Zum Himmel

»Wo ist der blaue Himmel?« Diese Frage prangte auf mehrfarbigen Flyern, die am Sonntagnachmittag auf dem Alexanderplatz an verwunderte Passanten verteilt wurden. Schließlich war der Himmel über Berlin an diesem Tag sehr blau. Doch das schien die etwa 250 Menschen, die sich zum »globalen Marsch gegen Chemtrails und Geo-Engineering« getroffen hatten und vom Alexanderplatz aus in Richtung Reichstagsgebäude zogen, nicht weiter zu irritieren. Dass Flugzeuge Gift versprühen, um die Bevölkerung zu reduzieren, ­gehörte, wenn man den Sprüchen auf Flyern und Transparenten glaubt, zum festen Glauben vieler Teilnehmer. Ein Mann, der in der Uniform eines Flugzeugkapitäns erschienen war, zog einen Rollkoffer hinter sich her. Immer wieder blieb er stehen, um seine mit weißen Handschuhen geschützte Hand gen Horizont zu strecken. Wieder habe ein Flugzeug seine giftige Spur hinterlassen, lamentierte er. Von den Teilnehmern wurde er dafür mit Applaus bedacht und als mutiger Pilot bezeichnet. Viele von ihnen trugen ebenfalls weiße Handschuhe und einen Mundschutz. Denn neben Chemtrails fühlten sie sich auch von »Nano, Strontium, Lithium, Phosphor, Pilzen und Bakterien« bedroht, wie es auf einem Transparent hieß. Impfgegner waren ebenso willkommen wie Personen, die die Existenz von Aids bestreiten. Auch Anhänger der rechtsesoterischen »Reichsbürger-Union« beteiligten sich am Marsch. Auf einem Flyer wurde die Website staatenlos.info beworben, auf der die »geistige Besetzung« nach dem Waffenstillstand von 1945 beklagt und vor der Umwandlung der »Heimat in eine EU-Kolonie« gewarnt wird. Nicht willkommen war hingegen eine Gruppe von Teilnehmern, die sich mit Aluminiumhütchen auf dem Kopf vor Strahlen schützen wollten und »Chemtrails, Chemtrails« skandierten. Sie wurden auf Wunsch des Veranstalters von der Polizei abgedrängt – dabei waren sie die einzigen, die etwas Leben in den Schweigemarsch gebracht hatten.

http://jungle-world.com/artikel/2013/35/48368.html

Peter Nowak