Was die deutsche Justiz über Jahrzehnte versäumte, kann nicht mehr nachgeholt wurden

Prozess gegen Ex-KZ-Sekretärin: Ist späte Gerechtigkeit überhaupt noch möglich

Wenn ein politischer und juristischer Wille vorhanden gewesen wäre, hätte man sie schon Ende der 1950er-Jahre anklagen können. Ihre Wohnadresse war immer bekannt und sie war zu dieser Zeit sogar von einem Gericht befragt worden, wo die Sekretärin ganz offen über ihre "Arbeit" berichtete. Damals wäre ein Verfahren gegen sie tatsächlich ein Stück Gerechtigkeit für die Opfer gewesen.

Dass im Jahr 2021 ein Prozess über die Verbrechen in Konzentrationslagern der Nazis noch einmal für weltweites Aufsehen sorgt, ist schon überraschend. Einen späten Akt der Gerechtigkeit nannte das Internationale Auschwitz-Komitee den Prozess gegen die …

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Robert Menasse und die Verteidigung der Nation

Doch die Konsequenz kann nicht ein Zurück zum Nationalismus sein, sondern eine Verbindung von Kritik an Staat, Kapital und Nation

Noch ist unklar, ob der Publizist Robert Menasse am 18. Januar tatsächlich wie geplant in Mainz die Carl Zuckmayer-Medaille verliehen bekommt. Denn laut taz [1] wird weiter geforscht, ob Menasse noch mehr Zitate kreativ erfunden hat.

Menasse muss schon sehr unter Druck stehen oder… „Robert Menasse und die Verteidigung der Nation“ weiterlesen

Symbolpolitik gegen Erdogan

Über die Todesstrafe darf die Türkei in Deutschland nicht abstimmen lassen, aber tödliche Waffen werden weiter in das Land exportiert

„Kassel entrüsten“ lautete das Motto einer symbolischen Aktion[1], mit der Antimilitaristen den Rüstungskonzern Krauss-Maffei Wegmann in Nordhessen mit selbstgebastelten Panzersperren blockierten. „Panzerhersteller beliefert Despoten und Regime in der ganzen Welt mit seinen Waffen, das wollen wir verhindern“, erklärte Simon Kiebel von der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen[2] zur Aktion.

Zu den bevorzugten Exportländern dieser Waffen gehört neben Katar die Türkei. Das dürfte manche wundern, die das Zerwürfnis zwischen der Erdogan-Türkei und Deutschland verfolgt haben. Dabei liefen die Militärgeschäfte auch in dieser angeblich so kritischen Phase in den deutsch-türkischen Beziehungen wie geschmiert weiter. Der Rüstungskonzern Rheinmetall hat bereits mit der Bundesregierung konferiert[3], damit die von ihm angepeilte Nachrüstung der Panzer der türkischen Armee nicht noch scheitert. Sogar eine Panzerfabrik will Rheinmetall in der Türkei errichten.

Wenn dann Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace in ihrer Pressemitteilung[4] die besondere moralische Verwerflichkeit der geplanten Investition darin entdecken, dass das Unternehmen der Erdogan-Familie nahesteht, wird das ganze Elend einer Position deutlich, die von Ökonomie- und Staatskritik nichts wissen will. Wäre die Panzerfabrik eher zu rechtfertigen, wenn die Unternehmen der Opposition nahestehen würden?

Dass es im Kapitalismus auch in der Türkei unter Erdogan um sachliche und nicht um personelle Beziehungen geht, auch wenn sich die Unternehmensführung natürlich in der Regel mit den jeweils Regierenden gutstellt, wenn die gute Profitbedingungen garantieren, wird bei einer solchen Kritik ausgeblendet. Das führt dazu, dass die Kritiker der Türkei meistens an die Bundesregierung appellieren können, Erdogan klare Kante zu zeigen und die meistens die Forderungen schon längst erfüllt hat. Denn es geht in der Regel um Symbolpolitik.

Der Flüchtlingsdeal, an dem die türkische Regierung genau so großes Interesse hat wie die deutsche, wie auch die Rüstungsgeschäfte und die Kooperation mit dem türkischen Militär im Rahmen der NATO gehen natürlich weiter. Schließlich war auch nach dem Militärputsch von 1980, bei dem die Repression gegen die türkische Opposition wesentlich blutiger war als unter Erdogan, der Natoausschluss kein Thema. Im Gegenteil: Die Nato hat mit Befriedigung gesehen, dass Friedhofsruhe in dem Land am Bosporus gewaltsam hergestellt wurde, manche sprechen sogar zugespitzt vom Nato-Putsch[5].

Wie Deutschland die Todesstrafe verabscheuen lernte

Die jüngste Volte in der medial ausgetragenen Fehde ist die Erklärung der Bundesregierung, wonach in Deutschland lebende türkische Staatsbürger über die Wiedereinführung der Todesstrafe hierzulande nicht abstimmen dürfen. Nun steht das Thema zurzeit gar nicht auf der Agenda. Erdogan hatte mehrmals angedroht, ein Referendum gegen die Todesstrafe anzuberaumen. Es gab aber bisher keine konkrete Vorbereitung dazu. Manche politische Analysten bezweifeln, ob es dazu kommt.

Damit würden die Spannungen mit der EU weiterwachsen und alle Verhandlungen storniert. Es gibt aber durchaus Anzeichen, dass die türkische Regierung einen totalen Bruch mit der EU vermeiden und die bisherige Schaukelpolitik fortsetzen will. Zudem ist nach dem trotz massiven Druck und dem vielleicht sogar unregelmäßigen, knappen Ausgang des Referendums unklar, ob Erdogan für die Einführung der Todesstrafe eine Mehrheit bekommen würde. Es könnte allerdings sein, dass die Zustimmung wächst, wenn die Terrorismushysterie weiter angeheizt wird.

Jedenfalls handelt es sich um keine aktuelle Entscheidung. So diente das prophylaktische Verbot des Referendums über die Todesstrafe vor allem der Selbstinszenierung Deutschlands als aufgeklärte Nation. Dass die Todesstrafe generell mit europäischen Werten nicht übereinstimmt, ist eher eine Behauptung. In Frankreich wurde die Todesstrafe erst 1981 nach dem Wahlsieg der Linkskoalition abgeschafft. In Großbritannien wurde gegen heftigen Widerstand großer Teile der Tories die Todesstrafe abgeschafft, nachdem sie vorher für 5 Jahre ausgesetzt war[6].

Auch hier war die Labour Party der eigentliche Motor. Das macht deutlich, dass der Kampf gegen die Todesstrafe historisch ein Thema der Linken war, während große Teile der Konservativen das Recht auf staatliches Töten nicht aus der Hand geben wollten. In der Linken gab es zu dem Zeitpunkt eine Zäsur, als die auf einen Staatssozialismus fixierte Fraktion die staatliche Repression einschließlich der Todesstrafe in der immer autoritärer werdenden Sowjetunion verteidigte.

Auch in Deutschland war der Kampf gegen die Todesstrafe ein linkes Thema, bis zum Ende des Nationalsozialismus. In einer auf historische Themen spezialisierte Onlineplattform[7] ist zu lesen:

Im Parlamentarischen Rat der Jahre 1948/49 waren die Vorzeichen zunächst umgekehrt: Denn plötzlich stand die unausgesprochene Frage im Raum, wie mit deutschen Kriegsverbrechern verfahren werden sollte. So schlug ausgerechnet der rechtsgerichtete Abgeordnete Hans-Christoph Seebohm vor, ein Verbot der Todesstrafe in der neuen Verfassung zu verankern. Seine „Deutsche Partei“ begriff sich als Interessenvertretung der ehemaligen Nationalsozialisten. Die SPD-Abgeordneten jedoch zögerten, wollten sie doch keineswegs der Bestrafung von Kriegsverbrechern Grenzen setzen. Letztlich setzte sich aber bei den SPD-Abgeordneten die Haltung durch, die Ablehnung der Todesstrafe sei ein wichtiges Element der Abkehr von der NS-Barbarei. Am 6. Mai 1949 wurde trotz Einwände der CDU-Abgeordneten mit deutlicher Mehrheit ein knapper und klarer Satz als Artikel 102 ins Grundgesetz aufgenommen: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“.
Historeo[8]

Die Maßnahme mit der hohe NS-Täter vor der Hinrichtung bewahrt werden wollte, sollte sich bald für die BRD auszahlen. Da das Land früher als andere westeuropäische Nachbarn die staatliche Hinrichtung abgeschafft hatte, konnte sie jetzt als Vorbild für andere Länder inner- und außerhalb der EU fungieren. Auch Israel blieb natürlich nicht von dem neudeutschen Sendungsbewusstsein verschont.

Nachdem die israelische Justiz des für die Shoah verantwortlichen Adolf Eichmann habhaft werden konnte und die Justiz des Landes zu dem Schluss kam, dass für seine Verbrechen nur die Todesstrafe in Frage kommt, konnte sich Westdeutschland schon als moralische Instanz aufspielen, die aus der Geschichte gelernt und deshalb die Todesstrafe abgeschafft hat.

Hier nahm die Erzählung vom zivilisierten Deutschland, das aus seinen Verbrechen gelernt hat, Konturen an. Dass Eichmann von führenden deutschen Sicherheitsdiensten und Politikern gedeckt und der zuständige antifaschistische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit gutem Grund eher auf die israelische als auf die deutsche Justiz vertraute[9], wurde natürlich nicht erwähnt.

Dieser kleine historische Diskurs scheint mir notwendig, weil diese Aspekte völlig ausgeblendet werden, wenn sich die Bundesregierung heute den Kampf gegen die Todesstrafe zu ihren Markenzeichen macht.



„Die Nazis hatten den Leichen keine Nummern aufgemalt“

Wie stark die NS-Vergangenheit auch in die neudeutsche Menschenrechtspolitik hineinwirkt, zeigt sich bei der Berichterstattung über Ermittlungen der deutschen Justiz über angebliche Verbrechen des syrischen Regimes. Der Streit über die Glaubwürdigkeit der Quellen[10] soll hier einmal ausgespart bleiben. Doch frappierend ist, dass die Analogie zu den NS-Verbrechen gezogen wird und sogar die Nazis im Ergebnis noch etwas besser wegkommen. So heißt es in einen Bericht der eng mit syrischen Oppositionellen verbundenen Soziologin Kirsten Helberg in der Taz[11]:

Die Kommission für Internationale Gerechtigkeit und Verantwortung (CIJA) hat etwa eine Million syrischer Dokumente gesichert, die Befehlsketten und Verantwortlichkeiten beweisen. Und auch die Caesar-Fotos führen direkt zu Regime-Vertretern. Denn an den Leichen der Gefangenen sind Nummern angebracht. „Unglaublich“ findet das der ehemalige Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda, Stephen Rapp. „Wir hatten keine Beweismittel in Form von Dokumenten wie in Syrien“, so Rapp. Selbst in Nürnberg habe es das nicht gegeben.
Kirsten Helberg[12]

Es soll nun keineswegs in Abrede gestellt werden, dass syrische Oppositionelle das Recht haben, Verbrechen des Regimes auch im Ausland untersuchen zu lassen. Dass aber ein deutscher Ermittler sofort auf die Naziverbrechen rekurriert, zeigt eben wie eng noch nach 70 Jahren in die aktuelle deutschen Menschenrechtspolitik das Bestreben eingeschrieben ist, deutlich zu machen, dass andere mindestens genau so wüten, wie es die Nazis getan haben.

Auch das Erdogan-Regime wird schon mal mit den Nazis verglichen. Wenn hingegen Erdogan und seine Adepten den Nazivorwurf gegen Deutschland erheben, ist die Empörung groß. Wenn dann noch ein Großteil, aber keineswegs die Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen mit türkischem Pass, beim Referendum für Erdogans Staatsprojekt stimmen, wird deren Demokratiefähigkeit bezweifelt. Manche haben gar dieses Wahlergebnis zum Anlass genommen, um die doppelte Staatsbürgerschaft zu bekämpfen.

Nur in den deutschen Verhältnissen sucht kaum jemand die Ursachen für das Ergebnis. Sie hätten vielleicht mal das Theaterstück NSU-Monologe[13] hören sollen, das auf langen Interviews von drei nahen Angehörigen von NSU-Opfern beruht. Sie beschreiben sehr eindrücklich, wie sie alle von den deutschen Behörden als Täter behandelt wurden, wie gegen sie ermittelt wird und ihre Nachbarn über sie ausgefragt wurden. Ist es verwunderlich, dass alle drei berichteten, dass es ihnen wichtig war, ihre ermordeten Angehörigen in der Türkei zu beerdigen? Auf einem mehrtätigen Tribunal[14] werden die Opfer darüber berichten.

https://www.heise.de/tp/features/Symbolpolitik-gegen-Erdogan-3713702.html
Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.dfg-vk.de/stoppt-den-waffenhandel/ruestungskonzern-mit-panzersperren-blockiert
[2] https://www.dfg-vk.de
[3] http://www.presseportal.de/pm/30621/3630701
[4] https://www.greenpeace-magazin.de/nachrichtenarchiv/deutsche-panzer-fuer-erdogan-rheinmetall-will-der-tuerkei-eine-fabrik-bauen
[5] http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Tuerkei/30jahre-putsch.html
[6] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45234182.html
[7] http://www.historeo.de/datum/todesstrafe-in-deutschland-debatte-1952
[8] http://www.historeo.de/datum/todesstrafe-in-deutschland-debatte-1952
[9] http://www.zeit.de/kultur/film/2015-09/staat-gegen-fritz-bauer-lars-kraume
[10] https://www.heise.de/tp/features/Folter-und-Hinrichtungen-AI-erhebt-schwere-Vorwuerfe-gegen-syrische-Regierung-3619601.html
[11] https://www.taz.de/Berichte-von-syrischen-Folteropfern/!5406173/
[12] https://www.taz.de/Berichte-von-syrischen-Folteropfern/!5406173/
[13] https://heimathafen-neukoelln.de/spielplan?url=DieNSUMonologe
[14] http://www.nsu-tribunal.de/

Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts und die deutsche Politik

Der Bundestag will den Völkermord an den Armeniern verurteilen, der zuvor von Deutschen begangene an Hereros und Nama in Namibia wird weiter geleugnet

Seit Tagen sorgt der Aufklärungseifer eines Genozids für politische Verstimmungen. Der Bundestag will den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts in einer Resolution eindeutig verurteilen, so heißt es in allen Medien. Die Türkei reagiert mit scharfer Kritik. Denn es handelt es sich um die Massaker an den Armeniern durch von der deutschen Politik unterstützte türkische Nationalisten.

Hier will der angebliche Aufarbeitungsweltmeister Deutschland wieder einmal aller Welt die Überlegenheit vorführen. Tatsächlich hat Deutschland sicher viele neidische Blicke auf sich gezogen, weil es noch die blutigste Vergangenheit so bewältigen kann, dass es seinen eigenen Interessen nützt. Das wurde spätestens beim Jugoslawienkrieg deutlich, als die damalige rot-grüne Regierung ihr militärisches Eingreifen mit Auschwitz begründet hat.

Doch die Aufklärungsbereitschaft der eigenen Verbrechensgeschichte stößt an Grenzen, wenn es um die deutsche Kolonialgeschichte und die damit verbundenen Massaker geht. So konnte die für Deutschland peinliche Situation entstehen, dass die Opferverbände des tatsächlich ersten Genozids im 20. Jahrhunderts juristisch gegen die Bundesrepublik Deutschland vorgehen.

Verbände der Hereros und Nama, deren Vorfahren in den Jahren 1904 bis 1908 zu den Tausenden Opfern gehörten, für die die deutsche Kolonialarmee unter Führung von Generalleutnant Lothar von Trotha die Verantwortung trägt, haben vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht. So könnte ein Stück deutscher Verbrechensgeschichte nach mehr als 100 Jahren noch einmal die Öffentlichkeit beschäftigen.

Gefangene Herero in Ketten. Bild: Unbekannt/Ullstein Bilderdienst/gemeinfrei

Wer nicht erschossen wurde, verdurstete in der wasserlosen Wüste, in die sie von den deutschen Kolonialtruppen gejagt wurden. Der schriftliche Befehl für die Morde liegt vor. „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen“, dekretierte der Kolonialmilitär eine Politik, die in Grundzügen schon die NS-Vernichtungspolitik vorweggenommen hatte.

So mussten gefangene Aufständische in eigens eingerichteten Konzentrationslagern vegetieren und bei schlechter Ernährung schwere Zwangsarbeit verrichten. Die Sterberate war immens hoch. Da ähnliche Konzentrationslager einige Jahre zuvor bereits von Kolonialpolitikern aus Großbritannien errichtet wurden, macht nur noch einmal deutlich, dass eine solche Unterdrückungspolitik Kennzeichen des Kolonialismus war. Es war nun das Spezifikum des Nationalsozialismus, solche Methoden nicht mehr nur in den Kolonialgebieten, sondern im Kernland anzuwenden und terroristisch zu verschärfen. Eigentlich wäre das doch eine erneute Gelegenheit für den Aufarbeitungsweltmeister Deutschland, sich in der Praxis zu bewähren.

Die deutsche Verbrechensgeschichte wurde an den Rand gedrängt

Doch die Realität sah ganz anders aus. Als Bundeskanzler Kohl als erster deutscher Regierungschef Namibia besuchte, das sich auf dem Territorium der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika befindet, ging es um Geschäfts- und Wirtschaftsbeziehungen. Die deutsche Verbrechensgeschichte wurde an den Rand gedrängt.

Die offizielle Position der deutschen Regierung war ganz eindeutig. Man bedauerte die Geschehnisse, aber leider könne man keine Verantwortung für Ereignisse nehmen, die während der deutschen Kolonialzeit geschehen sind. Explizit abgelegt wurde aber eine Klassifizierung der Massaker als Völkermord mit der Begründung, die UN-Völkermordkonvention würde nicht rückwirkend gelten. So hieß es noch 2012 in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion: „Bewertungen historischer Ereignisse unter Anwendung völkerrechtlicher Bestimmungen, die im Zeitpunkt der Ereignisse weder für die Bundesrepublik Deutschland noch für irgendeinen anderen Staat in Kraft waren, werden von der Bundesregierung nicht vorgenommen.“

Die Kasse bleibt zu

Während sich die sozialdemokratische Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek Zeul zum 100. Jahrestag des Massakers im Jahr 2004 bei den Nachkommen der Opfer entschuldigte, vermied sie es, den Begriff Völkermord zu verwenden. Der Grund war klar, man wollte vermeiden, dass über Entschädigungen und Reparationen geredet werden muss.

Erst im letzten Jahr sprach mit dem christdemokratischen Bundestagspräsidenten Norbert Lammers in einem Interview mit der „Zeit“ erstmals ein führender deutscher Politiker von einen Völkermord an den Herero, der von deutschen Militärs verübt wurde.

Doch deutsche Politiker weigerten sich weiterhin, direkt mit den Opferverbänden der Herero und Nama in Gespräche über Reparationen zu treten. Leidglich die namibische Regierung wurde als Gesprächspartner anerkannt. Damit wurde ein Beschluss des Parlaments von Namibia ignoriert, der Gespräche mit der deutschen und namibischen Regierung und den Opferverbänden forderte. „Wir haben nun nach langen Überlegungen beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen“, wird der Sprecher der Ovaherero Stammesbehörde Bob Kandetu in der deutschsprachigen namibischen „Allgemeinen Zeitung“ zitiert.

Die Taktik des Aufarbeitungsweltmeisters Deutschland, nur so viel von der eigenen Verbrechensgeschichte offen zu machen, wie nicht mehr verschwiegen werden kann, und Reparationen und Entschädigungen möglichst lange hinauszuzögern, wird nicht nur im Fall der Herero und Nama angewandt. So ging die deutsche Politik auch vor, als es um die Entschädigung der Zwangsarbeiter im NS ging. So ging sie bei den überlebenden Ghettorentnern vor, die über Jahre dafür kämpfen mussten, dass sie im Alter die Rente bekommen, für die sie im NS zwangsweise eingezahlt hatten. Man zog die Entscheidung solange heraus, bis ein großer Teil der Betroffenen gestorben war.

Der Sozialrichter Jan Robert-von Renesse, der ehemaligen Ghettoarbeitern unbürokratisch zu ihren Renten verholfen hatte, wurde von den eigenen Kollegen gemobbt und mit Klagen überzogen. Da werden Erinnerungen an die 1960er Jahre wach, als der ehemalige Staatsanwalt Fritz Bauer, der als NS-Gegner die Anklagen gegen Nazitäter vorantrieb, erklärte, dass er sich in Feindesland bewege, wenn er sein Büro verlasse.

Es gehört zur Chuzpe der deutschen Politik, sich mit dieser Praxis trotzdem als Aufklärungsweltmeister mit Sendungsbewusstsein präsentieren zu können. Wenn nun Anfang Juni der deutsche Bundestag den angeblich ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts in die Türkei verlegt, ist das sogar eindeutiger Geschichtsrevisionismus und ein Schlag ins Gesicht der Opferverbände der Herero und Nama. Wird ihnen doch damit signalisiert, dass ihre Vorfahren keine Opfer eines Völkermords gewesen sein sollen.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48310/1.html

Peter Nowak