Verschieden und vereint

Wirtschaft & Soziales: Im polnischen Poznan trafen sich Aktivist_innen zu einer internationalen Streikkonferenz

Die westpolnische Stadt Poznan geriet im Sommer in die Schlagzeilen, weil dort Beschäftigte eines Amazon-Werks für das Angleichen von Löhnen und Arbeitsbedingungen an die Verträge in anderen europäischen Ländern protestierten und sich zugleich mit den Streiks bei Amazon in Deutschland solidarisierten. (ak 607) Am ersten Oktoberwochenende trafen sich in Poznan etwa 150 Aktivist_innen aus ganz Europa, um sich über die Möglichkeiten eines transnationalen sozialen Streiks auszutauschen. Hintergrund des Treffens ist die Einschätzung, dass der wesentlich von Deutschland ausgehenden Austeritätspolitik nicht nur mit Blockaden und Großdemonstrationen begegnet werden kann. Kämpfe am Arbeitsplatz ebenso wie der Widerstand gegen Zwangsräumungen und die Vertreibung aus den Stadtteilen sind wichtige Alltagskämpfe, die Menschen fern von Events politisieren und mobilisieren. Ein Ansatz, der bereits Schule gemacht hat. So wurde am 31. Mai 2014 im Rahmen der europäischen Blockupy-Aktionstage der Geschäftsbetrieb von Bekleidungsläden auf der Frankfurter Zeil lahmgelegt. Dabei sollten die schlechten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ebenso thematisiert werden wie die internationalen Ausbeutungsverhältnisse der Bekleidungsindustrie. An diesem Tag kooperierten die Aktivist_innen auch mit der Belegschaft einer Filiale, die für höhere Löhne streikte. Am Rande der Blockupy-Demonstration in diesem Jahr in Frankfurt am Main und auf einem Nachbereitungstreffen in Berlin tagte die AG Arbeitskämpfe des Blockupy-Bündnisses. Mit dem Treffen in Poznan weiteten die Aktivist_innen die Diskussion über Ländergrenzen hinaus aus und legten einen Schwerpunkt auf die Verhältnisse ins Osteuropa.
In den Arbeitsgruppen standen die Aspekte des sozialen Streiks im Mittelpunkt. Ein wichtiges Merkmal ist die Selbstorganisation der Beschäftigten, die Gewerkschaften zwar unterstützen, aber nicht anleiten sollen. Das Konzept des sozialen Streiks umfasst, dass der Arbeitskampf nicht auf den Betrieb begrenzt bleibt. Ein Beispiel gab ein vor einigen Wochen entlassener Mitarbeiter der Lebenshilfe Frankfurt am Main, wo Beschäftigte für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen kämpften. An einer Protestkundgebung während eines Gartenfests der Lebenshilfe beteiligten sich neben den DGB-Gewerkschaften GEW und ver.di auch die Freie Arbeiter Union (FAU). Im Anschluss gab es eine Demonstration durch den Stadtteil Bornheim, wo auch der Zusammenhang von Hartz IV, Niedriglohn, Mietschulden und Zwangsräumungen thematisiert wurde. Solche Beispiele von sozialen Streiks häufen sich.

Hoffnung auf einen transnationalen Sozialstreik
Die Kämpfe von Migrant_innen prägten die Konferenz. Den Anfang machte ein aktueller Bericht von der kroatisch-ungarischen Grenze. In einem Akt staatlich organisierter Fluchthilfe öffneten sich für unzählige Migrant_innen die Grenze, teilweise wurden sie bis nach Österreich oder Deutschland gefahren. Angesichts dieser Erfolge diskutierten die Teilnehmer_innen die Frage, ob die Migrationsbewegungen den Kämpfen gegen Austerität neuen Schwung geben können. Doch nicht nur an den territorialen Grenzen der EU sind migrantische Kämpfe zentral: Die Streiks in der Logistikbranche Norditaliens trugen Migrant_innen und auch die zu ihrer Unterstützung besetzten Häuser werden insbesondere von Arbeitsmigrant_innen und ihren Familien bewohnt. In Frankreich besetzten Migrant_innen diesen Sommer Leiharbeitsfirmen wie Adecco, Randstad und Manpower und die spanische 15-M Bewegung gründete bereits in fünf europäischen Städten sogenannte Oficinas Precarias. Hier finden prekarisierte Arbeiter_innen Unterstützung, um sich gegen Überausbeutung und die zunehmende Verwehrung sozialer Rechte zu wehren. »Wo zuvor die Grundrechte der Freizügigkeit bestanden, ist nun die Rede von Privilegien, von Rechten auf der Basis von Verdiensten am Arbeitsmarkt, welche zur Bedingung für den längerfristigen Aufenthalt und den Zugang zu sozialen Leistungen gemacht werden«, so Nicola von den Berlin Migrant Strikers.
Am Ende des Treffens stand fest, dass ein transnationaler Streik nicht ohne die Kämpfe der Migration denkbar ist, nicht zuletzt weil die derzeitigen kapitalistischen Verhältnisse auf die Regulation von Mobilität angewiesen sind.
Der Versucheines transnationalen Streiks muss sicherlich von dem Paradox ausgehen, dass wir alle von Prekarisierung und Ausbeutung betroffen sind, dennoch unterschiedliche Probleme und Forderungen haben. »Gerade die Frage der sozialen Leistungen wird heute genutzt, um Hierarchien zwischen Migranten und Staatsbürgern, zwischen neuen und alten Migranten, zwischen EU-externen und internen Migranten zu schaffen«, so Paola von der Gruppe Precarious (Dis)Connections aus Bologna. Daraus ergeben sich zwei zentrale Herausforderungen: Es könne nicht nur um die Arbeiter_innen gehen, die eine Aufenthaltsgenehmigung in der Tasche haben, betonte Paola. Eine weitere Herausforderung bestehe darin, nicht nur Arbeitskämpfe, sondern das Soziale insgesamt zu repolitisieren, damit Streiks unter den neoliberalen Verhältnissen wieder eine gesellschaftliche Kraft entwickeln, wie Tomas von der Interventionistischen Linken bemerkte.
Schon im Vorfeld des Treffens stand der Vorschlag im Raum, den Prozess des transnationalen sozialen Streiks um eine gemeinsame politische Plattform von vier Forderungen herum aufzubauen: europäischer Mindestlohn, europäisches Grundeinkommen, europäische Sozialleistungen und Mindestaufenthaltserlaubnis für Migrant_innen in der EU. Diese Forderungen blieben umstritten: Manchen erschienen sie zu reformistisch, anderen zu utopisch, einigen zu eurozentrisch. Dennoch vereinbarten die Aktivist_innen, zum 1. März 2016 mit vereinten Kräften zu einem europaweiten Migrant_innen-Streik zu mobilisieren. Zudem soll die Karawane von Amazon-Arbeiter_innen zwischen Standorten in Italien, Frankreich, Deutschland und Polen unterstützt werden, falls sich die Arbeiter_innen im Februar für diese Aktion entscheiden. Für nächstes Jahr ist ein weiteres transnationales Sozialstreiktreffen geplant.
Peter Nowak ist freier Journalist und Aktivist aus Berlin.
Lisa Riedner ist Migrationsforscherin und betreibt mit der
Initiative Zivilcourage ein temporäres workers center in München.

ak 609 vom 20.10.2015

https://www.akweb.de/

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Italienische Übersetzung des Artikels:

Differenziato e connesso. Sul meeting transnazionale di Poznan

di PETER NOWAK e LISA RIEDNER

Nowak Rieder PoznanPubblichiamo la traduzione italiana dell’articolo di Peter Nowakgiornalista freelance e attivista di Berlino – e Lisa Riedner – ricercatrice nel campo delle migrazioni e attivista presso un temporary workers center della Initiative Zivilcourage di Monaco. L’articolo è comparso sul n. 609 della rivista «Analyse & Kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis» il 20 ottobre 2015.

La scorsa estate la città polacca di Poznan è salita alla ribalta per la protesta dei lavoratori di Amazon, che hanno rivendicato un adeguamento dei propri salari e delle proprie condizioni di lavoro ai contratti esistenti negli altri paesi europei, esprimendo solidarietà con gli scioperi dei lavoratori di Amazon in Germania.

Nel primo week-end di ottobre circa 150 attivisti/e provenienti da tutta l’Europa, si sono incontrati a Poznan per confrontarsi sulle possibilità di uno sciopero sociale transnazionale. Alla base dell’incontro c’è la considerazione che non sia possibile fronteggiare la politica di austerità intrapresa dalla Germania solo attraverso blocchi e grandi manifestazioni. Lotte importanti sono anche le battaglie che quotidianamente si svolgono sul posto di lavoro o le resistenze contro gli sfratti e le espulsioni dai quartieri. Queste lotte, infatti, riescono a mobilitare e politicizzare le persone che le grandi manifestazioni non riescono ad attrarre. Si tratta di un approccio che ha già fatto scuola. Già il 31 maggio 2014, durante le Blockupy-Aktionstage, fu bloccata l’attività di tutti i negozi di abbigliamento nella Frankfurter Zeile [la via commerciale] a Francoforte. Ciò serviva a denunciare le pessime condizioni di lavoro dei dipendenti e i rapporti di sfruttamento nell’industria tessile. Durante questa giornata, attivisti e attiviste hanno cooperato con i lavoratori di un negozio che scioperavano per l’aumento di salario. Quest’anno, poi, nel corso della tre giorni di Blockupy a Francoforte e durante un incontro di preparazione a Berlino si è riunito il gruppo di lavoro «Lotte del lavoro» della coalizione di Blockupy. Durante l’incontro a Poznan, inoltre, attivisti e attiviste hanno allargato la prospettiva della discussione, andando oltre i confini dei propri Stati e mettendo l’accento sui rapporti con l’Europa dell’Est.

Tema centrale dei gruppi di lavoro sono stati i diversi aspetti dello sciopero sociale. Un aspetto molto importante è quello dell’auto-organizzazione dei lavoratori, che dovrebbe essere sostenuta, ma non guidata, dai sindacati. L’idea dello sciopero sociale è che le lotte del lavoro non devono rimanere confinate nelle singole aziende. Un esempio è rappresentato dal licenziamento, qualche settimana fa, di un dipendente della Lebenshilfe di Francoforte, i cui lavoratori stavano lottando per un salario più alto e migliori condizioni di lavoro. In una manifestazione di protesta, svoltasi durante una festa della Lebenshilfe, si è vista la partecipazione della Freie Arbeiter Union (FAU), accanto ai sindacati DGB – Gewerschaften dei GEW e Ver.di. Alla fine dell’evento, si è svolta una manifestazione nel quartiere di Bornheim, in cui è stata tematizzata la relazione tra Hartz IV, bassi salari, affitti arretrati e sfratti. Queste forme di sciopero sociale sono in aumento.

La speranza di uno sciopero sociale transnazionale

L’incontro di Poznan è stato caratterizzato dalle lotte dei migranti. Uno degli interventi di apertura ha raccontato quanto avvenuto di recente sul confine croato-ungherese. Attraverso un’azione della Fluchthilfe –  organizzata a livello statale – si sono aperte le frontiere per molti migranti, che sono in parte riusciti a raggiungere l’Austria e la Germania. A partire dalla capacità dei migranti di mettere in questione i confini, i partecipanti al meeting di Poznan si sono chiesti se i movimenti dei migranti possano dare un nuovo impulso alle lotte contro l’austerità. Le lotte dei migranti, infatti, non sono rilevanti solo ai confini dell’Europa. Nell’Italia settentrionale sono stati i migranti che hanno portato avanti gli scioperi nel settore della logistica e preso parte insieme alle famiglie all’occupazione delle case in supporto agli scioperi. In Francia quest’estate i migranti hanno occupato gli immobili delle società di lavoro interinale come Adecco, Randstad e Manpower e il movimento spagnolo 15M ha fondato già in 5 città europee le cosiddette Oficinas Precarias. Qui i lavoratori precari trovano sostegno nella lotta contro l’intensificazione dello sfruttamento e la crescente sottrazione di diritti sociali. «Dove prima c’erano diritti fondamentali di libera circolazione, ora si parla di privilegi, di diritti basati sui guadagni nel mercato del lavoro, diritti che diventano la condizione per un soggiorno a lungo termine e per l’entrata nel welfare sociale», come dice Nicola dei Berlin Migrant Strikers.

Al termine dell’incontro è risultato chiaro che uno sciopero transnazionale non è pensabile senza le lotte dei migranti, non da ultimo per il fatto che il capitalismo contemporaneo dipende dal governo della mobilità. L’esperimento di uno sciopero transnazionale deve sicuramente partire dal paradosso che tutti siamo colpiti dalla precarizzazione e dallo sfruttamento e che, allo stesso tempo, abbiamo problemi e rivendicazioni diversi. «Le prestazioni sociali sono oggi utilizzate per creare gerarchie tra migranti e cittadini, tra nuovi e vecchi migranti, tra migranti esterni e interni all’Europa», dice Paola del gruppo ∫connessioni Precarie di Bologna. Da ciò derivano due sfide fondamentali: non si tratta solo di far riferimento ai lavoratori con un permesso di soggiorno in tasca, dice Paola. Un’altra sfida è ripoliticizzare, oltre alle lotte del lavoro, anche il sociale nel suo complesso, in modo che gli scioperi sviluppino nuovamente una forza sociale per contrastare il neoliberalismo, come nota Thomas di Interventionistische Linke.

Già prima del meeting era stata presentata la proposta di costruire il processo dello sciopero sociale transnazionale attorno a una piattaforma politica comune con quattro rivendicazioni: salario minimo europeo, reddito di base europeo, welfare sociale e permesso di soggiorno minimo europei per migranti nella EU. Queste rivendicazioni restano ancora controverse: ad alcuni sembrano eccessivamente riformiste, ad altri troppo utopiche, ad altri ancora troppo eurocentriche. Ciononostante gli attivisti hanno concordato una mobilitazione che, unendo le forze, possa portare a uno sciopero europeo attorno alla questione del lavoro migrante il primo marzo 2016. Dovrebbe inoltre essere sostenuta la carovana dei lavoratori e delle lavoratrici di Amazon nelle diverse sedi in Italia, Francia, Germania e Polonia, se questi decidessero una mobilitazione per febbraio. Un altro meeting per lo sciopero sociale transnazionale è stato pianificato per il prossimo anno.

Differenziato e connesso. Sul meeting transnazionale di Poznan

Arbeiter aller EU-Länder organisiert Euch!

Arbeiter aus verschiedenen EU-Ländern, die in Deutschland schwarz, prekär und unterbezahlt arbeiten müssen, wehren sich gegen die Bedingungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Ein Überblick verschiedener Initiativen aus Berlin.

Am 17. April bekamen die Besucher eines Konzerts der italienischen Bands Banda Bassotti und 99 Posse im Berliner S0 36 einen Einblick in den Bereich des Niedriglohnsektors der Hauptstadt. Vor dem Auftritt der Bands verlasen ehemalige Beschäftigte der angesagten ­Berliner Pizzerien Due Forni, Il Casolare und Il Ritrovo einen offenen Brief, in dem sie die ­dortigen Arbeitsverhältnisse anprangern. Der Brief enthält mehrere Forderungen. Neben ­einer Lohnerhöhung und einem regulären Arbeitsvertrag werden darin das Ende des Mobbing gegen kritische Kollegen, das Recht auf Pausen und auf Bezahlung im Krankheitsfall sowie ein Entlassungsverbot nach einer Schwangerschaft gefordert.

Der Forderungskatalog macht deutlich, dass in den Pizzerien, an deren Wänden rote Sterne und Fotos von Che Guevara hängen, der alte Spontispruch »legal, illegal, scheißegal« eine neue Bedeutung bekommen hat. Zahlreiche erkämpfte Rechte werden von den Restaurantbesitzern ignoriert, die zudem mit den beiden Bands – die von einem Großteil der italienischen Linken sehr gefeiert werden – befreundet sind. Seit vielen Jahren sponsern sie ihre Konzerte. Die Beschäftigten hatten die Musiker in einen Brief aufgefordert, sich eindeutig zu positionieren oder das Konzert abzusagen. Nach einem Gespräch mit allen Beteiligten haben die Eigentümer der Restaurants ihren Mitarbeitern zugesichert, dass bei ihnen künftig das Arbeitsrecht zur Anwendung komme. Demnach müsste ein Mindestlohn von 8,50 Euro, eine 30minütige Pause nach sechs Stunden Arbeit und ein Kündigungsschutz für Schwangere eingeführt werden.

Ob zur Durchsetzung des gültigen Arbeitsrechts in den Pizzabuden nicht die Gründung einer Gewerkschaftsgruppe sinnvoller gewesen wäre als die Hilfe von Szenebands, könnte man sich fragen. Schließlich können solche Zusagen schnell gebrochen werden, und ob die Musiker noch einmal vermitteln, ist völlig offen.

Diesen Weg wählten die rumänischen Arbeiter, die monatelang auf der Baustelle der »Mall of Berlin« schufteten und um große Teile ihres Lohns geprellt wurden. Sie setzten auf die eigene Kraft und die Unterstützung der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU). Am 26. April rief sie zu einer mehrstündigen Belagerung der Shoppingmall am Rande des Potsdamer Platzes auf. »Sechs Monate Kampf und noch immer kein Lohn«, lautete das Motto.

»Sie haben die Arroganz der Macht, doch sie haben nicht mit unserer Bereitschaft zum Widerstand gerechnet. Was das Aufgeben betrifft, da haben sie bei uns keine Chance.« Die knapp 200 Demonstrationsteilnehmer brechen in Applaus aus, als Janko E. spricht. Er gehört zu einer Gruppe von rumänischen Arbeitern, die um ihren Lohn kämpfen. Ein Stundenlohn von sechs Euro sowie Kost und Logis war ihnen versprochen worden. Der Betrag ist wesentlich niedriger als der im Baugewerbe gültige Mindestlohn. Aber selbst dieser Niedriglohn wurde den Bauarbeitern vorenthalten.

Im Oktober 2014 wandten sie sich zunächst an den DGB Berlin-Brandenburg. Das im dortigen Gewerkschaftshaus angesiedelte »Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte« nahm Kontakt auf mit dem Generalunternehmer der Baustelle, der Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, und schrieb Geltendmachungen. Außer Abschlagszahlungen, die nur einen Bruchteil des vorenthaltenen Lohnes ausmachten, konnten die Bauarbeiter auf diesem Weg allerdings nichts erreichen. Sie hatten weder Arbeitsverträge noch Gewerbescheine – das macht die Durchsetzung ihrer Ansprüche schwierig. Einige nahmen die Abschlagszahlungen und unterzeichneten zudem eine vom Unternehmen vorbereitete Erklärung, nach der sie auf weitere rechtliche Schritte verzichten sollten. Andere beharrten darauf, ihren vollen Lohn zu erhalten und wollten weiter streiten. Erst nachdem sich die verbliebenen Bauarbeiter an die FAU gewandt hatten, begann die Öffentlichkeitsarbeit. »Mall of Berlin – auf Ausbeutung gebaut«, lautete die Parole. Der von der FAU kreierte Begriff »Mall of Shame« hat sich mittlerweile im Internet verbreitet. Der gesellschaft­liche Druck reichte bisher nicht so weit, dass der Generalunternehmer und seine Subunternehmen die ausstehenden Löhne bezahlten. Dabei handelte es sich um einige Tausend Euro. Für die Unternehmen sind es Beträge aus der Portokasse. Für die betroffenen Bauarbeiter und ihre Familien in ihrem Herkunftsland ist das Geld existentiell.

Anfang April sah es zunächst so aus, als hätten zwei der Bauarbeiter einen juristischen Etappensieg errungen. Das Berliner Arbeitsgericht bestätigte die Forderungen von Nicolae Molcoasa und Niculae Hurmuz. Das beklagte Subunternehmen war nicht zur Verhandlung erschienen und hatte auch keinen Anwalt geschickt. So musste das Gericht der Klage stattgeben. Doch wenige Tage später ging ein Anwalt des Unternehmens in Berufung; die Arbeiter müssen weiter auf ihren Lohn warten.

Nur ein Teil der Betroffenen kann die Auseinandersetzung jetzt noch in Berlin führen. Andere mussten wieder nach Rumänien zurück oder haben in einer anderen Stadt Arbeit gefunden. Die Kollegen, die bis heute durchgehalten haben, ­berichten über die vielen Schwierigkeiten. Als sie den Kampf begannen, hatten sie weder Geld noch Unterkunft. Die FAU kümmerte sich um Essen und Obdach.

Wenn sie auch nach sechs Monaten Kampf noch immer auf ihren Lohn warten müssen, so haben sie doch schon einen wichtigen Erfolg errungen. Sie haben deutlich gemacht, dass ausländische Arbeiter in Deutschland nicht rechtlos sind und sich wehren können.

Der Fall der rumänischen Bauarbeiter ist keine Ausnahme. »Es gibt viele solcher Fälle. Nur leider sind die Betroffenen nur selten in der Lage, sich zu wehren«, meint eine Mitarbeiterin einer Organisation von Roma in Berlin. Das Leben von vielen Arbeitsmigranten aus Osteuropa sei von ständiger Verunsicherung geprägt. Das erstrecke sich nicht nur auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen. »Sie werden in den Jobcentern benachteiligt, sind oft von medizinischer Versorgung ausgeschlossen und müssen wegen rassistischer Diskriminierung am Wohnungsmarkt oft in teuren Schrott-Immobilien wohnen«, fährt sie fort. Zudem fehle es den Betroffenen oft an Kontakten zu Organisationen und Initiativen, die sie im Widerstand unterstützen könnten.

Juristischer Etappensieg. Das Berliner Arbeitsgericht bestätigte am 10. April zunächst die Forderungen wegen unbezahlter Löhne. Die beklagte Openmallmaster GmbH blieb dem Gerichtstermin fern.

Mittlerweile ist die Foreigners-Sektion der FAU ein Anlaufpunkt für Arbeiter aus den verschiedenen Ländern geworden, die in Deutschland um ihren Lohn oder um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.

Im Februar 2014 hatte die Berliner Erwerbslosenorganisation »Basta« einen kurzen Arbeitskampf im Weddinger Hostel Amadeus begonnen. Junge Menschen aus verschiedenen Ländern, die dort für Kost und Logis arbeiteten, waren in die Beratung gekommen, weil das Jobcenter ihnen Leistungen als Aufstocker verweigerte. Erst bei den Gesprächen wurde das ganze Ausmaß der Ausbeutung deutlich.

»Ich arbeitete täglich rund acht Stunden an sechs Tagen die Woche. Am Monatsende erhielt ich für die Arbeit 100 Euro«, erzählt etwa Thomas aus Belgien. Er wollte Berlin kennenlernen und landete im Amadeus-Hostel. Ähnlich erging es Nathan Letore aus Frankreich: »Wir suchten ein Zimmer und im Hostel sagten sie uns, wir können hier leben und arbeiten.« Nach einer von den Betroffenen gemeinsam mit Erwerbslosengruppen organisierten Protestkundgebung im Februar 2014 meldete der Hostel-Besitzer Konkurs an. Noch immer klagen einige der Betroffenen juristisch ihren Lohn ein. Einige haben sich durch die Auseinandersetzung politisiert. Mittlerweile arbeiten sie in der FAU mit und unterstützen Kollegen aus anderen Ländern, die in einer ähnlichen Situation sind.

Beschäftigte in allen Branchen sind betroffen. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Menschen aus dem europäischen Ausland, die in Deutschland Arbeit suchen, gewachsen. Der Grund liegt in einer von den europäischen Institutionen vor allem auf Initiative Deutschlands ­vorangetriebenen Austeritätspolitik, die sich die »Agenda 2010« zum Vorbild nimmt. »Tatsächlich geht es eher darum, durch Angst und Schrecken vor Arbeitsplatzverlust und Verarmung einen wirtschaftlichen Entwicklungsweg durchzusetzen, der sich durch eine stetig sinkende Lohnquote und dürftige Wachstumsraten auszeichnet«, schreibt der Berliner Soziologe Heiner Ganßmann in Le Monde diplomatique.

Vor allem in den Ländern der europäischen Peripherie sorgte diese Politik für den Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Senkung von Löhnen und Gehältern. Viele gut ausgebildete junge Menschen kommen nach Deutschland in der Hoffnung, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen vorzufinden. Doch oft arbeiten sie in besonders schlecht bezahlten Ausbeutungsverhältnissen, beispielsweise im boomenden Restaurant- und Gastronomiebereich oder in der Pflegebranche.

Gegen die schlechten Arbeitsbedingungen in diesen Bereichen zu kämpfen, haben sich die Mitglieder der Grupo de Acción Sindical (GAS) zum Ziel gesetzt. Sie wurde vor einigen Monaten von Beschäftigten aus Portugal und Spanien gegründet, die in Deutschland in Pflegeberufen arbeiten. »Die Krankenpflegerinnen und -pfleger müssen zwölf bis 14 Tage lang ohne Pause arbeiten und bekommen bis zu 40 Prozent weniger Lohn als die deutschen Kollegen. Manchmal müssen sie Tätigkeiten verrichten, die nicht in den Bereich der Krankenpflege fallen. Und wenn sie den Job kündigen wollen, bekommen sie eine Konventionalstrafe, die in einigen Fällen bis zu 12 000 Euro beträgt«, beschreibt Mayte Marin die Situation an ihrem Arbeitsplatz.

Ein Schwerpunkt der Gruppe liegt in der Information von Kollegen über ihre Rechte und Widerstandsmöglichkeiten. »Weil sie manchmal die Sprache nicht genug beherrschen und aus einem Land mit einer hohen Arbeitslosigkeit kommen, fällt es ihnen oft schwer, sich über ihre Arbeitsbedingungen zu beschweren«, so Marin.

Dominique John, der beim DGB das Projekt »Faire Mobilität« betreut, unterstützt die Gruppe. Er hat die Broschüre »Wissen ist Schutz« in spa­nischer Sprache herausgegeben, die Arbeitsmigranten in Spanien und Deutschland über ihre Rechte informiert. Zusammen mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi haben sie im Juni vergangenen Jahres eine Veranstaltung für das Fachpflegepersonal aus Spanien organisiert. »Dort wurde auch das Problem mit den Knebelverträgen besprochen«, sagt John. Obwohl die Beschäftigen durch die Verträge unter Druck gesetzt werden, seien diese rechtlich schwer anzugreifen, bedauert er. Daher begrüßt es John, dass die Kol­legen die Verträge politisch bekämpfen wollen.

Auch der für den Fachbereich Gesundheit und soziale Dienstleistungen bei Verdi zuständige Gewerkschaftssekretär Kalle Kunkel spricht von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der migrantischen Gruppe. Im Kampf gegen die Knebelverträge habe man die gleiche Position. »Wir lehnen sie ab und gehen politisch und, wo es möglich ist, auf betrieblicher Ebene dagegen vor.« Außerdem kämpfe Verdi überall, wo man stark genug sei, für Tarifverträge. »Das ist der einzige wirklich wirksame Schutz gegen ungleiche Bezahlung«, betont Kunkel. Im September 2014 hat Verdi gemeinsam mit Pflegekräften aus verschiedenen europäischen Ländern eine Kundgebung für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und eine Aufhebung der Knebelverträge organisiert.

Viele der bei GAS aktiven Pflegekräfte haben sich in den vergangenen Jahren in Spanien und Portugal in der Bewegung der Empörten engagiert und setzen ihre Aktivitäten nun in Deutschland fort. Auch die jungen Italiener, die die Gruppe »Berlin Migrant Strikers« gegründet haben, politisierten sich vor einigen Jahren in der Bewegung der Prekären oder in sozialen Zentren in Italien. Bereits die erste Generation der Arbeitsmigranten aus Italien, Spanien und der Türkei brachte Erfahrungen von politischer und gewerkschaft­licher Arbeit aus ihren Herkunftsländern mit. So gab es in den frühen sechziger Jahren in Wolfsburg, einer der Hochburgen der damaligen italienischen Arbeitsmigration, immer wieder Konflikte zwischen der autochthonen Bevölkerung der von den Nazis gegründeten Musterstadt und ita­lienischen Beschäftigten, die teilweise in linken Parteien sozialisiert worden waren. Türkische und spanische Kollegen hatten oft Erfahrungen mit der Arbeit der in ihren Ländern illegalisierten und verfolgten linken Parteien und Gewerkschaften, die sie in die deutschen Fabriken mitbrachten. Beim Fordwerk in Köln traten vor allem kämpferische Arbeiter aus der Türkei 1973 in einen mehrtätigen wilden Streik, der von der lokalen DGB-Bürokratie gemeinsam mit der Polizei zerschlagen wurde. Bild titelte »Türkenterror bei Ford«. Es gab gerade in den siebziger Jahren aber auch erfolgreiche Arbeitskämpfe, die wesentlich von Arbeitsmigranten getragen wurden.

Die neue Generation der »Berlin Strikes« aus Italien, Portugal und anderen europäischen Ländern wurde nicht in großen linken Parteien und Gewerkschaften, sondern eher in basisdemokratischen linken Bewegungen politisiert. Sie arbeiten auch nicht in Großbetrieben, sondern in schwer organisierbaren Branchen wie der Gastronomie oder der Pflege. Oft ist es kompliziert, die Verbindung zwischen den unterschiedlichen Branchen herzustellen.

Dabei gab es vor fast zehn Jahren mit dem Euromayday bereits einen branchenübergreifenden Organisationsversuch. Diese Mai-Aktivitäten der Prekären breiteten sich über Spanien und Italien nach Deutschland aus. Prekär Beschäftigte aus unterschiedlichen Ländern und Branchen gehen mit Erwerbslosen gemeinsam auf die Straße und kämpfen für ihre Rechte, lautete das Konzept. In den meisten Städten stagnierten die Mayday-Aktivitäten bald und wurden nach wenigen Jahren eingestellt. Die Suche nach gemeinen Organisationskonzepten geht weiter. Im vergangenen Herbst machten die Berlin Migrant Strikers das Konzept des »Sozialstreiks« in Deutschland bekannt, der ebenfalls von linken Kollektiven und Organisationen von Prekären in Italien ausging.

http://jungle-world.com/artikel/2015/18/51873.html

Peter Nowak