Armut bekämpfen, statt Arme auszuspielen

Ein Bündnis von sozialen Initiativen fordert offensive Sozialpolitik

Nach dem vorläufigen Aufnahmestopp von Menschen ohne deutschen Pass bei der Essener Tafel (Wenn die „deutsche Oma“ gegen Arme ohne deutschen Pass ausgespielt wird) gab es viel Kritik aber auch Verständnis für die Maßnahme. Selbst Merkel meinte, sich dazu äußern müssen, und auch der Faschismusvorwurf wurde erhoben.

Bevor Ermüdungserscheinungen eintreten, bekam die Diskussion jetzt noch mal eine erfreuliche neue Richtung. Ein Bündnis von sozialen Initiativen initiierte einen Aufruf für einen Wandel der Sozialpolitik.

Dass Menschen, egal welcher Herkunft, überhaupt Leistungen der Tafeln in Anspruch nehmen müssten, sei Ausdruck politischen und sozialstaatlichen Versagens in diesem reichen Land, heißt es in der Erklärung, die u.a. vom DGB, der Nationalen Armutskonferenz, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem Sozialverband VdK Deutschland, dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter, dem Deutschen Kinderschutzbund, der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe und PRO ASYL unterzeichnet wurde.

„Sozialstaatliche Leistungen müssen dafür sorgen, dass für alle hier lebenden Menschen, gleich welcher Herkunft, das Existenzminimum sichergestellt ist. Es ist ein Skandal, dass die politisch Verantwortlichen das seit Jahren bestehende gravierende Armutsproblem verharmlosen und keine Maßnahmen zur Lösung einleiten. Damit drohen neue Verteilungskämpfe“, heißt es in dem Aufruf.

Damit werden die Verantwortlichen für die Misere genannt und dabei weder die unterschiedlichen Nutzer der Tafeln noch die Initiatoren der Tafeln verurteilt, sondern eine Politik, welche die Verarmung großer Teile der Bevölkerung in Kauf nimmt, was die „Vertafelung der Gesellschaft“ überhaupt nötig macht.

„Sozialpolitische Reformen der vergangenen Jahre hatten immer das Ziel, Mittel einzusparen“, erklärte Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz. Reichen seien Steuergeschenke gemacht worden, gleichzeitig habe man die Leistungen für Bedürftige zusammengekürzt. In der Folge sei die Konkurrenz der Menschen um die Mittel verschärft worden.

Heute beklagt die Politik, die den Sozialabbau herbeigeführt hat, die Entsolidarisierung der Gesellschaft.

Barbara Eschen

Die Verarmungspolitik hat einen Namen: Hartz-IV

Die Organisatoren machen auch deutlich, dass die politisch gewollte Verarmungspolitik einen langen Vorlauf hat, aber in dem Hartz IV-Programm kulminiert.

Um überleben zu können, waren immer mehr Menschen auf die Tafeln angewiesen. Da ist es besonders zynisch, dass der Alt-Sozialdemokrat und Lobbyist Claus Schmiedel in einem Interview in der Wochenzeitung Kontext erklärt.

Mit der Agenda und Gerhard Schröder haben wir 2005 noch einmal ein prächtiges Ergebnis bei der Bundestagswahl eingefahren.

Claus Schmiedel

So wie Schmiedel denken wahrscheinlich viele in der SPD, nur nicht alle werden es so offen aussprechen. Wenn eine Spätfolge der Essener Tafeldebatte dazu führt, diese Verarmungspolitik und die dafür Verantwortlichen in den Fokus zu nehmen, dann wäre das sehr positiv. Es gäbe viele Gründe weiterhin gegen die Vertafelung der Gesellschaft zu protestieren.

Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit der Essener Tafel wurde immer wieder betont, man dürfe die Menschen, die ehrenamtlich helfen wollen, nicht kritisieren. Natürlich geht es nicht darum, ihren guten Willen infrage zu stellen. Was aber sehr wohl not tut, ist die Kritik an einem bürgerlichen Philanthropismus, der von den gesellschaftlichen Ursachen der Verarmung und Verelendung nicht reden will und die Betroffenen nur als Bittsteller ansieht, die für jeden Bissen dankbar sein soll.

Wie schon Karl Marx den bürgerlichen Philanthropismus scharf kritisierte, so ist das heute auch wichtig. Nur noch wenige Organisationen wie Medico International kritisieren einen solch paternalistischen Ansatz von Hilfe und propagieren dagegen eine Unterstützung, die Menschen zu Selbstbewusstsein und Widerstand ermutigt.

Warum nicht die Tafeln nutzen, um mit den Menschen gemeinsame „Zahltage“ in Jobcentern zu machen, um ihre Rechte einzufordern, damit sie genug Geld haben, um Produkte ihrer Wahl zu kaufen? So würden sich die Tafeln selber überflüssig machen und das müsste ihre vornehmste Aufgabe für alle Menschen sein, wenn die Arbeit bei der Tafel wirklich gesellschaftlich etwas bewirken und nicht nur Armut verwalten und regulieren will.

https://www.heise.de/tp/features/Armut-bekaempfen-statt-Armut-auszuspielen-3988098.html

Peter Nowak
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[1] https://www.heise.de/tp/features/Wenn-die-deutsche-Oma-gegen-Arme-ohne-deutschen-Pass-ausgespielt-wird-3977708.html
[2] http://www.der-paritaetische.de/presse/buendnis-fordert-offensive-sozialpolitik-
armut-jetzt-bekaempfen
[3] http://infothek.paritaet.org/pid/fachinfos.nsf/0/
9ef8993719d83ff7c1258248002ebedd/$FILE/180306_pk_erklaerung.pdf
[4] https://www.kontextwochenzeitung.de/politik/361/gottes-segen-haelt-4945.html
[5] http://www.aktionsbuendnis20.de/
[6] https://www.medico.de
[7] http://de.labournet.tv/video/5879/zahltag-jobcenter-neukolln

Wenn die „deutsche Oma“ gegen Arme ohne deutschen Pass ausgespielt wird

Niemand soll auf Essenstafeln angewiesen sein, nicht der Mann aus Osteuropa, nicht das Kind aus Syrien und nicht die deutsche Oma. Ein Kommentar

In den letzen Tagen steht die Essener Tafel verstärkt im öffentlichen Interesse. Es geht um folgenden Passus:

Da Aufgrund der Flüchtlingszunahme in den letzten Jahre, der Anteil ausländischer Mitbürger bei unseren Kunden auf 75% angestiegen ist, sehen wir uns gezwungen, um eine vernünftige Integration zu gewährleisten, zurzeit nur Kunden mit deutschem Personalausweis aufzunehmen.

Essener Tafel

Unter der Schlagzeile „Hilfe nur für Deutsche“ kritisierten viele Medien diesen Aufnahmestopp für Nicht-Deutsche, die in der Erklärung der Essener Tafel korrekt als ausländische Mitbürger, bei vielen Kritikern aber fälschlicherweise oft als Migranten bezeichnet werden.

Dabei handelt es sich bei den nun Abgewiesenen oft um EU-Bürger aus osteuropäischen Ländern, die einfach ihr Recht auf Freizügigkeit im EU-Raum wahrnehmen.

„Wir wollen, dass auch die deutsche Oma weiter zu uns kommt“

Die Regelung, nur noch Menschen mit deutschem Pass aufzunehmen, ist übrigens schon 4 Wochen alt. Die zeitverzögerte Empörung setzte ein, nachdem eine Zeitung die Regelung aufgegriffen hat. Es folgte die übliche Kritik, dass es sich um Rassismus handelte und dass Arme gegen Arme ausgespielt werden.

Der Leiter der Essener Tafel Jörg Sator wies natürlich den Rassismusvorwurf zurück und begründete gegenüber der WAZ den Stopp für Menschen ohne deutschen Pass so:

Der Verein habe sich dazu gezwungen gesehen, weil Flüchtlinge und Zuwanderer zwischenzeitlich 75 Prozent der insgesamt 6000 Nutzer ausmachten, erklärt der Vorsitzende Jörg Sartor. „Wir wollen, dass auch die deutsche Oma weiter zu uns kommt.“

WAZ

Nun beschreibt der Tafelleiter hier durchaus zutreffend die Folgen einer Austeritätspolitik, die Kapitalisten den roten Teppich auslegt und mit der Politik der Agenda 2010 zur Verarmung großer Bevölkerungsteile vorangetrieben hat. Die Versorgung durch die Tafeln war da schon eingepreist. Durch die im Interesse der Wirtschaftsverbände durchgesetzte Schuldenbremse werden die letzten Reste des Sozialstaats demontiert.

Der soziale Wohnungsbau wurde schon längst abgeschafft. Diese Politik wurde in Deutschland umgesetzt, aber mit noch gravierenden Folgen auch in vielen Ländern Osteuropas. Mit dem Ende des fälschlich als Sozialismus bezeichneten Staatskapitalismus in Osteuropa wurde in vielen Ländern eine kapitalistische Schocktherapie durchgesetzt, die vielen Menschen nur die Alternative ließ, im EU-Hegemon Deutschland die Hoffnung auf ein etwas Besseres Leben zu suchen.

Allzu viele dieser Menschen landeten im Billiglohnsektor, manche blieben ganz auf der Straße und hoffen, mit dem täglichen Gang zur Tafel überleben zu können (zu den Tafeln siehe auch: Mein Reich komme: 25 Jahre Tafeln in Deutschland).

So schafft man eine multinationale Unterschicht, aus der sich immer willige Arbeitskräfte für deutsche Konzerne rekrutieren lassen. Es war die deutsche Politik, die sich innerhalb der EU dafür stark machte, dass nichtdeutsche EU-Bürger kein Hartz IV bekommen sollen.

Einige Initiativen wehrten sich dagegen. Doch die Empörung war längst nicht so groß wie jetzt nach der Entscheidung der Essener Tafel. Dabei sind es solche politischen Maßnahmen, die dafür sorgen, dass die Einkommensarmen gegeneinander ausgespielt werden.

Gegen die Vertafelung der Gesellschaft

Bei der Kritik an den Ausschlusskriterien wird vergessen, die kapitalistischen Zustände zu kritisieren, die die Existenz und den Boom der Tafeln überhaupt möglich machten. Zum 20ten Jahrestag der Tafeln erinnerten einige Initiativen noch daran, dass die Tafeln eine Konsequenz der politisch gewollten und vorangetriebenen Pauperisierung großer Teile der Gesellschaft waren.

„Armgespeist – 20 Jahre Tafeln sind genug“ lautete 2013 das Motto der Initiative Aktionsbuendnis20.de[10]. Leider fand diese Initiative keine Fortsetzung über den 20ten Jahrestag hinaus. Doch die Texte auf der noch immer existierenden Homepage liefern noch immer die zentralen Argumente gegen eine Politik, die Menschen zwingt, an Essenstafel ihr Überleben zu sichern. Die Organisatoren schlossen mit einem optimistischen Ausblick:

Unsere Sicht auf die zunehmende Vertafelung der Gesellschaft wird sich so weiter verbreiten, kritische Studien und alternative Deutungsangebote werden auch weiterhin im Tafelforum archiviert und auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung zur Zukunft des Sozialstaats und einem menschenwürdigen Leben für alle Bürger wird mit dem Ende dieses Jahres sicher nicht beendet sein.

Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln sind genug[11]

Doch leider existiert die genannte Homepage für das Tafelforum[12] nicht mehr. Dabei braucht es eine solche Stimme, die nicht nur kritisiert, dass jetzt Menschen ohne deutschen Pass nicht mehr zu einer Tafel zugelassen werden. Niemand soll auf Tafeln angewiesen sein, nicht der Mann aus Osteuropa, nicht das Kind aus Syrien und nicht die deutsche Oma. Das müsste die zivilisatorische Minimalforderung sein. So würden zumindest die Kritiker nicht ebenfalls diese Spaltung der Armen weiter vorantreiben.

In den USA kann man gut beobachten, wie nicht nur von rechten Kreisen bei der Dreamer-Debatte Einwanderer ohne US-Pass gegen arme US-Bürger ausgespielt werden. Das macht sich schon in den Begrifflichkeiten deutlich.

Auch die US-Bürger ohne Geld und Lohnarbeit haben Träume oder hatten sie zumindest, bis sie durch die Folgen einer Politik vielleicht zu träumen verlernt haben. Dann beginnt die Zeit des Ressentiments, wo Rassismus und rechte Ideologie um sich greifen.

Eine linke Politik muss wieder an die Träume von einem menschenwürdige Leben für alle ansetzen und deutlich machen, dass es auf Grund der Produktionsverhältnisse heute ohne weiteres möglich wäre und eben kein Traum bleiben würde .

Eine inklusive Politik wendet sich sowohl an die deutsche Oma als auch die Menschen, die wo auch immer sie her kommen, hier ein besseres Leben erhoffen. In einigen Städten gab es in den letzten Jahren Initiativen[13] wie das Projekt Shelter[14] oder die Berliner Erwecbsloseninitiative Basta[15], die soziale Rechte für alle einfordern.

Das wäre eine Gesellschaft in der auch die Essenstafeln abgeschafft sind – als Teil einer Gesellschaft, die Menschen pauperisiert und gegeneinander ausspielt. Die Kritik darf nicht erst dann einsetzen, wenn es von der Essener Tafel praktiziert wird.
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[5] https://www.waz.de/staedte/essen/die-essener-tafel-nimmt-zur-zeit-nur-noch-deutsche-auf-id213512021.html
[6] https://www.waz.de/staedte/essen/die-essener-tafel-nimmt-zur-zeit-nur-noch-deutsche-auf-id213512021.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Mein-Reich-komme-25-Jahre-Tafeln-in-Deutschland-3973388.html
[8] http://www.axelkrueger.info/html/leistungsanspruch_fur_eu-ausla.html
[9] http://efainfo.blogsport.de/
[10] http://www.aktionsbuendnis20.de/
[11] http://www.aktionsbuendnis20.de/
[12] http://www.tafelforum.de/
[13] https://socialcenter4all.blackblogs.org/konzept/
[14] http://projectshelterffm.tumblr.com/
[15] http://basta.blogsport.eu/kampagne/aktionen/