Seit Jahr und Tag kämpft die stadtpolitische Gruppe „Dragopolis“ gegen den Bau teurer Eigentumswohnungen auf dem Dragonergelände in Berlin-Kreuzberg. Jüngst aber widmete sie sich einem geschichtspolitischem Thema. Gemeinsam mit der “Initiative Gedenkort Januaraufstand“ erinnerten sie an einen ungesühnten Mord vor 97 Jahren. Am 11. Januar 1919 sind sieben unbewaffnete Besetzer der SPD-Zeitung Vorwärts feige ermordert worden . Sie waren von den Verteidigern des Domizils der SPD-Zeitung „Vorwärts“ auf jenem Areal während der Januarkämpfe ausgesandt, um die Kapitulation mit den Regierungssoldaten auszuhandeln. Die Opfer waren der Journalist Wolfgang Fernbach, der Mechaniker Karl Grubusch, der Schmied Walter Heise, der Kutscher Erich Kluge, der Klempner Werner Möller, der Werkzeugmacher Arthur Schöttler und der Schlosser Paul Wackermann. Auf der Gedenkveranstaltung wurde aus zeitgenössischen Dokumenten zitiert, darunter den aus Erinnerungen der persönlichen Vertrauten und Nachlassverwalterin Rosa Luxemburgs, Mathilde Jakob, wie auch aus der dreibändigen „Geschichte der Novemberrevolution“, die der Vorsitzende der betrieblichen Räteorganisation „Revolutionäre Obleute“ Richard Müller Mitte der 20er Jahre veröffentlichte ( 2011 im Verlag „Die Buchmacherei“ wieder aufgelegt). Müller beschrieb detailliert, wie die sieben Parlamentäre gezwungen wurden, sich vor ihrer er Ermordung zu entkleiden; die Soldaten nahmen ihnen zudem alle Wertsachen ab. Als anschließend die Verteidiger des „Vorwärts“ mit erhobenen Händen aus dem Gebäude kamen, wurden sie „unter scheußlichen Misshandlungen“ in die Dragonerkaserne getrieben und dort zunächst in einem Stall interniert…..
Auf enigen zeitgenössischen Fotos, die auf der Gedenkveranstaltung präsentiert wurden, waren bereits auf Fahrzeugen der Freikorps gemalte Hakenkreuze zu sehen. Der Journaliist und Historikers Sebastian Haffner l sah in der brutalen Gewalt gegen die Arbeiter, die im Januar 1919 ihre Revolution – auch wieder die SPD-Führung – retten und fortführen wollten, den Auftakt ür die vielen Morde n in den folgenden Jahren sowie ein Menetel für den Staatsterror in der NS-Zeit. Dies läßt sich gut am Schicksal on Mathilde Jakob ablesen. Mehrfach bereits in der Weimarer Republik verhaftet, wurde sie von den Nazis als Jüdin nach Theresienstadt deportiert, wo sie mit 70 Jahren starb. Mittlerweile trägt ihren Namen ein Platz in Moabit, wo sie lange wohnte- An die ermordeten Vorwärts-Parlamentäre erinnert bis nur eine Tafel am Eingang des auf dem Dragonergelände befindlichen Finanzamt Friedrichshain-Kreuzberg. Das soll sich ändern. „Dragopolis“ will sich dafür einsetzen, dass bis zum 100ten Jahrestag des feigen Mordes vom 11. Januar Wege auf dem weiträumigen Dragoner-Gelände nach den Opfern benannt werden.
Ohne die Bücher Richard Müllers wäre vermutlich einiges an gewerkschaftlicher Geschichtsschreibung verlorengegangen
Er war Metallarbeiter und einer der wichtigen Protagonisten der Revolution 1919. Er war ein radikaler Gewerkschafter und Rätekommunist. In einem kleinen Berliner Verlag wurde nun Richard Müllers »Eine Geschichte der Novemberrevolution« neu aufgelegt.
Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Diese These lässt sich am Beispiel der historischen Aufarbeitung der Novemberrevolution in Deutschland gut nachweisen. Während der rechte Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der die Revolution nach eigenen Bekunden hasste wie die Sünde, noch immer mit dem Ereignis in Verbindung gebracht wird, ist Richard Müller weitgehend vergessen. Dabei war der Metallarbeiter und Vorsitzende der Revolutionären Obleute einer der wichtigsten Träger der Revolution. Für kurze Zeit stand er als Vorsitzender des Berliner Vollzugsrates dem höchsten nachrevolutionären Räteorgan vor. Doch schon bald setzte die rechte SPD-Führung mit Hilfe der monarchistischen Freikorps der Revolution auch blutig ein Ende.
nd-Shop – Plakat »Linksextremisten«
Müller versuchte vergeblich, in der neugegründeten KPD eine revolutionäre Gewerkschaftspolitik umzusetzen und wurde schon 1922 im Zuge von Fraktionskämpfen ausgeschlossen. Nachdem er sich aus der öffentlichen Politik zurückzog, veröffentliche er zwischen 1924 und 1925 seine dreibändige Geschichte der Revolution unter dem Titel »Vom Kaiserreich zur Republik«. In den 1970er Jahren war sie von einem kleinen Verlag neu aufgelegt worden. Auf dieser Grundlage hatte der linke Historiker Bernt Engelmann damals den zweiten Band seiner vielgelesenen Anti-Geschichtsbücher über die Entstehung der Weimarer Republik verfasst. Danach war Richard Müller wieder vergessen, bis ihn der Berliner Historiker Ralf Hoffrogge mit einer Biografie wieder entdeckte. Bei einer Diskussionsveranstaltung über dieses Buch entstand auch die Idee, Müllers Geschichtsbücher wieder aufzulegen. Die Berliner Buchmacherei hat diese Arbeit mit Bravour erledigt. In einen Band zusammengefasst und mit einem ansprechenden Einband versehen, ist dieses einzigartige Geschichtsbuch zu einem günstigen Preis wieder zugänglich.
Neben der spannend zu lesenden Geschichtsarbeit Müllers, die den Vergleich mit Trotzkis im Exil geschriebenen »Geschichte der Oktoberrevolution« nicht scheuen muss, sind es die zahlreich in dem Buch enthaltenen Dokumente, die das Buch zu einer wahren Fundgrube machen Viele dieser Aufzeichnungen aus internen Diskussionen von SPD, USPD oder Gewerkschaften wären heute nicht mehr zugänglich.
Man braucht nur die Stellungnahme aus dem gewerkschaftliches »Korrespondent des Buchdruckerbandes« zu Beginn des 1. Weltkrieges zu lesen und sieht, dass hier Töne laut wurden, die nicht ganz 20 Jahre später in den NS-Staat führten. »Die Heldentaten unserer großartigen Wehr zu Land und zur See löste eine überwältigende Massenempfindung aus, die die beste Gewähr für den endgültigen Sieg bildet«, heißt es dort. Neben solchen militaristischen Tönen sind in dem Buch auch die Zeugnisse der Antikriegsopposition dokumentiert. Ralf Hoffrogge weist im Vorwort darauf hin, dass die wesentlich von Müller mitformulierten Rätekonzepte der Revolutionären Obleute in den späten 60er und frühen 70er Jahren Einfluss auf die Mitbestimmungsdebatte des DGB hatten. Es wäre zu wünschen, dass auch die Neuauflage von Müllers Monumentalwerk die aktuellen Debatten für linke Perspektiven anregen könnte. Vor allem aber sollte sie helfen, das offizielle Bild zur Novemberrevolution zu korrigieren. Während in fast jeder Stadt eine Straße an Friedrich Ebert erinnert, sucht man den Namen des radikalen Gewerkschafters und Räteaktivisten Richard Müller bisher vergeblich.
Richard Müller: Eine Geschichte der Novemberrevolution in drei Bänden, Berlin: Die Buchmacherei, 2011, 756 S., 19,90 Euro, ISBN 978-3-00-035400-7, 19,95 Euro
http://www.neues-deutschland.de/artikel/216724.
die-perspektive-des-radikalen-gewerkschafters.html
Peter Nowak