„Oury Jalloh, das war Mord!“

Ein beispielloser deutscher Justizskandal: Ein Mann wird in einer Polizeizelle verbrannt und niemanden interessiert es

Es war ein massiver Polizeieinsatz im Januar 2012, der aber nur in einer kleinen politischen Szene wahrgenommen wurde. Es waren vor allem Migranten aus Afrika, die wie jedes Jahr am 7. Januar auf die Straße gegangen sind, um am Todestag ihres Freundes und Bekannten Oury Jalloh zu gedenken. Jalloh war am 7.Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannt.

Für die Polizei stand sofort fest, der Tote hat die Zelle selbst in Brand gesetzt. Ein kleiner Kreis von Jallohs Freunden und Bekannten wollte sich damit aber nicht zufriedengeben. Immer zum Todestag gingen sie in Dessau auf die Straße. Was 2012 geschehen ist, beschrieb die Initiative so:

Anlässlich des 7.Todestags von Oury Jalloh gab es am Sonnabend, den 7. Januar 2012, eine Gedenkdemonstration in Dessau. Im Laufe dieses Tages gab es vielfache, von der Polizei strategisch im Voraus geplante Übergriffe – explizit auf afrikanische Aktivistinnen der Initiative und ihre Unterstützer. Zwei Tage zuvor hatten Polizeibeamte Mouctar Bah in seinem Laden in Dessau aufgesucht und verkündet, die Initiative habe Meinungen wie „Oury Jalloh, das war Mord!“ zu unterlassen, sie unterstellten einen Straftatbestand. Mouctar Bah weigerte sich, sich der Drohung zu beugen.

Am Gedenktag selbst, und noch bevor die Demonstration von den 250 Teilnehmenden eröffnet wurde, kam es zu Übergriffen seitens der Polizeibeamten, die Aktivisten aus der Menge herausgriffen, Pfefferspray sprühten und mehrere Menschen stark verletzten. Einige Transparente und Schilder wurden den Demonstrierenden gewaltsam entrissen. Als die Demonstration schließlich los gehen sollte, haben die Versammlungsbehörde und die Polizei die Teilnehmenden über eine Stunde davon abgehalten, ihr Versammlungsrecht wahrzunehmen und das Recht auf freie Meinungsäußerung rechtswidrig unterbunden. All dies wurde mit damit begründet, die Parole „Oury Jalloh, das war Mord!“ stelle einen Straftatbestand dar.

Initiative Oury Jalloh

Es sollte noch häufiger vorkommen, dass Demonstrationen wegen Transparenten mit der Parole „Oury Jalloh, das war Mord“ angehalten wurden und es gab häufiger Strafbefehle gegen Menschen, die sie getragen oder gerufen haben. Und nun haben sich den Inhalt dieser inkriminierten und kriminalisierten Parolen nicht nur zahlreiche Feuer- und Brandexperten zu eigen gemacht.

Auch der Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann geht mittlerweile von einem begründeten Mordverdacht im Fall Oury Jalloh aus. Das ist besonders brisant, weil Bittmann seit Jahren den ungeklärten Todesfall bearbeitet und lange Zeit ein Anhänger der offiziellen Version war, wonach Oury Jalloh die Zelle selber in Brand gesetzt hat. Von daher ist die Schlagzeile von ARD-Monitor berechtigt, wo von einer „dramatischen Wende im Fall Oury Jalloh“ berichtet wurde.

Aufklärung über Spendensammlungen für Gutachten

Eigentlich ist der Fall ein beispielloser Justizskandal. Denn schon im April 2017 hatte der Dessauer Staatsanwalt in einem Brief geschrieben, dass er nun mehr nicht mehr von einer Selbsttötung Jallohs ausgeht. Dazu gebracht haben ihn die Ergebnisse von Gutachten, die internationale Brandexperten erstellt haben.

Die wurden aber nicht etwa von den zuständigen Ermittlungsbehörden beauftragt, die ja eigentlich dazu verpflichtet wären zu ermitteln, warum Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle verbrennen konnte. Doch für die Behörden war ja längst klar, dass nur der Getötete selber schuld sein kann.

Es war die schon erwähnte Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh, die durch Spendensammlungen das Geld aufbrachte, um diese Gutachten erstellen zu lassen, und sie mussten dann auch dafür sorgen, dass die Ergebnisse in einer größeren Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen wurden.

Es waren die Freunde und Bekannten Oury Jallohs sowie seine Angehörigen, die die offizielle Version anzweifelten. Ihnen zur Seite stand ein kleiner Kreis von Unterstützern aus Deutschland. Sie wurden angefeindet, nicht nur, weil sie die kriminalisierte Parole „Oury Jalloh, das war Mord“ verwendeten. Sie wurden wahrheitswidrig mit Drogenhandel in Verbindung gebracht.

Einem engen Freund von Oury Jalloh, der sich von Anfang in der Initiative zur Aufklärung seines Todes engagierte, wurde unter falschen Behauptungen die Lizenz zur Betreibung eines Internetcafés entzogen. Der Laden war in Dessau der wichtige Treffpunkt für den kleinen Kreis von Leuten geworden, die sich nicht mit der offiziellen Version zum Tod von Oury Jalloh zufriedengeben wollten.

Nun könnte man denken, am Ende wurde ja alles gut. Die Initiative hat unter widrigen Umständen ihren Kampf nicht aufgegeben und konnte sogar den leitenden Ermittler überzeugen.

Leitender Ermittler abgezogen, als er offizielle Version in Frage stellte

Doch hier setzt sich der Justizskandal fort und selbst langjährige Kritiker der deutschen Verhältnisse müssen feststellen, dass die Realität meistens noch die pessimistischen Szenarien übertrifft. Denn der Dessauer Staatsanwalt wurde just dann von dem Fall abgezogen, als er sich davon überzeugt hatte, dass die offizielle Version der Todesumstände von Oury Jalloh nicht zu halten ist.

Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft von Halle und die sieht in den neuen Gutachten keine neuen Erkenntnisse und will den Fall endgültig zu den Akten legen. Es wäre nicht ungewöhnlich, dass unterschiedliche Staatsanwaltschaften zu unterschiedlichen Auffassungen kommen, sagte eine Sprecherin der Justiz in Halle. Diese Aussage ist an Perfidie schwerlich zu toppen. Da wird die Frage, ob ein wehrloser Mann in einer Polizeizelle verbrannt wurde, zur Frage von unterschiedlichen Wertungen.

Untersuchung unter internationaler Beteiligung

Das Vorgehen der Justiz in diesem Fall müsste eigentlich zu einem massiven Aufruhr der zivilgesellschaftlichen Kräfte in Deutschland führen. Diejenigen, denen Menschenrechte über Sonntagsreden hinaus wichtig sind, müssten eine Untersuchungskommission mit internationaler Beteiligung fordern, die sämtliche für den Fall relevanten Gutachten auswerten und weitere Expertisen in Auftrag geben kann, wenn weitere Fragen geklärt werden müssen.

Die Rolle der deutschen Justiz und Politik sollte untersucht werden. Es wäre zu fragen, warum über Jahre versucht wurde, alle Indizien zu negieren, die gegen die offizielle Version der Todesumstände von Oury Jalloh vorgebracht wurden. Dazu gehört der Umstand, dass schon einige Jahre vor dem Tod von Oury Jalloh, ein wohnungsloser Mann in der gleichen Zelle unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen ist.

Auch bei dessen Tod waren Polizisten und der Polizeiarzt anwesend, der auch am Todestag von Oury Jalloh präsent war. Da sind die offen rassistischen Äußerungen des Arztes, die auf einem Mitschnitt zu hören sind, bevor er Oury Jalloh Blut abnimmt. Da ist der von den Polizisten abgestellte Lautsprecher, über den Oury Jalloh um Hilfe rief und da ist vor allem das Feuerzeug, mit dem der Tote den Brand selber gelegt haben soll.

Doch zuvor war es gründlich untersucht wurden und die Gutachter erklären, es wurde erst nachträglich in die Zelle gebracht. Das ist nur ein Teil der offenen Fragen, die die Justiz ignorierte und die durch die Gedenkinitiative weiterhin gestellt wurden.

Vom NSU zu Oury Jalloh

Die noch bestehende Zivilgesellschaft sollte die Vorstellung, dass in einer Polizeizelle in Deutschland ein Mensch getötet werden kann, nicht als Verschwörungstheorie abtun, sondern sich fragen, wie sie darauf reagiert.

Wenn nun der Fall Oury Jalloh tatsächlich zu den Akten gelegt wird, und sich höchstens ein paar tausend Menschen aufregen, während die Aufmerksamkeit sonst beim Geplänkel der künftigen Koalitionen liegt, dann ist das ein Signal, dass in Deutschland auch unter Polizeiaufsicht kriminelle Taten begangen werden können, denen nicht nachgegangen wird.

Soll das zur Gewohnheit werden? Schließlich haben wir ja beim NSU-Komplex erlebt, wie die Angehörigen der Opfer verzweifelt forderten: Ermittelt im rechten Milieu! „Kein 10. Opfer!“, lautete ihre Parole auf Demonstrationen im Jahr 2006.

Stattdessen wurden sie verdächtigt, verleumdet und überwacht – genau wie die Freunde von Oury Jalloh. Und nachdem sich der NSU vier Jahre später selber aufdeckte, wird bis heute verhindert, dass die Frage, wieviel Staat steckt im NSU, aufgearbeitet wird. Das lässt sich besonders gut an der Personalie des Verfassungsschützers Andreas Temme ablesen.

Zurzeit kann man im Rahmen der Kunstausstellung Herbstsalon in Berlin einige Installationen zum NSU-Komplex zu sehen. Darunter auch eine Arbeit der Gruppe Forensic Architecture von der Londoner Goldsmith University, die nachgeforscht haben, was in den entscheidenden 9 Minuten und 26 Sekunden geschehen ist, als in einem Kasseler Internetcafé Halit Özgat am 6.April 2006 erschossen wurde, während Temme Gast in dem Café war.

Das Resultat der Forscher lautet, Temme muss den Mord bemerkt haben. Die aufwendige Untersuchung erfolgte ebenfalls nicht durch die Justiz, sondern durch die Initiative NSU-Komplex auflösen und die Ergebnisse werden von der deutschen Justiz weiter ignoriert.

https://www.heise.de/tp/features/Oury-Jalloh-das-war-Mord-3893511.html

Peter Nowak

http://www.heise.de/-3893511

Links in diesem Artikel:
[1] https://initiativeouryjalloh.wordpress.com
[2] http://www.sozonline.de/2012/02/oury-jalloh-das-war-mord
[3] http://www1.wdr.de/daserste/monitor/extras/pressemeldung-oury-jalloh-100.html
[4] http://www.sueddeutsche.de/panorama/zehn-jahre-nach-verbrennungstod-in-dessau-ich-vertraue-der-justiz-nicht-mehr-1.22922
[5] https://www.nsu-watch.info/2014/01/kein-10-opfer-kurzfilm-ueber-die-schweigemaersche-in-kassel-und-dortmund-im-maijuni-2006
[6] http://www.taz.de/!420305/
[7] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-04/nsu-mord-kassel-andreas-temme-verfassungsschutz-halit-yozgat/seite-2)
[8] http://www.berliner-herbstsalon.de/dritter-berliner-herbstsalon
[9] http://www.forensic-architecture.org
[10] http://www.forensic-architecture.org
[11] http://www.forensic-architecture.org/case/77sqm_926min/
[12] http://www.nsu-tribunal.de

Das migrantische Leben lässt sich nicht vertreiben Deutschland

Gespräch mit Ayşe Güleç zum Tribunal »NSU-Komplex« auflösen

Interview: Peter Nowak
Vom 17. bis 21. Mai 2017 wird in Köln-Mühlheim das Tribunal NSU-Komplex auflösen in direkter Nähe zur Keupstraße stattfinden – dort, wo der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) im Jahr 2004 mit einer Nagelbombe die ganze Keupstraße,
stellvertretend für die Gesellschaft der Vielen, angriff. Ayşe Güleç ist in der Initiative 6. April und in der Koordinierungsgruppe
für das NSU-Tribunal aktiv.

Es gab mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die sich mit dem NSU befassten. Warum noch ein NSUTribunal?
Ayşe Güleç: Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse (PUA) auf der Landesebene sind recht unterschiedlich. Deren Arbeit und Untersuchungsresultate hängen meist vom politischen Willen Einzelner ab und davon, ob und wie sich diese mit behördlichen Auslassungen, Versäumnissen und Fehlern im Kontext NSU-Komplex befassen. Insbesondere durch die Arbeit der PUA Thüringen und durch den Untersuchungsausschuss des Bundes wurden Versäumnisse und die rassistische Grundhaltung in den Sicherheitsbehörden öffentlich. Das Tribunal NSU-Komplex auflösen ist eine Bewegung und eine bundesweite Allianz und Zusammenarbeit von Betroffenen, Einzelpersonen aus Film, Kunst, Aktivismus, Rassismusforschung und anti-rassistischen
Initiativen. Ich sehe das Tribunal als eine gesellschaftlich-politische Notwendigkeit, die längst fällig ist. Es will und kann
nicht Sicherheitsbehörden verbessern durch Reformen, sondern wird den strukturellen Rassismus, der sich im NSU-Komplex offenlegt, in den verschiedenen institutionellen Facetten aufzeigen und anklagen. Die Erzählungen und das Wissen der durch den NSU-Komplex Getroffenen werden ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt. Von diesem migrantisch situierten Wissen der Angehörigen der Mordopfer sowie der Überlebenden des Nagelbombenanschlags können wir alle lernen.

Wie lange wird dieses Tribunal schon vorbereitet und was soll dort passieren?
Nach dem Öffentlichwerden des sogenannten NSU entstanden in vielen Städten Initiativen, die Verbindungen zu den Betroffenen aufbauten. Schnell fanden diese Initiativen zueinander und setzten als buaündnis verschiedene m: Straßen wurden nach den Mordopfern umbenannt, um ihre Namen medial in die Öffentlichkeit und ins Bewusstsein zu bringen, gemeinsam begleiteten wir die Betroffenen der Nagelbombe zum Prozess nach München und sorgten für Aufmerksamkeit, damit ihre Zeugenschaft eine breite Öffentlichkeit bekommt. Das führte uns zu der Idee für das Tribunal. Nach kurzer Zeit ist die Vorbereitungsgruppe des Tribunals auf eine große Allianz von über 100 Menschen angewachsen. Mit dem Tribunal geht es uns darum, die verschiedenen institutionellen Bestandteile und deren Wirkmechanismen aufzufächern, um die Verantwortlichen und Institutionen anzuklagen, die darin gehandelt haben. Denn bisher gab es nur zögerliche Affekte auf die Taten, Täterinnen und Täter. Das Tribunal Betroffenen.

Die Frage, wie Geheimdienste im NSU verstrickt waren, spielte in der Diskussion eine große Rolle. Soll das Thema auch auf dem Tribunal im Vordergrund stehen?
Inzwischen wissen wir alle, dass die Geheimdienste eines der wesentlichen Bestandteile des NSU-Komplexes sind. Deutlich wird dies beispielsweise an dem Mord an Halit Yozgat – dem jüngsten und neunten Opfer der rassistisch motivierten Mordserie des NSU. Während der Mordzeit befand sich der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme im Internet-Café. Er behauptete lange Zeit, dass er nichts gesehen, nichts gehört und auch sonst nichts bemerkt habe. Die Familie Yozgat hingegen hat jahrelang Temmes Ungereimtheiten thematisiert und gefolgert, dass er entweder lügt, die Mörder kennt und diese deckt oder er
elbst Halit ermordet hat. Wir wissen alle auch, dass der Quellenschutz vorgeschoben wurde und Temmes Neo-Nazi V-Mann nicht verhört werden konnte. Wir waren und sind alle Zeuginnen und Zeugen: Über viele Jahre wird von politischen Instanzen versucht, die Beteiligung des Staates rauszuhalten. Die Ermittlungsbehörden setzten die Angehörigen von Enver Şimşek, Abdurahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Teodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat unter Druck, beschuldigten und kriminalisierten sie über viele Jahre. Sie wirkten und wirken daran, dass das Wissen der Angehörigen der Mordopfer sowie der Überlebenden der Bombenanschläge über Jahre nicht hörbar war. Stattdessen wurden die Betroffenen öffentlich verdächtigt, kriminalisiert und beschuldigt, wurden wie Täter behandelt. Die Welt der Ermittler bestand aus Phantasmen: Sie nutzten Fotografien einer blonden Frau, um drei trauernden Witwen ein erfundenes Doppelleben ihrer ermordeten Ehemänner zu beweisen. Wie wanderten diese Fotografien von dem einen Beamten zu dem nächsten? Wer schrieb die Nutzungsanleitung für diese Vernehmungen? Diesen rassistischen Ermittlungsmethoden folgten ebensolche Medienberichte. Aus dem Wissen und den Erfahrungen der direkt Betroffenen ist abzuleiten, was wir alle gemeinsam beklagen, was wir anklagen
und was wir daraus für die Zukunft als Konsequenzen fordern müssen.

Noch immer kämpfen Angehörige in mehreren Städten dafür, dass die Straßen an den Tatorten die Namen der Opfer tragen sollen. Wird das auf dem Tribunal auch ein Thema sein?
Dies ist eine Forderung der Angehörigen. Auch Initiativen, die in der Zeit der Pogrome der 1990er Jahre entstanden sind, werden beim Tribunal dabei sein: der Freundeskreis zum Gedenken an Mölln, die Oury-Jalloh-Initiative und andere wie die Burak-Bektaş-Initiative. Noch immer gibt es viele Kämpfe von Initiativen und Überlebenden der 1980er und 1990er Jahre. Umbenennungen
von Straßen oder Plätzen nach den Mordopfern sind wichtig. Es ist eine wichtige Form der Geschichtsschreibung im öffentlichen Raum. Bundesweit gibt es auf der kommunalpolitischen Ebene eine beharrliche Weigerung, bestehende Straßen nach Opfern von rassistischer Gewalt umzubenennen. Einfacher scheint dies bei Plätzen zu gelingen, die zuvor keinen Namen hatten.


Während die Angehörigen der Opfer schon früh von Nazimorden sprachen, blieb auch ein Großteil der Antifabewegung
abseits. Wie hat sich das Verhältnis zwischen den Betroffenen und antifaschistischen Gruppen weiter entwickelt?

Lange Zeit hat die Berichterstattungen über organisierte Kriminalität andere, solidarische Bewegungen mit den Betroffenen verhindert hat. Das war eine rassistische Spaltung, die durch den nun zweijährigen Vorbereitungsprozess des Tribunals überwunden ist. Die Angehörigen der Mordopfer haben schon immer deutlich formuliert, dass Nazis für die Morde verantwortlich
zu manchen sind. Schon nach dem dritten Mord erkannten die betroffenen Familienangehörigen die Morde als eine Serie gleicher Täter oder Täterinnen. Nach der Nagelbombe wussten die Betroffenen aus der Keupstrasse ebenfalls, dass die Bombe Teil der Mordserie ist. Die Trauerdemo »Kein 10. Opfer« war ein nächster Schritt, um das Wissen großflächig öffentlich zu machen: Nur
ein Monat nach dem Mord an Halit wurde diese von den Familienangehörigen aus Kassel mit den Angehörigen von Mehmet Kubaşık aus Dortmund und den Angehörigen Enver Şimşeks aus Nürnberg organisiert. Bis dahin kannten sich diese drei Familien nicht. Etwa 4.000 Menschen, überwiegend aus den migrantischen Communitys, nahmen daran teil. Politische Verantwortliche
wurden aufgefordert, das Morden zu beenden und die Namen der Täter zu nennen. Entsprechend waren die meisten Transparente in deutscher Sprache, Redebeiträge wurden auf Deutsch übersetzt. Es ist aus heutiger Sicht immer noch sehr erschreckend, dass selbst diese Demonstration von vielen Bevölkerungsteilen nicht wahrgenommen worden ist. Nach den Erfahrungen mit dem NSU-Komplex kann das zukünftig nicht mehr so leicht passieren. ‚


Wo sehen Sie bei der Arbeit zum NSUKomplex Erfolge?

Es gibt viele sehr engagierte Anwälte und Anwältinnen der Nebenklage, die großartige Arbeit leisten und versuchen, in das NSU-Verfahren wichtige Beweisanträge einzubringen. Aus dem Verfahren ist lesbar, was dort verhandelt wird und über was nicht verhandelt werden soll. Dies wird daran deutlich, welche Beweisanträge in der Vergangenheit durch die undesanwaltschaft
abgelehnt wurden: In der Regel die, bei denen es um weitere involvierte V-Leute und Verfassungsschutzmitarbeiter ging. Das Verfahren versucht, die Taten des NSU auf die Angeklagten auf der Anklagebankzu reduzieren. Auch das erweiterte Umfeld des »Trios«, deren Helfer und Helfershelfer, wird herausgehalten. Ein deutlicher Erfolg des Tribunals ist es jetzt schon, dass die Geschichten der Betroffenen nicht nur erzählt, sondern auch gehört werden. Das Tribunal hat das migrantisch situierte Wissen der Betroffenen als die Perspektive ins Zentrum gesetzt und damit einen Perspektivwechsel im Diskurs über den NSUKomplex
erreicht. Das Tribunal NSU-Komplex hat dem Forschungsinstitut Forensic Architecture von der Londoner Goldsmiths Universität
den Auftrag zur Untersuchung des Mordes im Internetcafé erteilt. Das Forensic Architecture Team hat die Untersuchungsergebnisse am 6. April in Kassel veröffentlicht und in einem 1:1-Raummodell des Internet-Cafés und mit Hilfe von 3-D Modellen eine aufwändige Untersuchung v Internet-Café und seine Perspektive. Im Mittelpunkt standen dabei drei Fragen:
Was hat Andreas Temme gesehen? Was hat er gehört, und was hat er gerochen? Die Ergebnisse stellen die bisherige Darstellung von Andreas Temme stark infrage und mit Hilfe von digitalen und analogen Untersuchungsmethoden wurde
hier neues Beweismaterial erzeugt, das uch vor Gericht bestehen kann. Temme muss was gesehen, muss die Schüsse
gehört und muss das Schwarzpulver gerochen haben.

Wird das Tribunal eine Art Schlusspunkt Ihrer Arbeit sein?
Keineswegs! Das Tribunal NSU-Komplex auflösen ist ein nächster Akkumulationspunkt, -und darauf arbeiten wir als Gesellschaft der Vielen hin. Die ganze Dimension des strukturellen Rassismus am Beispiel des NSU bildet die Grundlage für die gesellschaftliche Anklage, um anzuklagen und Forderungen zu stellen für die Zukunft. Und unsere Botschaft ist sehr eindeutig: Migration kann nicht an Grenzen gestoppt werden. Das migrantische Leben lässt sich nicht vertreiben durch rechte Parteien, nicht durch
rechtspopulistische Politiker, nicht durch Neonazis, nicht durch Verfassungsschützer oder V-Männer, die Nazis sind. Diese Realität der Gesellschaft der Vielen kann nicht weggebombt werden. Wir sind hier, wir bleiben hier, leben hier und werden weiter die Gesellschaft der Vielen formen. Peter Nowak arbeitet als freier Journalist. Seine Artikel sind dokumentiert unter peter-nowak-journalist.de. Das Tribunal ist eine gesellschaftlich- politische Notwendigkeit, die längst fällig ist. »Die vom NSU-Terror Betroffenen wussten, wer hinter den Anschlägen auf ihre Familienangehörigen, ihre Nachbarn, ihre Freunde oder auf ihr
eigenes Leben … steckte«, heißt es im Aufruf zum Tribunal. Warum wurde dieses Wissen konsequent ignoriert? Das Tribunal »NSU-Komplex auflösen «, das vom 17. bis 21. Mai in Köln stattfindet, klagt den staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus an und lässt die Angehörigen der Opfer des Neonaziterrors sprechen. Info und Spenden: www.nsu-tribunal.de

Die vom NSU-Terror Betroffenen wussten, wer hinter den Anschlägen auf ihre Familienangehörigen, ihre Nachbarn, ihre Freunde oder auf ihr eigenes Leben … steckte«, heißt es im Aufruf zum Tribunal. Warum wurde dieses Wissen konsequent ignoriert? Das Tribunal »NSU-Komplex auflösen «, das vom 17. bis 21. Mai in Köln stattfindet, klagt den staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus an und lässt die Angehörigen der Opfer des Neonaziterrors sprechen. Info und Spenden: www.nsu-tribunal.de

aus:
ak – analyse & kritik Nr. 626
www.akweb.de
Interview: Peter Nowak