Die Heiligsprechung der Angela Merkel im grünen Milieu

Die taz nimmt Abschied von ihrer Königin der Herzen und warnt vor „breitbeinigen Nachfolgern“

„Vor 28 Jahren, am 2. November 1990, öffnete Angela Merkel die Tür dieses Fischerschuppens in Lobbe, Südost-Rügen. Es war kühler, stürmischer, nebliger als im November 2018.“ Das könnte ein etwas banaler Anfang eines modernisierten Hedwig-Courths-Mahler-Romans sein.

Diese Zeilen handeln tatsächlich von einer Liebesgeschichte, der des grünen Milieus in Deutschland zu Angela Merkel. So beginnt in der aktuellen Ausgabe der taz eine sentimentale Rührstory über den politischen Weg von Merkel. Die Fischerhütte wird da zum romantischen Mythos und gleichzeitig zur Projektion. So geht es in der aktuellen taz-Ausgabe auf vielen Seiten weiter. Anlass ist das absehbare Ende der Ära Merkel-Schäuble nach dem angekündigten Verzicht auf den Unionsvorsitz durch Merkel.

In unterschiedlichen Artikeln wird der Heiligen Angela gehuldigt. Sogar verschiedene Fotografen werden aufgeboten, die daran erinnern sollen, wann sie in der politischen Laufbahn Merkels nach 1990 welches Foto von Merkel aufgenommen haben.

Wie Merkel zur grünen Wunschprojektion wurde

Man reibt sich die Augen und vergewissert sich noch mal, ob man wirklich die Taz vor sich hat und nicht eines der Herz-Schmerz-Blätter, die immer so romantisch den Menschen die Sorgen und Nöte von Prinzessinnen und Grafen nahebringen wollen. Doch kein Zweifel, es ist die taz und für die und das grüne Milieu war Merkel schon länger zur Königin der Herzen geworden.

Immer wieder haben sich in den letzten Jahren Menschen aus diesem Milieu als Merkel-Fans geoutet und dann immer beteuert, mit den Unionsparteien eigentlich nie viel zu tun gehabt zu haben.

Die Bezeichnung als „Szene“ ist wichtig, weil nicht alle Funktionsträger der Grünen vom Merkel-Fieber angesteckt waren. Doch niemand widersprach dem fundamental, weil sie wussten, dass ihnen das nicht gut bekommen würde. Zudem ist mit dem Begriff „Szene“ oder „Milieu“ eben auch das ganze Umfeld der Grünen gemeint, die mit ihrem Habitus dieses Milieu noch immer gut abbildet, auch wenn sie vielleicht in der grünen Partei selbst nicht aktiv sind oder sie vielleicht auch gar nicht wählen.

Es war eine höchst einseitige Liebe, die von Merkel nie erwidert wurde. Seit dem Herbst 2015 bekam diese Liebesgeschichte fast schon pathologische Züge. Wie oft bei solchen Romanzen sind Verstand und Vernunft ausgeschaltet, Gefühle und Projektionen gibt es dagegen im Übermaß. Und wer dann gar mit Fakten kommt, gehört schon fast zum Feindbild. Dazu nur ein Beispiel, das auch in der taz-Heiligsprechung natürlich immer wieder auftaucht.

Wie Merkel-Fans rechte Fake-News weiterspinnen

Es geht um die Fake-News, Merkel habe im Herbst 2015 die Grenzen „geöffnet“. Von rechts wurde diese Lüge immer wieder herangezogen, um Merkel vorzuwerfen, sie habe die Migranten ins Land gelassen. Doch die Merkel-Fans weisen die Behauptung nicht etwa mit dem schlichten Hinweis zurück, dass die Grenzen offen waren und von Merkel daher nicht geöffnet werden konnten.

Es war die Selbstorganisation der Migranten, die es bis in die innere Festung der EU geschafft haben und die nur eine Schließung mit Panzern und Soldaten hätte stoppen können. Dazu aber haben alle rechtlichen und logistischen Voraussetzungen gefehlt. Doch seit mehr als 3 Jahren wetteifern rechte Merkel-Hasser und grünalternative Merkel-Fans um die Deutung dieser Fake-News und nicht um die klare Zurückweisung. Vielmehr wird dann weiter mit falschen Tatsachenbehauptungen am Mythos Merkel gestrickt:

Da schreibt die Parlamentskorrespondentin Anja Meier, nachdem sie auf Merkels DDR-Biographie eingegangen ist:

Vielleicht ist vor diesem Hintergrund besser zu verstehen, warum sie innerlich gar nicht in der Lage war, den WählerInnen Zugeständnisse in der Flüchtlingsfrage zu machen. Warum sie nicht abrücken konnte. Nicht wollte. Sie hatte gründlich nachgedacht und dann eine Entscheidung getroffen. Und diese war noch dazu unmittelbar mit ihr als Person, ihrer Herkunft verbunden. Merkel, die in der DDR sozialisiert ist und den Abend des Mauerfalls zwar bekanntlich in einer Sauna im Berliner Prenzlauer Berg verbrachte, hat das Weltereignis gleichwohl als privaten und historischen Glücksfall erlebt.

Anja Meier, taz

In diesem Absatz ist alles Projektion. Merkel öffnete keine Grenzen und steht einer Regierung vor, die in den letzten Jahren die massivsten Flüchtlingsabwehrgesetze zu verantworten hat. Erst vor kurzen ist ein syrischer Migrant in seiner Zelle in Kleve auf ungeklärte Weise verbrannt. Erst nach seinem Tod wurde in der Öffentlichkeit bekannt, dass er zu Unrecht im Gefängnis gesessen hat und eigentlich ein Mann aus Mali mit ähnlichem Alias-Namen inhaftiert werden sollte [1].

Dazu kam von Merkel ebenso wenig eine Äußerung, wie zu ihrem Wortbruch gegenüber den Opfern des NSU-Terrors, denen sie rückhaltlose Aufklärung [2] versprochen hatte. Doch am Ende applaudierten beim NSU-Urteilsspruch die Freunde und Gesinnungskumpanen von zwei rechten Angeklagten [3].

Auch in der taz ist darüber in den letzten Jahren immer wieder berichtet worden. Der Parlamentskorrespondentin kann das nicht entgangen sein und trotzdem behauptet sie, Merkel habe in der Flüchtlingsfrage nie Zugeständnisse gemacht, weil es eben für die Projektion von Merkel als Königin der Herzen so besser klingt.

Auch die ganze DDR-Geschichte von Merkel ist Projektion. Merkel war voll in das DDR-System integriert und hatte dort auch Funktionen. Sie war erklärtermaßen keine DDR-Oppositionelle, kam in diese Kreise, als klar war, dass die BRD siegen wird und sie wollte mit siegen.

Von den DDR-Oppositionellen in ihrem Umfeld gelang keinem ein vergleichbarer Aufstieg. Das wurde auch von rechts öfter für unbewiesene Verschwörungstheorien genutzt, nach denen Merkel das letzte Aufgebot der SED gewesen sei. Nach dieser Lesart war die Ausbootung von Helmut Kohl und der ganzen konservativen männlichen Unionnachwuchsclique, die noch vor der Wende im Andenpakt [4] ihre Claims abgesteckt haben, und von denen es mit Friedrich Merz zumindest einer noch mal wissen will, das geheime Werk von MSF und SED.

Das Duo Merkel-Schäuble und der Aufstieg der Rechten

Dabei ist die Erklärung für Merkels Erfolg viel einfacher. Mit ihr kamen die ewigen deutschen Opportunisten zum Zuge, die immer mit der Macht gehen, die immer erst genau auskundschaften, woher der Wind weht, bis sie sich bewegen.

In ihr erkannten sich viele ehemalige DDR-Bürger wieder, die noch bis in den Herbst 1989 Unangepasste, Punks etc. in der DDR verpfiffen und sich an ihrer Verfolgung beteiligt hatten. Kaum war die Mauer gefallen, dienten sie sich den neuen Siegern der Geschichte an und verdammten alles, was sie vorher mitgebrüllt und mitgesungen haben.

Die ersten Opfer waren die wirklichen DDR-Oppositionellen, die, als es noch gefährlich war, gegen den autoritären DDR-Staat auf die Straße gingen. Sie wurden von den Opportunisten ab November 1989 auf der Straße im wahrsten Sinne des Wortes an die Wand gedrückt, so wie die Opportunistin Merkel eben auch auf politischer Ebene die Oppositionellen kaltstellte. Sie verbündete sich machtbewusst, mit Wolfgang Schäuble – dieser und nicht die Jungs vom Andenpakt war Ende der 1990er Jahre ihr wahrer Kontrahent.

Schäuble hatte als Kohls Mann fürs Grobe auch einige justitiable Sachen am Laufen, was seine Bereitschaft eines Zweckbündnisses sicher beförderte. In der ganzen Merkel-Ära sorgte Schäuble dafür, dass die Union funktionierte. Es ist sicher kein Zufall, dass Merkel ihren Abgang vorbereitet, nachdem Schäuble in den letzten Wochen in mehreren Zeitungsinterviews Kritik an Merkel übte und jetzt auch Merz protegiert [5].

In konservativen Medien wird sehr viel deutlicher Schäubles wichtige Rolle vor, in und wohl auch nach der Merkel-Ära benannt [6] als in der taz.

Das Duo-Schäuble-Merkel stand für ein Deutschland der harten Austerität. Am Beispiel Griechenlands zeigten beide, dass Wahlen im Zweifel ignoriert werden können und die EU-Troika von Schäubles Gnaden das letzte Wort hat. Dagegen regte sich in Europa im Sommer 2015 massiver Protest, der in Keimform auch in Deutschland zu spüren war.

Erst nachdem sich herausstellte, dass gegen das Diktat aus Berlin nichts bewirkt werden kann und sich die griechische Syriza-Regierung unterworfen hatte, begann auf europäischer Ebene der Aufstieg rechter Bewegungen. Das Duo Merkel-Schäuble ist so für den Aufstieg der Rechten direkt mitverantwortlich. Davon liest man natürlich in der taz-Märchenstunde für Angela Merkel nichts. Es würde ja die für eine Heiligsprechung nötige Projektion stören.

Merkel – Prototyp einer deutschen Opportunistin

Nun stellt sich die Frage, warum ausgerechnet das grüne Milieu derart auf die im Übrigen unerwiderte Liebesgeschichte mit Merkel verfallen ist, die als erklärte AKW-Befürworterin schließlich auch in einem grünen Kernthema völlig konträre Positionen bezogen hat. Das erklärt sich an den Gemeinsamkeiten von beiden: den gnadenlosen Opportunismus.

Merkel ist so erfolgreich, weil sich darin viele in der deutschen Bevölkerung in ihrem Opportunismus wiederfanden – in ihrem Bestreben, immer die Fahne nach dem aktuellen Wind zu hängen.

Und die Klassenstreber in Sachen des Opportunismus sind nun mal die Grünen, beziehungsweise das grüne Milieu. Es hat schließlich im Laufe der letzten drei Jahrzehnte fast alle Positionen aufgegeben, für die es mal gestanden hat. So hat der erste grüne Außenminister Joseph Fischer mit für die Bombardierung Jugoslawiens gesorgt, obwohl die Partei Teil der deutschen Friedensbewegung der 1980er Jahre gewesen ist.

Die Beispiele für das opportunistische Aufgeben der Positionen des grünen Milieus könnten Seiten füllen, die wenigen Beispiele, wo sie noch alte Positionen zumindest in modifizierter Form vertreten, sind dagegen kurz. In der Klimafrage versuchen sich die Grünen auch deshalb noch in alter Form zu profilieren, weil sie sich darin mit Mehrheiten in der Bevölkerung einig sind.

Bekomme ich Mehrheiten für meine Position, ist immer die erste Frage und nicht, ob ich diese Position aus Überzeugung vertrete. Daher war den Grünen und vielen ihrer Anhänger die Opportunistin Merkel so sympathisch, die jahrelang ihre AKW-Befürwortung mit ihrer Profession als Physikerin zu begründen versuchte, und nach dem kurzen weltweiten Entsetzen nach dem durch ein Erdbeben verursachen AKW-GAU in Fukushima plötzlich umschwenkte.

Die deutsche Frau und der SS-Mann

Wie weit die Liebe des grünalternativen Milieus zum Opportunismus geht, zeigt eine zweiseitige Schmonzette [7] über ein Liebesverhältnis zwischen einer deutschen Frau und einen SS-Mann im von der Wehrmacht besetzten Polen in der aktuellen taz.

Eigentlich ist die Story völlig belanglos, der SS-Mann kommt unversehrt zurück und ist voll in die BRD-Gesellschaft integriert, wie fast alle seiner mörderischen Profession. Nur hat er eben eine andere Frau geheiratet. Warum dann eben zwei Seiten in einer Zeitungsausgabe, in der politisch völlig korrekt über die Vorgeschichte der Shoah, die Judendeportationen und das Judenpogrom vor 80 Jahren am Beispiel des Schicksals der Wormser Lehrerin Herta Mansbacher [8] erinnert wird?

Die Frau leistete am 9.November 1938 gegen den Mob aus SA und besorgten Bürgern Widerstand, die auch in Worms wie in vielen anderen Städten jüdische Einrichtungen, Geschäfte und Synagogen plünderten und in Brand steckten. Mansbacher wurde in Auschwitz ermordet.

Der beeindruckende taz-Bericht steht unter der Überschrift „Der lange Kampf um die Vergangenheit“. Sollten nun Angehörige von ihr die taz-Ausgabe wegen des Artikels kaufen, müssen sie einen Artikel in der gleichen Länge entdecken, in dem die unerfüllte Liebe einer deutschen Frau zu einem SS-Mann im besetzten Polen im Mittelpunkt steht.

Hier kommt der Opportunismus des grünen Milieus zu sich, und das Gerede über „Haltung bewahren“ wird konterkariert. Haltung hätte die taz-Redaktion bewahrt, wenn sie entschieden hätte, die SS-Schmonzette kommt nicht in die gleiche Ausgabe, in der Herta Mansbacher gewürdigt wird, schon aus Empathie und Rücksicht von Freunden und Verwandten der ermordeten Jüdin.

Doch von einer solchen Haltung hat man nichts gehört. Daher ist die Heiligsprechung der St. Angela im grünen Milieu nur der Ausdruck eines sehr anpassungsbereiten Milieus, das man früher Kleinbürgertum nannte.

Kommt nach Merkel die „Politik der breiten Beine?“

Doch die Hoffnung, nach Merkels Abgang wird sich das grüne Milieu wieder mehr auf Kritik am Bestehenden als auf Heiligsprechungen von Kanzlerinnen besinnen, ist gering. Martin Kaul, der bisher in der taz eigentlich eher für das Außerparlamentarische zuständig war, warnt [9] vor der Rückkehr der berüchtigten „alten, weißen Männer“:

Merz, Spahn, Kramp-Karrenbauer: Wenn die CDU Merkels Nachfolge klärt, geht es auch darum, ob Politik wieder zum Gockelspielplatz wird.

Martin Kaul, taz

Die geschmäcklichere Kritik geht dann in dem Ton weiter:

Beine auseinander, breiter Stand, Ansagen machen: Das kann Jens Spahn jetzt schon ganz gut.

Martin Kaul, taz

Dann kommt der Autor zum eigentlichen Anliegen seiner Kritik:

Das baldige Gezerre um die Neuausrichtung der CDU, das in erster Linie ebenfalls von Männern alten Schlages repräsentiert werden könnte, zielt auf diese Frage ab. Wird die Union künftig eher eine Partei, die die bürgerliche, aber liberale Mitte integriert? Mit diesem Kurs hat Angela Merkel zwar Wählerinnen nach rechts verloren, aber eine strategische Stelle besetzt, die der Union auf Jahre hinfort die Kanzlerschaft sichert – und weiterhin sichern könnte. In den kommenden Wochen wird geklärt, ob sich die Funktionäre der CDU wieder nach der herrischen Vergangenheit sehnen, die durch niemanden so gut repräsentiert wird wie durch den gerne geifernden Friedrich Merz.

Martin Kaul, taz

So wichtig und sinnvoll eine Patriarchatskritik ist, so deutlich wird hier aber, dass sie Kaul in dem Artikel nicht leistet. Die zentrale Frage, wie das Patriarchat in der Ära Merkel-Schäuble ungebrochen herrschte, stellt der Autor erst gar nicht.

Schäuble wird erst gar nicht erwähnt, wohl weil er nun auf einen Rollstuhl angewiesen, eben kein gutes Beispiel für die Gesäß-und Gebärdenkritik ist, die für Kaul wohl für das Patriarchat steht.

Dabei hat er in seinem Text eigentlich das Problem benannt, aber nicht erkannt. Merkel hat mit der Gebärde der Raute die bürgerliche und linksliberale Mitte integriert. Sie hat vergessen gemacht, dass Schäuble als Mann für das Grobe dabei eine wichtige Rolle spielte.

Und Kaul vergisst, das moderne Patriarchat und Kapital mit Raute genauso gut repräsentiert wird wie mit breiten oder engen Beinen. Das zumindest hat die Ära Merkel-Schäuble gezeigt.

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-10/kleve-zellenbrand-syrer-suizid-zweifel
[2] https://www.sueddeutsche.de/politik/merkels-gedenkrede-fuer-neonazi-opfer-im-wortlaut-die-hintergruende-der-taten-lagen-im-dunkeln-viel-zu-lange-1.1291733
[3] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/demonstration-nach-nsu-urteil-in-muenchen-trauer-wut-schock-a-1217974.html
[4] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-27497155.html
[5] http://www.faz.net/aktuell/politik/neue-cdu-fuehrung-wolfgang-schaeuble-unterstuetzt-friedrich-merz-15870575.html
[6] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus183194356/Merkel-Nachfolge-Wolfgang-Schaeuble-ist-Pate-graue-Eminenz-und-Aufsichtsratschef-der-CDU.html
[7] http://www.taz.de/Archiv-Suche/!5544892&s=&SuchRahmen=Print/
[8] https://www.worms.de/de/kultur/stadtgeschichte/persoenlichkeiten/listen/1885_Herta-Mansbacher.php
[9] http://www.taz.de/!5546607/