Die Falle der Identitätspolitik

In Berlin wurde über „Riots“, Gewalt und Politik gesprochen – auch von Aktivisten aus den französischen Banlieues. Deutlich wurde, dass eine Absage an den Universalismus keine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung bewirkt

Der etwas missverständliche Titel „Riots. Violence as Politics“[1] hatte am vergangenen Wochenende auch manche außerparlamentarische Linke zum Besuch einer Konferenz[2] im Institut für Protest- und Bewegungsforschung[3] in Berlin motiviert. Manche hatten sich wohl angesichts des Titels eine stärkere Konzentration auf die Straßenunruhen gewünscht.

Jedenfalls verließ ein Teil der Besucher die Konferenz relativ schnell. Wer geblieben ist, konnte einen Eindruck von den politischen Verhältnissen in Frankreich bekommen, die sich gravierend von der hiesigen Frankreich-Berichterstattung der letzten Monate unterschied. Schon Monate vor dem Präsidentschaftswahlkampf fokussierte sich die Auseinandersetzung auf die Namen Le Pen versus Macron bzw. den Kampf zwischen Nationalismus und EU-Liberalismus. Unter dieser Perspektive wurden die Alltagskämpfe von vielen Menschen in Frankreich zum Verschwinden gebracht.
Wer sich nicht zwischen Macron und Le Pen entscheiden wollte, wurde angegriffen

Wer sich weder hinter Le Pen noch hinter Macron stellen wollte, wurde sogar von Medien, die sich links bzw. linksliberal nennen, verbal angegriffen. Der Vorwurf, Steigbügelhalter des Nationalismus zu sein, war häufig zu hören. Das Recht, sich der Stimmabgabe zu verweigern, nicht zur Wahl zu gehen bzw. ungültig zu wählen, wurde im Falle Frankreichs auch in linksliberalen Medien vehement infrage gestellt.

Vergessen war, dass noch 2004 der Publizist und Sozialpsychologe Harald Welzer[4] die Diskussion über den Wahlboykott[5] auch wieder in liberalen Kreisen populär machte. Auf der Konferenz in Berlin wurde nun schnell deutlich, dass es sehr viele Menschen, ja ganze Milieus, in Frankreich gab, für die weder Le Pen noch Macron eine Alternative waren.

Zum Beispiel viele derjenigen, die im letzten Jahr an der Protestwelle gegen das wirtschaftsliberale Arbeitsgesetz, das sogenannte loi travail beteiligt waren. Warum sollte Macron, der noch weitere wirtschaftsliberale Projekte plant, für diese Menschen eine Alternative sein? Doch hätten die Protestform der Platzbesetzungen, wie sie von der Bewegung in Frankreich praktiziert worden ist, natürlich ebenfalls hinterfragt werden müssen.

Keine Gesellschaftsveränderung mit Occupy und Nuit Debout

Schließlich hat auch der „Movement“-Theoretiker Michael Hardt in einem nd-Interview[6] Ernüchterndes über die Bewegung der Platzbesetzungen geäußert, die vor fünf Jahren einen kurzen medialen Hype hatten. So fällt Hardts Fazit über die auch von ihm sehr hochgelobten Bewegungen erstaunlich kritisch aus:

Zuletzt begann 2011 ein großer Bewegungszyklus. Es war die Zeit der großen Platzbesetzungen. Sie begann in Nordafrika, Ägypten und Tunesien, aber kam auch nach Europa, Spanien, Griechenland, die USA mit Occupy Wall Street, Brasilien und in die Türkei mit den Gezi-Park-Protesten. Doch diese Bewegungen hatten neben ihrer Ausrichtung aufs Lokale eins gemein: die irgendwann um sich greifende Enttäuschung über die mangelnde Langlebigkeit, und dass es ihnen nicht möglich war, wirkliche soziale Transformationen in die Wege zu leiten.
Michael Hardt

Nun ist diese Erkenntnis keine Überraschung und wurde vor fünf Jahren bereits von Linken unterschiedlicher Couleur beschimpft, weil sie mit ihrer Kritik einer neuen weltweiten Bewegung schaden würden. Geschadet hat eher, dass auch manche Linke, die es eigentlich besser wissen müssten, anfangs kritiklos diesen Hype hinterhergelaufen sind. Nun hat Hardt zumindest einige der Probleme dieser Bewegungen erkannt.

Die Art von Horizontalismus, die ich dabei im Kopf habe, könnte man am besten anhand der Platzbesetzungen und anderen Formen des Widerstandes aufzeigen. Kurz gesagt waren das führungslose Bewegungen. Ich lehne dabei nicht deren Wunsch nach Demokratie ab, aber diese Bewegungen waren nicht erfolgreich. Manchmal waren sie zwar vorübergehend sehr mächtig, aber sie waren eben immer nur sehr kurzlebig und nie kontinuierlich.
Michael Hardt

Aber die Rettung ist nah, denn Michael Hardt verkündet eine frohe Botschaft:

Toni Negri und ich beschäftigen uns in unserem neuen Buch mit der Notwendigkeit, wirklich demokratische Strukturen aufzubauen, mit denen gleichzeitig Aufgaben erfüllt werden können, die bisher normalerweise von Führungspersonen erledigt werden. Die entscheidende Frage ist also, wie man effektive und langlebige Organisationen aufbauen kann, die eben nicht auf charismatische Führer oder eine zentrale Führung von oben herab angewiesen sind.
Michael Hardt

Ob das Buch der beiden wichtigen Stimmen der globalisierungskritischen Bewegungen, das nun wahrlich nicht neue Problem von Repräsentanz versus Bestehen auf Rede in erster Person lösen kann? Wir dürfen gespannt sein. Zumal Hardt immer genügend Allgemeinplätze zur Verfügung hat, die das Gemüt der Bewegungslinken streicheln.

Was heute gefragt ist, sind die Kreativität und Vorstellungskraft der Bewegungen, um eine wirkliche Alternative zu entwickeln.
Michael Hardt


Weder rechts noch links noch universalistisch

Damit kommen wir zum zweiten Teil der Konferenz „Riots. Violence as Politics“. Dort haben Aktivistinnen und Aktivisten aus französischen Banlieues ihre Arbeit vorgestellt und sollten sich zur Frage äußern, ob sie sich vorstellen können, bei Initiativen außerhalb der Banlieues zu kooperieren. Vor allem Alamy Kanoute[7], der mit einer Bürgerliste[8] in die Kommunalpolitik eingestiegen ist und sich dabei gleichermaßen von der Linken und Rechten abgrenzt, repräsentiert einen Kommunalismus, der die Banlieues zu widerspruchsfreien Orten verklärt.

Noch vehementer wandte sich Fatima Ouassak[9] gegen eine Kooperation mit unterschiedlichen sozialen Gruppen. Dabei hätte diese Position eine gewisse Rationalität, wenn Ouassak behauptet, es gebe keine andere relevante Gruppe, mit der man zusammenarbeiten könne. Wenn sie aber gleichzeitig den Universalismus als überholtes, rassistisches Projekt der Weißen ablehnt, wird der ideologische Hintergrund deutlich.

Es geht um die Festschreibung neuer Identitäten, aber keineswegs um eine politische Emanzipation aller Menschen. Versucht wird, eine Banlieue-Identität zu konstruieren. Die diffusen Gegner sind die Weißen und der Universalismus der Linken. Wie problematisch das Konzept ist, zeigt sich schon bei der Frage, die auf der Veranstaltung gestellt wurde. Warum wird beim von allen Referentinnen und Referenten beschworenen Kampf gegen die Islamfeindlichkeit und den Rassismus kein einziges Mal der Kampf gegen den Antisemitismus genannt?

Der Soziologe Marvan Mohammed[10], der am Centre Maurice Halbwachs[11] lehrt, bestätigte, dass in den letzten Jahren die antisemitische Gewalt in Frankreich gewachsen sei. Es seien nicht nur bei den islamistischen Anschlägen Juden gezielt ermordet worden.

Antisemitismus und Sexismus – kein Thema für die Banlieues?

Die anderen Referenten schwiegen entweder oder unterstellten wie Fatima Ouassak dem Fragesteller, die Bewegungen in den Banlieues belehren zu wollen. Das Fazit ihrer Rede war klar, wer sich kritisch mit dem Antisemitismus oder der patriarchalen Gewalt auch in den Vorstädten beschäftigt, sei schon dem antimuslimischen Rassismus verfallen.

Diese Reaktion scheint verständlich, wenn es um die Versuche des Front National und anderer rechter Gruppen und Publikationen geht, Gewalt gegen Juden, Frauen und sexuelle Minderheiten zu einen reinen Problem der Banlieues und des Islams zu erklären. Doch genau so fatal ist die Gegenreaktion, die auf dem Podium in Berlin dominierte. Dort wurde suggeriert, dass diese Gewaltverhältnisse eben kein Problem sind, mit dem sich Menschen und Gruppen, die sich gegen Polizeigewalt in den französischen Vorstädten engagieren, beschäftigten müssen.

Als hätte es die Entführung und Ermordung von Ilan Halimi[12] durch eine islamistische Bande, die mit antikolonialistischer Rhetorik Geld vom Juden erpressen wolle[13], nie gegeben. Warum es den Banlieue-Aktivisten so schwer fällt, den Antisemitismus auch als ihr Problem sehen, zeigt welch fatale Wirkung die Ersetzung des Universalismus durch ein „Empowerment der Nicht-Weißen“ hat.

Die Jüdinnen und Juden werden dann zu den Weißen gerechnet und schon ist der Kampf gegen den Antisemitismus kein Problem der Nicht-Weißen. Die Soziologin Sina Arnold[14] hat in ihrer in der Hamburger Edition erschienenen Studie zum Antisemitismusdiskurs in der US-Linken[15] unter dem Titel „Das unsichtbare Vorurteil“ gut herausgearbeitet, dass auch in der US-Linken die Gewalt gegen Juden „de-thematisiert“ wird, weil sie oft generell zu den Weißen gerechnet werden und daher nicht unterdrückt werden können.

Doch daneben macht die Weigerung von akademischen Banlieue-Aktivisten, Antisemitismus auch als ihr Problem zu erkennen, deutlich, dass die Absage an den Universalismus nicht zu einer Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung führen kann. Jede Gruppe thematisiert nur noch ihre Unterdrückung und ignoriert die Gewalt und Unterdrückung, die anderen Menschen, die nicht zu ihrer Gruppe gehören, zugefügt wurde.

Es ist auch bezeichnend, dass Ouassak Familienwerte in den Banlieues beschwört. Dass auch die nicht-weiße Familie ein Ort der Unterdrückung sein kann, für Menschen, die sich nicht an die kulturell vorgegebenen Geschlechterrollen halten, für Frauen, die nicht unter Fuchtel des Vaters oder großen Bruders stehen sondern ein selbstbestimmtes Leben führen wollen, bleibt dabei ausgespart.

Kein Verweis auf gesellschaftliches Leben außerhalb der Vorstädte

Es ist bezeichnend, dass die Frage, ob denn nicht fast alle Banlieue-Bewohner gesellschaftliche Bezüge außerhalb des Stadtteils haben und ob sich dort nicht auch soziale und politische Beziehungen bilden, von keinem der Referenten beantwortet wurde. Denn die Antwort passt nicht zum Bild der konstruierten Banlieue-Identität, die zumindest Ouassak und Kanoute beschworen. Sie verfolgen ein politisches Projekt, das auf dieser Identität aufbaut und sie haben deshalb ein taktisches Verhältnis dazu.

Für eine Diskussion im Institut für Protestforschung wäre es aber sinnvoll gewesen, auch Referenten einzuladen, die genau diese Identitäten infrage stellen. Der Publizist Bernard Schmid, der detailliert die Politik des Ausnahmezustands auf der Konferenz analysierte, hätte sich in einer solchen Rolle in den Augen der Banlieue-Aktivisten schon dadurch disqualifiziert, dass er eben unter die Kategorie der Weißen fällt.

Doch es gibt auch genügend gewerkschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten[16] aus Afrika oder anderen Regionen des globalen Südens, die sich für die Verbesserung ihrer Arbeitsverhältnisse einsetzen und dabei mit Kollegen unabhängig von ihrer Hauptfarbe und Herkunft kooperieren. Es ist allerdings nicht verwunderlich, dass diese Stimmen auf der Konferenz nicht zu hören waren.

Denn die kommunalistische Ideologie, die die Referenten vertraten, finden ihre Entsprechung in einem postmodernen Diskurs an vielen Universitäten, der den Universalismus verabschiedet hat zugunsten eines Patchwork von Minderheiten und Identitäten, die um ihre Recht und ihre Würde kämpfen. So unterschiedlich Bewegungen wie Occupy, die Aktivitäten in den französischen Banlieues und die Schriften von Michael Hardt und Antonio Negri auch sonst sind: Im wieder zelebrierten Abschied vom Proletariat und in der Beschwörung vom Mosaik der Minderheiten sind sie sich einig.

Für sie gilt, was Michael Hardt über die Platzbewegungen der letzten Jahre im Nachhinein im nd-Interview[17] konstatiert:

Doch diese Bewegungen hatten neben ihrer Ausrichtung aufs Lokale eins gemein: die irgendwann um sich greifende Enttäuschung über die mangelnde Langlebigkeit, und dass es ihnen nicht möglich war, wirkliche soziale Transformationen in die Wege zu leiten.
Michael Hardt
https://www.heise.de/tp/features/Die-Falle-der-Identitaetspolitik-3723514.html

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-3723514

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.hsozkult.de/event/id/termine-33192
[2] http://gewalt.hypotheses.org/855
[3] https://protestinstitut.eu/
[4] http://www.kwi-nrw.de/home/profil-hwelzer.html
[5] http://www.bpb.de/apuz/180362/warum-ich-dieses-mal-waehlen-gehe?p=all
[6] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1050083.jetzt-ist-die-zeit-grosses-zu-tun.html
[7] http://www.lesinrocks.com/2016/04/19/actualite/almamy-kanoute-lhomme-veut-exporter-nuit-debout-banlieue-11820680/
[8] http://www.leparisien.fr/val-de-marne-94/l-ancienne-tete-de-liste-d-emergence-almamy-kanoute-sillonne-les-quartiers-26-04-2010-899828.php
[9] http://contre-attaques.org/auteur/fatima-ouassak
[10] https://www.franceinter.fr/personnes/marwan-mohammed-0
[11] http://www.cmh.ens.fr/
[12] https://web.archive.org/web/20110604025051/http://www.timesonline.co.uk/tol/sport/football/european_football/article734051.ece
[13] http://www.hagalil.com/archiv/2006/03/halimi.htm
[14] https://www.bim.hu-berlin.de/de/personen/dr-sina-arnold/
[15] http://www.his-online.de/verlag/9010/programm/detailseite/publikationen/das-unsichtbare-vorurteil/?sms_his_publikationen%5BbackPID%5D=1252&cHash=f52971f68ac0d29416cce48c863e8b24
[16] https://www.solidaires.org/
[17] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1050083.jetzt-ist-die-zeit-grosses-zu-tun.html

Abkehr von der Zweistaatenlösung

Trumps Vorstoß könnte Chancen für eine Lösung im Konflikt zwischen Israel und Palästina eröffnen

Wie bei vielem, was zurzeit über die Trump-Administration berichtet wird, ist auch die Diskussion um die Zweistaatenlösung im Konflikt Israel-Palästina mit viel Alarmismus verknüpft. Tatsächlich hat Trump erklärt, nicht mehr auf einer Zweistaatenlösung zu bestehen, sondern die Konfliktparteien ohne vorherige Festlegung eine Lösung finden zu lassen.

Diese Position klingt doch erst einmal ganz vernünftig. Schließlich hat die Festlegung auf diese Zweistaatenlösung nicht zum Friedensprozess beigetragen. Die Festlegung stammt noch aus der Zeit, als mit dem Osloer Abkommen eine Friedenslösung auf der Grundlage von zwei Staaten in absehbarer Zeit möglich erschien. Seitdem wird das Mantra der Zweistaatenlösung immer wieder hoch gehalten und jede Seite wirft der anderen vor, dagegen verstoßen zu haben.

So wird Israels Siedlungspolitik immer als größtes Hindernis für diese Zweistaatenlösung bezeichnet. Israels Ministerpräsident lenkt demgegenüber den Fokus auf die Aktivitäten verschiedener bewaffneter Gruppen unter den Palästinensern, auf ihre Verbindungen zur Hamas, aber auch zur Abbas-Regierung, die sich eigentlich längst hätte Wahlen stellen müssen. Wegen des Dauerkonflikts zwischen der PLO und der Hamas wurden die immer wieder abgesagt.

Genauso waren die verschiedenen Versuche, Hamas und PLO wieder zu einer Einheitsregierung zu bringen, nur Show. Dass sie nicht funktioniert, zeigt auch die Schwäche einer palästinensischen Staatlichkeit. Es fehlt einfach eine bürgerliche Schicht, die der Kitt für einen solchen Staatsaufbau ist. Selbst das gemeinsame Feindbild Israel hat es nicht vermocht, Hamas und PLO an einen Regierungstisch zu bringen. Im Gegenteil, beide haben sich einen blutigen und brutalen Krieg geliefert. Propagandistisch versuchen beide Seiten natürlich Israel die Schuld zu geben, dass es zu keiner Einigung kommt. Damit wird der Frage ausgewichen, warum nicht mal die Gegnerschaft zu Israel dieses Staatsbewusstsein schafft.

Es gab eine Zeit. als die israelische Arbeiterpartei an der Regierung war, und auch in den letzten Jahren der Scharon-Regierung, wo eine Zweistaatenlösung große Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, wenn auf palästinensischer Seite Gesprächspartner vorhanden gewesen wären, die gangbare Wege dazu aufgezeigt und auch der israelischen Seite das Vertrauen gegeben hätten, dass sie sich damit nicht nur neue Raketenabschussbasen an ihrer Grenze einhandeln.

Es wird bei der schon rituellen Schuldzuweisung an Israel bei der Frage nach dem Scheitern der Zweistaatenlösung vergessen, dass diese Raketenangriffe sowie die Selbstmordattentate ein wesentlicher Grund dafür waren, dass große Teile der israelischen Gesellschaft von der Zweistaatenlösung keine Konfliktlösung erwarten. Dieser Rechtsruck drückt sich natürlich in der Zusammensetzung der israelischen Regierung aus.

Doch von palästinensischer Seite gab es zu der Zeit, als Israel bereit für eine solche Lösung war, keinerlei taktische Überlegungen, diese moderaten Kräfte zu stärken. Im Gegenteil, Attentate und Raketenangriffe haben im Vorfeld von Wahlen die Rechten gefördert und das Vertrauen in eine Zweistaatenlösung minimiert.

Zudem gibt es die Erfahrung mit dem einseitigen Rückzug Israels aus dem Gazastreifen unter der Regierung von Scharon, der als Ultrarechter begann und sich zur Mitte bewegte. Dort hätte eine palästinensische Staatlichkeit in Miniaturform entstehen und daran gezeigt werden können, dass sie in der Praxis möglich und gewollt ist.

Doch bereits wenige Stunden nach dem Abzug machten islamistische Kräfte Tabula rasa, zerstörten die Häuser und Synagogen, die nach dem Rückzug noch vorhanden waren, bauten den Gazastreifen zur Abschussrampe für Raketen aus, Tunnel wurden gegraben und schließlich etablierte sich das Hamastan, das wir jetzt kennen und manchen Palästinenser insgeheim nach den Zeiten der israelischen Besatzung nachtrauern lässt. Die Willkür ist heute größer.

Ein Modell für eine Zweistaatenlösung im großen Maßstab ist also der Gazarückzug nicht geworden. Mittlerweile sind viele Israelins der Meinung, wenn es kein Übereinkommen gibt, dann wird der Konflikt einfach eingefroren. Das nutzen natürlich ideologisch motivierte Gruppen, die den Siedlungsausbau vorantreiben und damit auch faktisch die Grundlage für eine Zweistaatenlösung schmälern. Denn die Vorstellung, tausende Siedler ließen sich nach einer Vereinbarung räumen, ist naiv.

Andererseits wird eine Frage zu wenig gestellt. Warum wird vorausgesetzt, dass ein zu gründender palästinensischer Staat judenfrei sein muss? Warum wird nicht an ein Szenario gedacht, dass eben ein solcher Staat genauso multiethnisch wie Israel sein kann. Dort leben neben Juden auch Palästinenser und andere Araber und haben bei Diskriminierungen in bestimmten Bereichen insgesamt mehr Rechte als die Menschen in den meisten umliegenden arabischen Staaten, die nicht mal bürgerliche Demokratien genannt werden können.

Wenn man sich einen solchen palästinensischen Staat als judenfrei denken kann, geht man auch davon aus, dass der Konflikt nicht gelöst, nicht einmal befriedet, sondern nur auf eine staatliche Ebene geschoben würde. Das hätte aber möglicherweise fatale Konsequenzen. Kriegerische Konflikte sind immer möglich, und auch unterhalb dieser Schwelle würde ein permanenter kalter Krieg toben. Von einer Politik der Kooperation könnte dann kaum die Rede sein.

In einem solchen Klima gedeiht auch regressiv antizionistische und antisemitische Propaganda, wie sie heute auch in palästinensischen Schulbüchern und Medien nicht nur im Gazastreifen, sondern auch im Westjordan verbreitet wird. Auf israelischer Seite würde eine solche Perpetuierung des Konflikts auch jene ultrarechten Kräfte[1] stärken, die sich an vorderster Front in einem weltweiten Krieg gegen den Islam wähnen. Ultrarechte in Europa haben daher mittlerweile ihren Antisemitismus taktisch gezügelt und wollen ein Bündnis mit Israel im Kampf gegen den Islam[2]. Sie haben in Israel Ansprechpartner. Doch die Mehrheit der Israelis ist zu solchen Positionen bisher nicht bereit

Auch wenn Israels Rechte darüber jubelte[3], dass die US-Administration die Zweistaatenlösung nicht mehr als einzige Grundlage für Verhandlungen anerkennt, so kommt auch von anderer Seite Unterstützung. Linke arabische Abgeordnete haben schon mal angekündigt, dass sie in einem Jahrzehnt für die israelische Präsidentschaft kandidieren wollen und sich Chancen ausrechnen.

Der Hintergrund ist die demografische Entwicklung, die auch der Grund war, warum Konservative wie Scharon die Zwei-Staaten-Lösung favorisierten. Sie wollten verhindern, dass in einem gemeinsamen Staat die Juden in der Minderheit sind. Denn nach den Erfahrungen der Shoa wurde Israel als jüdischer Staat zu einem Schutzraum für diese von Antisemitismus in aller Welt bedrohten Menschen.

Das war auch der Grund, warum die Einstaatenlösung, die immer von linken Gruppen in Palästina und Israel gefordert wurde, von israelsolidarischen Kreisen vehement abgelehnt wurde. Es wurde gesagt, dass damit eben die Existenz von Israel als jüdischer Staat infrage gestellt würde.

Tatsächlich würde eine Einstaatenlösung die Frage aufwerfen, wie die unterschiedlichen Ethnien zusammen oder zumindest miteinander leben. Ein Abrücken vom Besatzungsstatus und das Prinzip einer gleichen und geheimen Wahl wären dafür die Grundlagen. Hier aber könnte sich ein Vorteil gegenüber der Zweistaatenlösung auszahlen. Die Menschen leben in einem Staat, haben auch gemeinsame Probleme und Interessen, beispielsweise am Arbeitsplatz oder bei anderen Situationen im Lebensalltag. Dadurch könnte die ausschließlich ethnische Zuordnung aufgeweicht werden.

Dass solche Prozesse auch heute schon in Israel von statten gehen, aber hierzulande kaum wahrgenommen werden, zeigt eine Meldung[4] vom letzten Jahr, dass die israelische Regierung mehr arabische Menschen in den Staatsapparat und die Verwaltung integrieren möchte. Das kann ein Schritt für ein gemeinsames binationales Bewusstsein sein.

Im Gegensatz zur Zweistaatenlösung, wo die gegenseitige Abgrenzung fast schon zum Nationbuildung mit seinen Ausschlüssen gehört, könnte eine anvisierte Einstaatenlösung also tatsächlich auf mittlere Frist eine Kooperation fördern. Dabei könnten die zivilgesellschaftlichen Organisationen in Israel eine wichtige Rolle spielen. Daher ist es umso fataler, dass Teile der gegenwärtigen Regierung in diesen Organisationen ein Feindbild sehen und mit Schwarzen Listen und ähnlichen Mitteln ein Klima der Einschüchterung gegen eine kritische Szene entfalten wollen.

Dabei haben viele dieser Organisationen Erfahrungen in der Kooperation von Palästinensern, Juden und Menschen, die sich in diesen Kategorien nicht definieren. Wenn eine Einstaatenlösung zumindest nicht mehr undenkbar ist, könnten diese Organisationen eine wichtige Rolle spielen. Denn eine wichtige Voraussetzung wäre dann auf palästinensischer Seite die Zurückdrängung der islamistischen und antisemitischen Kräfte und auf israelischer Seite die Isolierung einer Rechten, die das Land als Vorposten im Kampf gegen den Islamismus begreifen.

Israelsolidarische Kreise haben die Einstaatenlösung immer vehement abgelehnt, weil sie eben mit der Gefahr verbunden ist, dass Israel seinen Charakter als jüdischer Staat verliert. Allerdings hat sich etwa der Sozialwissenschaftler Micha Brumlik in letzter Zeit positiv auf die Einstaatenlösung bezogen[5]. Tatsächlich könnte sich die Diskussion auch in der israelsolidarischen Linken verändern, wenn die Zweistaatenlösung nicht mehr als alleiniger Lösungsansatz verhandelt wird.

Dass und wie sich die Diskussion um Antisemitismus und Antizionismus wandelt, wenn sich das politische Koordinatensystem ändert, hat die Sozialwissenschaftler Sina Arnold[6] in ihrem kürzlich in der Hamburger Edition erschienenen Buch „Das unsichtbare Vorurteil“[7] nachgezeichnet, in dem sie sich mit den Antisemitismusdiskursen der US-Linken befasst.

Anders als der Titel vermuten lässt, beginnt Arnold mit ihrer Analyse schon vor dem 1. Weltkrieg. Die Autorin weist auf regressiv antizionistische und auch offen antisemitische Diskurse in Teilen der US-Linken hin. Doch sie skizziert immer den gesellschaftlichen Kontext, in dem diese Diskurse entstehen konnten und zeigt auch, wie und warum sich die Diskurse über Israel und Antisemitismus in den USA wandeln. In der alten Linken war jeglicher Bezug auf ethnische, nationale und religiöse Besonderheiten verpönt.

Linke Jüdinnen und Juden sahen sich als Kosmopoliten und wollten ihre Herkunft nicht thematisieren. In der Neuen Linken hingegen bekamen ethnische, religiöse und nationale Besonderheiten eine Bedeutung, wenn es sich um Angehörige von unterdrückten Minderheiten handelte. Doch Jüdinnen und Juden gehörten nicht zu dieser Gruppe. Sie wurden und werden in großen Teilen der US-Linken nicht als Opfer, sondern als Täter gesehen.

Dafür führt Arnold unterschiedliche Erklärungsansätze an. So war offener Antisemitismus in den 1950er Jahren in der USA nur in wenigen rechten Refugien zu finden. Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 galt Israel für viele Aktivisten der Neuen Linken als Vorposten der USA im Nahen Osten und wurde bekämpft. Ähnliche Entwicklungen gab es zeitlich auch in der außerparlamentarischen Bewegung der BRD und Westberlin.

Arnold zeichnet kritisch nach, welche Auswirkungen das Wachsen des Dschihadismus, die islamistischen Anschläge vom 11. September und die staatlichen Reaktionen auf den Antisemitismusdiskurs in den USA hatten. Vielleicht könnte in einigen Jahren Forschungsarbeit im Sinne von Sina Arnold eruieren, wie sich die Haltung zu Israel und die Debatte über Antisemitismus verändern, wenn die Zweistaatenlösung nicht mehr als der einzige Weg zur Lösung des Nahostkonflikts dargestellt wird.


https://www.heise.de/tp/features/Abkehr-von-der-Zweistaatenloesung-3630446.html

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http://www.heise.de/-3630446

Links in diesem Artikel:
[1] http://nahost-forum-bremen.de/?p=1254
[2] http://www.endstation-rechts.de/news/kategorie/antisemitismus/artikel/die-reisen-nach-jerusalem-ein-geschaeft-auf-gegenseitigkeit.html
[3] http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/israel-donald-trump-zwei-staaten-loesung-alternativen-annexion
[4] http://www.welt.de/politik/ausland/article160521895/So-sollen-Araber-und-Juden-sich-naeherkommen.html
[5] http://michabrumlik.de/?s=Einstaatenl%C3%B6sung
[6] https://www.euroethno.hu-berlin.de/de/institut/personen/arnold
[7] http://www.his-online.de/verlag/9010/programm/detailseite/publikationen/das-unsichtbare-vorurteil/?sms_his_publikationen%5BbackPID%5D=1252&cHash=f52971f68ac0d29416cce48c863e8b24

Wie antisemitisch ist die US-Linke?

Die Autorin Sina Arnold setzt mit ihrer Untersuchung Maßstäbe für eine differenzierte Auseinandersetzung

»Wie ist es zu erklären«, fragt sich die in Berlin und Manchester lehrende Politologin und Erziehungswissenschaftlerin Sina Arnold, »dass eine selbst ernannte Streiterin für eine rassismus- und diskriminierungsfreie Gesellschaft stolz darauf ist, als antisemitisch bezeichnet zu werden?«

Diese Frage steht am Anfang ihrer Studie »Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11«, die kürzlich in der Edition Hamburg erschienen ist. Für die Autorin ist der verstörende T-Shirt-Aufdruck ein Ausdruck für das ambivalente Verhältnis, welches linke soziale Bewegungen in den USA zum Antisemitismus haben und welches Gegenstand der vorliegenden Studie ist.

Auf 450 Seiten beschäftigt sich Arnold mit der Frage, ob und wo antisemitische Argumentationsmuster bei den sozialen Bewegungen in den USA zu finden sind.

Dabei ist die im Titel ausgedrückte zeitliche Begrenzung auf die US-Linke nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 eigentlich untertrieben. Denn im ersten Teil des Buches gibt Arnold einen knappen aber prägnanten Überblick über die Antisemitismusdiskurse der US-Linken vom Ende des 19.Jahrhunderts bis zur Bürgerrechtsbewegung. Dabei arbeitet sie den Unterschied zwischen der alten, an der Arbeiterbewegung orientierten kommunistischen und anarchistischen Linken gegenüber der »Neuen Linken«, die im Aufbruch der späten 1960er Jahre entstanden ist, gut heraus.

Die »Old Left« war durchdrungen von Universalismus, Kosmopolitismus und einem positiven Bezug auf die Moderne. Sie sah sich selbst im Erbe der westlichen Zivilisation. »Genau dieses Erbe wurde von einer wachsenden Zahl von Studierenden nun als Problem betrachtet«, so Arnold.

Diese Veränderungen hatten wiederum gravierende Auswirkungen auf den Antisemitismusdiskurs. In der alten Linken war jeglicher Bezug auf ethnische, nationale und religiöse Besonderheiten verpönt. Linke Jüdinnen und Juden sahen sich als Kosmopoliten und wollten ihre Herkunft nicht thematisieren. In der »Neuen Linken« hingegen bekamen ethnische, religiöse und nationale Besonderheiten eine Bedeutung, zumindest dann, wenn es sich um Angehörige von unterdrückten Minderheiten handelte.

Jüdinnen und Juden wurden dieser Gruppe nicht zugerechnet. Vielmehr wurden und werden sie in großen Teilen der US-Linken nicht als Opfer sondern als Täter gesehen. Hierfür führt Arnold unterschiedliche Erklärungsansätze an. So war offener Antisemitismus in den 1950er Jahren in der USA nur in wenigen rechten Refugien zu finden. Das änderte sich nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967. Nun galt Israel für viele Aktivisten der »Neuen Linken« als Vorposten der USA im Nahen Osten. Der Staat wurde bekämpft.

Ähnliche Entwicklungen gab es auch in der außerparlamentarischen Bewegung der BRD und Westberlins. Liberale Intellektuelle warnten bereits Ende der 1960er Jahre vor einem neuen Antisemitismus der Linken. Es gab auch kurzzeitige Versuche von linken jüdischen Aktivisten, den Zionismus als progressive nationale Befreiungsbewegung zu interpretieren. Die Sichtweise setzte sich allerdings nicht durch.

Auch während der Occupy-Proteste wurde die Warnung vor einem neuen Antisemitismus wieder laut. In den 30 Interviews, die Arnold mit Aktivisten der außerparlamentarischen Linken in den USA kürzlich führte, finden sich Argumentationselemente, die für den Antisemitismus anschlussfähig sind.

Doch die Autorin zieht in ihrer sehr um Differenzierung bemühten Analyse das Fazit, dass in der US-Linken kaum manifester Antisemitismus anzutreffen ist – dafür häufig eine einseitige Kritik an Israel wiewohl eine Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit gegenüber dem Antisemitismus und seinen Opfern.

Arnold hat mit ihrem Buch auch Maßstäbe für eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Antisemitismusdiskursen hierzulande gesetzt.

Sina Arnold: Das unsichtbare Vorurteil. Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11,  2016, 487 S., geb., 38,00 €

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1041901.wie-antisemitisch-ist-die-us-linke.html

Peter Nowak