-2/101-karl-heinz-roth
[14] http://www.falksickmann.de/
[15] http://www.zeit.de/2016/18/slavoj-zizek-kapitalismus-der-neue-klassenkampf
[16] http://critpsych.blogspot.de/2017/12/offener-brief-die-neue-gesellschaft-fur15.html