Soll eine Kooperation zwischen der Gülen-Bewegung und dem deutschen Staat vorbereitet werden?
Als gäbe es nicht schon genug vordergründige Streitpunkte zwischen der türkischen und der deutschen Regierung hat der BND-Chef Bruno Kahl eine weitere Baustelle aufgemacht. Er widersprach[1] im Spiegel der offiziellen Version der Erdogan-Regierung, nach der die islamistische Gülen-Bewegung die Drahtzieher hinter dem Putschversuch vom Juli letzten Jahres in der Türkei war. Letztlich sind beide Versionen nicht nachzuprüfen und sollten kritisch nach Belegen abgefragt werden.
Von der türkischen Regierung ist bekannt, dass ihre Feindbilder schnell wechseln oder auch kombiniert werden. So konnten Oppositionelle erst gemeinsam mit der Gülen-Bewegung als Linke oder Kemalisten verfolgt werden, um dann später als Gülen-Sympathisanten erneut vor dem Kadi zu landen. Auch neostalinistisch anmutende Vorwürfe sind unter Erdogan zu hören, wenn er den Journalisten Deniz Yücel gleichzeitig als deutschen Agenten und PKK-Anhänger bezeichnet.
Zudem sind politische Beobachter schon länger davon ausgegangen, dass der Putschversuch im letzten Sommer eher von den entmachteten kemalistischen Eliten ausging, die schließlich noch vor 15 Jahren so stark waren, dass sie sogar ein gerichtliches Verbot der AKP androhen konnten. Wieweit es eine Kooperation von Teilen der Gülenbewegung mit diesen kemalistischen Eliten beim Putschversuch gegeben hat und dieser dann als „Geschenk Gottes“ vom türkischen Regime instrumentalisiert wurde, wird sich wohl erst klären lassen, wenn Erdogan und sein Regime endgültig Geschichte ist.
Auch BND sollte seine Quellen offenlegen
Doch auch die BND-Version sollte kritisch hinterfragt werden. Wenn Kahl vage erklärt, dass es den türkischen Behörden nicht gelungen sei, den BND von ihrer Version zu überzeugen, müsste weiter gefragt werden, welche direkten Quellen der BND in der Türkei sowohl in Kreise des Militärs, in die Gülen-Bewegung als auch in die AKP hinein hat. Denn es ist klar, dass das Interview auch eine neue Kooperation zwischen der Gülen-Bewegung und dem deutschen Staat vorbereiten soll. Das wird vor allem deutlich, wo Kahl diese Bewegung als weder islamistisch-extremistisch noch terroristisch bezeichnet.
Nun stammt vor allem letztere Klassifizierung aus der Sprache der Geheimdienste und kann begründet zurückgewiesen werden. Doch wenn Kahl die Gülenbewegung als „zivile Organisation zur säkularen und religiösen Weiterbildung“ bezeichnet, merkt man die Absicht. Hier werden wieder einmal gemäßigte Islamisten gesucht, mit denen deutsche Stellen kooperieren wollen. Dabei hat die Gülen-Bewegung lange Zeit gemeinsam mit der Erdogan-AKP den autoritären türkischen Staat reif für die islamistische Herrschaft gemacht. Gemeinsam gingen sie gegen Oppositionelle vor, darunter Kemalisten in den unterschiedlichen Spielarten, aber auch gegen Linke aller Couleur. Die Kooperation zwischen der Gülenbewegung und der AKP funktionierte lange gut, bis sich die islamistischen Brothers in Crime zerstritten.
Dadurch wird die Gülenbewegung nicht zu einer zivilen Organisation, sondern zu einer islamistischen Organisation, die im Machtkampf mit der islamistischen AKP unterlegen ist. Es gibt mittlerweile auch wissenschaftliche Arbeiten[2], die sich damit befassen, warum die Gülen-Bewegung zeitweise so erfolgreich war. Schließlich agierte sie international. Dort heißt es: „Seit den 1990er Jahren begann sich das Netzwerk, welches nunmehr die Bereiche Medien, Bildung, Dialog, Charity und Business umfasste, auch außerhalb der Türkei auszubreiten – zunächst in Staaten Zentralasiens und des Balkans und später bei weitem darüber hinaus. Heute ist die Gülen-Bewegung in ca. 160 Ländern der Welt aktiv und hat sich somit zu einem globalen Netzwerk mit einer starken Türkeizentrierung entwickelt. Fethullah Gülen, der seit 1999 in den USA lebt, richtet sich in erster Linie durch seine Videobotschaften und Schriften an seine Anhängerschaft.“
Auch der Historiker und erklärte AKP-Kritiker Nikolas Brauns befasst sich ausführlich mit der Gülen-Bewegung[3] und kommt zu dem Fazit:
Die millionenstarke „Hizmet-Bewegung“ des in den USA lebenden türkischen Imam Fethullah Gülen mit ihrem Wirtschafts-, Bildungs- und Medienimperium stellt sich in der Öffentlichkeit als unpolitische und tolerante Gemeinschaft da. Doch in der Türkei kontrollierten Gülen-Anhänger lange Zeit Schlüsselpositionen im türkischen Staatsapparat. Kritiker werfen ihnen vor, hinter den Massenverhaftungen von prokurdischen Politikern, regierungskritischen Journalisten, aber auch hochrangigen Militärs gesteckt zu haben.
Nikolaus Brauns
Gülenbewegung – Bedrohung für türkische und kurdische Oppositionelle?
Nun könnte die deutsche Regierung der Gülenbewegung in Deutschland besondere Protektion erfahren. Kurdische Oppositionelle wie türkische Linke hingegen werden in Deutschland und der Türkei weiterhin gleichermaßen verfolgt. Erdogan erregte sich über eine kurdische Demonstration vom Wochenende[4] , auf der auch Poster des inhaftierten PKK-Vorsitzen Öcalan gezeigt wurden.
Aber auch diese Symbole werden mittlerweile in Deutschland als terroristisch eingestuft und sind verboten[5]. Bei der Demonstration vom Wochenende sei man aus taktischen Gründen nicht gegen die Symbole eingeschritten, doch mit Videoaufnahmen will man die Träger ermitteln und juristisch zur Verantwortung ziehen. Das macht noch einmal deutlich, dass die Verfolgung von kurdischen[6] und türkischen Oppositionellen[7] in Deutschland nicht einer Erpressung durch Erdogan geschuldet ist, wie auch Linke gerne behaupten. Die deutschen Justizbehörden haben ein eigenes Interesse an der Verfolgung und kooperieren dabei trotz allen Streits weiterhin mit der türkischen Justiz.
Die Gülen-Bewegung könnte nun auch in Deutschland als zusätzlicher Akteur bei ihrer Verfolgung auftreten. Deshalb muss der Versuch, die Gülenbewegung als gemäßigte Islamisten in Deutschland zu protegieren, kritisch beobachtet werden.
Analysten hätten besseres zu tun, als einzig Thesen der Rechten zu übernehmen
In den letzten Tagen schien es die ganz große Querfront gegen Erdogan zu geben. Da musste man schon sehr genau zwischen den Zeilen lesen, um einen Unterschied zwischen den vielen Presseerklärungen von Politikern der Linkspartei, der Grünen oder der Union zu finden. Sie vermittelten alle den Eindruck, als würden sich Erdogan und seine AKP anschicken, die Macht in Deutschland zu übernehmen.
Modell Österreich – oder wie sogenannte Mitte rechte Thesen übernimmt
Die Parteien rechts von der Union konnten sich angesichts der Anti-Erdogan-Front nicht profilieren. Besonders deutlich wurde das in diesen Tagen in Österreich, wo demnächst die Präsidentenwahl wiederholt werden muss. Um dem FPÖ-Kandidaten Hofer den Wind aus den Segeln zu nehmen, übernimmt die Front seiner Gegner die schrillen Töne gegen Erdogan und tut so, als stünden die Türken erneut vor Wien.
In der Presse wird offen das Ziel dieses Anti-Erdogan-Kurses angesprochen. Nicht um Menschenrechte geht es, sondern darum, der FPÖ möglichst wenig Betätigungsfelder zu lassen. Ob das Kalkül aufgeht, wird sich am Wahlabend zeigen. Immer aber siegt die rechte Politik. Entweder wählt die Mehrheit gleich das Original und Hofer wird noch Präsident. Oder sein Gegenkandidat siegt erneut knapp und setzt dann die FPÖ-Politik light um.
Auch in Deutschland wird im Alltag schon längst ziemlich unwidersprochen die Türkei-Politik umgesetzt, die rechts von der Union immer gefordert wird. Das wurde deutlich, als Tausende in Deutschland lebende Menschen mit türkischen Hintergrund eine Demonstration in Köln anmeldeten und es tatsächlich wagten, den gewählten Präsidenten, der gerade einen Putsch überstanden hatte, per Liveschaltung sprechen lassen zu wollen.
Da wurde ihnen von führenden Unionspolitikern unumwunden gesagt, dass sie doch gefällig in die Türkei zurückkehren sollen, wenn sie Erdogan hochleben lassen wollen. Die Rechtsaußenpartei Pro NRW und ihre Bündnispartner wurden für die Propagierung solcher Forderungen nicht gebraucht. Nach einer Kundgebung wurde ihnen die gerichtlich durchgesetzte Demonstration untersagt, weil einige Teilnehmer aggressiv und alkoholisiert gewesen sein sollen.
Aber für die Parole, wer Erdogan liebt, soll Deutschland verlassen, wurde der rechte Narrensaum nicht gebraucht. Das schien rund um die Demo in Köln der sogenannte demokratische Konsens zu sein. Gab es nicht einmal das Konzept der doppelten Staatsbürgerschaft, mit dem auch diskutiert wurde, dass Menschen durchaus zwei Staaten und ihren Regierungen gegenüber loyal sein können?
Wird hier nicht an zweifelhafte deutschnationale Traditionen angeknüpft, wenn Menschen aus anderen Ländern selbst nach einem überstandenen Putsch nicht einmal ihr gewähltes Staatsoberhaupt per Liveschaltung hören dürfen? Natürlich ist Erdogan kein lupenreiner Demokrat. Aber welcher andere Präsident ist das schon?
Man stelle sich vor, Expats aus den USA würde eine Liveschaltung zu den Präsidenten ihres Landes verweigert – vielleicht mit dem Argument, dass in den USA die Todesstrafe noch immer nicht abgeschafft ist und noch immer viele Menschen teilweise jahrelang in der Todeszelle sitzen?
Wie sieht es mit deutschen Politikern aus? Bei den Maidan-Protesten in der Ukraine begnügten sich der damalige Außenminister Westerwelle oder die grüne Bundestagsabgeordnete Rebecca Harms nicht mit Zuschaltungen per Bildschirm. Sie waren selber vor Ort, um die Ukraine auf den Weg in Richtung Westen zu begleiten. Die innenpolitischen Folgen sind bekannt.
Welche Reaktionen es in Deutschland gegeben hätte, wenn die alte ukrainische Regierung Einreise- und Zuschaltverbote für diese deutschen Politiker durchgesetzt hätte, kann man sich vorstellen. Allerdings hätten die in deutschen Politstiftungen gebrieften Politiker wie Vitali Klitschko ein solches Szenario verhindert.
Wie wären die Reaktionen, wenn in Ländern mit einer sich als deutsch verstehenden Minderheit oder prodeutsch positionierenden Gruppierungen verboten wird, Politiker der Bundesregierung zu Kundgebungen zuzuschalten oder einzuladen? Gründe wurden sich genügend finden.
So könnten die Länder an der europäischen Peripherie, vor allem Griechenland, damit argumentieren, dass es wesentlich die Bundesregierung war, die 2015 das Austeritätsdiktat gegen den griechischen Wählerwillen durchzusetzte. Wie groß die Empörung war, als kurz nach den Wahlen im letzten Jahr die von der linkssozialdemokratischen Syriza dominierte Regierung Vertreter der Troika nur verbal für unerwünscht erklärte, dürfte manchen noch bekannt sein.
Es blieb nicht bei der Empörung, es wurden alle politischen und ökonomischen Instrumentarien angewandt, um Griechenland die Austeritätspolitik der EU aufzuzwingen.
Gülen – die gemäßigten Islamisten des Westens?
Nun also ist Erdogan ins Visier geraten. Es wird viel von westlichen Werten, von Demokratie und Menschenrechten geredet. Dass die meisten Politiker dabei aber betonen, bei ihrer Kritik an der türkischen Regierung soll das Flüchtlingsabkommen – das die Menschenrechte vieler Menschen stark einschränkt, – nicht in Frage gestellt werden, zeigt schon die instrumentelle Qualität des Menschenrechtsarguments gegen die Türkei.
Das Land ist für viele Außenpolitiker noch immer die Pforte, die das Tor nach Kerneuropa vor Migranten bewachen soll, aber es sich bloß nicht einbilden soll, es könne dort mitbestimmen. Weil die Türkei unter Erdogan sich aber mit seiner Rolle als Torwächter nicht zufrieden geben will, ist er vielen Politikern in Europa suspekt. Und die wären sicher auch gar nicht so traurig gewesen, wenn der Putsch Erfolg gehabt hätte.
Dass aus den westlichen Staaten nach dem Scheitern des Coups eine Gratulation an den gewählten Präsidenten ausgeblieb, ist eine Formalie, die aber in der internationalen Diplomatie sehr ernst genommen wird. Putin ist gleich in die Bresche gesprungen und soll sehr früh die Unterstützung der gewählten Regierung bekundet haben.
Auch der Umgang mit der Gülen-Bewegung in den sogenannten westlichen Ländern nach dem Putsch ist bemerkenswert. Sicher wird ihre Rolle beim Putschversuch jetzt von der türkischen Regierung propagandistisch aufgewertet.
Es war wahrscheinlich ein loses Bündnis von Kemalisten und Gülen-Leuten, die sich nur in der Ablehnung Erdogans einig waren, dafür verantwortlich. Die Gülen-Leute haben aber bei der Organisation des Putsches schon deshalb eine wichtige Rolle gespielt, weil sie in wichtigen türkischen Staatsapparaten Stellungen besetzten.
Schließlich haben sie jahrelang gemeinsam mit der Erdogan-AKP daran gearbeitet, kemalistische Kräfte dort auszuschalten und sie mit oft gefälschten Beschuldigungen ins Gefängnis gebracht. Die Gülen-Bewegung und die Erdogan-AKP teilen eine ähnliche islamistische Ideologie. Sie sind Feinde von Menschenrechten und eine Gefahr für politische Gegner und sexuelle und kulturelle Minderheiten.
Neben persönlichen Machtkonflikten dürfte der zentrale Grund für die Konfrontation zwischen beiden islamistischen Formationen ihre Haltung zum sogenannten Westen sein. Es ist sicher kein Zufall, dass Gülen schon lange unbehelligt in den USA lebt.
Die Gülen-Bewegung wird so zu einer Art „gemäßigter Islamisten“-Alternative zur Erdogan-AKP aufgebaut. Nur wenige Analysten erinnern in diesen Tagen an die islamistische Agenda der Gülen-Bewegung auch in Deutschland[1].
In der Regel wird diese Bewegung so dargestellt, als handele es sich um eine von der Erdogan-Bewegung verfolgte zivilgesellschaftliche Gruppe, der es um Menschenrechte geht. Nun ist es in der westlichen Politik nicht Besonderes, dass man schnell sogenannte gemäßigte Islamisten kreiert, die zumindest für säkulare Menschen gar nicht so gemäßigt sind.
Auch die AKP wurde lange Zeit als gemäßigte Islamisten und eine Art CDU der arabischen Welt gehandelt, als sie sich noch scheinbar im Einklang mit den Zielen des Westens befand.
Kretschmann hält die Hand über Gülen-Bewegung
Der grünkonservative Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sich nun bei der Schönrednerei der Gülen-Islamisten besonders hervorgetan. Auf eine schriftliche Bitte des türkischen Generalkonsuls, die Gülen-Einrichtungen in Baden Württemberg zu überprüfen, blaffte er ganz undiplomatisch zurück[2]:
Selbstverständlich werde man genau das nicht machen. Hier sollen Leute auf irgendeinen Verdacht hin grundlos verfolgt oder diskriminiert werden.
Nun ging es dabei nicht um Forderungen nach Auslieferung und Bestrafung von Gülen-Mitgliedern, sondern um die Überprüfung der Einrichtungen. Warum Kretschmann ohne genaue Prüfung schon das Klagelied über die verfolgten Islamisten anstimmt, muss befremdlich stimmen Schließlich ist die islamistische Agenda dieser Bewegung bekannt.
Damit hat sie jahrelang mit der AKP übereingestimmt und die hat sich auch nach dem Zerwürfnis der Brothers in Crime nicht grundlegend geändert. Natürlich hat das türkische Konsulat Eigeninteressen, um die Gülen-Bewegung in schlechtem Licht darstellen zu können. Doch sie haben auch aus den Zeiten der Kooperation Spezialwissen. Es ist äußerst fahrlässig, wenn dies einfach ignoriert wird, weil man die Gülen-Bewegung als gemäßigte Islamisten hätscheln will.
Linke türkische Opposition wird weiterverfolgt
Während also die Gülen-Islamisten nun zur türkischen Zivilgesellschaft umfrisiert werden, kann die jahrelange linke türkische Opposition auch in Deutschland nicht mit so viel Milde rechnen. Die Zusammenarbeit zwischen dem deutschen und dem türkischen Justizapparat läuft vor und nach dem Putsch hervorragend. Sie baut auf eine lange Tradition, die in eine Zeit zurückreicht, als die AKP noch gar nicht gegründet war.
In der letzten Woche wurde erneut ein angeblicher Funktionär der kurdischen Arbeiterpartei PKK zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt[3]. Der deutsch-türkische Boxer Ismail Özen, der wegen seines Engagement für die türkisch-kurdische Zivilgesellschaft schon von türkischen Nationalisten Morddrohungen erhalten hatte[4], solidarisierte sich mit den Verurteilten[5].
Von Kretschmann und all denen, die jetzt so vehement für die Gülen-Bewegung eintreten, hörte man hingegen nichts. Auch im Münchner Prozess gegen 10 angebliche Mitglieder der kleinen kommunistischen Organisation TKP/ML[6] geht die Kooperation zwischen deutschen und türkischen Ermittlungsbehörden weiter. Viele der Angeklagten[7] waren bereits unter unterschiedlichen türkischen Regierungen in der Türkei verhaftet und wurden teilweise gefoltert.
Sie sind, wie die Ärztin Dilay Banu Büyükavci[8] seit Jahren in Deutschland integriert und die politische Organisation, der sie angehören sollen, ist hier auch nicht verboten. Die kritische Debatte über die Menschenrechtslage in der Türkei hat nicht dazu geführt, dass das Verfahren von einer größeren politischen Öffentlichkeit hinterfragt wird.
Auch die linke anatolische Band Grup Yorum[9] war bei einem Auftritt auf dem Fest der Kulturen im osthessischen Fulda mit ungewöhnlichen Auflagen konfrontiert[10]. So durften weder T-Shirts noch DVDs der Band verkauft oder durch Spenden weitergegeben werden. Auch eine Gage durfte der Band nicht gezahlt werden.
Solche Methoden kennt die Band bereits von Auftritten in Deutschland[11] und in ihrer türkischen Heimat. Nun ist diese Verfolgung gegen unterschiedliche Bestandteile der türkischen Opposition allerdings kein Einknicken vor Erdogan und der Türkei, wie es auch in Pressemitteilungen der Linken immer wieder behauptet wird.
Das Interesse an der Verfolgung dieser Gruppen und Personen teilt der deutsche Staat und seine Apparate mit den türkischen Behörden, egal welche Regierung gerade an der Macht ist.
Wenn eine Linke den Visumszwang verteidigt
Wie auch Politiker der Linken bei der Erdogan-Kritik die Menschenrechte instrumentell benutzen, zeigt eine Pressemitteilung der Bundestagsabgeordneten Sevin Dagdelen mit der markigen Überschrift Keine Visafreiheit für die Erdogan-Diktatur[12]. Wenn man über die inflationäre Verwendung des Diktaturbegriffs hinweg sieht, wäre es eine noch nachvollziehbare Forderung gewesen, Erdogan und seinen engsten Mitarbeitern kein Visum zu geben
Doch Dagdelen will die gesamte türkische Bevölkerung, also auch die Opposition bestrafen, in dem sie fordert, dass die nicht ohne Visa in die EU einreisen dürfen. Wäre es nicht für eine Partei, die die Bewegungsfreiheit hochhält, die logische Forderung, eine generelle Visafreiheit zu fordern? Das würde auch den Oppositionellen eine Ausreise erleichtern, die nicht erst seit dem Putsch von Verfolgungen in der Türkei betroffen sind.
Dagdelen wird hier zum linken Feigenblatt all jener, die nicht Erdogan, sondern die türkische Bevölkerung als Gefahr für das europäische Abendland sehen. Wenn die Türken schon mal vor Wien gestoppt werden, können sie jetzt nicht einfach ohne Visa in die EU einreisen, lautet diese Logik.
Die Stunde der Realisten
Erdogan sucht sich derweil neue Bündnispartner und findet sie in Russland. Noch vor einigen Monaten, nach dem Abschuss eines russischen Militärflugzeugs, schien eine militärische Auseinandersetzung zwischen den beiden Ländern nicht unwahrscheinlich. Die Position im Syrienkonflikt birgt noch immer Springstoff für das neue temporäre Bündnis. Und die vereinigte Querfront gegen Erdogan gerät ins Wanken.
Während der CDU-Politiker Lamers mit weiteren Warnungen an Erdogan[13] eher das neue Bündnis beflügeln dürfte, scheint auch schon die Stunde der Vermittler gekommen zu sein, die davor warnen, dass der Westen es mit seinem Anti-Erdogan-Kurs übertreiben und sich selber schaden könnte.
Der Sozialdemokrat Gernot Erler sieht keine Gefahr eines neues Bündnisses Putin-Erdogan gegen die EU[14], ohne dass er diese Einschätzungen begründet. Er warnt vor Dramatisierungen und plädiert für realistische Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei.
Auch Erlers Parteifreund Bundesaußenminister Steinmeier mahnt zu Gelassenheit und umwirbt Erdogan mit dem zweifelhaften Kompliment, die Türkei sei ein wichtiger Nato-Partner[15]. Prompt schickte er seinen Staatssekretär als Vermittler nach Ankara[16].
Er soll verhindern, dass aus dem Streit zwischen dem Westen und der Türkei Putin-Russland als lachender Dritter hervorgeht. Denn, der Besuch Erdogans in Russland macht dem Westen eins klar. Die unipolare Welt existiert nicht und Erdogan und Co. haben so die Möglichkeit, aus der subalternen Rolle als Pforte also Torwächter der EU herauszukommen. Den Analysten wird klar, dass Erdogan durchaus Trümpfe in der Hand hat.
In die EU setzt die Mehrheit der türkischen Bevölkerung kaum Hoffnungen, sie ist auch schon lange nicht mehr Erdogans Ziel. Aber der Flüchtlingsdeal und die Nato sind den westlichen Eliten schon ein wenig Entspannung Richtung Erdogan wert.
Aus menschenrechtlicher Perspektive wäre der Kampf gegen den deutsch-türkischen Flüchtlingsdeal und für die Visafreiheit für die türkische Bevölkerung und natürlich die Unterstützung der demokratischen Oppositionellen aus der Türkei ein lohnendes Ziel. In die interessengeleitete Querfront gegen Erdogan, bei der es um Menschenrechte bestimmt nicht geht, muss sie sich dabei nicht einmischen.
Die türkische Regierung geht mit Festnahmen und Schikanen gegen kritische Journalisten vor
Vor der Präsidentenwahl war der damalige islamistische Kandidat Erdogan mit wüsten Drohungen gegen die Opposition hervorgetreten, die er als Verschwörer aus dem Ausland diffamierte. Viele Oppositionelle überlegten gar, auszuwandern, weil sie die Drohungen ernstnahmen. Nach Erdogans Wahlsieg schien sich die Situation etwas zu beruhigen.
Selbst der Publizist Deniz Yücel [1], der einer der in den letzten Monaten profiliertesten Verteidiger der türkischen Opposition war, gab in seiner Bilanz [2] der 100tägigen Amtszeit von Erdogan leichte Entwarnung. Der heutige Präsident ist ihm keineswegs sympathischer geworden. Doch in dem Text war auch das Bemühen zu erkennen, Erdogan nun nicht zu „dämonisieren“:
Nun, dass Erdogan bloß den Grüßaugust abgeben würde, war nicht zu erwarten. „Auch diejenigen, die mich nicht gewählt haben, haben heute gewonnen“, sagte er bei seiner Balkonrede am Wahlabend Mitte August und kündigte an, er werde künftig mit seinen Gegnern zusammenarbeiten. Eigentlich sind das bloß die bei solchen Anlässen üblichen Phrasen, die aber nur deshalb aufhorchen ließen, weil man von ihm ganz anderes kannte.
Doch nun scheint es so aus, als setze Erdogan und die AKP-Regierung die Drohungen gegen die Opposition um. Bei einer landesweiten Razzia am Wochenende wurden in 13 türkischen Städten zunächst 32 Menschen festgenommen. 14 bleiben auch weiterhin in Haft. Neben Polizeioffizieren handelt es sich dabei vor allem um Journalisten, denen die Regierung und Staatsanwaltschaft vorwirft, eine terroristische Zelle zum Sturz der Regierung gegründet zu haben.
Gegen linke Opposition wurden solche Vorwürfe schon lange erhoben
Nun mag der Vorwurf, Journalisten würden eine terroristische Vereinigung bilden, wenn sie kritisch über die Regierung berichten und über Korruptionsfälle informieren, als besonderer Ausbund von Willkür gelten. Doch dabei wird vergessen, dass seit Jahrzehnten gegen Zeitungen der linken und kurdischen Opposition mit diesem Konstrukt vorgegangen wird.
Zahlreiche Journalisten haben teilweise jahrelang im Gefängnis gesessen, weil ihnen vorgeworfen wurde, mit ihren Artikeln als terroristisch erklärte linke oder kurdische Organisationen unterstützt zu haben. Dabei haben sie in ihren Artikeln die inkriminierten Organisationen oft nicht einmal genannt. Sie haben vielmehr über die Repression, die Situation in den Gefängnissen, über soziale Missstände und Proteste berichtet.
Weil sie damit die gleichen Themen wie die inkriminierten Organisationen angesprochen haben, wurden die Journalisten ebenfalls zu Terroristen erklärt und verurteilt. Kaum jemand aus den Organisationen, die das aktuelle Vorgehen gegen Journalisten in der Türkei kritisieren, hat damals protestiert. Zudem könnte es nicht nur in der Türkei passieren, dass jemand nur wegen eines Artikels in die terroristische Ecke gesteckt wird.
In Brüssel und auch in Deutschland wurden Aktivisten der türkischen Menschenrechtsorganisationen nach Anti-Terrorparagraphen wie den 129b [3] verurteilt, denen nur nachgewiesen wurde, dass sie über politische Repression in der Türkei und den Widerstand dagegen berichtet haben.
Abrechnung unter Islamisten
Am Sonntag wurde allerdings mit vermeintlichen Anhängern der islamistischen Gülen-Bewegung [4] abgerechnet. Lange Jahre kooperierte diese ultrakonservative, prokapitalistische Bewegung mit der AKP gegen die kemalistischen Reste in den türkischen Staatsapparaten. Schließich ist es noch nicht so lange her, dass sowohl das türkische Militär als auch die Justiz der islamistischen Regierung mit einem Sturz drohte.
Nachdem der Elitentausch vollzogen war, begann der Streit innerhalb der islamistischen Bewegung. Neben dem Zwist um die Aufteilung der Pfründe gibt es vor allem in außenpolitischen Fragen Differenzen zwischen der AKP und der Gülenbewegung Während letztere eng mit den USA kooperiert, versucht sich Erdogan mit antiwestlicher Rhetorik in der arabischen Welt beliebt zu machen.
Da es lange Zeit eine enge Kooperation zwischen der Gülenbewegung und der AKP gab, wurden nach dem Bruch viele Dinge öffentlich, die der türkischen Regierung sicher nicht angenehm sind. Da ging es um Korruption bis hinein in die Erdogan-Familie, aber auch um die Methoden, mit denen beide lange Jahre gegen die kemalistischen Kreise im Staatsapparat vorgegangen sind.
Die der Gülenbewegung nahestehenden Medien, wie die in der Türkei vielgelesene Zeitung Zaman [5], waren in den letzten Monaten gefüllt mit solchen Details aus dem islamistischen Staatsapparat. Mit der Razzia vom Sonntag will die AKP-Regierung diese Enthüllungen stoppen und rückt sie in die Nähe des Staatsverrats. In der Türkei protestierten die Betroffenen, aber auch Politiker der kemalistischen Opposition gegen die Repression.
Doch von der außerparlamentarischen Bewegung, die im letzten Jahr die Gezi-Park-Proteste initiiert hatten und sich dann auf das ganze Land ausbreiteten, ist wenig zu hören. Einerseits wird die Gülen-Bewegung kaum als Kooperationspartner gesehen. Zudem ist die Bewegung zurzeit geschwächt, was die geringen Reaktionen auf die Räumung [6] des populären Stadtteilzentrums Caferağa [7] in Istanbul vor einigen Tagen zeigte.
Selektive EU-Kritik
Kritik an dem Vorgehen gegen die Gülenbewegung kam aus den USA. Auch die EU monierte, dass die Freiheit der Medien verletzt würde. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und EU-Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn mahnten die Achtung der Unschuldsvermutung und anderer Verfahrensrechte an.
Doch die Kritik wäre überzeugender, wenn sie auch laut würde, wenn linke oder kurdische Journalisten nach Terroristenparagraphen in der Türkei und in anderen europäischen Ländern verurteilt werden und wenn auch die von der spanischen Regierung geplante massive Einschränkung [8] demokratischer Rechte Gegenstand der Kritik würde. Der Spanienkorrespondent der Taz Reiner Wandler schildert [9], wie ein geplantes Gesetz auch Veröffentlichungen im Internet erschwert.
Videos und Fotos zeigten, dass die Gewalt von eingeschleusten Provokateuren ausging. Von einem, der von seinen uniformierten Kollegen verprügelt wurde, zirkulierte ein Video, in dem dieser laut ruft: „Hört auf, verdammt, ich bin ein Kollege!“
Künftig aber wird es wesentlich schwieriger, Videos, Filme oder Fotos in Umlauf zu bringen, die die Polizei bei der Arbeit zeigen und sich etwa despektierlich äußern. Auch dafür drohen Bußgelder bis zu 600.000 Euro. „Ein neues Gesetz in Spanien soll die sozialen Proteste unterbinden. Es scheint, als wolle sich die EU eine Demokratie nicht mehr leisten“, kommentierte [10] Wandler.