Die blinden Flecken im linken Migrationsdiskurs

Von Arbeitsmigration ist kaum die Rede und das hat politische Konsequenzen

Der unionsinterne Streit könnte sich versachlichen. „Merkel bleibt Kanzlerin“, hieß es schon in einem Deutschlandfunk-Kommentar. Gestritten wird zwischen den Unionsparteien jetzt vor allem über die Integration des EU-Gipfels zur Migrationsabwehr.

Flüchtlingsabwehr und nicht Integration heißt die europäische Agenda

Denn, wenn er auch offiziell nicht so genannt wird, ging es bei dem Gipfel genau darum. Darüber sind sich CDU und CSU einig. Das ist auch der Grund, warum CSU-Politiker jetzt wieder besonders herauskehren, dass sie die europäische Lösung wollen[1] und auch nie gegen eine europäische Lösung[2] waren. Damit haben sie sogar Recht.

Es war ein Teil der Linken, die dem Merkel-Lager von Grünen bis zu Teilen der CDU auf den Leim geht, wenn sie wieder einmal Europa beschwören. Doch was heißt das denn eigentlich? Die Manipulation beginnt ja schon da, wo Europa und EU gleichgesetzt wird.

Zudem besteht der dominante Zug inner- wie außerhalb der EU in der Flüchtlingsabwehr. Kann sich jemand vorstellen, dass es in der EU einen Integrationsgipfel gibt und hätte der auch nur eine relevante Unterstützung?

„Ein Europa, das schützt“ -[3] dieses Motto, mit dem Österreich seine EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, spricht da Bände. Gäbe es europäische Umfragen, hätte eine solche Agenda auch starke Mehrheiten. Es ist wohlfeil, nun den angeblichen Rassismus großer Teile der Bevölkerung zu geißeln.

Wenn man nicht versteht, dass es diese Abschottung im Rahmen der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft rationale Haltungsweisen sind, bleibt eine solche Kritik moralisch und wird gerade die Menschen nicht ansprechen, die am unteren Rande der Bevölkerung leben.

Es ist auffällig, dass von solchen sozialen und ökonomischen Fragen in dem viel diskutierten und kritisierten[4] Aufruf „Solidarität statt Heimat“[5] kaum die Rede ist. Das IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen-Urban begrüßt die Intention, kritisiert allerdings die Diktion des Aufrufs[6].

Für die Linke muss die Refugees-Welcome-Kultur, die schwächer geworden ist, aber noch nicht verloschen ist, der Ausgangspunkt ihrer Politik sein. Das ist für mich nicht verhandelbar, will die Linke nicht ihre Identität einbüßen. Es macht aber überhaupt keinen Sinn, schon die kleinsten Abweichungen von diesem Standpunkt mit dem Bannstrahl des Rassismus zu ächten. Diese Art von Diskursfeindlichkeit ist arrogant und schlichtweg dämlich.

Hans-Jürgen Urban

Warum wir nicht von Arbeitsmigration geredet?

Besonders auffällig ist die Leerstelle „Arbeitsmigration“ in dem Aufruf „Solidarität statt Heimat“. Dabei handelt es sich in der überwiegenden Mehrheit der Migrationsfälle aus Afrika und Asien um Arbeitsmigration, wie es sie seit Jahrtausenden gibt. Auch aus Deutschland sind noch bis vor 100 Jahren Tausende Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben migriert, wie es der Filmemacher Edgar Reitz in Die andere Heimat[7] am Beispiel des Hunsrücks dokumentierte.

Dass so wenig über den Aspekt der Arbeitsmigration geredet wird, liegt natürlich an den gesetzlichen Rahmen. Alle Migranten fallen unter das Asylrecht und nur dann haben sie überhaupt Chancen angehört zu werden. Doch damit wird sofort das Adjektiv hilflose und schutzlose Menschen verbunden.

Doch tatsächlich ist auch die aktuelle Arbeitsmigration aus Afrika und Asien eine Folge sehr rationaler Entscheidungen der Migranten und ihrer Verwandten. Sie machen sich bewusst auf den oft gefahrvollen Weg und kennen meistens die Risiken. In dem Film „Als Paul über das Meer kam“[8] wird diese rationale Risikoabwägung nicht nur bei dem Protagonisten, sondern auch anderen Migranten sehr deutlich.

Es ist also überwiegend falsch, diese Menschen als hilfsbedürftige Menschen, denen keine Wahl geblieben ist, zu infantilisieren.

Traumatisch ist oft die Flucht

Das bedeutet aber auch, dass die Flucht kein undiskutierbares Schicksal ist. Es stellt sich schon die Frage, ob sich für die Migranten diese oft gefahrvolle Flucht lohnt, bei der nicht wenige das Leben verlieren oder traumatisiert werden. Denn es stimmt natürlich, dass die Menschen auf den Rettungsschiffen traumatisiert sind.

Aber das sind sie in der Regel eben nicht durch das Leben in ihren Herkunftsländern, sondern durch die Erlebnisse von Gewalt, Raub und Misshandlung auf den Fluchtrouten. Viele Migranten nehmen diese Gefahren auf sich, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa.

Nur ist das in den meisten Fällen eine Illusion und daran können noch so wohlmeinende Solidaritätsaufrufe wenig ändern. Denn eigentlich müsste der Grundsatz gelten, dass kein Mensch in die Lage gebracht werden sollte, sein Leben in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen in der Ferne aufs Spiel zu setzen oder lebenslange physische und psychische Schäden davon zu tragen.

Recht auf ein würdiges Leben auch im Herkunftsland

Darüber wird aber in fast allen Solidaritätsaufrufen nicht geredet. Dass hieße nämlich, das Recht zu propagieren, dass alle Menschen auch in ihren Herkunftsländern ein würdiges Leben führen können. Niemand sollte unter gefahrvollen Bedingungen migrieren müssen, weil die Arbeits- und Lebensbedingungen in ihren Ursprungsländern so schlecht sind.

Das bedeutet, die ungerechte Weltwirtschaftsordnung muss ebenso zum Gegenstand der Kritik werden wie die einheimische Oberschicht der Länder, die sich oft nur selber bereichert. Unterstützt werden müsste eine Selbstorganisierung der Menschen in ihren Ländern in Form von Gewerkschaften, Bauern- und Konsumentenorganisationen.

Die gab und gibt es in vielen Ländern des globalen Südens, werden aber durch die Migration vor allem junger Menschen eher geschwächt als gestärkt (Die Stelle wurde korrgiert, zuvor hieß es falsch „eher gestärkt“, Anm. d. Red). Viele dieser Organisationen bemühen sich, die Situation in ihren Ländern so zu verändern, damit die Menschen nicht migrieren müssen.

Tatsächlich zeigte sich immer wieder, dass in Ländern, in denen es Chancen für eine solche Entwicklung gibt, die Migration rückläufig ist. Das zeigt sich in Rojava, wo viele kurdische Migranten am Aufbau einer gerechteren Gesellschaft partizipieren wollen. Umgekehrt zeigt sich, dass das Scheitern oder die gewaltsame Zerschlagung solcher Modelle die Migration sprunghaft ansteigen lässt.

So nehmen Tausende Menschen aus El Salvador viele Gefahren auf sich, um in die USA zu migrieren. Sie sehen in einem Land, wo die Gewalt der Jugendgangs gewachsen ist, keine Perspektive. Nicht wenige hatten Erfahrungen in den starken sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen, die es in El Salvador, Mexiko und anderen zentralamerikanischen Ländern in den 1980er Jahren gegeben hat.

Die Erfahrungen brachten sie mit in die USA und wehrten sich auch dort gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Der Filmemacher Ken Loach hat ihnen mit Brot und Rosen[9] ein Denkmal gesetzt.

In Solidaritätsaufrufen wie „Solidarität statt Heimat“ fehlt jeder Hinweis auf gewerkschaftliche Organisierung und Solidarität von Migranten. Das ist die fast logische Konsequenz, wenn man Migration fast ausschließlich mit Hilfsbedürftigkeit in Verbindung bringt und die Tatsache, dass es sich überwiegend um Arbeitsmigration handelt, ausblendet.


„Flüchtlinge rettet uns“

Dass es nicht wenigen, die sich so stark von Migration als Zentralachse linker Politik aussprechen, um die Erneuerung der Gesellschaft in Deutschland geht, bringt ein Kommentator im Neuen Deutschland mit dem Titel Flüchtlinge rettet uns[10] auf den Punkt.

Es gibt gewiss ehrenwertere Gründe, Menschen vor Krieg, Armut oder was auch immer Schutz zu gewähren, als der Schutz unserer eigenen Gesellschaft. Aber auch zum Wohle unserer Gesellschaft können wir nur hoffen, dass dieses Millionenheer wirklich bereitsteht. Die Forderung nach offenen Grenzen bietet nicht nur Hoffnung für viele Flüchtlinge, sie bietet auch Hoffnung für uns. Wem es ernst ist, mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, dessen Forderung kann nur lauten: Ausländer rein gegen rechts!

Fabian Goldmann, Neues Deutschland

Schon vor einigen Jahrzehnten kursierte der Slogan „Ausländer, lasst uns mit diesen Deutschen nicht allein“. So verständlich er ist, so paternalistisch ist auch der Wunsch oder die Vorstellung, die Migranten sollen zur Liberalisierung „unserer“ Gesellschaften beitragen.

Ökonomen würden dann noch auf die Bedeutung migrantischer Arbeitskräfte verweisen, ohne die schon heute in manchen Sektoren nichts mehr läuft. Doch die Migranten zahlen die Zeche in Traumatisierungen bei der Flucht, in Entrechtungen in der EU, in der sie wie ein Paket zugewiesen werden. Wo sie leben wollen, spielt keine Rolle.

Für eine Linke hieße das, das Thema Arbeitsmigration und gewerkschaftliche Solidarität in den Mittelpunkt zu stellen. Zudem muss die Frage erlaubt sein, ob es denjenigen, die mit so großer Verve allein die Frage der Migration so sehr fokussieren, wirklich immer der betroffenen Menschen geht. Dann müsste mindestens gleichberechtigt das Recht für ein würdiges Leben in ihren Herkunftsländern auf der Agenda stehen.

Peter Nowak
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[1] https://www.deutschlandfunk.de/eu-gipfel-weber-csu-wir-wollen-die-europaeische-loesung.694.de.html?dram:article_id=421465
[2] https://www.deutschlandfunk.de/csu-politiker-zur-fluechtlingspolitik-wir-waren-nie-gegen.694.de.html?dram:article_id=421716
[3] https://www.sz-online.de/nachrichten/ein-europa-das-schuetzt-3966701.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Neue-deutsche-Solidaritaetsbewegung-4092657.html
[5] http://solidaritaet-statt-heimat-kriet.org
[6] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/anti-rassismus-und-eine-versteckte-agenda
[7] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/anti-rassismus-und-eine-versteckte-agenda
[8] http://www.paulueberdasmeer.de/
[9] https://www.imdb.com/title/tt0212826/
[10] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1091927.rassismus-in-deutschland-fluechtlinge-rettet-uns.html