Autonomer Handwerkernachwuchs

Die Gruppe »anstiften« will eine neue Lehrlingsbewegung anstoßen. Ihr Vorbild ist der linke Aufbruch Auszubildender in den 1970er Jahren

»Ausbildungsvertrag und alles, was dazu gehört« und »Krank werden und krank machen in der Ausbildung« – das sind einige der Themen, die auf einer neuen Internetplattform für Lehrlinge publiziert werden. Sie will Auszubildende im Bauhandwerk organisieren. Die Initiatoren, die selber in der Branche beschäftigt sind und teilweise eine akademische Ausbildung absolviert haben, wollen mit dem Projekt »anstiften.net« an eine Bewegung anknüpfen, die heute weitgehend vergessen ist.
»Es gibt in Deutschland seit den 1970er Jahren keine Selbstorganisation und Vernetzung von Auszubildenden im Bauhandwerk mehr«, meint Max Siebert. In Folge dessen gebe es keinen Wissenstransfer über Rechte von Auszubildenden, die folglich auch nicht durchgesetzt würden. »Stattdessen werden Missstände individualisiert und entpolitisiert«, kritisiert Siebert.

Der linke Aufbruch der 1970er Jahre wird vor allem mit dem akademischen Nachwuchs identifiziert. Erst der Historiker David Templin hat in seinem Buch »Lehrjahre – keine Herrenjahre« am Beispiel von Hamburg gezeigt, wie tiefgreifend der gesellschaftliche Aufbruch damals auch in der proletarischen Jugend gewesen ist. »Braucht Du einen billigen Arbeitsmann, schaff‘ Dir einen Lehrling an«, lautete einer der Slogans, mit denen sich junge Leute damals gegen die Zustände in der Ausbildung wehrten. Dazu gehörte noch das obligatorische Zeitung holen und Brötchenschmieren. Selbst Prügel vom Meister waren keine Seltenheit.

Für Siebert und seine Freunde war die Lektüre des Buches ein Anlass, sich zu fragen, warum es heute eine solche Lehrlingsbewegung nicht gibt. Siebert hält sie trotz aller Veränderungen der Arbeitswelt nicht für obsolet. »Die Bedeutung von Auszubildenden ist heute nur insofern zurückgegangen, als dass sie sich in der Regel klein machen und nicht aufmucken, also auch keine Aufmerksamkeit auf ihre Situation ziehen«, erklärt er gegenüber »nd«. »Ohne Auszubildende gibt es keinen Nachwuchs im Handwerk, darum haben wir auch ein Druckmittel«, betont der Aktivist. Schließlich sei die Klage über fehlende Arbeitskräfte bei Handwerks- und Wirtschaftsverbänden laut. Es müsste also eine gute Zeit sein, um Verbesserungen im Ausbildungsbereich durchzusetzen. Zumal es nicht mehr nötig ist, die einzelnen Betriebe abzuklappern. Die Initiative wirbt dort für sich, wo sich heute viele junge Menschen tummeln: in den sozialen Netzwerken.

Für Siebert und seine Kollegen ist die Diskussionsplattform der erste Schritt zum Aufbau der Lehrlingsbewegung. Tipps und Erfahrungen von jungen Beschäftigten werden dort veröffentlicht. Zudem hat die kleine Gruppe in den letzten Monaten Interviews mit Dutzenden Auszubildenden in ganz Deutschland geführt, und sie nach ihren Erfahrungen und Problemen am Arbeitsplatz befragt. Immer wieder wurden dabei genannt: Unbezahlte und unfreiwillige Überstunden, Wochenendarbeit, ausbildungsfremde Tätigkeiten, zu wenig Geld und Urlaub.

Auch der Umgang von Kollegen mit diesen Problemen ist ein Thema. Da berichtet ein Auszubildender über einen Mann, der schwerste Arbeiten alleine macht und Hilfe zurückweist. »Bis ich dann erfahren habe, dass der Kollege auch deswegen so mürrisch war, weil er seit vielen Jahren auf Schmerzmitteln zur Arbeit kommt und einen total verschlissenen Körper hat.«

Die Initiatoren der Plattform hingegen wollen zu einem solidarischen Umgang am Arbeitsplatz anstiften. Sie knüpfen an die Praxis der sogenannten militanten Untersuchungen an, mit der in den 1970er Jahren in Italien linke Gruppen Arbeiterbefragungen durchführten. Das Ziel war auch hier ihre Organisierung außerhalb der großen Gewerkschaften. Siebert und seine Kollegen benennen das Ziel der Befragungen klar: »Wir wollen eine neue, selbstbewusste Lehrlingsbewegung lostreten, die sich autonom von Gewerkschaften und Parteien organisiert und sich nicht mehr alles gefallen lässt.« Dabei geht es ihnen nicht um Arbeitertümelei. Der Sexismus männlicher Bauarbeiter wird auf der Onlineplattform ebenso kritisiert, wie Alternativen zur Lohnarbeit zur Diskussion gestellt werden.

Die DGB-Gewerkschaften als Interessenvertreterin der Auszubildenden sehen die »Anstifter« mit Skepsis. »Da fehlt es oft an einer klar parteiischen und entschlossenen Haltung, im Konfliktfall wirklich für die Interessen der Auszubildenden einzutreten anstatt sie auf die Zeit nach der Ausbildung zu vertrösten«, sagt Michaela Weber. Die Tischlerin vermisst bei den Gewerkschaften eine politische Vision, die über »Gute Arbeit für alle« und einen »besseren Kapitalismus« hinaus geht. Doch bei aller Kritik hält Weber im Einzelfall eine Kooperation mit DGB-Gewerkschaften für möglich.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1058068.autonomer-handwerkernachwuchs.html

Peter Nowak

Siehe auch das Interview mit einem Mitglied der Initative Anstiften in der Jungle World:

https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/30/beschissene-erfahrungen/

„Beschissene Erfahrungen“

Anfang Juni ist Anstiften.net online gegangen – eine Plattform für die selbstorganisierte Vernetzung und den Erfahrungsaustausch von Auszubildenden im Bauhandwerk. Die Jungle World hat mit Michaela Weber gesprochen. Sie gehört zu den Organisatorinnen der Initiative.


Warum haben Sie die Initiative zu der Plattform ergriffen?

Wir, die Leute hinter der Website, sind oder waren selbst Auszubildende im Bauhandwerk. Wir alle haben beschissene Erfahrungen in unseren Betrieben gemacht, denen wir zu oft hilflos gegenüber standen. Als wir uns dagegen wehren wollten, mussten wir wie so viele Generationen von Auszubildenden vor uns bei null anfangen, weil es keinen Ort des Austauschs, keinen Ratgeber, keine parteiische Unterstützung gab. Also beschlossen wir, selbst all das zu schaffen, um endlich anzufangen, unsere eigene Geschichte zu schreiben – die Geschichte der Kämpfe von Dutzenden Auszubildenden im Bauhandwerk um Verbesserungen in ihrer Berufsausbildung. Herausgekommen ist eine Plattform von Auszubildenden für Auszubildende, zur Selbstorganisation und zum Empowern.


Inwieweit beziehen Sie sich auf Konzepte der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts?

Die Lehrlingsbewegung der siebziger Jahre hat uns inspiriert und gezeigt, dass auch in Deutschland eine Selbstorganisation von Auszubildenden funktionieren kann. Damals wurden zum einen reale Verbesserungen erkämpft, etwa das Berufsbildungsgesetz, das bis heute die Berufsausbildung rechtlich strukturiert. Zum anderen wurde die Ausbildung auch in einem gesamtpolitischen Kontext verortet. Deshalb sammeln wir auf unserer Website auch Texte zum Thema Gewerkschaften, Geschichte der Lehrlingsbewegung, aber auch Sexismus auf dem Bau und anderen Themen, die die Ausbeutung in der Bauausbildung im Kapitalismus beleuchten.

Ist das Konzept der Lehrlingsbewegung heutzutage noch aktuell, schließlich ist die Bedeutung von Auszubildenden zurückgegangen?
Ihre Bedeutung ist nur insofern zurückgegangen, als sie sich in der Regel klein machen und nicht aufmucken, also auch keine Aufmerksamkeit auf ihre Situation ziehen. Das muss sich ändern. Ohne Auszubildende gibt es keinen Nachwuchs im Handwerk, darum haben wir ein Druckmittel.

Wie ist der Kontakt zur Freie Arbeiterinnen- und Arbeiterunion (FAU) und zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB)?
Unsere Initiative arbeitet finanziell, strukturell und personell unabhängig von Parteien und Gewerkschaften. Selbstverständlich sind Kooperationen mit Gewerkschaften vorstellbar. Besonders mit der FAU gibt es aufgrund unseres syndikalistischen Ansatzes Gemeinsamkeiten.

Wie geht es mit der Initiative weiter?
Wir haben unsere Seite www.anstiften.net am 1. Juni gestartet und wollen sie jetzt bekannt machen. Gerade in der aktuellen Bewerbungsphase, in der viele junge Leute ihren Ausbildungsvertrag unterschreiben, wollen wir präsent sein und den künftigen Auszubildenden Mut machen, für ihre Rechte und überhaupt für Verbesserungen einzutreten. Dazu müssen sie aber erst mal diese Seite finden. Unser Ziel ist, die Seite beständig durch neuen Input und neue Erfahrungen weiterzuentwickeln. Aber wir möchten Auszubildende auch anregen, Stammtische in ihren Städten und Dörfern aufzubauen, in denen sie sich mit anderen Auszubildenden austauschen können. Außerdem haben wir auf der Seite eine große Rubrik zum Thema Kollektivbetriebe im Baugewerbe. Wir möchten den Blick der Auszubildenden auf andere Möglichkeiten des Arbeitens abseits der Lohnarbeit in einem normalen Betrieb mit Chefetage lenken.

Wie war bislang die Resonanz unter Auszubildenden?
Die Resonanz bei den Leuten, die wir interviewt haben und denen wir die Seite gezeigt haben, war positiv. Einigen hat sie schon ganz praktisch geholfen, anderen hat sie Mut gemacht. Inwiefern das Projekt wirklich ankommt, wird sich noch zeigen müssen. Aber wir sind guter Dinge.

aus: Jungle World, 25/2017

Interview: Peter Nowak