Das Erbe der Thatcher-Ära

Wie Jeremy Corbyn medial als irrelevant hingestellt wird

Nach dem Neuwahlbeschluss in Großbritannien[1] scheint fast allen Kommentatoren klar, dass die Konservativen als Partei, die den Brexit umsetzt, und die Liberaldemokraten als Stimme der Brexitgegner das Ergebnis unter sich ausmachen. Die Labourpartei wird als ernst zu nehmender Konkurrent in der anlaufenden Wahlkampagne gar nicht erst in Erwägung gezogen.

Der Grund liegt darin, dass die Basis der Labourpartei etwas gewagt hat, was für die marktkonformen Medien undenkbar ist. Sie haben mit Jeremy Corbyn einen Parteivorsitzenden gekürt, der einen sozialdemokratischen Diskurs pflegt und einen Teil des Wirtschaftsliberalismus infrage stellt. Corbyn knüpfte an Forderungen und Diskussionen an, wie sie in der britischen Arbeiterbewegung noch in den 1970er Jahren zum Mainstream gehörte.

Es waren damals nicht Gruppierungen am linken Rande, sondern Gewerkschaftstage und Basisversammlungen der Labourpartei, die ganz klar von einem Klassenkampf in der britischen Gesellschaft ausgingen und davon, dass es ihre Aufgabe ist, diesen für die Seite der Lohnabhängigen möglichst erfolgreich zu führen. Gerade in den 1970er Jahren begann in Großbritannien die kurze Zeit, in der eine linke Subkultur sich mit Teilen dieser Arbeiterbewegung verbündete.

So unterstützten Gewerkschafter und junge Autonome in London 1977 streikende Frauen überwiegend aus Indien. Diese Kooperation während des Grunwick-Streiks[2] legte die Grundlage für die Kooperation zwischen Londoner Schwulen und Lesben mit der Minergewerkschaft während des britischen Bergarbeiterstreiks.

Faschismus im Kostüm

Doch in diesen 7 Jahren zwischen dem Aufbruch während des Grunwick-Streiks und dem Kampf um die Bergwerke hatte sich etwas Entscheidendes verändert. Der Faschismus im Kostüm, wie Thatcher-Ära nicht ohne Berechtigung genannt wurde, war in London an die Schalthebel der Macht gekommen. Ihre erklärte Absicht war es, die Bewegung der organisierten Lohnabhängigen zu zerschlagen.

Die kampfstarke Minergewerkschaft und ihre Unterstützer wurden mit Terror und Repression überzogen. So wurde dafür gesorgt, dass der Streik verloren ging. Ziel der Thatcher-Herrschaft war die vollständige Durchsetzung der Kapitalinteressen durch das Ausschalten von Gewerkschaften und renitenten Arbeitern. Später gerieten auch andere selbstorganisierte Gruppen ins Visier.

Thatcher sah in den faschistischen chilenischen Militärherrscher Pinochet einen Gleichgesinnten und Freund. Doch die schlimmste Spätfolge der Thatcher-Konterrevolution ist der Blairismus. Damit gemeint ist die maßgeblich von Tony Blair und seinen Gesinnungsfreunden vorangetriebene Zurichtung der Labourpartei zu einer Partei, die sich auf den Boden des Wirtschaftsliberalismus stellt. Blair setzte im Grund Thatchers Werk fort, nur dass er es nun als Premierminister einer Labourregierung machte.

Erst damit hatte die Thatcher-Konterrevolution vollständig gesiegt. Es sollte keine Alternative zum Markt geben – Gesellschaft ist nur ein Traum von Linken, hatte Thatcher verkündet. Doch erst wenn diese Thesen von der Labourpartei ganz selbstverständlich übernommen werden, hat sie sich durchgesetzt. Das war die Rolle von Blair und Co. Wer sich noch auf Themen und Diskurse der britischen Arbeiterbewegung der 1970er Jahre bezog, galt nun als extremer Linker, Kommunist und Traumtänzer.
Hetzkampagne

Genau das ist der Grund für die mediale Hetzkampagne gegen Corbyn und seine Verortung als radikaler Linker. In der Realität ist er ein Mitte-Links-Sozialdemokrat, der keinesfalls einen Bruch mit der kapitalistischen Verwertungslogik plant. Doch er bezieht sich auf die Sozialdemokratie der Vor-Thatcher-Ära und erkennt an, dass es Klassenkämpfe gibt und dass sich die Lohnabhängigen organisieren müssen, wenn sie nicht leer ausgehen wollen. Das allein reicht schon für einen Großteil der Medien, um ihn zum Linksaußen zu stempeln.

Dass er überhaupt den Parteivorsitz bekam, liegt an der großen Mobilisierung der Labour-Basis. Menschen, die sich längst nicht mehr für Politik und schon gar nicht für Parteien interessiert haben, sind in die Labourpartei eingetreten, als sich die Möglichkeit abzeichnete, dass ein Mann erfolgreich sein könnte, der eine Alternative zum Wirtschaftsliberalismus sah.

Etwas von der Stimmung an der Labour-Basis im Sommer 2015 kann man heute noch nachlesen[3]:

Jeremy Corbyn reist in diesen Tagen und Wochen quer durch das Vereinigte Königreich – von einem Treffen mit der Partei-Basis zum nächsten, so wie hier im Londoner Stadtteil Camden. Wo der bärtige, grauhaarige 66-Jährige auch hinkommt: Seine Anhänger stehen Schlange, um ihn zu sehen, zu hören, zu fragen. Von einer „Corbynmania“ will der Kandidat selbst aber nichts wissen. Die Leute seien hungrig nach neuen Ideen, sagt Corbyn. Sie wollen in einer fairen Gesellschaft leben und sie wollten nicht mehr hören, die konservative Sparpolitik sei erfolgreich – wo doch jeder sehe, dass dem nicht so sei. Dieser Politiker gibt uns Hoffnung, sagen zwei junge Labour-Frauen, weil er anders ist.
Tagesschau[4]

Hier hatte sich die nicht marktkonforme Parteibasis zurückgemeldet, die in den Strategiepapieren der Blairisten und ihre Medien keine Rolle spielten. Corbyn brachte noch einmal junge Menschen, die sich das erste Mal für Politik interessierten, und alte Gewerkschaftler, die noch die Zeit vor Thatcher kannten, zusammen.

Das war im letzten Jahr, als Corbyn mit einer noch größeren Mehrheit im Amt bestätigt wurde[5]. Die zweite Abstimmung war notwendig geworden, weil der von Blairisten dominierte Parteiapparat Corbyn auf allen Ebenen torpedierte und ihn so schnell wie möglich absetzen wollte.

Sie behaupteten immer, dass mit Corbyn keine Wahlen gewonnen werden können, obwohl er gleich zweimal das Gegenteil bewiesen hatte. Die durchweg negative Berichterstattung über Corbyn sollte in den Köpfen festklopfen, dass jemand, der in eine Welt vor Thatcher zurückkehren will, gar nicht wählbar ist.

Corbyn und der Brexit

Diese Doktrin war so wirkungsmächtig, dass sie von anderen Sozialdemokraten wie Owen Jones[6] übernommen wurde, der Corbyn durchaus lautere Beweggründe unterstellt, ihm er aber nicht zutraut, Wahlen zu gewinnen. Allerdings hat Owen Jones in einer aktuellen Erklärung Vorschläge gemacht, wie Corbyn mit einer sozialen Gestaltung des Brexit Stimmen gewinnen könnte[7].

Oft wird in den Medien suggeriert, Corbyns mangelnde EU-Begeisterung habe zu seinem schlechten Image in den Medien beigetragen. Dabei hat sich die negative Berichterstattung über ihn nicht geändert, seit er überhaupt als Labourvorsitzender in Frage kam. Und seine Haltung zum Brexit war für die Labourpartei vernünftig.

Der Brexit hatte vor allem in einigen Labour-Hochburgen große Zustimmung. In den Medien wird ausführlich über die Strategie der Tories berichtet, in diesen Wahlkreisen mit Pro-Brexit-Kandidaten zu punkten. Welche Konsequenzen hätte es gehabt, wenn Corbyn sich eindeutig für die EU ausgesprochen hätte?

Dann wären die Tories und noch rechtere Gruppierungen umso erfolgreicher gewesen. Der spezifische Brexit-Diskurs wirkte sich aber negativ auf Corbyn aus. Es wurde nicht über Arbeiterrechte, über soziale Fragen etc. geredet, sondern über Einwanderung, Kriminalität und Abschottung. Es war der rechte Brexit-Diskurs, der die Fragen, für die Corbyn steht und für die er von der Labour-Basis gewählt wurde, verdrängte.

Linke für den Brexit

Es gab eine Gruppe linker Gewerkschafter[8], die gerade mit den entgegengesetzten Argumenten für den Brexit waren. Weil die EU Flüchtlinge abweist, weil sie Gewerkschafts- und Arbeiterrechte massiv verletzt, waren sie für einen Austritt. Der Diskurs war bisher schwach, nur könnte es gerade für Labour eine Chance sein, sich darauf zu beziehen. Dabei sollte es nicht ständig darum gehen, wie man den Brexit, wenn schon nicht ungeschehen, so für die EU doch verdaulicher machen könnte, wie es aktuell Paul Mason vorschlägt[9].

Vielmehr sollte der Grundsatz lauten, dass für die Lohnabhängigen die Frage für oder gegen den Brexit irrelevant ist. Die Thatcher-Konterrevolution wurde in einem Großbritannien vollzogen, das in der EU war und die Tories wollen den Brexit nutzen, um daran anzuknüpfen. Jetzt müsste eine Linke Vorstellungen für eine egalitäre Gesellschaft entwickeln, die mit der EU eine Form überstaatlicher Unterdrückung überwunden hat, dafür aber dem britischen Nationalstaat ausgeliefert ist.

Es müsste also darum gehen, hier Erfolge bei Streiks und sozialen Kämpfen zu erzielen, weil ein Großbritannien ohne EU vielleicht auch einfacher unter Druck zu setzen ist. Von einer Labourpartei könnte allerhöchstens erwartet werden, dass sie die Forderungen der 1970er Jahre auf ihre Aktualität überprüft und gegebenenfalls an die Erfordernisse des 21.Jahrhunderts anpasst.

Selbst wenn Labour die Wahlen damit nicht gewinnt, aber sich behauptet, wäre es ein guter Beitrag auch über Großbritannien hinaus. Eine Ablehnung der EU, die nicht auf Ausgrenzung, Wirtschaftsliberalismus und Xenophobie beruht, sondern auf dem Gegenteil, ist möglich.

Livingstone und seine regressive Israelkritik

Am Ende sollte auf einen Schwachpunkt in der Agenda von Labour-Linken eingegangen werden, den sie mit großen Teilen der traditionellen Linken in Großbritannien – und nicht nur dort – teilen. Es geht um die Unfähigkeit, zwischen legitimer Kritik an der Politik der israelischen Regierung und der Delegitimierung Israels, wie sie der früher bekannte Labour-Linke Ken Livingstone immer wieder praktizierte, zu unterscheiden.

Dafür wurde er jetzt für ein Jahr aus der Labourpartei ausgeschlossen[10], was bei jüdischen Parteimitgliedern auf Kritik stieß. Sie hatten einen Totalausschluss gefordert.

Livingstone hatte von Kollaboration[11] zwischen Zionismus und Nationalsozialismus gesprochen. Dabei könnten doch gerade selbsternannte Antiimperialisten, die ihre Anti-Israel-Position auch mit dem britischen Kolonialismus begründen, genauer hinschauen. Es war die jüdisch-zionistische Bewegung, die Ende der 1940er Jahre einen antikolonialen Kampf gegen Großbritannien führte, der im Einvernehmen mit den arabischen Eliten verhindern wollte, dass Juden aus aller Welt nach Israel kommen.

Darunter waren viele der Überlebenden der Shoah, die unmittelbar nach Ende des NS mit dieser britischen Politik konfrontiert waren. Verschiedene bewaffnete jüdische Verbände führten damals bewaffnete Aktionen gegen britische Institutionen. Ihren Erfolg haben Livingstone und Co. wohl bis heute nicht überwunden.
https://www.heise.de/tp/features/Das-Erbe-der-Thatcher-Aera-3689823.html

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Neuwahlen-in-Grossbritannien-3687325.html
[2] https://grunwick40.wordpress.com/
[3] https://www.tagesschau.de/ausland/jeremy-corbyn-labour-grossbritannien-101.html
[4] https://www.tagesschau.de/ausland/jeremy-corbyn-labour-grossbritannien-101.html
[5] http://www.spiegel.de/politik/ausland/jeremy-corbyn-mit-grosser-mehrheit-als-labour-chef-bestaetigt-a-1113787.html
[6] https://www.theguardian.com/commentisfree/2017/mar/01/corbyn-staying-not-good-enough
[7] https://www.theguardian.com/commentisfree/2017/apr/18/labour-jeremy-corbyn-time-to-fight-theresa-may
[8] http://www.tuaeu.co.uk/left-brexit/
[9] https://www.theguardian.com/commentisfree/2017/apr/19/coalition-collaboration-tactical-voting-stop-hard-brexit
[10] https://www.israelnetz.com/politik-wirtschaft/politik/2017/04/05/britischer-politiker-livingstone-fuer-ein-jahr-aus-labour-ausgeschlossen/
[11] https://www.theguardian.com/politics/2017/mar/30/ken-livingstone-repeats-claim-nazi-zionist-collaboration

Wer will noch sozialdemokratische Politik machen?


Der Berliner SPD-Politiker Raed Saleh verfasst eine Partei-Kritik, die eine Perspektivdiskussion anschieben soll, aber wenig kritisch ist. In Großbritannien ist man da weiter

Sollen die europäischen Sozialdemokraten wieder sozialdemokratische Politik machen? Darüber gibt es in verschiedenen europäischen Ländern heftigen Streit. In Großbritannien hat Jeremy Corbyn mit Hilfe der Basis einen parteiinternen Putschversuch überstanden. Dahinter steht Tony Blair, der immer noch der Strippenzieher der Parteirechten ist, obwohl mittlerweile eine unabhängige Untersuchung nachgewiesen hat (Chilcot-Bericht setzt Blair unter Druck[1]), dass er für den Irakkrieg verantwortlich ist, der auf Grund von Lügen und Gesetzesbrüchen erfolgte.

Der Erfolg von Corbyn hat Labour einen großen Mitgliederzuwachs beschert, doch die Rechten wollten ihn weiter stürzen. In Spanien könnten die Sozialdemokraten das Schicksal ihrer griechischen Genossen erleiden und ganz abstürzen. Auch dort integriert ein ehemaliger Premierminister, der für Todesschwadrone gegen Oppositionelle verantwortlich war, gegen die, die die Partei wieder mehr in Richtung Sozialdemokratie drängen wollen.

Perspektivdiskussion in der Berliner SPD

Nur in der deutschen SPD machte es bislang den Anscheind, dass solche Debatten nicht geführt werden, weil es dort niemanden mehr gibt, der noch eine sozialdemokratische Politik machen will. Doch nun hat in der Berliner SPD eine Debatte begonnen, die von manchen als Perspektivdiskussion bezeichnet wird. Schließlich hat die SPD in ihren langjährigen Stammland Berlin das schlechteste Wahlergebnis seit Langem eingefahren.

Trotzdem wurden in der medialen Öffentlichkeit oft nur die CDU und die Piraten als Wahlverlierer angesehen. Gerade angesichts der angestrebten Reformkoalition mit Linkspartei und Grünen ist parteiintern die Neigung begrenzt, über die massiven Stimmenverluste und die parteiinternen Fehler zu reden und womöglich auch den Regierenden Bürgermeister Müller in die Verantwortung zu nehmen.

Nun hat mit Raed Saleh einer von Müllers Kontrahenten um den Vorsitz der Berliner Sozialdemokraten in einem Gastbeitrag[2] im Tagesspiegel daran erinnert, dass die SPD keinen Grund hat, sich als Gewinner der Berliner Wahlen zu gerieren und prompt wird getan, als habe eine Debatte über die Zukunft der SPD begonnen.

SPD als Staats- statt Volkspartei?

Saleh beginnt seinen Beitrag mit einem Faktencheck: Mit 21,6 Prozent habe die SPD Berlin ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren. Ein Ergebnis, das in vielerlei Hinsicht infrage stelle, was die SPD heute ist und was sie sein sollte. Ihren Status als Volkspartei habe die SPD in vielen Teilen Berlins verloren, in Marzahn-Hellersdorf lag sie auf Platz vier, in manchen Gegenden an den Rändern Berlins war die AfD stärkste Kraft. Nach diesen Ausführungen kommen viele Allgemeinplätze:

Es geht schon mindestens seit Anfang dieses Jahres nicht mehr um die Flüchtlinge, sondern um uns, darum, welches Land wir sein wollen – und welche Parteien dieses Land braucht.Raed Saleh

Raed Saleh

Auffällig ist, und das unterscheidet Salehs Beitrag von ähnlichen Debatten in der Labourparty, dass er von Gerechtigkeit spricht und dabei keineswegs Anleihen bei Marx nimmt und so vielleicht zur Frage käme, wie ein Klassenkampf auf der Höhe der Zeit aussehen könnte. Stattdessen besteht für ihn der Gegensatz zwischen den Bürgern und den „einflussreichen Lobbys“. In einer Zwischenüberschrift heißt es:

Die Spaltung verläuft zwischen der politischen Blase und den Bürgern.

Statt Kapitalismuskritik wird hier eine Lobbypolitik betrieben, die nicht dadurch plausibler wird, als auch die spanische Protestpartei Podemos sich dieser Methode bedient. Wenn Saleh betont, dass die SPD wieder zur „Bürgerpartei“ werden soll und als Gegensatz dazu den Begriff der „Staatspartei“ verwendet, fragt man sich, wo da die Alternative ist. Gerade mit ihren Anspruch zur Volkspartei wurde sie auch zur Staatspartei. Damit hat sie sich davon verabschiedet, den Kapitalismus zumindest noch theoretisch zu kritisieren.

Staatspartei war die SPD praktisch seit 1918 und hat sich auch so aufgeführt, als sie ihre eigene Basis, die revolutionäre Veränderungen anstrebte, niederschießen ließ. Schnell stellte sich aber heraus, dass in der Weimarer Republik die SPD nur geduldet war und diejenigen, die die Macht hatten, stellen sie bald vom Platz.

In der BRD vollzog die SPD mit dem Godesberger Programm auch theoretisch den Schritt zur Volks- und Staatspartei. Der Gegensatz, den Salah hier aufmacht, ist also nur konstruiert, hört sich aber kritisch an. Wenn der Taz-Kommentator Uwe Rada Saleh deswegen als Linkspopulist[3] klassifiziert, hat er an diesem Punkt recht.

Es gehört zu den Strategien sich als linkspopulistisch verstehender Strömungen, einen Gegensatz zwischen der Bevölkerung und der Politikerkaste zu kreieren. Doch wenn Uwe Rada schließlich auch den Begriff „Staatspartei“ als Populismus bezeichnet, der sehr an das „Establishment“ erinnere, das Donald Trump kritisiert, so ist das nirgends belegt .

Davon abgesehen, dass Trump kein Linkspopulist ist, ist es viel wahrscheinlicher, dass Saleh den Begriff Staatspartei so verwendet, wie Podemos in Spanien oder die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien die herrschenden Parteien kritisierten, bevor sie selber dort mitmischen wollten. Zudem ist verwunderlich, dass Uwe Rada nicht auf einen in Berlin näherliegenden Begriffsbezug rekurriert. Schließlich wurde und wird die SED noch immer gerne mit dem Begriff Staatspartei tituliert.

Ist es Linkspopulismus, wenn Mieterinteressen berücksichtigt werden?

Völlig unverständlich ist, dass Rada, der immerhin zu den linken Protagonisten des großen Westberliner Studentenstreiks von 1988[4] gehörte, sogar eine der wenigen originär sozialdemokratischen Forderungen ebenfalls als Linkspopulismus klassifiziert:

„Wir brauchen eine Höchstrendite für Wohnraum“, hatte er (Raed Saleh, Anm. d. A.) im August gefordert und vorgerechnet, dass ein Hausbesitzer, dessen Haus abbezahlt sei und der die Miete ohne Gegenleistung erhöhen will, gestoppt werden müsse. „Es gibt aus meiner Sicht keine Berechtigung für eine solche Gier“, so Saleh wörtlich. Klingt ziemlich antikapitalistisch, ist aber die Sache des Bundes. Populismus also. Realistischer wäre es gewesen, Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) bei seinen Bemühungen zu unterstützen, die Mietumlage bei Modernisierungen deutlich zu reduzieren.Uwe Rada[5]

Wenn in einer sich als links verstehenden Zeitung eine Diskussion über Renditegrenzen für Investoren, die allerdings schon mit dem Begriff der Gier einen unangenehmen Stempel aufgedrückt bekommt, als populistisch klassifiziert wird, weil ein Berliner Sozialdemokrat seinen Parteikollegen im Ministeramt mit solchen grundlegenden Forderungen bloß nicht behelligen, sondern diesen bei seiner Placebopolitik, die die Rendite der Eigentümer nicht antastet, unterstützen soll, dann ist das auch ein Beispiel dafür, dass eine linke Kritik an der herrschenden Politik in Deutschland kaum stattfindet.

Selbst Kommentatoren sich als links verstehender Zeitungen geben dann den Linienrichter, der das Stoppsignal erteilt, wo die Kritik vielleicht die Investoren, die Märkte und den Dax verärgern könnte.

Wenn Saleh am Ende seines Perspektivpapiers erklärt, er wünscht Rot-Rot-Grün Erfolg, dann kann das vordergründig als Kommentar zur angestrebten neuen Regierung in Berlin verstanden werden. Doch seit der Berlinwahl gibt es auch wieder Spekulationen über eine Regierung links von der Union auf Bundesebene. Manche hoffen auf einen Koalitionsbruch noch vor den nächsten Bundestagswahlen. Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wäre der Termin, an dem sich entscheidet, ob es sich um mehr als nur Wunschträume vom linken Flügel der SPD und Teilen der Linkspartei handelt.

Raed Saleh könnte sich mit seinem Beitrag auch als Politiker ins Gespräch bringen, der bundespolitische Ambitionen hat. Schon Klaus Woworeit war immer wieder im Gespräch, wenn es um die Personalien einer SPD-geführten Regierung gemeinsam mit den Linken und Grünen ging. Es ist nie dazu gekommen.

Saleh hat vielleicht den Vorteil, dass er bei seinen auf Berlin bezogenen Karriereplänen von einer SPD-Basis ausgebremst wurde, die einem Mann mit den urdeutschen Namen Müller gegenüber den Bewerber mit migrantischen Hintergrund den Vorzug gab.

Sollte Saleh aber mit seinem Gastbeitrag ein Bewerbungsschreiben für seinen Einstieg in die Bundespolitik gegeben haben, wird schon jetzt deutlich: Die SPD bleibt SPD. Während Corbyn von einem Sozialismus des 21.Jahrhunderts spricht und konkrete Maßnahmen dazu skizziert, beschwört Saleh den Gegensatz zwischen Bürger und Lobby und will von Klassenkampf nichts wissen. Wo der „radikale Kurswechsel „[6] sein soll, den manche in Salehs Beitrag hineinlesen wollen, bleibt offen.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49583/2.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48752/

[2]

http://www.tagesspiegel.de/berlin/gastbeitrag-zur-berliner-spd-von-der-volkspartei-zur-staatspartei/14602668.html

[3]

http://www.taz.de/!5340671

[4]

http://unimut.blogsport.de

[5]

http://www.taz.de/!5340671/

[6]

http://www.berliner-zeitung.de/berlin/interview-mit-raed-saleh–ich-mache-mir-ernsthaft-sorgen-um-meine-politische-heimat–24831842