Führe in Frieden

Zwei Gerichtsurteile aus den vergangenen Wochen bringen NS-Opfer um ihr Recht auf Entschädigungen. Die Vergangenheit der europäischen Führungsmacht Deutschland soll endgültig zu den Akten gelegt werden.

»Europa lernt Deutsch. Deutschland setzt sich durch.« Diese Zeilen prangen auf zahlreichen Werbetafeln, mit denen sich die Welt am Sonntag als Stimme einer selbstbewussten Nation anpreist. Der auf den Tafeln abgebildete Artikel berichtet vom EU-Gipfel vergangenen Herbst in Brüssel, bei dem das deutsche Sparmodell zum europäischen Weg erklärt wurde. Seitdem lassen sich immer mehr deutsche Politiker mit Parolen vernehmen – erinnert sei etwa an Volker Kauders (CDU) »Jetzt wird in Europa Deutsch gesprochen« –, mit denen sie die deutsche Führungsrolle in Europa rühmen.

Man hat sich an diese deutsche Machtposition in Europa gewöhnt. Selbst Warnungen, dass die Bundesrepublik ihren gewonnenen Einfluss nutzen möchte, um einen Schlussstrich unter ihre NS-Vergangenheit zu ziehen, erzeugen bei vielen nur mehr ein Gähnen. Dabei ist man der Umsetzung dieses Vorhabens, mit dem sich Deutschland endlich seinen Rechtsfrieden in Bezug auf die Naziverbrechen schaffen möchte, in den vergangenen Wochen sehr nah gekommen. »Deutschland setzt sich durch« hätte daher auch die Überschrift zu einem Artikel über die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) lauten können, die weitere Entschädigungsklagen von Opfern deutscher Kriegsverbrechen unmöglich macht (siehe auch Jungle World 05/12).

Geklagt hatten in dem Prozess mehrere Opfergruppen: italienische Zivilisten und Soldaten, die nach Deutschland verschleppt worden waren und als Zwangsarbeiter schuften mussten, sowie Überlebende und Angehörige von Opfern deutscher Kriegsmassaker, sowohl aus Italien wie aus Griechenland. Einer dieser Mordaktionen, durchgeführt am 10. Juni 1944 von der SS, fielen im griechischen Ort Distomo 200 Bewohner zum Opfer. Noch heute versammeln sich die noch lebenden Mörder von Distomo jährlich zu Kameradschaftstreffen, auf denen sie Erinnerungen austauschen. Die Familien von Distomo haben bisher keinerlei Wiedergutmachung erhalten. Und dabei wird es nach dem Urteil von Den Haag auch bleiben.

Dabei hatten zuvor griechische und italienische Gerichte die Ansprüche von Betroffenen für rechtmäßig erklärt. Deutsche Kultureinrichtungen in Griechenland und Italien waren bereits mit einer Zwangshypothek belegt worden, um aus dem Erlös die Entschädigungen zu finanzieren. Mit dem Urteil des IGH ist dies nun hinfällig. Der »AK Distomo«, der sich seit Jahren für die Entschädigung der Opfer und ihrer Angehörigen einsetzt, spricht von einem »sehr traurigen Tag«, haben doch »die Ideologie des Stärkeren und die Norm der Mächtigen über die Anerkennung des Unrechts gegenüber den einzelnen Machtlosen obsiegt«. Die Initiative bewertet die Entscheidung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen Situation. »Der Gerichtshof hat sich der Macht Deutschlands und der Staatsräson gebeugt und die Grundlagen der Nürnberger Prozesse faktisch beseitigt«, schreibt der Arbeitskreis.

Die meisten deutschen Kommentatoren hoben angesichts des Urteils hingegen hervor, dass mit der Entscheidung »Rechtssicherheit« hergestellt und die Staatsimmunität gestärkt worden sei. Hinter dieser scheinbar sachlichen, vordergründig rechtspolitischen Beurteilung verbergen sich die Ignoranz gegenüber den Opfern deutscher Verbrechen und eine Identifizierung mit der deutschen Staatsräson. Der Kommentator der FAZ, Reinhard Müller, stellte gar Täter und Opfer deutscher Verbrechen gewissermaßen auf eine Stufe. Ob es »ein schwarzer Tag für die Menschenrechte sei«, wenn Deutschland nun nicht »für ausländische Opfer nationalsozialistischer Untaten zahlen« müsse, fragte er und gab zur Antwort: »Ita­lien und Griechenland können letztlich froh sein, dass der Internationale Gerichtshof Deutschland Recht gab – und insgeheim sind sie es wohl auch.« Schließlich hätte sonst auch »Berlins alter Verbündeter Italien« mit einer Klagewelle rechnen können.

Zugleich machte Müller deutlich, was nicht nur für ihn die Quintessenz des Urteils ist: »Rechtlich sind demnach alle Staaten gleich, keiner darf über den anderen zu Gericht sitzen« – ein Sinnspruch, der von Rechten unterschiedlicher Couleur bereits gegen die Nürnberger Prozesse vorgebracht wurde und nun zu einer Lehre des Völkerrechts gemacht wird. Doch bei dieser Lesart wird unterschlagen, dass Recht nichts Feststehendes ist, sondern das Ergebnis von Kräfteverhältnissen. Und diese spiegeln sich in dem Urteil gut wider: Deutschland hat sich vor dem IGH in derselben Weise durchgesetzt, wie es gerade in Europa den Ton angibt.

Mit der Abwehr der Entschädigungszahlungen erscheint Deutschland als später Sieger, der sich in Zynismus gegenüber den NS-Opfern üben kann. Für deren Ansprüche sei heutzutage »kein Raum mehr«, weiß denn auch Müller, »denn der Frieden, der heute in Europa herrscht (…) und der auch nicht durch chronische Nazi-Vergleiche gefährdet ist, wird nicht zuletzt durch den jetzt bestätigten Grundsatz gesichert: die Immunität der (Rechts-)Staaten«. In einer Zeit, in der die deutsche Regierung Griechenland mit Sparkommissaren und Sonderkonten droht, ist es offensichtlich für NS-Opfer zu spät, Forderungen zu stellen.

Dies bestätigt sich auch im Fall der noch lebenden »Ghettorentner«. Dabei handelt es sich um Über­lebende der Shoa, die in den Ghettos des besetzten Europa für Hungerlöhne schuften mussten. Für die meisten von ihnen führte der Weg vom Ghetto direkt in die Vernichtungslager. Die wenigen Überlebenden müssen seit Jahren um eine Rente kämpfen. Für die deutschen Rentenversicherer war es ein Leichtes, ihre Ansprüche zu verschleppen, müssen die Betroffenen dem »Ghettorentengesetz« von 2002 zufolge doch den Nachweis antreten, dass sie »aus eigenem Willensentschluss« und »gegen Entgelt« im Ghetto gearbeitet hatten. Ansonsten fällt ihr Fall in den gesondert zu behandelnden Bereich der Zwangsarbeit, für den die Rentenkassen nicht zuständig sind. Der Antrag musste zudem bis Mitte 2003 gestellt werden, um rückwirkend Ansprüche ab Juli 1997 geltend zu machen. In keinem anderen Entschädigungsbereich gab es eine so hohe Ablehnungsquote: Über 90 Prozent der Anträge wurden von den Rententrägern zurückgewiesen.

So war es auch im Fall zweier in Israel lebender Frauen, deren Antrag zunächst abgelehnt worden war. Erst ihrem Überprüfungsantrag von 2009 wurde stattgegeben. Letztlich klagten sie gegen die Rentenversicherer, weil ihnen Zahlungen vorenthalten worden waren. Da ihr Antrag – so die Argumentation der Versicherer – zunächst abgelehnt wurde, gelte das Jahr 2009 als Antragsdatum und die Renten seien nur rückwirkend bis 2005 zu zahlen. Das Bundessozialgericht in Kassel gab den Rentenkassen in der vergangenen Woche recht. Denn es stellte fest, dass auch für »Ghettorentner« das deutsche Sozialrecht – und damit die gesetzliche Nachzahlungsgrenze von vier Kalenderjahren – zu gelten habe.

Betroffen von dem Urteil sind 22 000 noch lebende NS-Opfer, deren Erstantrag zunächst abgelehnt wurde. Bis zu einer halben Milliarde Euro sparen die Versicherer dadurch. Greg Schneider von der Claims Conference, die sich für die mate­rielle Entschädigungen von Juden einsetzt, appellierte infolge des Urteils an die deutsche Politik, die letzte Möglichkeit zu nutzen, den hochbetagten Überlebenden ein Mindestmaß an Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es ist zu befürchten, dass dies nicht geschehen wird. Deutschland hat mit der Vergangenheit abgeschlossen und blickt als europäische Führungsmacht in die Zukunft.
http://jungle-world.com/artikel/2012/07/44877.html
Peter Nowak

Überleben durch Arbeit

Noch immer müssen ehemalige Arbeiter aus den Ghettos der NS-Zeit um ihre Rente kämpfen.

  Mitte April hat der Bundesrat die Bundesregierung aufgefordert, gesetzliche Voraussetzungen zu schaffen, um die soziale Lage der in Deutschland ansässigen Holocaust-Überlebenden aus der ehemaligen Sowjetunion zu verbessern, von denen viele
bis heute nicht als NS-Verfolgte anerkannt sind und von Sozialhilfe leben müssen. In diesem Zusammenhang ist auch der schäbige Umgang deutscher Einrichtungen mit denjenigen Überlebenden thematisiert worden, die in den Ghettos im von der Wehrmacht besetzten Europa für Hungerlöhne geschuftet haben und die noch immer um ihre Rente kämpfen.

»Gesucht werden: 2–3 gelernte Spengler (ev.umgeschult), ein Schmied, 2–4 Metalldreher, 2– 3 elektro und autogen. Schweißer, ferner Fachleute, die im Stande sind, aus Stroh Fußabstreifer und Flechtschuhe herzustellen. Curricula vitae werden sofort an die Wirtschaftabteilung Produktion gesandt werden.« Dieser Tagesbefehl des Ältestenrats des Ghettos Theresienstadt aus dem Jahr 1942 ist eines der wenigen erhalten gebliebenen Dokumente über Formen der freiwilligen Beschäftigung, die neben der Zwangsarbeit in den Ghettos des von der Wehrmacht besetzten Europas existierte. In der historischen Forschung wurden diese Arbeitsverhältnisse erst in den letzten Jahren in den Blick genommen. Wobei der Begriff der Freiwilligkeit unter den Bedingungen eines durch Hunger und Krankheit geprägten Ghettoalltags ein Euphemismus ist.
»Sie müssen sich das als eine riesige Fabrik von fast 120.000 um ihr Leben arbeitenden Menschen vorstellen, die eine letzte Hoffnung hatten, wie das der Ghettovorsitzende Rumskovskij auch immer wieder fast beschwörend sagte: Überleben durch Arbeit, beschrieb Jan-Robert von Renesse, Richter am Essener Landessozialgericht, die Situation der Ghettoarbeiter von Lodz. Die Arbeit befreite sie nicht vom Hunger und der alltäglichen Willkür der SS. Doch wer Arbeit hatte, bekam in aller Regel etwas Geld oder größere Essensrationen. Eine Überlebensgarantie war die Schufterei keineswegs.
Für die meisten Arbeiter führte der Weg vom Ghetto direkt in die Vernichtungslager. Die wenigen Überlebenden müssen noch immer um eine Rente kämpfen. Die deutschen Rentenversicherer entwickelten viel Kreativität bei ihrem Bemühen, die Bearbeitung der Anträge der hochbetagten Menschen zu verschleppen.
Dabei hatte der Bundestag 2002 einstimmig ein »Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus der Beschäftigung in einem Ghetto (ZRGB)« mit dem erklärten Anspruch beschlossen, schnell und unbürokratisch diesbezügliche Defizite des geltenden Entschädigungsgesetzes auszugleichen. Die Praxis aber war eine Zumutung für die Antragssteller. Denn sie mußten nun vor deutschen Bürokraten den Nachweis antreten, daß sie freiwillig im Ghetto gearbeitet hatten und der zusätzliche Teller Suppe oder eine Scheibe Brot Bestandteil der Entlohnung gewesen waren. Nur dann hatten sie Anspruch auf Rentenleistungen. Für die Versicherungsträger aber hatte es im Ghetto nur Zwangsarbeiter gegeben, für die die Rentenkassen nicht zuständig waren. Sie lehnten die Rentenanträge ab. In keinem anderen Entschädigungsbereich gab es eine so hohe Ablehnungsquote wie bei den Ghettorenten.

In keinem anderen Bereich gibt es so wenige Entschädigungen wie bei den Ghettoarbeitern
Für Michael Teupen ist eine Ablehnungsquote von über 90 Prozent ein ausgemachter Skandal. »Das Ghettorenten-Gesetz erweist sich in seiner Umsetzung durch die Rententräger eher als Verhinderungsgesetz«, moniert der Leiter der Beratungsabteilung des Bundesverbands Information und Beratung für NS-Verfolgte. »Das Besondere an diesem Gesetz war daß sehr intensiv dafür geworben wurde, auch von seiten der Bundesregierung und der Rententräger, Anträge zu stellen, daß aber fast alle Anträge abgelehnt wurden. Das hat es früher in der Rechtsgeschichte so nie gegeben«, meinte der Jurist Jan-Robert von Renesse. Er nahm die offizielle Intention des Gesetzes ernst, fuhr mit einem Richterkollegen nach Israel und in die USA, besuchte die Antragssteller und ließ über 100 Gutachten zur Situation in den Ghettos erstellen. Damit unterschied er sich von dem Großteil seiner Kollegen, die ca. 70.000 Rentenanträge nach Aktenlage ablehnten: »Sie haben die Möglichkeit, Historiker zu fragen, gar nicht wahrgenommen, sondern sich nur auf ganz wenige Quellen wie Wikipedia gestützt, die natürlich alles andere als seriös oder ausreichend sind, um eine ordentliche Entscheidung fällen zu können«, kritisiert von Renesse die Praxis der deutschen Rentenkassen, Tausende Ghettorentner auf Grund von veralteten Dokumenten und Fragebögen zu Zwangsarbeitern zu erklären, die keine Ansprüche auf Zahlungen aus der Rentenkasse haben. Die auf von Renesse zurückgehenden Gutachten konnten hingegen nachweisen, daß jene von ihrem geringen Lohn Abgaben an die Rentenkasse leisten mußten und geleistet hatten. Da war die deutsche Bürokratie gründlich. Die Arbeit des Richters blieb nicht ganz erfolglos. »Nach meiner Einschätzung haben diese Gutachten nicht nur für die Fälle von Herrn von Renesse, sondern auch für die Beurteilung der tatsächlichen Lage in den Ghettos eine große Bedeutung gehabt. Ich habe begründeten Anlaß zu vermuten, daß sie deswegen auch eine wesentliche Bedeutung für die Kehrtwende der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hatten«, sagt der Bochumer Rechtsprofessor Wolfgang Meyer. Er bezieht sich damit auf ein Urteil des BSG vom Juli 2009, das die Durchsetzung der Rentenansprüche der Ghettoarbeiter erleichtert.
Geklagt hat der Holocaust-Überlebende Joseph Haber, dem die Rentenversicherung Rheinland-Pfalz diese Ansprüche jahrelang verweigert hatte. Ihm muß die Rente rückwirkend bis 1997 nachgezahlt werden. In ihrer Urteilsbegründung formulierten die BSG-Richter einige Leitlinien im Umgang mit den Rentenanträgen.
So wurde klargestellt, daß »Entgelt« für die Arbeit im Ghetto jegliche Entlohnung, ob in Geld oder Naturalien, sein könne. Auch ob
es direkt an den Betroffenen oder einen Dritten floß, sei unerheblich für den Rentenanspruch. Für sein Engagement bekam von Renesse viel Anerkennung. Der Präsident des Internationalen Ausschwitz-Komitees, Noah Flug, sagte über ihn: »Für die Überlebenden hat von Renesse viel Positives gemacht. Wir möchten, daß alle das anerkennen.« Davon kann zumindest
bei seinen Vorgesetzten keine Rede sein. Schon 2008 verfügte der damalige Vorsitzende der 8. Kammer des Landessozialgerichts in
NRW, Ulrich Freudenberg von Renesses Beweisanordnungen aufzuheben, als dieser einige Tage erkrankt war. Danach ordnete Freudenberg an, daß von Renesse ihn über jede Beweisanordnung vorher informieren müsse. Ein Richterkollege schrieb in einem Leserbrief an den »Spiegel«, die Verhältnisse in den Ghettos seien auch ohne von Renesses Gutachten bekannt gewesen, was bei Historikern und Überlebenden für Erstaunen sorgte. Schließlich wurde von Renesse an einen anderen Senat versetzt, wo er nicht mehr für die Ghettorentner zuständig ist. Seine Bewerbung um den Senatsvorsitz wurde abgelehnt.
In den sechziger Jahren hat der Jurist Fritz Bauer, der gegen den Widerstand der großen Mehrheit seiner Zunft den Auschwitz-Prozeß durchgesetzt hat, einmal gesagt, daß er Feindesland betritt, wenn er sein Büro verläßt. Mehr als 40 Jahre später feiert sich Deutschland gern als Weltmeister in Sachen Aufklärung der eigenen Vergangenheit. Doch wenn es um die Abwehr der Ansprüche von Menschen geht, die die deutsche Vernichtungspolitik überlebt haben und sich erdreisten, Anträge an die deutsche
Rentenkasse zu stellen, reagieren die Verantwortlichen wie zu Bauers Zeiten.

 Peter Nowak schrieb in KONKRET 8/10 über die Forderung nach einer Gedenkstätte auf dem Gelände
des Flughafens Tegel

aus: Konkret 6/2011

http://www.konkret-verlage.de/kvv/kh.php?jahr=2011&mon=06