Kommt die Grexit-Debatte wieder?

Manche wollen Griechenland aus dem Euro hinausbegleiten. Gibt es auch eine EU ohne Austerität?

Der Polen-Besuch von Bundeskanzler Merkel wurde als großer Erfolg für die EU und für Merkel bezeichnet. Dabei war man sich nur in der gemeinsamen Gegnerschaft gegenüber Russland einig. Über die EU hatte die nationalkonservative Regierung, die einen Rückbau der EU fordert, ganz andere Vorstellungen[1] als der von Merkel repräsentierte Block der deutschen EU.

Doch man hofft, Polen auf Linie zu bringen, weil mit dem Brexit Polen ein Bündnispartner verloren ging. Die Konservativen saßen sogar mit der polnischen Regierungspartei in der gleichen EU-Fraktion. Aber Merkels Bekenntnis, dass es in der EU keine Mitglieder mit unterschiedlichen Rechten geben dürfe, werden wohl auch die polnischen Gastgeber als Propaganda erkannt haben. Schließlich wird in den letzten Monaten mehr denn je, auch von Politikern aus Merkels Umfeld von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten gesprochen.

Ein EU-Staat minderen Rechts ist schon lange Griechenland, das unter dem im Wesentlichen von Deutschland orchestrierten Austeritätsprogramm nicht nur auf sozialem Gebiet einen beispiellosen Aderlass erlebte. Auch die Schleifung tariflicher und gewerkschaftlicher Rechte ist fester Bestandteil dieses Austeritätsprogramms. Griechische Gewerkschafter beschreiben die Folgen in der Zeitschrift ver.di Publik[2]:

Darunter fällt auch die Aufweichung des Kündigungsschutzes. Das betrifft die Zahl der zugelassenen monatlichen Kündigungen in einem Betrieb aus wirtschaftlichen Gründen. Bisher sind sie auf fünf Prozent der Beschäftigten beschränkt, jetzt sollen sie auf zehn Prozent angehoben werden. Hinzu kommen weiter sinkende Lohnniveaus, die unter dem Mindestlohn von 585 Euro für Berufseinsteiger liegen können und bei denen den Gewerkschaften die Tarifhoheit genommen werden soll, ebenso wie die Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Zudem soll das Streikrecht geändert werden: Streiks müssen beim Arbeitgeber künftig 20 Tage vorher angemeldet werden. Die Gewerkschaftsverbände sollen nicht mehr zu Streiks aufrufen dürfen. Stattdessen muss die Mehrheit der Beschäftigten des jeweiligen Betriebs für einen Streik stimmen. Weiterhin fordern die Gläubiger, dass Freistellungen für Gewerkschaftsarbeit reduziert und Aussperrungen als Arbeitskampfmaßnahme für Arbeitgeber eingeführt werden.

ver.di Publik

Eine treibende Kraft bei dieser Entrechtung der Beschäftigungen zum Zwecke der Deregulierung des Arbeitsmarktes ist der Internationale Währungsfonds, der schon bei einem Treffen in Westberlin 1988 von Kritikern[3] als Institution markiert wurde, die zur Verarmung und Entrechtung beiträgt.

In Griechenland bestätigt sich dieses Urteil. Deswegen will vor allem die Bundesregierung den IWF mit im Boot haben, wenn Griechenland der Knüppel gezeigt wird. Doch weil die IWF-Bürokratie einschätzt, dass Griechenland seine Schulden nicht zurückzahlen kann, könnte sich der IWF daraus zurückziehen und in Deutschland steht eine neue Grexit-Debatte an. Der Europapolitiker der FDP, Alexander Graf Lambsdorff[4], hat schon mal den Austritt Griechenlands aus der EU-Zone gefordert[5]:

„Wir müssen so schnell wie möglich einen Weg finden, wie wir Griechenland zwar in der EU und ihrer Solidargemeinschaft halten, aber aus der Eurozone hinaus begleiten“, sagte Lambsdorff und regte einen geordneten Übergang zur griechischen Nationalwährung an.

Die Debatte dürfte in Deutschland wieder an Fahrt aufnehmen, wenn es um weitere Gelder für die griechischen Banken geht, die immer fälschlich als Griechenlandhilfe bezeichnet werden. Gerade im Vorwahlkampf dürften verschiedene populistische Attacken gegen Griechenland gestartet werden.

Da stellt sich noch einmal dringlicher die Frage, ob sich für Tsipras und die Mehrheitsfraktion seiner Syriza die Unterwerfung unter das EU-Diktat gelohnt hat? Damit wurde seine eigene Partei gespalten und die vor zwei Jahren sehr aktive soziale Bewegung in Griechenland demotiviert.

Wäre er mit dem gewonnenen Referendum im Rücken, bei dem die Mehrheit der griechischen Bevölkerung OXI zu den Zumutungen der EU gesagt hat, aus der Eurozone ausgetreten, hätte das auch über Griechenland hinaus eine soziale Dynamik in Gang setzten können, die nicht den Kapitalismus, aber das deutsche Austeritätsmodell in Frage gestellt hätte.

Mit der Unterwerfung Griechenlands und der Niederlage der sozialen Bewegungen schlug die Stunde der Rechtspopulisten. Die deutsche Politik hat also an ihrem Aufstieg einen großen Anteil, über den kaum geredet wird. Wenn jetzt wieder über ein Hinausdrängen Griechenlands aus der Eurozone geredet wird, ist auch das Wasser auf die Mühlen der Rechten. Ein selbstbewusster Austritt Griechenlands vor zwei Jahren wäre hingegen Labsal für die sozialen Bewegungen in vielen europäischen Ländern gewesen.

Noch immer gibt es Reformgruppen, die hoffen und auch dafür arbeiten, dass in dieser EU ein anderer Weg als die Austerität möglich ist. Die Gründung der DIEM[6] geht auf den kurzzeitigen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis zurück, der in seiner kurze Amtszeit bewiesen hat, dass die Eurokraten völlig resistent gegenseine Argumente der ökonomischen Vernunft waren. Die Bewegung Diem hat sich bis 2025 Zeit gegeben, ihre Pläne für ein anderes Europa zu konkretisieren.

Ob es dann die EU, wie wir sie kennen, noch geben wird, ist völlig unklar. Auch manchen überzeugten Europäern schwant mittlerweile, dass zumindest in Großbritannien die „Deutsch-EU“ eine Schlacht verloren hat. Dominik Johnson hat kürzlich in der Taz die Fakenews aufgelistet[7], die die EU-Befürworter über den Brexit verbreiten und die EU aufgefordert, endlich Abschied vom Selbstbetrug zu nehmen.

Vielleicht sollte sich auch die Mehrheit der griechischen Bevölkerung, die noch vor zwei Jahren hoffte, ohne Austeritätsdiktat in der EU-Zone bleiben zu wollen, von diesem Selbstbetrug verabschieden. Lambsdorff und sicher noch einige andere Politiker könnten den Lernprozess mit ihrem Ausschlussgerede beschleunigen. Auch in Deutschland suchen Linke[8] neue Wege jenseits der EU und einer Renaissance der Nationalstaaten.


Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Kommt-die-Grexit-Debatte-wieder-3619758.html

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[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/angela-merkel-in-polen-kanzlerin-lehnt-rueckbau-der-eu-ab-a-1133587.html
[2] https://publik.verdi.de/2016/ausgabe-08/gewerkschaft/international/seite-8/A0
[3] https://autox.nadir.org/archiv/iwf/programm.html
[4] http://www.lambsdorffdirekt.de
[5] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/griechenland-alexander-graf-lambsdorff-fordert-euro-austritt-a-1133576.html
[6] https://diem25.org/home-de/
[7] http://www.taz.de/!a4/
[8] http://www.antikapitalistische-linke.de/

»Ein Grexit würde die humanitäre Krise zuspitzen«

Der 1944 geborene Publizist und Soziologe Joachim Bischoff ist Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus und Autor im VSA- Verlag. Die Jungle World sprach mit ihm über die griechische Finanzkrise und das Szenario des sogenannten Grexit, eines Ausstiegs Griechenlands aus der Euro-Zone.

Mittlerweile sorgt die Griechenland-Pleite für Satire. Hat das Thema durch die ständigen Drohungen seine Gefahr verloren?

Die Medien haben einen großen Anteil daran, dass in der Berliner Republik eine Mischung aus Ressentiments gegenüber dem griechischen Volk und erheblichem Desinteresse an den Folgen einer möglichen Insolvenz des griechischen Staates existiert. Gleichwohl hat selbst die Kampagne der Bild-Zeitung gegen weitere Zahlungen man Griechenland keinen durchschlagenden Erfolg gehabt. In der letzten Emnid-Umfrage – kurz vor der finalen Entscheidung im griechischen Drama – sprechen sich 67 Prozent für einen weiteren Verbleib Griechenlands in der Eurozone aus. Nur 27 Prozent der Deutschen sind dagegen und wollen lieber einen »Grexit«. Allerdings: Über den Kurs zur Euro-Rettung herrscht große Unsicherheit. So bestehen 41 Prozent der Deutschen darauf, dass Griechenland sämtliche vereinbarten Forderungen erfüllt. Immerhin 33 Prozent der Befragten können sich aber auch vorstellen, den Wünschen Athens ein Stück weit entgegenzukommen. Einen weiteren Schuldenschnitt befürworten nur 19 Prozent der Deutschen.

Wie sind diese widersprüchlichen Zahlen zu erklären?

Die Unsicherheit geht meines Erachtens entscheidend darauf zurück, dass trotz häufiger Berichterstattung die Zusammenhänge und Hintergründe nicht aufklärend präsentiert worden sind. Die griechische Ökonomie ist seit der großen Krise von 2008 um 26 Prozent geschrumpft. Es ist absurd, für die derzeitige Rezession die linke Koalitionsregierung von Syriza verantwortlich zu machen. Seit dem letzten Quartal 2014 schrumpft die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erneut. Bekanntlich fand der Wechsel zu einer Anti-Troika-Politik erst Ende Januar 2015 statt. Die mögliche Pleite des griechischen Staates hat für die europäischen und politischen Eliten ihren Schrecken verloren, weil die Verflechtung der griechischen Ökonomie in die europäische Wirtschaft gering ist. Mittlerweile haben die privaten Investoren und Banken ihr Engagement in Griechenland stark zurückgefahren. Die Wertverluste einer möglichen Insolvenz tragen im Wesentlichen öffentliche Gläubiger. Die Verluste von rund 80 Miliarden Euro für Deutschland gehen zu Lasten der Steuerzahler.

Über den »Grexit« diskutieren nicht nur Neoliberale, sondern auch Linke kontrovers. Wäre der Ausstieg aus dem Euro für die griechische Regierung ein Befreiungsschlag?

Die griechische Regierung und eine große Mehrheit der Wahlbevölkerung sieht in einem Hinausdrängen des Landes aus der Euro- Zone eine schwere politische Niederlage mit gefährlichen Folgewirkungen. Eine repräsentative Befragung von Anfang Juni besagt, dass sich 74 Prozent der Befragten für den Verbleib in der Euro- Zone aussprechen, nur 18 Prozent würden lieber zur griechischen Drachme zurückkehren. Für die Griechen würde mit einem Hinausdrängen aus der Euro- Zone eine erneute schwere sozio-ökonomische Anpassungsphase einsetzen. Mit Sicherheit würde sich der wirtschaftliche Schrumpfungsprozess verschärfen. Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems zeigt, dass die Rückwirkungen der gebeutelten Wirtschaft auf andere Bereiche der Gesellschaft erhebliche negative Folgen hätten. Außerdem werden die Probleme der Bewältigung der Fluchtbewegung für Griechenland noch drückender. Und die geopolitische Konstellation des Nato-Mitglieds Griechenland gegenüber der Türkei und den gescheiterten Staaten in Nahost wirft weitere Probleme auf.

Die Wirtschaftskolumnistin Ulrike Herrmann stellte in der Taz die These auf, dass es Griechenland mit der Drachme nach anfänglichen Schwierigkeiten sogar besser gehen könnte als jetzt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Die Argumente für eine ökonomisch-politische Rekonstruktion Griechenlands nach einer erneuten Durststrecke sind nicht überzeugend. Alle Befürworter einer Rückkehr Griechenlands zu einer eigenen Währung und einem nationalstaatlich geprägten Wirtschaftsraum gehen davon aus, dass zunächst eine deutliche Abwertung der Drachme von 20 bis 30 Prozent zu verarbeiten wäre. Auch abgesehen von den komplizierten Umschuldungsprozeduren müssten viele Wirtschaftsabkommen neu justiert werden. Ein möglicher Vorteil ist die zügige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Tourismus. Griechenland könnte einen noch größeren Anteil im Bereich touristischer Dienstleistungen zu Lasten der Türkei, Spaniens und Italiens gewinnen. Aber da kaum mehr ein relevanter Exportsektor in der griechischen Wirtschaft existiert, wären die Folgen einer Abwertung auf längere Zeit negativ. Im Grundsatz sehen auch viele Befürworter eines Grexit die eintretende Notlage; da sich die humanitäre Krise zuspitzen würde, müsste Griechenland auf längere Zeit aus dem europäischen Raum unterstützt werden, ohne, dass diese Hilfe zu einer wirtschaftlichen Rekonstruktion und einer selbsttragenden Ökonomie führte.

Zu den Vorschlägen, wie ein Grexit verhindert werden könnte, zählt auch die Einführung eines digitalen Euro. Sehen Sie hierin eine Alternative?

Das Kernproblem in Griechenland ist nicht die Verbesserung des Geld- und Kreditsystems, sondern wie der Schrumpfungsprozess in der Realökonomie beendet werden kann und wie über die Erneuerung des öffentlichen und privatkapitalistischen Kapitalstocks eine Erholung eines sozialökologisch geprägten Wachstums eingeleitet werden kann.

Der linke Flügel von Syriza schlägt eine härtere Haltung gegenüber der Gläubigerländern und Institutionen und die Verstaatlichung der Banken vor. Die Kommunistische Partei Griechenlands will gar einen totalen Bruch mit EU und den Troika-Institutionen aus EZB, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF). Wären solche Vorschläge prak­tikabel?

Keine Frage, ein Bruch mit dem europäischen Binnenmarkt, ein Austritt aus der Euro -Zone und mindestens eine Aussetzung der Mitgliedschaft in der Nato könnten durch verschiedene Maßnahmen eingeleitet werden. Seit der Regierungsübernahme Ende Januar 2015 wird der Wirtschaftskreislauf in Griechenland wesentlich durch Notkredite seitens der europäischen Zentralbank EZB gewährleistet. Das Volumen dieser Kredite beträgt aktuell über 80 Milliarden Euro. Im selben Zeitraum musste das griechische Bankensystem einen Abzug von Einlagen in der Größenordnung von 30 bis 40 Milliarden Euro hinnehmen. Die häufig geforderte Gegenmaßnahme ist die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen wie zuletzt in Zypern. Mit Kapitalverkehrskontrollen, deren Ausgestaltung und Durchführung die EZB nicht zustimmt, wäre der Ausstieg aus dem Währungs- und Kreditsystem eröffnet. Die Mehrheitsströmung in Syriza will eine solche Politikentwicklung nicht. Die Chance von Griechenland besteht in einer Investitionsoffensive und einer wirtschaftlichen Rekonstruktion im europäischen Verbund. Ein solcher Politikwechsel eröffnete auch für andere Krisenländer entsprechende Alternativen und könnte für den europäischen Verbund insgesamt eine andere Entwicklung einleiten.

In Island hatte eine bürgerliche Regierung auf Druck der Bevölkerung die Rückzahlung von immensen Schulden eingestellt, das Land wurde nicht isoliert. Warum klappte dort ein Schuldenschnitt und in Griechenland bisher nicht?

In der Tat hat Island eine bemerkenswert andere und positive Entwicklung zur Bewältigung der Folgen der großen Finanz- und Wirtschaftskrise eingeleitet. Das Verhältnis von Realökonomie und privatem sowie öffentlichem Finanzüberbau in Island ist nicht mit der Konstellation in Griechenland zu vergleichen. Griechenland schultert eine große Schuldenlast, aber der seit Jahren anhaltende Abwärtstrend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit liegt nicht an etwaigen unerträglichen Zinslasten oder Schuldentilgungen. Hätte Griechenland im Jahr 2014, wie von der konservativ-sozialdemokratischen Regierung und den Troika-Institutionen erhofft und prognostiziert, endlich ein positives Wirtschaftswachstum erreicht, wären sämtliche Tilgungen und Zinszahlungen problemlos möglich geworden. Griechenland muss aus dem Schrumpfungsmodus heraus. Für 2015 droht erneut bestenfalls eine Stagnation des Wachstums. Bei einem grundsätzlich möglichen Wachstum von zweieinhalb Prozent – nach einer Periode der Schrumpfung um 26 Prozent – ist, da stimme ich dem griechischen Finanzminister Varoufakis zu, die Schuldentragfähigkeit ein sekundäres Problem.

Zeigt die monatelange Hängepartie um Griechenland nicht auch, dass selbst eine moderat reformerische Politik, wie sie die jetzige Regierung vorschlägt, zurzeit keine Chance auf Umsetzung in der EU hat?

Die Macht der neoliberalen Eliten in Wirtschaft und Politik wird uns durch den Kampf um die wirtschaftlich-finanzielle Strangulation Griechenlands vor Augen geführt. Die griechische Linksregierung verdeutlicht, wie schwer ein Politikwechsel – ein Bruch mit der neoliberalen Konzeption – umzusetzen ist. Aber auch die Krisenländer Portugal und Spanien leiden sehr unter der Austeritätspolitik. Frankreich und Italien hatten ebenfalls versucht, einen Freiraum für verstärkte gesellschaftliche Investitionen zu erhalten. Man streitet also in nationalstaatlich unterschiedlichen Konstellationen für einen Bruch mit der neoliberalen Sanierungspolitik, die bestenfalls eine säkulare Stagnation mit mehr oder minder regelmäßigen Krisenprozessen von Vermögenspreisblasen beschert.

Ist die Forderung nach der Schuldenbefreiung eines Landes nicht genauso illusorisch wie eine Forderung nach Sozialismus?

Die Überschuldung vieler kapitalistischer Länder ist eine Tatsache. Die schwächelnde, teils krisenhafte Akkumulation des Kapitals ist in den letzten Jahrzehnten durch eine Expansion des Kredits überlagert worden. Es geht nicht vorrangig um Schuldenbefreiung. Schulden sind akkumulierte Ansprüche auf künftig erst noch zu produzierenden gesellschaftlichen Reichtum. Die Verteilungsverhältnisse sind stark verzerrt. Selbst die OECD und der IWF sowie andere Organisationen der kapitalistischen Länder sehen heute, dass wachsende soziale Spaltungen zu einer Blockade oder einem Hindernis für die Kapitalakkumulation und das gesellschaftliche Wachstum geworden sind. Die Auseinandersetzung dreht sich also um die gesellschaftliche Ökonomie und deren Verteilungsverhältnis.

http://jungle-world.com/artikel/2015/24/52105.html

Interview: Peter Nowak

Diktat an Griechenland jetzt direkt aus dem Kanzleramt?

G7-Treffen als Inszenierung vom Wiederaufstieg Deutschlands

Auf dem Treffen der G7-Finanzminister in der Roten Zone in Dresden ging es um Selbstdarstellung Deutschlands und Griechenland

Ein durch einen Zaun abgetrenntes Gebiet mitten in der Innenstadt[1], in dem wesentliche Grundrechte wie das Versammlungsrecht außer Kraft gesetzt worden sind. So präsentiert sich in diesen Tagen Dresden.

Vom 27. bis 29. Mai tagen[2] in der sächsischen Hauptstadt die Finanzminister und Notenbankchefs der G7-Staaten und Dresden hat seine Rote Zone. Das Treffen findet im Rahmen der deutschen G7-Präsidentschaft statt. Dort wird das G7-Treffen[3], das nächstes Wochenende auf Schloss Elmau stattfinden soll, auf finanzpolitischem Gebiet vorbereitet.

Deutschland – Symbol für Deutschlands Wiederaufstieg wie Phönix aus der Asche

Gastgeber Wolfgang Schäuble nutzt das Treffen zur Schaustellung des neuen deutschen Selbstbewusstseins. Auch der Tagungsort ist hier Teil des Programms. So wird auf der Webseite des Bundesfinanzministers en passant die neueste deutsche Geschichtserzählung verbreitet: „Wie kaum eine andere deutsche Stadt steht Dresden für den erfolgreichen Wiederaufbau nach zwei Diktaturen und erfolgreichen Strukturwandel. Dresden ist ein symbolträchtiger Ort, um im G7-Kreis über die Stärkung der Weltwirtschaft nach der Finanzkrise zu beraten.“

Solche Statements ignorieren jahrelange Diskussionen, die die Gleichsetzung von NS und DDR mit guten Argumenten ablehnten[4]. Die Saga vom Wiederaufstieg Deutschland wie Phönix aus der Asche funktioniert am Beispiel Dresden nur, wenn man einen Aspekt mitdenkt, der in dem Statement aus dem Hause Schäuble ausgespart wird. Es ist auch ein Affront gegen die damalige Anti-Hitler-Koalition. Die Bombardierung wird einfach als Leerstelle ausgespart.

Im heutigen Geschichtsdiskurs der selbstbewussten Nation Deutschland belässt man es vorerst eher bei Auslassungen. Die regierungsamtliche Rhetorik gibt denen Recht, die in den letzten 25 Jahren nicht nur die Neonazipropaganda, sondern auch den offiziellen Dresden-Mythos kritisch[5] unter die Lupe genommen haben. Die Erklärungen zum G7-Treffen zeigen, wie heute Dresden ganz selbstverständlich in den Dienst für das selbstbewusste Deutschland verwendet wird.

Alle reden vom Grexit

Gastgeber Schäuble versäumt auch in Dresden nicht, seinen Lieblingsgegner zu treten. Das ist Griechenland, seit die Mehrheit der dortigen Bevölkerung sich erdreistet hatte, eine Regierung zu wählen, die die Austeritätspolitik ablehnt, die wesentlich mit Schäuble verbunden ist.

Bild machte mal wieder wenig subtil Propaganda[6]. Da stichelte Schäuble gegen Athen und vergleicht den griechischen Finanzminister mit SED-Ministern. Aber nicht er, sondern Griechenland sorgt laut Bild auf den Treffen für Irritationen. Dabei hatte die griechische Regierung eigentlich auf Optimismus gemacht und eine baldige Einigung mit den Institutionen, wie die Troika und Co. jetzt genannt werden, in Aussicht gestellt. Doch Schäuble dementierte sofort. „So wurde beim heutigen G7-Treffen auch eines früh klar: So schnell, wie es die griechische Links-Rechts-Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras glauben macht, wird es in dem monatelangen Gezerre um neue Finanzspritzen für Athen keinen Durchbruch geben“, schreibt Bild.

Die Absicht ist klar. Man will die gegenwärtige Regierung in die Enge treiben, bis entweder Syriza zerbricht oder die Bevölkerung in Griechenland die Geduld verliert. So geht also die Demontage einer demokratisch gewählten Regierung weiter, die nicht nach Deutschlands Pfeile tanzen will. Dabei hat IWF-Chefin Largarde bekräftigt, die internationalen Geldgeber hätten im Schuldenstreit mit Griechenland noch keine großen Fortschritte erzielt. Die Fortschritte messen sich nach dieser Lesart daran, wie weit die griechische Regierung bereit ist, ihre Wahlversprechen aufzugeben und sich dem Diktat der Institutionen unterzuordnen.

In der Vergangenheit gab es zwischen dem IWF und Schäuble manchmal taktische Widersprüche. Der IWF hat die EU schon mal aufgefordert, etwas flexibler gegenüber Griechenland zu sein, damit das Land in der Lage ist, die Verbindlichkeiten gegenüber dem IWF zu bedienen. Das ginge nicht mehr, wenn das Land offiziell seine Zahlungsunfähigkeit erklären würde.

Doch in Dresden hat auch Largarde den Grexit, also den von außen ökonomisch erzwungen Austritt Griechenlands aus der Eurozone, als eine Möglichkeit anerkannt[7]. Damit droht die griechische Regierung ein Druckmittel zu verlieren, weil sie immer darauf hoffte, dass es die Geldgeber dazu nicht kommen lassen wollen. Bei den Debatten geht es nicht um die Interessen der großen Mehrheit der durch die Austeritätspolitik verarmten Teile der Bevölkerung. Es geht nur darum, ob Griechenland die Schulden weiterhin abzahlt.

In den letzten Wochen hat besonders Lagarde den Druck auf die griechische Regierung erhöht und jeden Zahlungsaufschub ausgeschlossen. Diese Position hat sie in Dresden bekräftigt. Zudem beschuldigte sie die griechische Regierung, sie sei unsolidarisch gegenüber den Ländern der Asiens und Afrikas, die trotz großer Armut Schulden zurückzahlen.

Athen und die Schuldenstreichung

Das ist allerdings Demagogie. Tatsächlich fordern[8] seit Jahrzehnten Nichtregierungsorganisationen, Ökonomen und Politiker in den Ländern des globalen Südens eine Schuldenstreichung[9]. Es gibt eine weltweite Bewegung für diese Forderung.

Die Länder kämen nie aus dem Teufelskreis von Armut und Verelendung heraus, wenn die oft illegitimen Schulden nicht gestrichen werden, so die Argumente. Die Schulden wurden oft von politischen Eliten, nicht selten von Militärdiktaturen, angehäuft und kamen den politischen Eliten, nicht aber der Mehrheit der Bevölkerung zugute. Alle Versuche, eine Schuldenstreichung durchzusetzen, wurden von IWF und Weltbank abgelehnt und den Ländern mit politischer und ökonomischer Isolierung gedroht.

Es gäbe also viele Gemeinsamkeiten zwischen vielen Staaten des globalen Südens und Griechenland. Die griechische Regierung könnte sogar neue Impulse für eine internationale Debatte um die Schuldenstreichung geben, wenn sie erklären würde, dass sie die Zahlungen aussetzt und das Geld für Sozialreformen verwendet, die die notleidende Bevölkerung entlasten. Genau das fürchten IWF und die Institutionen und versuchen alles, um eine solche Solidarisierung zu verhindern. Die Propaganda vom mit den Ländern des globalen Südens unsolidarischen Griechenland gehört dazu.

Dresden – Kein Warm-up für Elmau?

Nun wäre eine solche Konferenz auch Gelegenheit, dass sich der Teil der politischen Opposition zu Wort meldet, die gegen diesen Umgang der deutschen Regierung mit Griechenland Einwände hat. Die Dresdner Behörden haben sich darauf eingestellt. Rote Zone nennt man die Hochsicherheitsbereiche mitten in den Städten seit den Hochzeiten der globalisierungskritischen Bewegung. Doch von einer großen Protestbewegung kann in Dresden nicht die Rede sein.

Die sächsische Linkspartei spricht[10] von verpassten Chancen bei dem Meeting und erweist sich damit als konstruktive Oppositionspartei, die eben noch ein paar andere Themen auf dem Treffen ansprechen will. Noch vor einem Jahr stritten sich Leser der Sächsischen Zeitung[11], ob das Treffen von der Protestbewegung ignoriert werden würde oder ob Dresden während des Gipfels zur Protesthochburg werden würde.

Nun stellt sich heraus, dass erstere recht hatten. Das ist umso erstaunlicher, als zurzeit ein Teil der außerparlamentarischen Linken nach Südbayern mobilisiert[12], wo in der nächsten Woche auf Schloss Elmau[13] das G7-Treffen[14] stattfindet (Die Alpenfestung der Reichen und Mächtigen[15]). Die Mobilisierung ist längst nicht mit der monatelangen Vorbereitung auf den G8-Gipfel in Heiligendamm zu vergleichen. Die bayerische Landesregierung und die Bürgermeister unterschiedlicher politscher Couleur versuchen die Proteste kleinzuhalten.

Zurzeit versuchen[16] die G7-Protestierer, das Verbot für ein Camp juristisch aufheben zu lassen. Das Camp wurde von den Behörden verboten, weil es in einem möglichen Hochwassergebiet liegt. Dass es in der nächsten Woche dort Hochwasser geben wird, ist eher unwahrscheinlich. Dass Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, dagegen nicht.

Ab heute wird an den Grenzen wieder kontrolliert. Schon seit einigen Tagen berichten[17] Wanderer über Verbote und Schikanen. Eigentlich wäre für die Protestbewegung das Treffen in Dresden eine gute Chance, um schon mal eigene Akzente zu setzen. 2007, als das Treffen der damaligen G8-Finanzminister bei Potsdam stattfand[18], war es Teil der Protestchoreographie. So ist die Dresdner Protestflaute auch ein Indiz für die Schwäche der aktuellen Bewegung gegen den G7-Gipfel. Dabei werden in Treffen wie in Dresden die politischen Weichenstellungen beschlossen, die dann auf den Gipfeltreffen wie in Elmau nur vorgestellt und abgenickt werden. Daher müssten eigentlich Treffen wie in Dresden in den Focus der Protestbewegung rücken.

http://www.heise.de/tp/artikel/45/45058/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://m.lvz.de/Mitteldeutschland/News/Dresden-stellt-massiven-Sicherheitszaun-fuer-G7-Treffen-der-Finanzminister-auf

[2]

http://www.bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Themen/Internationales_Finanzmarkt/Deutsche_G7_Praesidentschaft/deutsche_g7_praesidentschaft.html

[3]

http://www.g7germany.de/Webs/G7/DE/Home/home_node.html

[4]

http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/9964

[5]

http://www.verbrecherverlag.de/buch/698

[6]

http://www.bild.de/politik/ausland/griechenland-krise/griechenland-krise-tsipras-und-co-am-g-7-pranger-41124854.bild.html

[7]

http://www.rp-online.de/politik/eu/griechenland-finanzelite-spielt-den-grexit-durch-aid-1.5122074

[8]

http://www.europeana.eu/portal/record/09428/objekt_start_fau_prj_ffbiz_dm_1_zeig_1618.html

[9]

http://www.deine-stimme-gegen-armut.de/blog/2007/02/21/erlassjahr-kampagne-fordert-schuldenstreichung/

[10]

http://www.dielinke-dresden.de/politik/detail/article/27-mai-2015-gegenaktion-der-partei-die-linke-zum-g7-finanzministergipfel-in-dresden/

[11]

http://www.sz-online.de/nachrichten/g7-finanzgipfel-in-dresden-2864837.html

[12]

http://www.stop-g7-elmau.info/

[13]

http://www.schloss-elmau.de/news-webcam/

[14]

http://www.g8-2015.de/

[15]

http://www.heise.de/tp/artikel/43/43273/

[16]

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/g7-gegner-wollen-sich-gegen-verbot-von-protestcamp-wehren-a-1035623.html

[17]

http://www.merkur.de/lokales/garmisch-partenkirchen/garmisch-partenkirchen/g7-gipfel-pressezentrum-eisstadion-garmisch-partenkirchen-aerger-sperrzone-5026635.html

[18]http://www.g-8.de/nn_94290/Content/DE/Artikel/2007/04/2007-04-14-g8-finanzmi