Gibt’s nicht gibt’s

Die deutsche Bürokratie erkennt die Rentenansprüche von Ghetto-Kinderarbeit nicht an.

Das deutsche Arbeitsschutzrecht kennt keine Kinderarbeit. Was eigentliche eine zivilisatorische Selbstverständigkeit sein sollte, wird von der deutschen Rentenversicherungsgesellschaft genutzt, um…

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Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts und die deutsche Politik

Der Bundestag will den Völkermord an den Armeniern verurteilen, der zuvor von Deutschen begangene an Hereros und Nama in Namibia wird weiter geleugnet

Seit Tagen sorgt der Aufklärungseifer eines Genozids für politische Verstimmungen. Der Bundestag will den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts in einer Resolution eindeutig verurteilen, so heißt es in allen Medien. Die Türkei reagiert mit scharfer Kritik. Denn es handelt es sich um die Massaker an den Armeniern durch von der deutschen Politik unterstützte türkische Nationalisten.

Hier will der angebliche Aufarbeitungsweltmeister Deutschland wieder einmal aller Welt die Überlegenheit vorführen. Tatsächlich hat Deutschland sicher viele neidische Blicke auf sich gezogen, weil es noch die blutigste Vergangenheit so bewältigen kann, dass es seinen eigenen Interessen nützt. Das wurde spätestens beim Jugoslawienkrieg deutlich, als die damalige rot-grüne Regierung ihr militärisches Eingreifen mit Auschwitz begründet hat.

Doch die Aufklärungsbereitschaft der eigenen Verbrechensgeschichte stößt an Grenzen, wenn es um die deutsche Kolonialgeschichte und die damit verbundenen Massaker geht. So konnte die für Deutschland peinliche Situation entstehen, dass die Opferverbände des tatsächlich ersten Genozids im 20. Jahrhunderts juristisch gegen die Bundesrepublik Deutschland vorgehen.

Verbände der Hereros und Nama, deren Vorfahren in den Jahren 1904 bis 1908 zu den Tausenden Opfern gehörten, für die die deutsche Kolonialarmee unter Führung von Generalleutnant Lothar von Trotha die Verantwortung trägt, haben vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht. So könnte ein Stück deutscher Verbrechensgeschichte nach mehr als 100 Jahren noch einmal die Öffentlichkeit beschäftigen.

Gefangene Herero in Ketten. Bild: Unbekannt/Ullstein Bilderdienst/gemeinfrei

Wer nicht erschossen wurde, verdurstete in der wasserlosen Wüste, in die sie von den deutschen Kolonialtruppen gejagt wurden. Der schriftliche Befehl für die Morde liegt vor. „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen“, dekretierte der Kolonialmilitär eine Politik, die in Grundzügen schon die NS-Vernichtungspolitik vorweggenommen hatte.

So mussten gefangene Aufständische in eigens eingerichteten Konzentrationslagern vegetieren und bei schlechter Ernährung schwere Zwangsarbeit verrichten. Die Sterberate war immens hoch. Da ähnliche Konzentrationslager einige Jahre zuvor bereits von Kolonialpolitikern aus Großbritannien errichtet wurden, macht nur noch einmal deutlich, dass eine solche Unterdrückungspolitik Kennzeichen des Kolonialismus war. Es war nun das Spezifikum des Nationalsozialismus, solche Methoden nicht mehr nur in den Kolonialgebieten, sondern im Kernland anzuwenden und terroristisch zu verschärfen. Eigentlich wäre das doch eine erneute Gelegenheit für den Aufarbeitungsweltmeister Deutschland, sich in der Praxis zu bewähren.

Die deutsche Verbrechensgeschichte wurde an den Rand gedrängt

Doch die Realität sah ganz anders aus. Als Bundeskanzler Kohl als erster deutscher Regierungschef Namibia besuchte, das sich auf dem Territorium der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika befindet, ging es um Geschäfts- und Wirtschaftsbeziehungen. Die deutsche Verbrechensgeschichte wurde an den Rand gedrängt.

Die offizielle Position der deutschen Regierung war ganz eindeutig. Man bedauerte die Geschehnisse, aber leider könne man keine Verantwortung für Ereignisse nehmen, die während der deutschen Kolonialzeit geschehen sind. Explizit abgelegt wurde aber eine Klassifizierung der Massaker als Völkermord mit der Begründung, die UN-Völkermordkonvention würde nicht rückwirkend gelten. So hieß es noch 2012 in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion: „Bewertungen historischer Ereignisse unter Anwendung völkerrechtlicher Bestimmungen, die im Zeitpunkt der Ereignisse weder für die Bundesrepublik Deutschland noch für irgendeinen anderen Staat in Kraft waren, werden von der Bundesregierung nicht vorgenommen.“

Die Kasse bleibt zu

Während sich die sozialdemokratische Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek Zeul zum 100. Jahrestag des Massakers im Jahr 2004 bei den Nachkommen der Opfer entschuldigte, vermied sie es, den Begriff Völkermord zu verwenden. Der Grund war klar, man wollte vermeiden, dass über Entschädigungen und Reparationen geredet werden muss.

Erst im letzten Jahr sprach mit dem christdemokratischen Bundestagspräsidenten Norbert Lammers in einem Interview mit der „Zeit“ erstmals ein führender deutscher Politiker von einen Völkermord an den Herero, der von deutschen Militärs verübt wurde.

Doch deutsche Politiker weigerten sich weiterhin, direkt mit den Opferverbänden der Herero und Nama in Gespräche über Reparationen zu treten. Leidglich die namibische Regierung wurde als Gesprächspartner anerkannt. Damit wurde ein Beschluss des Parlaments von Namibia ignoriert, der Gespräche mit der deutschen und namibischen Regierung und den Opferverbänden forderte. „Wir haben nun nach langen Überlegungen beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen“, wird der Sprecher der Ovaherero Stammesbehörde Bob Kandetu in der deutschsprachigen namibischen „Allgemeinen Zeitung“ zitiert.

Die Taktik des Aufarbeitungsweltmeisters Deutschland, nur so viel von der eigenen Verbrechensgeschichte offen zu machen, wie nicht mehr verschwiegen werden kann, und Reparationen und Entschädigungen möglichst lange hinauszuzögern, wird nicht nur im Fall der Herero und Nama angewandt. So ging die deutsche Politik auch vor, als es um die Entschädigung der Zwangsarbeiter im NS ging. So ging sie bei den überlebenden Ghettorentnern vor, die über Jahre dafür kämpfen mussten, dass sie im Alter die Rente bekommen, für die sie im NS zwangsweise eingezahlt hatten. Man zog die Entscheidung solange heraus, bis ein großer Teil der Betroffenen gestorben war.

Der Sozialrichter Jan Robert-von Renesse, der ehemaligen Ghettoarbeitern unbürokratisch zu ihren Renten verholfen hatte, wurde von den eigenen Kollegen gemobbt und mit Klagen überzogen. Da werden Erinnerungen an die 1960er Jahre wach, als der ehemalige Staatsanwalt Fritz Bauer, der als NS-Gegner die Anklagen gegen Nazitäter vorantrieb, erklärte, dass er sich in Feindesland bewege, wenn er sein Büro verlasse.

Es gehört zur Chuzpe der deutschen Politik, sich mit dieser Praxis trotzdem als Aufklärungsweltmeister mit Sendungsbewusstsein präsentieren zu können. Wenn nun Anfang Juni der deutsche Bundestag den angeblich ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts in die Türkei verlegt, ist das sogar eindeutiger Geschichtsrevisionismus und ein Schlag ins Gesicht der Opferverbände der Herero und Nama. Wird ihnen doch damit signalisiert, dass ihre Vorfahren keine Opfer eines Völkermords gewesen sein sollen.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48310/1.html

Peter Nowak

Überleben durch Arbeit

Noch immer müssen ehemalige Arbeiter aus den Ghettos der NS-Zeit um ihre Rente kämpfen.

  Mitte April hat der Bundesrat die Bundesregierung aufgefordert, gesetzliche Voraussetzungen zu schaffen, um die soziale Lage der in Deutschland ansässigen Holocaust-Überlebenden aus der ehemaligen Sowjetunion zu verbessern, von denen viele
bis heute nicht als NS-Verfolgte anerkannt sind und von Sozialhilfe leben müssen. In diesem Zusammenhang ist auch der schäbige Umgang deutscher Einrichtungen mit denjenigen Überlebenden thematisiert worden, die in den Ghettos im von der Wehrmacht besetzten Europa für Hungerlöhne geschuftet haben und die noch immer um ihre Rente kämpfen.

»Gesucht werden: 2–3 gelernte Spengler (ev.umgeschult), ein Schmied, 2–4 Metalldreher, 2– 3 elektro und autogen. Schweißer, ferner Fachleute, die im Stande sind, aus Stroh Fußabstreifer und Flechtschuhe herzustellen. Curricula vitae werden sofort an die Wirtschaftabteilung Produktion gesandt werden.« Dieser Tagesbefehl des Ältestenrats des Ghettos Theresienstadt aus dem Jahr 1942 ist eines der wenigen erhalten gebliebenen Dokumente über Formen der freiwilligen Beschäftigung, die neben der Zwangsarbeit in den Ghettos des von der Wehrmacht besetzten Europas existierte. In der historischen Forschung wurden diese Arbeitsverhältnisse erst in den letzten Jahren in den Blick genommen. Wobei der Begriff der Freiwilligkeit unter den Bedingungen eines durch Hunger und Krankheit geprägten Ghettoalltags ein Euphemismus ist.
»Sie müssen sich das als eine riesige Fabrik von fast 120.000 um ihr Leben arbeitenden Menschen vorstellen, die eine letzte Hoffnung hatten, wie das der Ghettovorsitzende Rumskovskij auch immer wieder fast beschwörend sagte: Überleben durch Arbeit, beschrieb Jan-Robert von Renesse, Richter am Essener Landessozialgericht, die Situation der Ghettoarbeiter von Lodz. Die Arbeit befreite sie nicht vom Hunger und der alltäglichen Willkür der SS. Doch wer Arbeit hatte, bekam in aller Regel etwas Geld oder größere Essensrationen. Eine Überlebensgarantie war die Schufterei keineswegs.
Für die meisten Arbeiter führte der Weg vom Ghetto direkt in die Vernichtungslager. Die wenigen Überlebenden müssen noch immer um eine Rente kämpfen. Die deutschen Rentenversicherer entwickelten viel Kreativität bei ihrem Bemühen, die Bearbeitung der Anträge der hochbetagten Menschen zu verschleppen.
Dabei hatte der Bundestag 2002 einstimmig ein »Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus der Beschäftigung in einem Ghetto (ZRGB)« mit dem erklärten Anspruch beschlossen, schnell und unbürokratisch diesbezügliche Defizite des geltenden Entschädigungsgesetzes auszugleichen. Die Praxis aber war eine Zumutung für die Antragssteller. Denn sie mußten nun vor deutschen Bürokraten den Nachweis antreten, daß sie freiwillig im Ghetto gearbeitet hatten und der zusätzliche Teller Suppe oder eine Scheibe Brot Bestandteil der Entlohnung gewesen waren. Nur dann hatten sie Anspruch auf Rentenleistungen. Für die Versicherungsträger aber hatte es im Ghetto nur Zwangsarbeiter gegeben, für die die Rentenkassen nicht zuständig waren. Sie lehnten die Rentenanträge ab. In keinem anderen Entschädigungsbereich gab es eine so hohe Ablehnungsquote wie bei den Ghettorenten.

In keinem anderen Bereich gibt es so wenige Entschädigungen wie bei den Ghettoarbeitern
Für Michael Teupen ist eine Ablehnungsquote von über 90 Prozent ein ausgemachter Skandal. »Das Ghettorenten-Gesetz erweist sich in seiner Umsetzung durch die Rententräger eher als Verhinderungsgesetz«, moniert der Leiter der Beratungsabteilung des Bundesverbands Information und Beratung für NS-Verfolgte. »Das Besondere an diesem Gesetz war daß sehr intensiv dafür geworben wurde, auch von seiten der Bundesregierung und der Rententräger, Anträge zu stellen, daß aber fast alle Anträge abgelehnt wurden. Das hat es früher in der Rechtsgeschichte so nie gegeben«, meinte der Jurist Jan-Robert von Renesse. Er nahm die offizielle Intention des Gesetzes ernst, fuhr mit einem Richterkollegen nach Israel und in die USA, besuchte die Antragssteller und ließ über 100 Gutachten zur Situation in den Ghettos erstellen. Damit unterschied er sich von dem Großteil seiner Kollegen, die ca. 70.000 Rentenanträge nach Aktenlage ablehnten: »Sie haben die Möglichkeit, Historiker zu fragen, gar nicht wahrgenommen, sondern sich nur auf ganz wenige Quellen wie Wikipedia gestützt, die natürlich alles andere als seriös oder ausreichend sind, um eine ordentliche Entscheidung fällen zu können«, kritisiert von Renesse die Praxis der deutschen Rentenkassen, Tausende Ghettorentner auf Grund von veralteten Dokumenten und Fragebögen zu Zwangsarbeitern zu erklären, die keine Ansprüche auf Zahlungen aus der Rentenkasse haben. Die auf von Renesse zurückgehenden Gutachten konnten hingegen nachweisen, daß jene von ihrem geringen Lohn Abgaben an die Rentenkasse leisten mußten und geleistet hatten. Da war die deutsche Bürokratie gründlich. Die Arbeit des Richters blieb nicht ganz erfolglos. »Nach meiner Einschätzung haben diese Gutachten nicht nur für die Fälle von Herrn von Renesse, sondern auch für die Beurteilung der tatsächlichen Lage in den Ghettos eine große Bedeutung gehabt. Ich habe begründeten Anlaß zu vermuten, daß sie deswegen auch eine wesentliche Bedeutung für die Kehrtwende der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hatten«, sagt der Bochumer Rechtsprofessor Wolfgang Meyer. Er bezieht sich damit auf ein Urteil des BSG vom Juli 2009, das die Durchsetzung der Rentenansprüche der Ghettoarbeiter erleichtert.
Geklagt hat der Holocaust-Überlebende Joseph Haber, dem die Rentenversicherung Rheinland-Pfalz diese Ansprüche jahrelang verweigert hatte. Ihm muß die Rente rückwirkend bis 1997 nachgezahlt werden. In ihrer Urteilsbegründung formulierten die BSG-Richter einige Leitlinien im Umgang mit den Rentenanträgen.
So wurde klargestellt, daß »Entgelt« für die Arbeit im Ghetto jegliche Entlohnung, ob in Geld oder Naturalien, sein könne. Auch ob
es direkt an den Betroffenen oder einen Dritten floß, sei unerheblich für den Rentenanspruch. Für sein Engagement bekam von Renesse viel Anerkennung. Der Präsident des Internationalen Ausschwitz-Komitees, Noah Flug, sagte über ihn: »Für die Überlebenden hat von Renesse viel Positives gemacht. Wir möchten, daß alle das anerkennen.« Davon kann zumindest
bei seinen Vorgesetzten keine Rede sein. Schon 2008 verfügte der damalige Vorsitzende der 8. Kammer des Landessozialgerichts in
NRW, Ulrich Freudenberg von Renesses Beweisanordnungen aufzuheben, als dieser einige Tage erkrankt war. Danach ordnete Freudenberg an, daß von Renesse ihn über jede Beweisanordnung vorher informieren müsse. Ein Richterkollege schrieb in einem Leserbrief an den »Spiegel«, die Verhältnisse in den Ghettos seien auch ohne von Renesses Gutachten bekannt gewesen, was bei Historikern und Überlebenden für Erstaunen sorgte. Schließlich wurde von Renesse an einen anderen Senat versetzt, wo er nicht mehr für die Ghettorentner zuständig ist. Seine Bewerbung um den Senatsvorsitz wurde abgelehnt.
In den sechziger Jahren hat der Jurist Fritz Bauer, der gegen den Widerstand der großen Mehrheit seiner Zunft den Auschwitz-Prozeß durchgesetzt hat, einmal gesagt, daß er Feindesland betritt, wenn er sein Büro verläßt. Mehr als 40 Jahre später feiert sich Deutschland gern als Weltmeister in Sachen Aufklärung der eigenen Vergangenheit. Doch wenn es um die Abwehr der Ansprüche von Menschen geht, die die deutsche Vernichtungspolitik überlebt haben und sich erdreisten, Anträge an die deutsche
Rentenkasse zu stellen, reagieren die Verantwortlichen wie zu Bauers Zeiten.

 Peter Nowak schrieb in KONKRET 8/10 über die Forderung nach einer Gedenkstätte auf dem Gelände
des Flughafens Tegel

aus: Konkret 6/2011

http://www.konkret-verlage.de/kvv/kh.php?jahr=2011&mon=06