Schlecker schluckt

Mit der Insolvenz der Drogeriekette Schlecker geht nicht nur ein Familienunternehmen pleite. Auch eine der wenigen erfolgreichen Kampagnen der Gewerkschaften könnte in Vergessenheit geraten.

»Wir sind nicht Schlecker«, betont Mona Frias in diesen Tagen häufig. Dazu hat die Berliner Betriebsvorsitzende der insolventen Drogeriekette Schlecker allen Grund. Jahrelang musste Frias, wie andere aktive Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen, ihre Rechte bei den Arbeitsgerichten einklagen. Wenn sie nun dafür kämpft, dass möglichst viele Schlecker-Filialen erhalten bleiben, dann treibt sie die Angst um die Arbeitsplätze an und nicht etwa die Identifikation mit dem Familienbetrieb. Es gibt aber noch einen Grund, warum auch viele andere Beschäftigte betonen, dass sie zwar bei Schlecker arbeiten, aber nicht Schlecker »sind«. Schließlich haben Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sowie soziale Initiativen dazu beigetragen, dass die Marke Schlecker mittlerweile so schlecht angesehen ist, dass viele Menschen die Meldungen über die Insolvenz mit Genugtuung aufgenommen haben.

Dieses schlechte Image kann als lange nachwirkender Erfolg der Schlecker-Kampagne gewertet werden. Damit einher ging eine politische Neuorientierung der DGB-Gewerkschaften, die sich nicht mehr auf Tarifrituale beschränkten, bei denen oft die Presseerklärungen die schärfsten Waffen waren. Zudem wurde der Beweis angetreten, dass auch in einem schwer organisierbaren Sektor eine erfolgreiche gewerkschaftliche Interessenvertretung möglich ist.

In der gewerkschaftsnahen Literatur gilt die Schlecker-Kampagne als Beispiel für eine »Gewerkschaft als soziale Bewegung«. So lautet der Titel eines Buches von Jens Huhn, das die Bezirksverwaltung Mannheim der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) 2001 herausgegeben hat. Die später in der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi aufgegangene HBV war einer der Initiatoren der Schlecker-Kampagne in den Jahren 1994 und 1995.

In Mannheim hatten sich im Sommer 1993 Beschäftigte von Schlecker an die Gewerkschaft gewandt, weil sie den Verdacht hatten, dass sie unter Tarif bezahlt würden. »Die Zahl der festgestellten Abweichungen vom Tarifvertrag hochgerechnet auf die Zahl der bei Schlecker Beschäftigten ließen den Umstand, warum der Billiganbieter Schlecker in der Lage war, so expansiv sein Filialsystem auszubauen, in völlig neuem Licht erscheinen«, schreibt Ulrich Wohland, Berater bei der Abteilung Organisation und Kampagne von Verdi, in seinem Aufsatz »Kampagnen gegen Sozialabbau, Erfahrungen, Konzepte, Beispiele«.

1993 unterhielt Schlecker 3 500 Filialen, zwei Jahre später waren es schon 5 000. 1994 machte die Drogeriekette einen Umsatz von 5,6 Milliarden Mark. Die überwiegende Mehrheit der damals 25 000 Beschäftigten waren Frauen. Trotzdem gab es zu dieser Zeit bei Schlecker nur einen Gesamtbetriebsrat. Weil laut gesetzlicher Regelung eine Filiale mit mindestens fünf Beschäftigten einen Betriebsrat wählen kann, waren die Schlecker-Filialen mit maximal vier Beschäftigeten besetzt.

Zu dem durch die Kampagne bald bundesweit berüchtigten »System Schlecker« gehörten auch ständige Kontrollen der Mitarbeiterinnen. Viele hatten sogar Angst, auf die Toilette zu gehen. Woh­land führt in seinem Bericht an, dass sogenannte Revisoren abgelaufene Ware in die Regale stellten und den Beschäftigten dann einige Prozente vom Lohn abzogen, weil sie die Regale schlecht sortiert hätten. Für dieses von der »Geschäftsleitung organisierte Mobbing« seien überwiegend Männer angestellt gewesen. Die Mobbingopfer waren Frauen, die gerade in ländlichen Gegenden kaum alternative Erwerbsmöglichkeiten hatten. Die Annahme der Geschäftsleitung, dass die Angestellten nicht zu organisiertem Widerstand fähig seien, wurde durch die Schlecker-Kampagne widerlegt. Die Gewerkschaft HBV hatte neben der Einhaltung der Tariflöhne die Sicherheit der Beschäftigten in den Mittelpunkt gestellt. Zu ihren Forderungen gehörte die Installation von Telefonen in den Filialen, nachdem eine Beschäftigte nach einem Überfall an ihrem Arbeitsplatz verblutet war, weil kein Telefon vorhanden war, mit dem der Rettungsdienst hätte benachrichtigt werden können.

Auch Betriebsratswahlen bei Schlecker wurden von der Gewerkschaft gefordert. Doch neu an der Kampagne war die Gründung eines sozialen Netzwerkes, das von der »Werkstatt für gewaltfreie Aktion«, über Frauen- und Friedensgruppen bis zu sozialen Initiativen reichte. Die Kampagne begann im Herbst 1994. Im März 1995 schloss die HBV mit der Geschäftsführung von Schlecker einen Tarifvertrag, in dem ein Großteil der Forderungen erfüllt wurde. »Der gewerkschaftlich organisierte Teil der Belegschaft wäre nie in der Lage gewesen, alleine diese öffentliche Resonanz für sein Anliegen aufzubauen. Erst in der Kombination von Belegschaftsaktivitäten, gewerkschaftlicher Kampagnenplanung und Aktionen des sozialen Netzwerkes wurde ein Erfolg denkbar«, resümiert Wohland.

Für ihn hatte die Schlecker-Kampagne auch mehr als ein Jahrzehnt später nichts von ihrer Bedeutung verloren. »Die Auseinandersetzung um die Drogeriekette Schlecker stellt einen seltenen Fall innerhalb linker Geschichte dar, der fast vollständig erfolgreich war.«

Doch bei der Geschäftsleitung scheint der Erfolg keine nachhaltige Wirkung hinterlassen zu haben. »Schlecker hat aus dem Erfolg der Kampagne nichts gelernt«, sagt Anton Kobel, der die Schlecker-Kampagne mit initiiert hatte und seit vielen Jahren Mitglied der HBV ist, der Jungle World.

Bis heute landeten Beschäftigte, die sich für ihre Rechte einsetzten, auf »schwarzen Listen«, meldete Spiegel Online noch im vergangenen Jahr. Betriebsrätinnen mussten sich immer wieder juristisch gegen Abmahnungen zur Wehr setzen. Allerdings musste die Geschäftsleitung immer wieder Niederlagen bei ihren Versuchen zur Etablierung eines Niedriglohnsystems einstecken. So scheiterte sie bei dem Versuch, unbezahlte Überstunden einzuführen, an den Arbeitsgerichten.

Beim Protest gegen die Etablierung von besonders niedrig bezahlten Jobs in den XL-Läden von Schlecker lebte 15 Jahre später sogar die Kooperation der historischen Schlecker-Kampagne wieder auf. So protestierten in Marburg, Bremen und anderen Standorten von Schlecker Gewerkschafter, solidarische Kunden und soziale Initiativen gegen das neue »System Schlecker«. Beschäftigten in kleinen Filialen war gekündigt worden, um sie danach mit neuen Verträgen unter schlechteren Bedingungen in den XL-Läden einzustellen. Da sie dort als Neueingestellte galten, konnte auch langjährigen Verkäuferinnen in der Probezeit gekündigt werden. Den Beschäftigten sollte die Zustimmung zu den schlechteren Verträgen mit der Erklärung schmackhaft gemacht werden, dass die alten Geschäfte ökonomisch keine Zukunft mehr hätten, schrieb die Frankfurter Rundschau im April 2010.

So kann das Insolvenzverfahren auch als Revanche des Schlecker-Imperiums für die erfolgreiche Kampagne seiner Beschäftigten gewertet werden. Soll der Name künftig, statt mit einem erfolgreichen Widerstand der Beschäftigten, mit den Sorgen und Nöten einer Unternehmerfamilie verbunden werden, die sogar mit ihrem Privatvermögen haftet? In den vergangenen Wochen stand in den meisten Medien zumindest mehr darüber, wie viele Millionen Euro die Familie Schlecker verlieren könnte, als über die Folgen der Insolvenz für die Beschäftigten.

Das letzte Wort haben also die Gläubiger. »Die 33 000 Verkäuferinnen kommen in diesem Konzept nicht vor«, sagt der Berliner Arbeitsjurist Benedikt Hopmann, der auch die Betriebsrätin Frias mehrmals in ihren Klagen gegen Schlecker vertreten hat, über die Auswirkungen der Insolvenz auf die Beschäftigten. »Die Logik eines solchen Verfahrens zwingt diese Verkäuferinnen, stumm zu bleiben und weiterzuarbeiten, damit die Möglichkeit offen gehalten wird, dass sich eventuell ein anderer Unternehmer findet, an den wenigstens ein Teil des Filialennetzes verkauft werden kann.«

Der Stuttgarter Vorsitzende von Verdi, Bernd Riexinger, kritisiert den Umgang mit der Insolvenz Schleckers in der Politik und den Medien: »Wenn 35 000 Arbeitsplätze in der Autoindustrie betroffen wären, dann würden sich die Politiker die Klinke in die Hand geben. Aber hier geht es ja nur um Frauenarbeitsplätze, die sind wohl weniger wichtig.« Er gehört zu den Gewerkschaftern, die die Umwandlung von Schlecker in eine von den Beschäftigten verwaltete Genossenschaft vorschlagen. »Die Voraussetzungen sind nicht so schlecht. Die Erfolge der Schlecker-Kampagne haben den Beschäftigten Mut und einen Begriff von menschlicher Würde zurückgegeben«, sagt das HBV-Mitglied Kobel der Jungle World. Viele Beschäftigte stimmen mit der Berliner Betriebsrätin Frias überein: Sie sind nicht Schlecker, sie arbeiten dort nur.

http://jungle-world.com/artikel/2012/06/44843.html
Peter Nowak

Sollen verschuldete Euroländer bankrott gehen können?

Ja, meint eine Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums

Eine am 10. Januar vorgelegte Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums dürfte vor allem in Griechenland, Spanien und Portugal für Nervosität sorgen. In dem von Minister Brüderle ausdrücklich begrüßten Gutachten wird nämlich einer geordneten Insolvenz hochverschuldeter EU-Staaten das Wort geredet.

Galt bisher die Verhinderung eines Bankrotts von Staaten des Euroraumes offiziell in politischen und wirtschaftlichen Kreisen als wichtiges Ziel, so gehen die Empfehlungen des neuesten Gutachtens in eine andere Richtung.

„Wir sind der Auffassung, dass man grundsätzlich bereit sein muss, auch einem solchen Staat zu sagen, ihr müsst in die Insolvenz gehen, weil die Insolvenz ist für den Staat letztlich hilfreich, denn die Anleger, die die Staatsschuld halten von diesem Staat, können dann zur Kasse gebeten werden, dass sie sagen wir auf 20, 25 Prozent ihrer Ansprüche verzichten müssen, oder, wenn sie es nicht tun, gar nichts vielleicht erhalten werden“, bekräftigte der Autor der StudieManfred Neumann diese Vorschläge in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.

Neumann ist auch der Überzeugung, dass ein insolventer Staat den Euro nicht aufgeben müsse und die Währung dadurch auch keinen Schaden nehmen würde. „Sie würde vielleicht um drei, vier Cent mal sich bewegen, aber das ist nun wirklich keine Tragik, über die man reden muss. Ich glaube, dass die Politik da zu viel Wirbel daraus gemacht hat“, so Neumann.

Er macht auch darauf aufmerksam, dass diese Empfehlungen nur mit großem Druck auf die verschuldeten Länder umgesetzt werden können: „Freiwillig tut das keine Politik, kein Politiker, aber wenn er mal in der Situation ist, wo er keine Alternativen hat, muss er es halt tun“, antwortet der Autor der Studie auf die Frage, ob er es für vorstellbar hält, dass Griechenland und Irland den von Brüderles Beratern vorgezeichneten Weg überhaupt einschlagen werden. Neumann geht davon aus, dass seine Vorschläge in die künftigen Verhandlungen um die Schulden von Ländern im Euro-Raum einfließen werden und dass dies eine „disziplinierende Wirkung“ haben wird.

Sicher dürfte auf jeden Fall sein, dass Deutschland, das mit seiner Niedriglohnpolitik andere Länder nieder konkurriert, seine dadurch gewonnene ökonomische Macht im EU-Rahmen noch stärker ausspielen und den Druck auf die Länder in der Peripherie erhöhen wird. Ob eine solche Politik Erfolg hat, dürfte vor allem davon abhängen, ob die deutsche Position unter den anderen Ländern mit einem starken Euro Unterstützung findet oder ob das deutsche Auftrumpfen nicht auch dort eher auf Unmut stößt.

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Peter Nowak