Knast für Pflegeschelte

Weil sie auf unhaltbare Arbeitsbedingungen hinwies, soll Angelika Konietzko hinter Gitter

Die Absage kam in letzter Minute. Eigentlich hatte sich Angelika-Maria Konietzko auf einen mehrmonatigen Gefängnisaufenthalt vorbereitet. Doch jetzt wurde ihr kurzfristig mitgeteilt, dass der für heute
terminierte Haftantrittstermin vorerst ausgesetzt ist. „Für mich ist es eine Form der Zermürbungstaktik. Der Termin wurde schon einmal um 2 Wochen verschoben“, erklärte Konietzko am Montagvormittag auf einer Pressekonferenz in Berlin-Friedrichshain. Der zierlichen Frau mit den langen schwarzen Haaren merkt man auf den Blick keine Nervosität an. Sehr ruhig und bestimmt erklärt sie, dass sie weiterhin nicht bereit ist, den geforderten Offenbarungseid zu leisten und die Erzwingungshaft antreten will. .
„Ich will damit auf unhaltbare Arbeitsbedingungen im Pflegebereich sowie auf Prozessbetrug aufmerksam machen,“ betont sie. In einer nun mehr als fünfjährigen gerichtlichen Auseinandersetzung seien ihre Klagen aus formalen Gründen zurückgewiesen worden. Die mittlerweile auf 957,15 Euro angewachsenen Gerichtskosten sind der Grund für die Aufforderung zum Offenbarungseid. Der Haftbefehl besteht auch nach der Verschiebung des Haftantritts weiter.
Der Konflikt entzündete sich an den Arbeitsbedingungen in einer Demenz-Wohngemeinschaft in Berlin-Mitte, in der Konietzko seit 2001 als Pflegehelferin angestellt war .“Obwohl der Pflegedienst in seiner eigenen Werbung angab, er leiste eine 24-stündige Betreuung der unter Demenz leidenden Senioren, stand in meinem Arbeitsvertrag, dass ich lediglich Bereitschaftsdienst zu verrichten habe, der wesentlich schlechter bezahlt wurde,“ beschreibt Konietzko den Hintergrund der Auseinandersetzung. Es sei ihr dabei um die bestmögliche Betreuung der demenzkranken Senioren gegangen und die waren unter den Arbeitsbedingungen nicht zu gewährleisten“, bekräftigt sie mehrmals.
Ihre Beschwerden und Briefe seien vom Arbeitgeber nicht beantwortet worden. Eine Einschaltung von Pflegeorganisationen sei vom Pflegedienst mit einer einstweiligen untersagt worden. Der Arbeitgeber äußerte sich zu den Vorwürfen nicht.
Die Sozialpädagogin Gabriele Tammen-Parr von der Organisation „Pflege in Not“ bestätigte auf der Pressekonferenz, dass eine 24-Stunden-Wache in einer Demenz-Wohngemeinschaft unbedingt erforderlich sei. Daher unterstützte die Organisation Angelika Konietzko in ihrer Auseinandersetzung mit dem Pflegedienst. Für den Gewerkschafter Jochen Gester, der zu dem Mitbegründern des Solidaritätskomitees Angelika Konietzko ist es ein Skandal, dass Konietzkos Klagen vor Gericht aus formalen Gründen ohne die Einleitung einer Beweisaufnahme abgelehnt worden sei. Jetzt müsse verhindert werden, dass eine Beschäftigte, die wegen ihres Engagement für bessere Arbeitsbedingungen und eine optimale Pflege gemobbt und abgestraft wurde, ins Gefängnis gehen muss. Nachdem der Solidaritätskreis den Fall öffentlich gemacht hat, sind Unterstützungserklärungen für Konietzko auch von Pflegekräften aus Polen und Frankreich eingetroffen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/219769.knast-fuer-pflegeschelte.html
Peter Nowak

Sozialer Einsatz wird mit Knast bestraft

ARBEIT Pflegerin hat Demente intensiver betreut als vorgesehen. Nach Lohnstreit soll sie ins Gefängnis
Angelika-Maria Konietzko hat schon ihre kleine Tasche gepackt, in der wichtige Utensilien verstaut sind. Denn sie muss im kommenden Jahr ins Gefängnis. Der Haftbefehl ist schon ausgefertigt. Konietzko soll in Erzwingungshaft, die bis zu sechs Monate andauern kann, weil sie einen Offenbarungseid verweigert, aber auch nicht bereit ist, die Kosten eines Rechtsstreit von über 2.200 Euro zu tragen. Sie sind bei einem Streit vor dem Arbeitsgerichts entstanden, der sich um die Bezahlung ihrer Tätigkeit als Nachtwachenbereitschaft in einer WG für Demenzkranke drehte.
Sie habe bei der Nachtschicht nur zehn Stunden vergütet bekommen, obwohl ihr eigentlich als Nachtwache elf Stunden zustünden, ist Konietzko überzeugt. „Die BewohnerInnen der Seniorenwohngemeinschaft waren schwerst pflegebedürftig. Sie haben eine Überwachung und Pflege rund um die Uhr benötigt“, betont die 43-jährige Frau. Sie habe laufend Kontrollgänge machen müssen und daher keine Pausen gehabt.
Der Pflegedienst Hauskrankenpflege Mitte widerspricht dieser Darstellung. „Die Senioren befanden sich in Wohngemeinschaften und nicht in einem Heim oder einer medizinischen Einrichtung, wo eine Pflege der Senioren rund um die Uhr notwendig ist.“ Das Arbeitsgericht gab dem Pflegedienst in mehreren Instanzen recht und verwies auf den Arbeitsvertrag, in dem eine pauschale Vergütung des Nachtbereitschaftsdienstes festgelegt ist. Zudem sei in der Stellenausschreibung eine Arbeitsleistung von zirka drei Stunden und ein Bereitschaftsdienst von acht Stunden pro Nacht festgelegt. Dabei ließ das Gericht offen, ob Konietzko tatsächlich elf Stunden gearbeitet hat. „Es ist nicht Aufgabe des Arbeitnehmers, Pflegestandards selbst festzulegen“, heißt es im Urteil.
Dieser Satz empört die Klägerin besonders. „Hätte ich die Pflegearbeiten nicht gemacht, hätte ich meine Arbeit enorm vernachlässigt und unter Umständen sogar wegen fahrlässiger Tötung angeklagt werden können“, behauptet sie. So habe zu ihren Tätigkeiten das Absaugen der Mundhöhle bei den demenzkranken PatientInnen gehört, da sonst die Gefahr bestanden hätte, dass diese im Schlaf ersticken.
Diese Auffassung wird von verschiedenen Organisationen bestätigt. Thomas Birk vom Verein Selbstbestimmtes Wohnen im Alter erklärt, dass in Demenz-Wohngemeinschaft eine durchgängige 24-Stunden-Betreuung notwendig sei. „Das bedeutet für die Nachtstunden eine Nachtwache und keine -bereitschaft.“ Auch Gabriele Tammen Parr von Pflege in Not bekräftigt, dass ein nächtlicher Bereitschaftsdienst in einer Demenz-WG nicht nur völlig unzureichend ist, sondern auch grob fahrlässig sein kann. Diese Stellungnahmen sind vom Arbeitsgericht nicht berücksichtigt worden.
Ihre Weigerung, den Offenbarungseid zu leisten, sieht Konietzko als Akt des Widerstands. „Dabei geht es mir nicht in erster Linie um Lohnforderungen. Ich will auf die Zustände im Pflegebereich aufmerksam machen.“ Mittlerweile hat sie von einer Kollegin Unterstützung bekommen: Brigitte Heinisch, die 2005 vom Pflegekonzern Vivantes gekündigt wurde, weil sie Missstände im Pflegebereich gemeldet hatte, will ihren ehemaligen Solidaritätskreis für sie aktivieren. Heinisch hat nicht nur den Whistleblowerpreis, sondern auch eine Entschädigung erhalten, weil die in Deutschland von sämtlichen Instanzen bestätigte Kündigung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgehoben wurde.
Auch Konietzko hat schon was erreicht: Der Pflegedienst Hauskrankenpflege Mitte hat für seine Demenz-WG nun Nachtwachen statt Bereitschaftsdienste eingeführt. Gegenüber der taz war er zu keiner Stellungnahme im Fall seiner Exmitarbeiterin bereit.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/
?ressort=bl&dig=2011%2F12%2F30%2Fa0171&cHash=4e7f0b7a2e
Peter Nowak