Piratengeschäftsführer auf Spendenbasis?

Martin Behrsing, der Sprecher des Erwerbslosenforums, spricht von einem „absurden neoliberalen Theater“

„Ich gehe“, erklärte der politische Geschäftsführer der Piraten Johannes Ponader. Allerdings meint er damit nicht einen Rückzug von seinen Ämtern in der Piratenpartei. Ponader will nichts mehr mit dem Jobcenter zu tun haben, von dem der Theaterpädagoge bisher Hartz IV-Leistungen bezogen hat. Jetzt wollen die Piraten Geld für ihren Geschäftsführer Spenden sammeln. Sein politisches Amt sei nicht mit dem Bezug von Arbeitslosenhilfe vereinbar, begründet Ponader seinen Rückzug von Hartz IV. Der war aber nicht so ganz freiwillig.

Nachdem Ponaders Hartz IV-Bezug während einer Fernsehdebatte bekannt geworden war, entspann sich in Internetforen eine heftige Debatte darüber, wie es sein kann, dass der politische Geschäftsführer einer Partei von Hartz IV-Leistungen leben muss. Zudem schaltete sich das Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit Heinrich Alt mit einem Anruf beim Piratenvorsitzenden Bernd Schlömer in die Debatte ein und fragte an, warum die Partei ihren Geschäftsführer nicht bezahlen könne.

Nun ist eine solche Diskussion nicht frei von Sozialneid und Sozialchauvinismus. Schließlich müsste man sich fragen, wie es sein kann, dass immer mehr Menschen von ihrer Lohnarbeit nicht mehr leben können und ihren Niedriglohn mit Hartz IV aufstocken müssen. Grundsätzlicher könnte man auch fragen, wie es sein kann, dass immer mehr Menschen, ob mit oder ohne Erwerbsarbeit, auf Hartz IV-Niveau und noch tiefer gedrückt werden. Da ist es eher ein Ablenkungsmanöver, wenn Ponader den Begriff Hartz IV ablehnt, weil er nichts davon hält, „die Empfänger der Bezüge zusammen mit dem verurteilten Peter Hartz in einen Topf zu werfen“. Ponader begibt sich selber auf populistisches Terrain, wenn er eine gerichtliche Verurteilung in den Mittelpunkt stellt und nicht die Agenda-2010-Politik, für die Peter Hartz natürlich nicht vor Gericht stand. Zudem haben auch die größten Befürworter der Agenda 2010 nach der Verurteilung des Namensgebers viel dafür getan, dass diese Politik nicht mehr so sehr mit Hartz in Verbindung gebracht wird.

Hartz ist kein bedingungsloses Grundeinkommen

Scharfe Kritik an der Debatte kommt jetzt vom Erwerbslosenforum Deutschland. Dessen Sprecher Martin Behrsing spricht von einem „absurden neoliberalen Theater“. „Hartz IV ist kein bedingungsloses Grundeinkommen, das zur politischen Selbstverwirklichung dient, und ein politisches Amt als Bundesgeschäftsführer ist keine ehrenamtliche Betätigung, sondern knochenharte Arbeit, die ordentlich bezahlt gehört“, sagte Martin Behrsing. Er machte darauf aufmerksam, dass sich hier die Piraten eine negative Pilotfunktion erfüllen könnten. Schließlich würden viele Vereine und Organisationen ihre Mitarbeiter gerne auf Spendenbasis, die die Beschäftigen womöglich noch selber eintreiben müssen, einstellen wollen.

Behrsing macht darauf aufmerksam, dass die Piraten Mitgliederbeiträge erheben und daher Einnahmen haben müssten, von denen sie auch den Posten bezahlen können. Eigentlich wären auch die Gewerkschaften gefragt, bei den Piraten für Löhne zu sorgen, von denen die Mitarbeiter leben könnten, also ohne Abhängigkeit von Spenden oder Hartz IV. Der Umgang der Piraten mit ihren Mitarbeitern ist aber konsequent, wenn man bedenkt, dass Schlömer von einer liberalen Partei spricht und die Publizistin Katja Kullmann die Piraten als Partei einer aufstrebenden IT-Elite bezeichnet. Da liegt es vielleicht nahe, dass man mal eine Spendensammlung gesetzlich verankerten und erkämpften Sozialstandards vorzieht.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152639
Peter Nowak

Verfassungswidrige Wohnregelung?

Ein Urteil des Sozialgerichts Mainz könnte das Ende der schwammigen Hartz-IV-Bemessung bringen
Richter halten den Begriff der »angemessenen Miete« für zu pauschal und ungeeignet.

Für viele Erwerbslose ist die Hartz-IV-Wohnregelung ein Grund für Ärger und Furcht. Es geht um Paragraf 22 Absatz 1 SGB, der die Kosten der Unterkunft für Erwerbslose regelt. Die Kommunen übernehmen nicht die Miete komplett, sondern den Teil, den sie für »angemessen« halten.

Dieser schwammige Passus könnte dazu führen, dass die Hartz-IV-Wohnregelung verfassungswidrig ist. Dieser Meinung zumindest ist das Mainzer Sozialgericht. In einem erst jetzt bekannt gewordenen Urteil (Az.: S 17 AS 1452/09) vom 8. Juni monierte das Gericht, dass die Regelung »nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar« sei. Dabei beriefen sich die drei Mainzer Richter auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010, in dem der damalige Hartz-IV-Regelsatz verworfen wurde.

Erst vor wenigen Wochen wurde mit Verweis auf dieses Urteil die Hartz-IV-Regelung für Flüchtlinge für grundgesetzwidrig erklärt, weil die bisherigen Sätze keine menschenwürdige Existenz ermöglichen. Nun könnte über die Wohnrechtregelung das gleiche Urteil gefällt werden, sollte sich auch das Bundesverfassungsgericht der Lesart des Mainzer Sozialgerichts anschließen.

Es hatte über die Klage eines Ehepaars zu entscheiden, das die Einkünfte ihrer Lohnarbeit mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken musste. Für die 62 Quadratmeter große und 358,13 Euro teure Wohnung der beiden hielt das Wormser Jobcenter lediglich einen Betrag von 292,20 Euro Miete für angemessen. Die Mieter sollten sich eine günstigere Wohnung suchen oder die Mietdifferenz selber tragen. Die Richter verurteilten das Jobcenter dazu, die vollständige Miete zu übernehmen.

In der Begründung verwarfen die Richter den Begriff der »angemessene Miete« als zu pauschal. Er sei »auf Grund seiner Entstehungsgeschichte und seiner Unbestimmtheit (…) angesichts der verfassungsrechtlichen Vorgaben« für die Bestimmung des Existenzminimums nicht geeignet, heißt es in der Urteilsbegründung.

Der Begriff könne nur dann verfassungskonform ausgelegt werden, wenn das Jobcenter prüft, ob Mieten »deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen«. Könne die Behörde das nicht nachweisen, dann müsste sie »die Aufwendungen in voller Höhe weiter (…) übernehmen«. Mit dieser Einschätzung greifen die Richter einen Punkt auf, der bei Erwerbslosen seit der Einführung moniert wird. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass auf den örtlichen Märkten kaum Wohnungen in der Miethöhe zu finden sind, »die von den Jobcentern als angemessen bezeichnet werden«.

Besonders die Innenstadtbezirke würden so zu Zonen, in denen Erwerbslose und Menschen mit niedrigen Einkommen nicht mehr leben können, kritisieren Erwerbslosenaktivisten. Dass sie neben der Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse auch um ihre Unterkunft fürchten müssen, ist für viele Betroffene eine besondere Belastung.
ttp://www.neues-deutschland.de/artikel/234748.
verfassungswidrige-wohnregelung.html
Peter Nowak

Den Hass aufstocken

Wie funktioniert die Stimmungsmache gegen »Transferbezieher«? Eine Untersuchung zeigt, was Bild-Leser von Empfängern des ALG II halten.

Kürzlich versorgte die Bild-Zeitung aus Anlass ihres 60jährigen Bestehens alle deutschen Haushalte mit einem Gratisexemplar. Auch der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) durfte seine Meinung in dieser Jubiläumsausgabe kundtun. Das Boulevardblatt könne »nur Trends verstärken, aber keine eigenen setzen«, befand Schröder im Interview. »Es muss immer eine Stimmung da sein, an die Bild anknüpfen kann.« In der Bevölkerung vorhandene Stimmungen zu nutzen, beherrschte auch er als Kanzler der Agenda 2010 virtuos. Schon zu Beginn seiner Amtszeit stellte er klar: »Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.«

Der Ausspruch stieß nicht nur an Stammtischen auf Zuspruch. Bild nahm die Stimmung auf und sorgte mit der eigenen Berichterstattung dafür, dass sie erhalten blieb und verstärkt wurde. Das ist das alltägliche Kerngeschäft der Zeitung seit ihrer Gründung. Die Soziologen Britta Steinwachs und Christian Baron haben nun unter dem Titel »Faul, frech, dreist« ein Buch im Verlag »Edition Assemblage« herausgebracht, in dem sie genauer untersuchen, wie die Stimmungsmache gegen Arbeitslose funktioniert.

Anhand des Untertitels »Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch Bild-Leser*innen« wird schon deutlich, dass die Autoren einigen gedanklichen Kurzschlüssen mancher Kampagnen gegen die Bild-Zeitung nicht erliegen, in denen das Boulevardblatt vor allem als Medium denunziert wurde, das die Bevölkerung im Sinne der Herrschenden manipuliere. Baron und Steinwachs hingegen konstatieren nicht nur in der Ober- und Mittelschicht, sondern auch unter Lohnabhängigen und sogar den Erwerbslosen selbst eine Stimmung gegen Erwerbslose, die angeblich nicht arbeiten wollen und zu Unrecht Leistungen beziehen.

Als Grundlage der Untersuchung dient die Berichterstattung über den von Bild zu »Deutschlands frechstem Arbeitslosen« stilisierten Arno Dübel. Weil der schwer kranke und seit Jahrzehnten Arbeitslosengeld beziehende Mann sich dafür in der Öffentlichkeit nicht schämte, sondern freimütig bekannte, es gebe für ihn Schöneres als Lohnarbeit, wurde er zum Gegenstand ­einer Kampagne, an der sich die Leser der Zeitung eifrig beteiligten. Die Autoren haben hierzu Leserkommentare auf Bild.de ausgewertet und in ihre Untersuchung einbezogen. Sie sind in Auszügen auf mehr als 20 Seiten abgedruckt und liefern einen Eindruck von »Volkes Stimme«. Während schriftliche Leserbriefe vor dem Abdruck häufig noch verändert werden, zeigen die Beiträge im Internet ungefiltert, was die Kommentatoren aus der Bevölkerung über Menschen denken, die nicht dazu bereit sind, ihre Arbeitskraft zu jedem Preis und unter allen Bedingungen zu verkaufen.

Genau das nämlich forderten viele, die sich auf Bild.de über Dübel äußerten. Selbst Krankheit und Alter wurden dabei nicht mildernd berücksichtigt. So empfahlen gnädige Bild-Leser, der Mann solle zum »Pappe aufheben im Park« verpflichtet werden oder Einkaufswagen einsammeln. Andere wünschten, er solle im Winter unter Brücken schlafen oder »ganz weggesperrt« werden. »Auf die Straße mit dem Arbeitsverweigerer, der hat nichts anderes verdient«, urteilte eine Person. Schon in der Wortwahl wird deutlich, dass es den meisten Usern um Sanktionierung und Repression ging. Doch Bild-Leser haben auch ein Herz. »Der arme Hund. Der kann doch nichts dafür«, litt ein Schreiber beispielsweise mit Dübels Haustier.

Häufig verwiesen diejenigen, die sich besonders bei der Hetze gegen den Mann hervortaten, darauf, dass sie auch arbeiteten, ohne staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. »Also, ich gehe gerne jeden Morgen arbeiten und bin nicht neidisch auf solche Schmarotzer wie Dübel«, lautet ein repräsentativer Satz. Einige betonten stolz, keine ALG-II-Empfänger in ihrem Freundeskreis zu haben. Manche fanden es besonders verabscheuungswürdig, dass Dübel mit seinem Verhalten »die ehr­lichen und anständigen Arbeitslosen« verunglimpfe.

»Wer Gesetze zu seinem Lebensunterhalt in Anspruch nehmen will, muss sich an die Regeln dieser Gesetze halten«, lautete eine gängige Auffassung. Zwar führten wenige Leser Konventionen und Gesetze an, die es verbieten, einen offensichtlich kranken Mittfünfziger mittellos auf die Straße zu setzen. Andere Kommentatoren sahen denn auch gerade in der Existenz solcher Bestimmungen einen schweren Fehler des Sozialstaats. Häufig endeten solche Postings mit den Worten: »Armes Deutschland!«

Baron und Steinwachs haben eine ergiebige Übersicht geliefert. Doch so begrüßenswert ihr Ansatz ist, die Rolle der Bild-Leser in den Mittelpunkt ihre Untersuchung zu rücken und damit die plumpe These zu hinterfragen, das Boulevardblatt betreibe Manipulation von oben, so fragwürdig bleiben ihre weiteren Erklärungen. Sie interpretieren die Hassbotschaften, die sich gegen Dübel richteten, als ein Beispiel von »Klassismus«, einer Diskriminierung von Erwerbslosen durch Lohnabhängige. Allerdings ist diese Klassifizierung in zweifacher Hinsicht fragwürdig.

So dürften zu den Kommentatoren auf Bild.de auch pflichtbewusste Erwerbslose gehören, die ihre ständige Suche nach Lohnarbeit von jemandem wie Dübel lächerlich gemacht sehen. Davon zeugt die Empörung über die vermeintliche Verunglimpfung »ehrlicher und anständiger Arbeitsloser«. Andererseits finden sich unter den Empfängern von ALG II immer mehr Menschen, deren Lohnarbeit nicht mehr ihre Lebenskosten deckt und die daher staatliche Unterstützung benötigen.

Zu diesem Ergebnis kommt eine im Juni veröffentlichte Studie des DGB. Demnach ist das Verarmungsrisiko für Erwerbstätige in den vergangenen Jahren gestiegen und weist zudem regionale Unterschiede auf. In den alten Bundesländern waren Ende 2011 durchschnittlich fast 29 Prozent der ALG-II-Empfänger erwerbstätig. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR war es fast ein Drittel. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen ist sogar mehr als ein Drittel von ihnen berufstätig. Zwischen 2007 und 2010 stieg die Zahl der Haushalte mit mindestens einem erwerbstätigen Empfänger von ALG II in den alten Bundesländern um 14 Prozent, in Ostdeutschland um elf Prozent. Am stärksten war der Anstieg in Berlin. Aber in Bremen, Hessen und Hamburg ist die Zahl der sogenannten Aufstocker ebenfalls stark gestiegen.

Auch sie werden häufig den »Transferbeziehern« zugerechnet und in abwertender Weise den Lohnabhängigen gegenübergestellt, die ohne staatliche Unterstützung auskommen. Der Begriff des Sozialchauvinismus, mit dem linke Gruppen diese Art der Diffamierung in jüngster Zeit häufiger bezeichnen, ist treffender, als von »Klassismus« zu sprechen, denn er umfasst die Aversion gegen die »Transferbezieher«, die eine zentrale Rolle spielt. Der Sozialchauvinismus kann dabei ALG-II-Empfänger mit und ohne Lohnarbeit genauso treffen wie einen Staat wie Griechenland und seine Bevölkerung. Es ist kein Zufall, dass sich auch hier Bild besonders dabei hervortut, vorhandene Stimmungen zu verstärken.
http://jungle-world.com/artikel/2012/28/45835.html
Erwiderung von Andreas Kemper:
http://andreaskemper.wordpress.com/2012/09/24/sozialchauvinismus-oder-klassismus/
Peter Nowak

Fußballpatriotismus in Krisenzeiten

vom 26. September 2023

Die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy erklärt das verstärkte Nationalfahnenschwenken mit der Zunahme prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen

Seit Freitag ist Deutschland wieder Schland geworden. Schwarzrotgolde Fähnchen sind mittlerweile Alltag. Nachdem in den letzten Jahren viele Artikel verfasst wurden, die sich mit dem nun nicht mehr so neuen Fußballpatriotismus befassen, scheint das Interesse nachzulassen. Deswegen ist es besonders bemerkenswert, dass die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy auch im Jahr 2012 ein Buch zum neuen deutschen Fußballpatriotismus aus sozialpsychologischer Perspektive herausbringt. Die Wissenschaftlerin hat dort die Ergebnisse zahlreicher Befragungen von Fußballfans veröffentlicht. Sie hat die Interviews auf Fanmeilen in verschiedenen deutschen Städten bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 sowie den Europameisterschaften 2008 durchgeführt.

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Hartz IV? Mañana!

BEHÖRDENWILLKÜR Jobcenter will in Berlin lebendem Spanier kein Geld zahlen – trotz Gerichtsbeschluss

Seit Ende März erhält Esteban Granero (Name geändert) kein Geld mehr vom Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg. Dabei hat der Anwalt des Spaniers, Michael Wittich, erfolgreich einen Eilantrag beim Sozialgericht gestellt, das die Behörde zur Weiterzahlung verpflichtete.

Der seit einem Jahr in Berlin erwerbslos gemeldete Graneros hatte bis Leistungen nach SGB III bezogen. Ende März informierte ihn das Jobcenter, die Leistungen würden zum 1. April eingestellt. „Der Antragssteller ist spanischer Staatsbürger und hält sich nur zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland auf. Er fällt damit unter die Personengruppe, die nach der Vorbehaltserklärung der Bundesregierung gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EPA) von Hartz-IV-Leistungen ausgeschlossen ist“, so die Behörde. Das Sozialgericht hält dies für unvereinbar mit Europarecht – es gab dem Eilantrag statt.

Gegen den Richterspruch legte das Jobcenter Widerspruch ein. Man wolle erst die Entscheidung des Landessozialgerichts abwarten, so Behörde. Anwalt Wittich hält das für rechtswidrig. „Ein Eilantrag muss sofort umgesetzt werden. Es liegt nicht im Belieben der Behörde, die Umsetzung wochenlang zu verschleppen.“ Der Jurist hat gegen die Verzögerung juristische Schritte eingeleitet und ist optimistisch, dass sein Mandant Erfolg hat.

Doch Graneros ist weiterhin ohne Geld. Seine Wohnung droht er deshalb zu verlieren. Das Jobcenter reize seine Macht auf Kosten des Erwerbslosen aus, moniert Anwalt Wittich. Dabei geht es für die Behörden um ein Nullsummenspiel: Wenn das Gericht gegen Graneros entscheidet, muss der Bezirk einspringen.

Wittichs Mandant ist nicht der einzige EU-Bürger, der Probleme mit dem Jobcenter hat. Weitere Erwerbslose wurden nach Streichung der Hartz-IV-Leistungen nicht zu den Sozialämtern weitergeleitet, andere sind ausgereist (taz berichtete).

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/
?ressort=bl&dig=2012%2F05%2F08%2Fa0157&cHash=5b0c4ee0e3
Peter Nowak

Ausschluss von EU-Bürgern aus deutschen Sozialsystem stößt an Grenzen

Die Bundesregierung gerät mit ihrem Versuch, erwerbslose EU-Bürger in Deutschland von Sozialleistungen auszuschließen, juristisch und politisch in die Defensive

Die Bundesrepublik Deutschland erklärte im Dezember 2011 einen Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen, das die Sozialleistungen der Mitglieder des Europarates regelt. Danach erhielten zahlreiche erwerbslose EU-Bürger keine Hartz-IV-Leistungen mehr. Mit der Maßnahme will die Bundesregierung verhindern, dass Menschen aus der europäischen Peripherie infolge der Wirtschaftskrise in Deutschland ihr Auskommen suchen.

Mittlerweile haben Sozialgerichte in Leipzig und Berlin entschieden, dass EU-Ausländer in Deutschland Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalt haben.

„Die Entscheidung des Sozialgerichtes Leipzig, mit der der Kläger aus Griechenland gegen die Auffassung des Jobcenters Leipzig die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zugesprochen wird, ist ein Erfolg für das akut bedrohte und langsam erodierende Sozialstaatsprinzip in Deutschland und ein Teilerfolg im Kampf gegen staatlichen Rassismus“, kommentierte die Leipziger Stadtverordnete der Linkspartei, Juliane Nagel, das Urteil.

Sozialhilfe kann nicht verweigert werden

Das Bundesarbeitsministerium hat nach einer Anfrage der Bundestagsabgeordneten der Linkspartei Katja Kipping zudem erklärt, dass EU-Bürger gleich nach ihrer Ankunft in Deutschland Anspruch auf Sozialhilfe haben.

„Der Vorbehalt wurde nur für die Anwendung des Sozialgesetzbuchs (SGB) II erklärt“, schreibt nun das Ministerium in der Unterrichtung an den Ausschuss. Die Betroffenen könnten aber „stattdessen einen Anspruch auf Hilfen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII“, also der Sozialhilfe, haben“, zitiert die Welt aus dem Schreiben des Ministeriums. Die Verlagerung von Hartz-IV auf Sozialhilfe bedeutet, dass die Kosten auf die Kommunen abgewälzt werden.

Vor allem in Berlin wächst derweil die Kritik an den Jobcentern über den Umgang mit erwerbslosen EU-Bürgern. So moniert der Rechtsanwalt Michael Wittich, dass sein Mandant, ein spanischer Staatsbürger, der seit einem Jahr erwerbslos gemeldet ist, seit März kein Geld bekomme und seine Wohnung nicht mehr bezahlen könne. Dabei hat Wittich vor dem Sozialgericht einen Eilantrag erwirkt, der das Jobcenter Friedrichshain Neukölln zur Zahlung verpflichtet. Weil das Amt aber Widerspruch bei der nächsten Instanz eingereicht hat, will es mit der Zahlung warten. „Ein Eilantrag muss sofort umgesetzt werden. Es liegt nicht im Belieben der Behörde die Umsetzung wochenlang zu verschleppen“, rügt Wittich das Verhalten. Mittlerweile erhalten die Betroffenen Unterstützung von sozialen Initiativen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151934
Peter Nowak

Hartz IV beschäftigt weiter die Gerichte

Was von Teilen der Erwerbslosenbewegung begrüßt wird, ist auch Ausdruck ihrer Schwäche

Die Frage der Hartz-IV-Sätze wird wieder das Bundesverfassungsgericht beschäftigen. Die 55. Kammer des Berliner Sozialgerichts hat zwei Klagen von Erwerbslosen zum Anlass genommen, um die Frage zu klären, ob die aktuellen Leistungen verfassungswidrig niedrig sind. Im Februar 2010 hatte das Karlsruher Gericht bereits mit einer Entscheidung für eine Neuregelung gesorgt. Damals hatten die Richter eine „transparente, realitätsgerechte und nachvollziehbare Neukalkulation“ gefordert.

Für den Richter am Berliner Sozialgericht Gunter Rudnik hat die Bundesregierung bei der Neuregelung der Hartz-IV-Sätze diese Grundsätze verletzt. Er monierte besonders den Modus, nach dem die neuen Sätze, aktuell 374 Euro für einen Erwachsenen, ermittelt wurden. So seien als Vergleichsmaßstab statt vorher 20 nur 15 % der Bevölkerung mit niedrigem Einkommen herangezogen worden. Für den Richter ist die Einschränkung der Vergleichspersonen willkürlich und nicht nachvollziehbar.

Zudem seien in dieser Gruppe auch Menschen im Niedriglohnsektor vertreten gewesen, denen eigentlich Leistungen nach Hartz IV zustehen, die aber diese Leistungen nicht beantragen. Auf diese Weise wurde der Satz künstlich niedriger berechnet. Zudem hält es der Richter nicht für plausibel, dass ein Essen im Restaurant oder Geld für Schnittblumen oder alkoholische Getränke nach dem Willen der Bundesregierung nicht mehr zu den Posten gehören sollen, die aus dem Regelsatz für Hartz-IV-Bezieher bezahlt werden. Damit werde der Grundsatz verletzt, dass das Existenzminimum auch die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen ermöglichen müsse.

Erneute Blamage der Bundesregierung?

Nach den Berechnungen der Berliner Sozialrichter ist Hartz-IV-Regelsatz um 36 Euro zu niedrig. Bei einer mehrköpfigen Familie kann dann schnell ein dreistelliger Fehlbetrag zusammenkommen, der gerade für einkommensschwache Menschen existentiell sein kann.

Daher sehen viele Erwerbsloseninitiativen in dem bundesweit ersten Urteil, das die geltenden Regelsätze für verfassungswidrig hält, einen Erfolg und erwarten eine erneute Blamage der Bundesregierung in Karlsruhe. Diese Einschätzung ist allerdings fraglich, selbst wenn die Karlsruher Richter sich der Lesart der Berliner Sozialrichter anschließen sollten. Das ist allerdings keineswegs sicher. Haben doch andere Sozialgerichte die Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze bestätigt. .

Ziel dieser Bundesregierung ist genau wie das ihrer Vorgänger, den Preis der Ware Arbeitskraft zu senken. Der Hartz-IV-Satz soll so niedrig und mit so vielen Sanktionen verbunden sein, dass viele Menschen Erwerbsarbeit zu fast jeden Preis annehmen. Viele verzichten ganz auf Leistungen auf Hartz IV, weil sie nicht bereit sind, den vielfältigen damit verbundenen Einschränkungen zuzustimmen. Das würde sich auch nicht ändern, wenn der Regelsatz um 36 Euro erhöht würde. Anders wäre es, wenn höchstrichterlich die Verfassungswidrigkeit der Sanktionen entschieden würde. Ein solches Knacken eines Kernelements der Hartz-IV-Gesetzgebung ist allerdings nicht von der Justiz zu erwarten. Es sind gerade die Sanktionsmaßnahmen, die viele Betroffenen bei einer Befragung vor dem Jobcenter Neukölln als Entwürdigung bezeichnen. Das würde sich auch bei einer Erhöhung des Regelsatzes nicht ändern. Mit dem neuen Gang nach Karlsruhe droht eher ein Wiederaufleben der Debatte, ob Hartz-IV-Bezieher sich von dem Regelsatz auch mal ein Bier oder einen Kinobesuch leisten können müssen und dürfen.

Schlagen Erwerbslose wieder Krach?

Allerdings hatte die Debatte im Jahr 2010 den Nebeneffekt, dass sich verschiedene Erwerbslosengruppen zum Bündnis „Krach schlagen statt Kohldampf schieben“ zusammengeschlossen haben und nach vielen Jahren wieder eine bundesweite Demonstration der Erwerbslosenbewegung organisierten. Sie forderten eine Erhöhung des Regelsatzes um 80 Euro.

Auch wenn es um die Initiative danach ruhiger geworden ist, ist sie weiterhin aktiv. Schon vor der jüngsten Entscheidung der Berliner Sozialrichter hat sie eine Aktion im Rahmen von bundesweiten Krisenprotesten Mitte Mai in Frankfurt/Main geplant. Es könnte sein, dass der erneute Gang nach Karlsruhe solchen Initiativen wie 2010 wieder neuen Rückenwind gibt.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151885
Peter Nowak

Knapp bei Kasse

SOZIALES Fast 9.000 erwerbslose EU-Bürger, die in Berlin leben, bekommen kein Hartz IV mehr

Manuel Paredo ist wütend. Bisher hat der in Berlin lebende spanische Staatsbürger Hartz IV bekommen. Doch vor einigen Wochen teilte ihm das Jobcenter Neukölln mit, dass er künftig kein Geld mehr beziehen wird.

Der Grund dafür ist ein juristischer Einwand, den die Bundesregierung Anfang März gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) erhoben hat, das die Fürsorgeleistungen auf EU-Ebene regelt. In den vergangenen Wochen wurde infolgedessen zahlreichen in Deutschland lebenden EU-BürgerInnen schriftlich mitgeteilt, dass schon bewilligte Hartz-IV-Leistungen widerrufen und Neuanträge abgelehnt werden.

Kräfte aus dem Ausland

In Berlin können rund 8.660 Erwerbslose aus EU-Ländern davon betroffen sein, erklärte nun die Senatorin für Arbeit und Integration, Dilek Kolat (SPD), als Antwort auf eine mündliche Anfrage des Piratenabgeordneten Alexander Spieß. Allerdings geht die Senatorin davon aus, dass der Anteil derjenigen, die vom Entzug der Leistungen betroffen sind, wesentlich geringer ist – weil viele erwerbslose EU-BürgerInnen Anspruch auf Leistungen nach dem SBG II haben. Kolat kritisierte den Kurs der Bundesregierung: „Da Deutschland mehr denn je auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen ist, sollte jede Erschwerung für arbeitsuchende Europäer vermieden werden. Gegenwärtig besteht aus Sicht des Senats keine begründete Sorge, dass es zu einer vermehrten Einwanderung in unser Sozialsystem kommen könnte.“

Die Maßnahme wurde mit dem Argument begründet, dass durch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise verstärkt Menschen aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland kommen und sich hier arbeitslos melden könnten. Die Initiative „Zusammen! Gegen das Jobcenter Neukölln“ spricht jedoch von „sozialrassistischen Maßnahmen der Bundesregierung, mit der EU-Staatsangehörige ihrer Existenzsicherung beraubt werden“.

Der auf Sozialrecht spezialisierte Berliner Rechtsanwalt Lutz Achenbach erklärte gegenüber der taz: „Es sind schon Leute in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Dies liegt wohl auch daran, dass sie nicht ausreichendes Wissen über ihre Rechte und Klagemöglichkeiten haben“.

Andere wehren sich mit Eilverfahren vor dem Sozialgericht gegen den Stopp von Hartz IV. Nach Ansicht von Achenbach sind ihre Chancen gut. Der Einwand der Bundesregierung könnte gegen das in der Europäischen Verordnung enthaltene Diskriminierungsverbot verstoßen und daher rechtswidrig sein.

Widerspruch einlegen

Anwalt Lutz Achenbach rät allen Betroffenen, so schnell wie möglich Widerspruch einzulegen. Die Sozialberatung am Heinrichplatz will mehrsprachige Informationen erarbeiten. Die Initiative „Zusammen!

Gegen das Jobcenter Neukölln“ lädt am morgigen Mittwoch um 19 Uhr zu einem Vernetzungstreffen in die Meuterei in die Reichenberger Straße 58 ein. Neben Informationen für die Betroffenen soll dort auch über politische Protestmaßnahmen gegen den Vorgang beraten werden.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2012%2F04%
2F24%2Fa0165&cHash=92fc807a2a
Peter Nowak

Kein Hartz IV für bestimmte EU-Bürger?

Die Bundesregierung, die soviel vom vereinigten Europa redet, treibt die Spaltung bei der Gewährung von Sozialleistungen weiter voran

Manuel P. ist wütend. Bisher hat der in Deutschland lebende spanische Staatsbürger Leistungen nach Hartz IV bekommen. Doch jetzt teile ihm das Jobcenter mit, dass er künftig keine Leistungen mehr erhalten soll.

Er steht damit nicht allen. Nach einer Geschäftsanweisung des Bundesarbeitsministeriums an die Bundesagentur für Arbeit haben zahlreiche erwerbslose EU-Bürger ähnliche Schreiben bekommen.

Hintergrund sind die unterschiedlichen Auswirkungen der Wirtschaftskrise in der EU-Zone. Vor allem wegen der nicht zuletzt auf Druck der deutschen Regirung veranlassten Krisenprogramme wächst in Ländern der europäischen Peripherie wie Griechenland, Spanien und Portugal die Verarmung. Manche Menschen suchen einen Ausweg, in dem sie sich in Deutschland auf Arbeitssuche machen. Die Bundesregierung will verhindern, dass die Menschen auch die in Deutschland üblichen Sozialleistungen bekommen.

Die Nachricht zog Anfang März erste Kreise Die Angst von der Leyens vor spanischen und griechischen Zuwanderern ohne Arbeit?; seither hat sich einiges getan.

Erster Widerstand regt sich

In Berlin wurden im März zahlreiche dieser Schreiben verschickt. „Es laufen einige Eilverfahren beim Berliner Sozialgericht. Es sind aber schon Leute in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Dies liegt wohl auch daran, dass sie nicht ausreichendes Wissen über ihre Rechte und Klagemöglichkeiten haben“, erklärt der auf Sozialrecht spezialisierte Berliner Rechtsanwalt Lutz Achenbach gegenüber Telepolis.

Mittlerweile wollen soziale Initiativen den Betroffenen politische und rechtliche Unterstützung zukommen lassen.


Rechtliche Grauzone

Ihre Chancen sich erfolgreich rechtlich zu wehren, stehen nicht schlecht. Schließlich regelt das 1956 unterzeichnete Europäische Fürsorgeabkommen den Bezug von Fürsorgeleistungen auf EU-Ebene. Das Bundessozialgericht hat in mehreren Fällen entschieden, dass trotz verschiedener Ausschlussregelungen in Deutschland lebende französische Staatsangehörige Hartz-IV-berechtigt sind.

2009 hat sich bereits der Europäische Gerichtshof mit den Kriterien für Hartz IV-Bezug von EU-Bürgern in Deutschland befasst. Damals hatten griechische Staatsbürger, die in Deutschland in Minijobs beschäftigt waren und keine Leistungen bekommen sollten, geklagt.

Mit dem im März 2012 von der Bundesregierung eingelegten Vorbehalt gegen das Fürsorgeabkommen soll die vom Sozialgereicht für unwirksam erklärte Ausschlusspraxis fortgesetzt werden. Die Bundesagentur für Arbeit zieht danach auch die Rücknahme bereits bewilligter Leistungen in Erwägung. Rechtsanwalt Achenbach bezweifelt die rechtliche Tragfähigkeit aus mehreren Gründen:

„Erstens ist ein Vorbehalt wegen eines Urteils laut Vertragstext nicht vorgesehen. Zweitens steht die Frage im Raum, ob die gesetzliche Regelung im Sozialgesetzbuch II nicht auch gegen andere höherrangige Regelungen verstößt. So ist in der europäischen Verordnung (EG) Nr. 883/2004 auch ein Diskriminierungsverbot enthalten.“

Viele Gerichte hätten Zweifel, ob sich der gesetzliche Leistungsausschluss in § 7 SGB II mit dieser Verordnung in Einklang bringen lässt. Weil eine höchstrichterliche Entscheidung bisher aussteht, haben viele Kammern des Berliner Sozialgerichts den Betroffenen deshalb Leistungen nach Hartz IV zugesprochen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151849
Peter Nowak

Rekord bei der Sanktionierung von Erwerbslosen

Gerade weil es der Wirtschaft in Deutschland gut geht, wächst der Druck auf Hartz-V-Empfänger ganz im Sinne der Erfinder der Agenda 2010

Noch nie haben Arbeitsagenturen so viele Sanktionen gegen Hartz IV-Empfängerverhängt wie im letzten Jahr. Die Zahl ist nach Angaben eines Sprechers der Bundesagentur für Arbeit im letzten Jahr gegenüber 2010 um 10 Prozent auf 912.000 Fälle gestiegen. Die Hauptgründe waren Nichteinhalten von Terminen beim Amt sowie der Abbruch oder das Nichtantreten einer Arbeitsplatzmaßnahme.

Obwohl gleichzeitig vermeldet wurde, dass die sogenannten Betrugsfälle zurückgegangen sind, bemühte ausgerechnet die sozialdemokratische Frankfurter Rundschau sofort das Klischee vom Sozialmissbrauch, in dem sie die von den Sanktionen Betroffenen zu Arbeitsunwilligen erklärte.

Differenzierter äußerte sich eine Sprecherin der Bundesanstalt für Arbeit zu den Gründen für den Sanktionsrekord: „Je mehr offene Stellen es gibt, desto mehr Angebote können unsere Vermittler den Arbeitslosen machen und umso häufiger kommt es zu Verstößen.“ So nimmt ausgerechnet in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs der Druck auf die Erwerbslosen zu. Nicht nur in der öffentlichen Meinung wird ihnen noch mehr als sonst die Verantwortung für den Hartz-IV-Bezug gegeben. Auch auf den Jobcentern bedeuten mehr offene Stellen, dass es für Hartz-IV-Empfänger immer schwerer wird, eine Stelle abzulehnen. Einen Job zu fast jeden Preis annehmen zu müssen, war aber genau die Intention der Agenda 2010.

Insofern zeigt das Sanktionshoch deswegen kein Versagen, sondern das Funktionieren des Hartz-IV-Systems. Zudem werden die Arbeitsagenturen immer professioneller beim Verstopfen der letzten Schlupflöcher, mit denen vielleicht manche Erwerbslose in den letzten Jahren noch ein Stück weit selber entscheiden wollten, welchen Job sie zu welchem Preis und zu welchen Bedingungen annehmen wollen. Das ist der zweite Grund für den Anstieg der Sanktionen.

Ratlosigkeit der Jobcenter oder der aktiven Erwerbslosen?

Für viele aktive Erwerbslose sind die neuesten Zahlen ein Grund mehr, ihre Forderungen nach einem Stopp der Sanktionen zu erneuern. Obwohl ein Moratorium mittlerweile von Gewerkschaftern, Wissenschaftlern und Politikern unterstützt wird, wird es nicht umgesetzt. Denn damit würde der Kern der Hartz-IV-Reformen, Lohnarbeit zu fast jedem Preis annehmen zu müssen, entfallen.

Die von einer Berliner Sozialinitiative gestarteten Befragungen von Hartz-IV-Beziehern vor dem Jobcenter Neukölln haben deutlich gemacht, dass viele Betroffene neben der Behandlung am Amt, Sanktionen und Druck als ein zentrales Problem ansehen. Mit der zunehmenden Sanktionierung von Hartz-IV-Empfängern ist die Etablierung eines Niedriglohnsektors verbunden, der wiederum Auswirkungen auf die Lohnquote insgesamt hat. Wenn die Überzeugung wächst, dass alles getan werden muss, um nicht unter das Hartz-IV-Regime zu fallen, dann sind eben viele Beschäftigte zu Lohnverzicht und Mehrarbeit bereit. Auch dieser Effekt war den Verantwortlichen der Hartz-IV-Gesetze bewusst. Daher ist auch die in einer Pressemitteilung des Erwerbslosenforums Deutschland vertretene Einschätzung, dass es sich bei dem Sanktionsrekord um einen „Ausdruck der Hilf- und Konzeptlosigkeit der Jobcenter“ handelt, in Frage zu stellen. Sind nicht die Sanktionen eher ein Ausdruck der Funktion des Hartz-IV-Systems und der Hilflosigkeit der wenigen aktiven Erwerbslosengruppen?
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151780
Peter Nowak

Gauck – kein Freund der Erwerbslosen?

Nach seiner Nominierung melden sich auch die ersten Kritiker des Rostocker Theologen zu Wort, die ein „blaues Wunder“ mit Gauck befürchten

Die Bild-Zeitung hatte mal wieder das Ohr anscheinend ganz nah am Volke. „Gebt uns Gauck“, leitartikelte das Blatt vor zwei Tagen. Nachdem die um ihr Überleben kämpfende FDP erkannt hatte, dass sie sich in dieser Frage gut profilieren konnte und sogar ein Koalitionsbruch drohte, hatte auch die Union die Zeichen der Zeit erkannt. Ist mit der Nominierung des von den Medien zum „Präsidenten der Herzen“ ernannten Pastors nun die Gauckomanie ausgebrochen? Fast scheint es so, wenn selbst der eher nüchterne Publizist Heribert Prantl von „einem Wunder namens Gauck“ schreibt.

Manche befürchten allerdings, mit Gauck eher ein „blaues Wunder“ zu erleben. Kaum wurde seine Nominierung bekannt, meldeten sich auch die Kritiker des Rostocker Theologen zu Wort. Für das Erwerbslosen Forum ist Gauck „eine unglückliche Entscheidung für Menschen in Armut“. Der Forumssprecher Martin Behrsing erinnerte an Kommentare von Gauck zu aktuellen Protestbewegungen.

„Wer Menschen, die bereits 2004 gegen die geplante Hartz-IV-Gesetzgebung demonstrierten, als töricht und geschichtsvergessen bezeichnet und die Occupy-Bewegung mit seiner Kapitalismuskritik für unsäglich albern hält, muss sich fragen lassen, ob er wirklich ein Bundespräsident für alle werden kann.“

Gauck kritisierte die Kritiker der Hartz-IV-Gesetze vor allem, weil sie sich in die Tradition der Montagsdemonstrationen in der Endphase der DDR stellen. Das sei „töricht und geschichtsvergessen“, monierte Gauck. Während es bei den Demonstrationen 1989 um fundamentalen Widerstand gegen das DDR-Regime gegangen sei, handele es sich bei den Erwerbslosenprotesten um „eine Opposition in einem demokratischen System“. Eine ähnliche Kritik an den Erwerbslosenprotesten äußerte damals auch die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, die heute zum rechten Flügel der Union zählt und schon seit Wochen für eine zweite Chance für Gauck geworben hat.

Aber auch der frühere SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der wesentlich für die Etablierung der Hartz-IV-Gesetze verantwortlich war, schloss sich Gaucks Schelte der Erwerbslosenproteste an. Dass es ihm dabei nicht nur um den Bezug auf die Montagsdemonstrationen ging, machte er mit seiner Aufforderung an „die Anführer solcher Proteste“ deutlich, Alternativen zu formulieren und zu sagen, wofür sie einträten. Darin sahen viele Aktivisten der Bewegung, die sich gerade nicht auf Anführer stützte und die die Angst vor der Verarmung auf die Straße trieb, eine Parteinahme für die Agenda 2010.

Mut zur Kürzung von Sozialleistungen?

Schließlich hatte Gauck Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder ausdrücklich für seinen Mut bei der Hartz-IV-Reform gelobt:

„Als Gerhard Schröder einst die Frage aufwarf, wie viel Fürsorge sich das Land noch leisten kann, da ist er ein Risiko eingegangen. Solche Versuche mit Mut brauchen wir heute wieder.“

So ist es durchaus verständlich, wenn soziale Interessenverbände hellhörig werden. Auf Foren von Erwerbslosen wird Gauck daher noch heute als „Theologe der Herzlosigkeit“ bezeichnet. Die Publizistin Jutta Ditfurth nannte Gauck in einem Kommentar als „Prediger der verrohenden Mittelschicht“.
Tatsächlich könnte Gauck anders als Wulff als Präsident ein Wir-Gefühl erzeugen, das keine sozialen Interessen mehr zu kennen scheint und „aus Liebe zu Deutschland“ zu noch mehr Opfer und Verzicht mobilisiert. Wenn man einige Pressereaktionen nach seiner Nominierung liest, zeigt sich, dass solche Befürchtungen so grundlos nicht sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151465
Peter Nowak

Das Christkind packt keine Pakete


Damit sich das Weihnachtsgeschäft lohnt, werden bei Amazon auch Hartz-IV-Bezieher eingesetzt. Man nennt das Praktikum.

»Süßer die Kassen nie klingeln als in der Weihnachtszeit.« Diese etwas abgegriffene Persiflage eines Weihnachtsliedes trifft auf den Internetversandhandel Amazon auf jeden Fall zu. In der Weihnachtszeit boomt das Geschäft. Zudem bekommt das Unternehmen einen Teil der Arbeitskräfte noch gratis. Möglich wird dieser zusätzliche Profit durch die Sozialgesetzgebung, die es erlaubt, die Arbeit befristet angestellter Jobber bis zu vier Wochen weiter mit Leistungen durch die Arbeitsagentur statt mit einem branchenüblichen Lohn durch das Unternehmen zu vergüten. Offiziell wird diese Phase Praktikum oder Anlernzeit genannt.

Ein Betroffener hatte sich an das Erwerbslosenforum Deutschland gewandt, dessen Sprecher Martin Behrsing dieses Vorgehen öffentlich skandalisierte. Der Erwerbslose berichtet über die reibungslose Kooperation zwischen der Arbeitsagentur und der Personalabteilung von Amazon in Werne bei Bonn.

Die Erwerbslosen seien in Gruppen von bis zu 90 Personen direkt in das Unternehmen zu einer mehrstündigen Informationsveranstaltung eingeladen worden. Auch Mitarbeiter der Jobcenter und der Arbeitsagentur seien zugegen gewesen. Nach Angaben des Erwerbslosen habe man dann die zukünftigen Amazon-Mitarbeiter zwei Wochen auf Hartz-IV-Basis arbeiten lassen. Bei einer anschließenden Einstellung hätten die Mitarbeiter 38,5 Stunden arbeiten müssen, es seien aber nur 35 Stunden bezahlt worden. Denjenigen, die diese Form der Ausbeutung nicht mitmachen wollten, sei von der Arbeitsagentur mit Sanktionen gedroht worden, weil sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stünden. Ein anderer Erwerbsloser berichtete, er sei in einer »Rechtsfolgenbelehrung« von seinem Jobcenter darauf hingewiesen worden, dass er sanktioniert werden könne, wenn er sich weigern sollte, auf Hartz-IV-Basis bei Amazon zu arbeiten. So wurde die Extraausbeutung eines Großunternehmens durch die Sanktionsmechanismen des Hartz IV-Systems abgesichert. Zugleich werden damit tariflich bezahlte Arbeitsplätze vernichtet. Ein Mitarbeiter der Personalabteilung von Amazon bestätigte einem der Leiharbeiter, dass die Arbeit von der ersten Stunde an normal bezahlt werde, wenn keine Hartz-IV-Empfänger zur Verfügung stünden. Doch die Praxis der Arbeitsagenturen hat bisher für genug Nachschub an Billiglöhnern gesorgt. Warum sollte das Unternehmen dann noch regulär beschäftigte Arbeitskräfte einstellen? Nachdem die Pressemeldungen des Erwerbslosenforums kurzfristig für mediale Empörung sorgten, bezeichneten Sprecher der Arbeitsagentur die Verleihpraxis als einen Fehler, der behoben werden müsse. Dass damit diese Form der staatlich unterstützten Niedriglöhne endgültig abgeschafft ist, darf bezweifelt werden.

Zudem wurde nach einer Recherche des Fernsehmagazins »Report Mainz« schnell klar, dass auch an den Amazon-Standorten Leipzig und Bad Hersfeld Minilöhne an der Tagesordnung waren. Mitarbeiter berichteten dem Sender, dass sie teilweise über Jahre hinweg immer wieder zeitlich befristete Arbeitsverträge bekommen hätten. Die Betroffenen wollten allerdings anonym bleiben. Denn die Furcht gehört bei den Mitarbeitern zum Arbeitsalltag. So berichteten Beschäftigte, dass sie trotz Krankheit zur Arbeit erschienen seien, weil sie Angst gehabt hätten, bei Fehlzeiten nach dem Auslaufen der Verträge nicht weiterbeschäftigt zu werden.

»Der Druck ist groß«, bestätigte eine Mitarbeiterin gegenüber »Report Mainz«. Und die Methode von Amazon wird immer beliebter, wie der Jenaer Arbeitssoziologe Klaus Dörre bestätigt. Er bezeichnet den Abbau von Vollzeitarbeitsplätzen zugunsten befristeter Verträge als Disziplinierungsinstrument. Diese Einschätzung wird indirekt auch von Amazons Personalabteilung bestätigt. Als Gründe für die Ausweitung der befristeten Arbeitsplätze gab diese in »Report Mainz« an, man versuche, die Nachfrageschwankungen innerhalb eines Jahres aufzufangen, und wolle besonders engagierte Mitarbeiter gewinnen. Das Engagement der Beschäftigten im Sinne des Unternehmens steigt aber, wenn wegen unsicherer Arbeitsverträge die Angst vor dem Jobcenter stets präsent ist und als zusätzliches Disziplinierungsinstrument die Druckmittel der Hartz-IV-Regelungen zur Anwendung kommen.

Auch Julian Jaedicke kann täglich beobachten, dass die Amazon-Beschäftigten unter großem Druck stehen. Er arbeitet als Organizer für die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi am Firmen­standort Bad Hersfeld. Von den 5 000 Beschäftigten haben 3 000 befristete Arbeitsverträge. Dort beträgt die Probezeit, in der die Beschäftigten ohne Lohn arbeiten müssen, in der Regel eine Woche. Wenn es viele Arbeitslose gebe, könne die Zeit des Praktikums auch zwei Wochen betragen, berichtet Jaedicke. Mindestens zwei Drittel der Beschäftigten seien befristet beschäftigt. Auch Jaedicke sieht darin ein Instrument zur Disziplinierung. Die Befristung habe dort die Funktion, die in anderen Firmen die Leiharbeit übernehme. »Die Leute arbeiten und arbeiten – in der Hoffnung auf einen festen Job«, so Jaedicke.

Viele Befristete hätten Angst, für ihre Interessen einzutreten. »Wenn wir einen festen Arbeitsvertrag haben, werden wir aktiv«, lautet die Devise. Allerdings versucht Verdi, bei einer Organizing-Kampagne alle Mitarbeiter anzusprechen. Mittlerweile dürften die Organizer die Kantine von Amazon nicht mehr betreten, berichtet Jaedicke. Allerdings habe ihre Arbeit schon Erfolge erzielt. »Mittlerweile verteilen die Mitarbeiter die Gewerkschaftsmaterialen in der Kantine«, sagt er. Bis Ende November musste die Stammbelegschaft im Warenausgang des Logistikzentrums zwei Tage Kurzarbeit machen, Urlaub nehmen oder im entsprechenden Umfang Minusstunden sammeln, weil vor dem Advent 600 Saisonkräfte für den großen Ansturm des Weihnachtsgeschäfts qualifiziert wurden, berichtete Heiner Reimann vom Projekt »Handel und Logistik Bad Hersfeld« von Verdi. Der Betriebsrat des Internetkaufhauses habe der Kurzarbeit widerwillig stattgegeben, weil er befürchtete, dass die Firmenleitung sonst wie schon in der Vergangenheit zum Mittel des Schicht­abbruchs greifen könnte. Mehrere hundert Mitarbeiter der Stammbelegschaft seien bezüglich der Frage, wie sie den Wunsch der Geschäftsleitung erfüllen, auf sich alleine gestellt gewesen, moniert Jaedicke.

Allerdings haben sie in der letzten Zeit Unterstützung von unerwarteter Seite bekommen. Internetnutzer organisierten sich als kritische Kunden und zeigten Solidarität mit den Amazon-Beschäftigten. So kündigten mehrere Kunden ihre Konten bei dem Internetversand aus Protest gegen die Dumpinglohnbedingungen. Einige gesellschaftskritische Blogs wie die »Nachdenkseiten« oder »Der Spiegelfechter« haben ihre Partnerprogramme mit Amazon.de gekündigt. Bei den »Nachdenkseiten« will man weder bei eigenen noch bei auf der Seite empfohlenen Büchern auf Amazon verlinken. »Vor allem im Vorweihnachtsgeschäft sollte Amazon schmerzlich am eigenen Leibe erfahren, dass es auch wirtschaftlich von Nachteil sein kann, wenn man sich durch Gesetzeslücken auf unsoziale Art und Weise Vorteile verschaffen will«, schreibt Spiegelfechter-Blogger Jens Berger.
http://jungle-world.com/artikel/2011/51/44575.html
Peter Nowak

Neue Hartz IV-Regelung verfassungswidrig?

Weder die Hartz IV-Neuregelung noch das von der Regierung beschlossene Bildungspaket halten nach Gutachten die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ein

  Ab Januar 2012 soll der Regelsatz für Hartz IV-Bezieher um 10 Euro auf 374 Euro steigen. Entsprechende Medienberichte hat eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums bestätigt.

Heftige Kritik an der Maßnahme, die noch in diesem Monat vom Bundeskabinett beschlossen werden soll, kommt von Gewerkschaften und Sozialverbänden. So erklärte Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband: „Auch die angekündigte 10-Euro-Erhöhung macht die Hartz-IV-Regelsätze nicht verfassungsfester. Dass für die älteren Kinder gar keine Anpassung erfolgt, ist ignorant und geht an der Alltagsrealität von Familien vollkommen vorbei.“

Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand forderte eine grundsätzliche Reform der Hartz IV-Gesetze. Buntenbach kann sich mit ihrer Kritik auf zwei Studien der DGB-nahen Hans Böckler Stiftung stützen, die am 5. September in Berlin vorgestellt wurden. Danach entsprechen weder die Hartz IV-Neuregelung noch das von der Regierung beschlossene Bildungspaket den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Wegen methodischer Fehler bei der Bemessung sei der Regelsatz für Hartz IV-Bezieher kleingerechnet worden. Das ist das Fazit zweier von dem Juristen Johannes Münder auf Basis von Daten der Verteilungsforscherin Doktor Irene Becker erstellten Studie.

An 10 Punkten werden Widersprüche zum Hartz IV-Urteil festgestellt

Ein zentraler Kritikpunkt lautete, bei der Festsetzung des Regelbedarfs seien Menschen mit geringen Einkommen als Referenzgruppe aufgenommen worden, obwohl die Richter in Karlsruhe betonten, dass das Existenzminimum nicht über das Konsumverhalten von Menschen ermittelt werden darf, die von Sozialhilfe oder Hartz IV-Leistungen angewiesen sind. Mit der Ungleichbehandlung von Single-Haushalten und Familien bei der Festsetzung des Regelsatzes werde gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes verstoßen.

Als Hauptmangel beim Bildungspaket wurde die Benachteiligung von Kindern aus strukturschwachen Gebieten angeführt. Denn dort, wo keine Bildungsförderungsmaßnahmen angeboten werden, besteht nach der Logik der Gesetzgeber auch kein Anspruch auf Leistungen.

Eine unabhängige Kommission wird gefordert

Buntenbach forderte als Konsequenz aus den Studien die Einrichtung einer unabhängigen Kommission, die die Regelsätze nach dem tatsächlichen Bedarf und nicht nach Kassenlage bemisst. „Es wäre ein Armutszeugnis, wenn erst erneut das Bundesverfassungsgericht eingreifen müsste“, so die Gewerkschafterin. Tatsächlich haben mittlerweile mehrere Betroffene Klagen gegen die neuen Regelsätze eingereicht, darunter auch Gewerkschaftsmitglieder, die vom DGB unterstützt werden.

Allerdings warnen Erwerbslosenaktivisten vor zu großen Hoffnungen, dass es Karlsruhe schon im Sinne der Erwerbslosen richten werde. Schon im letzten Jahr wurden von manchen Sozialverbänden Illusionen verbreitet. Doch in dem Urteil haben die Richter bewusst keine konkreten Zahlen für Hartz IV-Sätze vorgegeben. „Das Positivste, was aus der Diskussion um die Klage entstanden ist, war das Bündnis „Krach schlagen statt Kohldampf schieben“, das im letzten Herbst für eine Erhöhung des Regelsatzes eintrat und sich dabei nicht in juristischen Details verfing, sondern die konkrete Situation der Betroffenen thematisierte“, meinte ein Erwerbslosenaktivist. Das Bündnis, um das es nach dem Urteil ruhig geworden ist, könnte bei erneuten Klagen wieder aufleben.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/150416

Peter Nowak

Keine Sportwetten für Hartz-IV-Empfänger

Landgericht Köln: Mitarbeiter der Annahmestellen müssen einschreiten, wenn es Hinweise darauf gibt, dass sich ein Kunde die Wette nicht leisten kann

Hartz-IV-Empfänger dürfen nicht an Sportwetten teilnehmen. Das Landgericht Köln hat heute sein umstrittenes Verbot von Anfang März bekräftigt und einen Widerspruch der Westdeutschen Lotterie gegen das per Einstweiliger Verfügung ausgesprochene Verkaufsverbot abgewiesen (zur Diskussion des Urteils siehe: Verlogenes (Glücks)Spiel mit ALG II-Empfängern).

Zwar muss nach der heutigen Entscheidung nicht jeder Kunde kontrolliert werden, Mitarbeiter der Annahmestellen sind aber verpflichtet einzuschreiten, wenn es konkrete Hinweise darauf gibt, dass sich ein Kunde seine Wette eigentlich nicht leisten kann. Westlotto bezeichnet das Urteil als nicht praktikabel. Laut Unternehmenssprecher Axel Weber will man gegen das Urteil nun vor dem Kölner Oberlandesgericht Berufung einlegen:

„Nach dem Urteilstenor bleibt weiterhin unklar, wie die WestLotto-Annahmestellenmitarbeiter vernünftig feststellen sollen, ob es sich um einen Fall von Missverhältnis zwischen Vermögenssituation und Spieleinsatz bei einem Spielteilnehmer handelt. In jedem Verfahren haben die Bürger in Deutschland ein Anrecht auf ein ordentliches rechtsstaatliches Verfahren, in dem sie individuell angehört werden müssen.“

Bei der Auseinandersetzung handelt es sich um einen Konkurrenzkampf von zwei Lottoanbietern, der auf den Rücken der Erwerbslosen ausgetragen wird Beantragt worden war die einstweilige Verfügung von dem Sportwetten-Anbieter Tipico, der seinem Konkurrenten Westlotto vorwirft, gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb und den seit 2008 geltenden Glücksspielstaatsvertrag verstoßen zu haben. Darin ist unter anderem festgehalten, dass Minderjährige, aber auch Menschen mit geringen Einkünften vor Glücksspielen geschützt werden müssen.

Der Konkurrent von Westlotto soll Testkäufer zu Annahmestellen geschickt haben:

„Unmittelbar vor dem Verkäufer hatte dann der eine gesagt: ‚Geht das überhaupt, dass du hier schon wieder 50 Euro setzen kannst, du bist doch pleite und bekommst Hartz IV?‘ Darauf kam die Antwort: ‚Ach, ich hab das Geld jetzt und demnächst vielleicht noch mehr… So kann man doch nicht leben!‘.“

Laut Gerichtsentscheidung macht es sich der Verkäufer „zu einfach“, „wenn er einfach weghöre oder das Gespräch nicht ernst nehme“.

Lottogewinn wurde abgezogen

Martin Behrsing vom Erwerbslosenforum Deutschland sieht in der Entscheidung weniger einen Schutz als eine Diskriminierung Erwerbsloser. Schon im März initiierte das Forum die Selbstbeschuldigungskampagne „Ich bin Hartz IV-Empfänger und habe Lotto gespielt.“

Dass es sich bei der einstweiligen Verfügung nicht nur um eine abwegige Einzelentscheidung handelt, zeigt ein Urteil des Landessozialgerichts Essen vom Januar 2011. Danach kann Hartz-IV-Betroffenen auch ein kleiner Lottogewinn von ihrem Regelsatz abgezogen werden. Der Gewinn werde als Einkommen angerechnet, entschied das Gericht. Er verringere die Hilfsbedürftigkeit des Klägers, argumentierten die Richter.

Geklagt hatte ein Bielefelder, der in einer Lotterie 500 Euro gewonnen hatte. Er wehrte sich gegen die Anrechnung auf die Hartz-IV-Leistung und scheitere in zwei Instanzen. Der Mann hatte eingewandt, dass er seit 2001 regelmäßig Lotto spiele, dafür insgesamt 945 Euro ausgegeben habe und daher trotz des Gewinns von 500 Euro unter dem Strich Verlust gemacht habe. Dieses Argument ließen die Richter aber nur für den letzten Monat gelten. Die für das Los ausgegebenen 15 Euro durfte der Kläger von den 500 Euros abziehen. Der Rest des Gewinns wurde vollständig mit seinem Hartz-IV-Satz verrechnet.
 http://www.heise.de/tp/blogs/8/149792

Peter Nowak

Hungern oder frieren?

Wenn die zugestandenen Heizkosten aufgebraucht sind, stehen Hartz-IV-Betroffene vor einer schweren Entscheidung
Die Begrenzung der Heizkosten für ALG II-Bezieher steht in der Kritik, wird aber immer häufiger praktiziert.
 
»Das Sozialamt/Jobcenter erkennt grundsätzlich Heizkosten an, die auf einem jährlichen Heizverbrauch von 22 Liter je Quadratmeter angemessene Wohnfläche beruhen«, heißt es in einen Formular des Jobcenters Rhein-Kreis-Neuss für Hartz IV-Empfänger. Die Antragsteller werden aufgefordert, die entsprechende Menge Öl für die Fläche ihrer Wohnung zu berechnen und anzugeben. Sind die Kosten höher, muss der Erwerbslose die Differenz selber zahlen. Bei einer fehlenden oder mangelhaften Mitwirkung der Erwerbslosen »kann der Leistungsträger die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen«, heißt es in der Belehrung.

Scharfe Kritik an dieser Praxis kommt von der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Hartz IV der Linken. Deren Bundessprecher Werner Schulten sieht sogar den Tatbestand der Nötigung erfüllt. »Hier werden auf perfide Weise Betroffene mit der Vorspiegelung, diese Begrenzung sei gesetzlich vorgeschrieben, genötigt, auf Leistungen zu verzichten«. Letztlich stünden diese Menschen nach dem Verbrauch der zugestandenen Heizmittel vor der Wahl: hungern oder frieren, moniert Schulte.

Im Gesetz hingegen ist heißt es: »Leistungen für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind.« Nicht nur Schulten ist der Meinung, dass nicht von vorn herein pauschal festgelegt werden kann, welche Heizkosten angemessen sind. Sie richten sich nach der Strenge des Winters ebenso wie nach der Wärmeisolation der Wohnungen und der technischen Beschaffenheit der Heizanlagen.

Auch das Bundessozialgericht hat in mehreren Urteilen entschieden, dass die Behörden bei einer angemessenen Unterkunft grundsätzlich die tatsächlichen Heizkosten übernehmen müssen und keine Pauschale zahlen dürfen.

Ein Schlupfloch für die Behörden ließen die Sozialrichter allerdings. Bei einem besonderen unwirtschaftlichen Heizverhalten müsse im Einzelfall nicht alles gezahlt werden. Die Unwirtschaftlichkeit könne mittels des lokalen Heizspiegels ermittelt werden. Die Bundesagentur für Arbeit wies die Kritik an der Pauschalisierung des Neusser Jobcenters zurück. Die Heizkosten gehören zu den kommunalen Aufgaben, auf die die Bundesagentur keinen Einfluss habe. Für Schulten bewegt sich die Kommune damit im rechtsfreien Raum. Er rät Betroffenen keiner Pauschalisierung ihrer Heizkosten zuzustimmen und den Rechtsweg zu beschreiten.

Erwerbsloseninitiativen weisen daraufhin, dass die Praxis des Neusser Jobcenters durchaus keine Ausnahme ist, sondern im vom Gesetzgeber gewollten Trend liegt. Schließlich ist es den nach der kürzlich beschlossenen Hartz IV-Reform künftig möglich, Leistungen der Unterkunft niedriger als bisher und unterhalb der Vorgaben der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts festzulegen. Denn den Kommunen soll es über landesgesetzliche Regelungen ermöglicht werden, die Angemessenheit der Wohnkosten in einer kommunalen Satzung selbst zu definieren. Dabei sollen erstmals auch abgeltende Pauschalen für Wohn- und Heizkosten möglich sein. Erwerbsloseninitiativen fürchten hier Entscheidungen nach Kassenlage zum Nachteil der Betroffenen, denn viele Kommunen stehen vor der Pleite.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/193105.hungern-oder-frieren.html

Peter Nowak