»Die Russen sind da!«

In Polen steht das Ende des Zweiten Weltkriegs für den Beginn einer neuen Besatzungszeit.

Geht es nach dem polnischen Präsidenten Bronislaw Komorowski,  soll der 8. Mai in diesem Jahr zu einem geschichtsrevisionistischen  Spektakel werden.  An  diesem Tag will er die Staats- und Regierungschefs aller EU-Staaten  auf die Westerplatte bei  Gdańsk zu einer Konferenz  begrüssen. auf der eine Lesart der Geschichte europäisiert werden soll, die in den letzten Jahren in Polen zum Allgemeingut geworden ist. Ihr zufolge hat die Rote Armee Polen im Frühjahr 1945 besetzt und die Befreiung habe erst 1989  stattgefunden. Es ist verständlich, dass  auf einer solchen Konferenz  ein Vertreter der russischen Regierung  keinen Platz hat.

Auf der Westerplatte, auf der die Deutschen mit einem Schuss ausder Kanone eines Panzerkreuzersd den Zweite Weltkrieg eröffneten, soll  am 8. Mai  der  in Russland weiter gepflegten sowjetischen Geschichtserzählung die Perspektive der  Länder entgegenstellen werden, für die 1945 keine volle nationale Freiheit gebracht hat, heißt es in polnischen Medien. Das Gedenken dürfe nicht politisiert werden,  entgegnete der  polnische Präsident den Kritikern, die an den historischen Fakt erinnern, dass  die Rote Armee mit großen Opfern die deutsche Wehrmacht  aus Polen vertrieben hat.

Der absichtsvolle  Ausschluss Russlands als Rechtsnachfolger der Sowjetunion hat für die Vertreter der aktuellen polnischen Geschichtspolitik allerdings mit Politik nichts zu tun; er zählt zur polnischen Staatsraison. Damit werden allerdings nicht nur die Angehörigen der Roten Armee aus der offiziellen Gedenkpolitik ausgeschlossen.  „Die  vielfältigen Organisationsformen des antifaschistischen Widerstands in Polen und insbesondere die Bedeutung der 1. und 2. Polnischen Armee, die Seite an Seite mit der Roten Armee kämpfte,  werden heute in Polen kaum gewürdigt. Die Befreiung vom Faschismus im Mai 1945 wird in den Schulbüchern nicht als Befreiung, sondern Beginn einer neuen Besatzungsperiode gedeutet. Nicht der Kampf gegen den deutschen Faschismus und Nationalismus wird hervorgehoben, sondern der eigene Nationalismus verklärt“,  kritisiert der  Jurist und Publizist Kamil Majchrzak die neue polnische Geschichtspolitik.   Einen zentralen Grund für das Verschweigen des linken polnischen Beitrags bei der Zerschlagung des NS  sieht er darin, dass die Kombattanten nicht nur gegen die deutschen    Besatzer kämpften, sondern für eine grundlegende gesellschaftliche Umgestaltung  in Polen eintraten.

Nach neueren historischen    Forschungen beteiligten  sich an den Kämpfen um Berlin insgesamt 170 000 polnische Soldaten .12 000 von ihnen kämpften in der Berliner Innenstadt gegen die letzten  Nester von Wehrmacht und Volkssturm.  An den verschiedenen Fronten kämpften nach Majchrzaks Recherchen ca. von 600.000   polnischen Kombattanten gegen die Wehrmacht.   Ihr Beitrag zur  Zerschlagung des NS wird   heute in Polen ignoriert, weil sie an der Seite der Roten Armee kämpften.

Selbst die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung von Auschwitz ist in der heutigen offiziellen Geschichtspolitik zumindest  strittig.  Der polnische Präsident Komorowski  erklärte  in einem Interview mit der  Gazeta Wyborcza,  den Häftlingen von Auschwitz könne man nicht absprechen, dass sie sich von den sowjetischen Truppen befreit fühlten. Dies habe aber nicht für alle Menschen in Ostmitteleuropa gegolten. Dass die  letzten Überlebenden von Auschwitz von der Roten Armee real befreit wurden, kam ihm nicht über die Lippen.

Polens Außenminister Grzegorz Schetyna  versuchte  mit der These, Auschwitz sei nicht von „Russen“, sondern von Ukrainern befreit worden, die neue polnische Geschichtsdoktrin auszuweiten. Er  begründete seine Auffassung auf den Umstand, dass die 1945 in Südpolen operierenden sowjetischen Einheiten der „1. Ukrainischen Front“ angehörten. Dieser eigenwilligen Geschichtsinterpretation  konterte das russische Außenministerium mit einer Erklärung,  in der  dem Außenminister Wissenslücken attestiert worden. „Es ist allgemein bekannt, dass das KZ Auschwitz von den Truppen der Roten Armee befreit wurde, in der Vertreter vieler Nationalitäten heldenhaft kämpften“, heißt es darin.

Unter den sowjetischen Soldaten der sogeannten  Ukrainischen Front, die Auschwitz befreiten, viele Juden. Etwa Anatolij Schapiro; er  öffnete als erster Soldat der Roten Armee das Tor von Auschwitz öffnete und wurde von den Überlebenden  mit  dem Jubelschrei „Die Russen sind da!“  begrüßt.         Den  Angehörigen  der Ukrainischen Front  in der Roten Armee stand die nationalistische  ukrainische  Bewegung gegenüber, die sich im Kampf gegen die Sowjetunion     mit Nazideutschland verbündete und schon unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht mit den Massenmorden an den ukrainischen Juden  begann. Führende Köpfe dieser Bewegung,  zum Beispiel  Stephan Bandera,  werden in der heutigen Ukraine rehabilitiert und als Freiheitskämpfer gegen Russland gefeiert. Daher ist es eine besonders perfide Geschichtsklitterung, wenn der polnische Außenminister diese Ukraine heute in die Tradition der Auschwitzbefreier stellt.

Nicht nur als Befreier vom NS   auch als Opfer der Nazis sind Kommunisten in der neuen polnischen Gedenkpolitik nicht vorgesehen. Die Konsequenzen   bekamen Angehörige von  NS-Opfern  aus verschiedenen europäischen Ländern zu spüren. Sie wollten am 30. Januar 2015 im westpolnischen Slonsk an der  Einweihung   der neu gestalteten  Ausstellung über das Konzentrationslager  und Zuchthaus Sonnenburg  teilnehmen.  „Sie waren eingeladen aber nicht willkommen. Nur unter großen Schwierigkeiten kamen sie in den Saal, in dem die Eröffnungsveranstaltung stattfand. Dort wurden sie nicht begrüßt. Als die Ausstellung eröffnet wurde, mussten sie vor dem Museum warten bis die Führung für die offiziellen Gäste beendet war“, heißt es in einer Pressemitteilung  des Internationalen Arbeitskreises zum Gedenken an die Häftlinge des KZ und Zuchthauses Sonnenburg bei der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA).

In  Sonnenburg wurden  bereits im Frühjahr 1933 hunderte Kommunisten und bekannte linke Nazigegner wie Erich Mühsam, Carl  von Ossietzky und  Johannes Litten inhaftiert und gefoltert. Nach dem 2. Weltkrieg wurden sogenannte Nacht-und Nebel-Gefangene aus ganz Europa nach Sonnenburg verschleppt.  819 Gefangenen wurden  in  der Nacht vom 31. Januar 1931 von einem SS-Kommando erschossen, kurz bevor die  Roten Armee das Lager erreichte?    Ob der polnischen Präsidenten den wenigen  Gefangenen, die sich vor dem Massaker verstecken konnten, wohl  ausnahmsweise zugesteht, dass die   von der Roten Armee real und nicht nur gefühlt befreit  wurden?

aus: Konkret 5/2015

http://www.konkret-magazin.de/hefte/heftarchiv/id-2015/heft-52015/articles/in-konkret-1488.html

Peter Nowak

„Ich verlor die Hoffnung“

NS-GESCHICHTE Eine kleine Ausstellung widmet sich den Todesmärschen von KZ-Häftlingen

„An einem bestimmten Punkt dieses Todesmarschs verlor ich jede Hoffnung“, erinnert sich Eric Imre Hitter, ein jüdischer KZ-Häftling. „Ich konnte nicht mehr weitergehen, und ich wusste, dass ich sterben würde. Dies war ein zentrales Erlebnis. Ich war mir sicher: Das ist mein Ende.“ Doch dann hätten ihn zwei Häftlinge in die Mitte genommen, untergehakt und mitgeschleift.

Mit diesen bewegenden Worten schildert Hitter den Moment, der ihm das Leben rettete. Er gehört zu den nach HistorikerInnenangaben rund 785.000 Gefangenen, die in den letzten Monaten des NS-Regimes von SS-Mannschaften, Polizei und freiwilligen Helfern auf der Flucht vor den Alliierten durch ganz Deutschland getrieben wurden.

Eine Ausstellung im Foyer der Stiftung Erinnern, Verantwortung und Zukunft (EVZ), zu deren Eröffnung Hitter sprach, beschreibt noch bis zum 22. Januar die Todesmärsche. Auf sieben Schautafeln hat die Historikern Susanne Urban Zeugnisse von Opfern, Überlebenden und AugenzeugInnen des letzten organisierten Massenverbrechens der Nazis zusammengestellt. Ein Großteil der schon durch die KZ-Haft geschwächten Gefangenen überlebte die Märsche nicht. Wer zu fliehen versuchte oder nicht gehen konnte, wurde erschossen. Zudem gab es Massenerschießungen von Gefangenen, damit sie nicht von den Alliierten befreit werden konnten. Auch mitten durch Berlin wurde ein Zug von Gefangenen auf den Weg von Lieberose nach Sachsenhausen getrieben.

Günter Saathoff vom Vorstand der EVZ spricht am Eröffnungsabend von „Massenverbrechen im doppelten Sinne“. Die Zahl der Opfer sei groß gewesen, aber auch die Zahl der Täter. An den Morden beteiligten sich neben der SS auch Zivilisten, darunter der „Volkssturm“ und die Hitlerjugend.

Die Ausstellung macht die Absurdität der Behauptung großer Teile der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit deutlich, sie habe von den NS-Verbrechen nichts gewusst. Ausreden dieser Art von Bürgermeistern und Amtsträgern sind dort dokumentiert. Dabei ist das letzte Verbrechen der NS-Zeit vor Millionen AugenzeugInnen verübt worden. Die Zahl der Menschen, die den Häftlingen halfen, indem sie ihnen etwa zu essen gaben oder sie versteckten, war hingegen klein.

Die Ausstellung ist ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung dieses letzten NS-Verbrechens nach fast 70 Jahren. Sie sollte allerdings nicht nur im Foyer der EVZ mit ihren eng begrenzten Öffnungszeiten, sondern auch in Bibliotheken, Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden gezeigt werden.

Peter Nowak

Bis 22. Januar, Montag bis Freitag 10 bis 15 Uhr. Bitte klingeln. Stiftung EVZ, Lindenstraße 20-25, 10969 Berlin

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2014%2F01%2F07%2Fa0134&cHash=e66a0438cd83af58f55ac1c5bf63e225

Odyssee durch die Konzentrationslager

 WIDERSTAND Ausstellung erinnert an den Kampf von Gewerkschaftern gegen die Nazis
„Einen Sozialdemokraten kann man auf die Schnauze hauen, aber die Gesinnung könnt ihr mir nicht nehmen.“ So selbstbewusst äußerte sich der Gewerkschafter Max Ulrich gegenüber den Gestapo-Leuten, die ihn 1933 abholten. Damals begann für ihn eine Odyssee durch mehrere KZs, die erst 1945 endete. Ulrichs Geschichte dem Vergessen entrissen hat eine Ausstellung mit dem etwas pathetischen Titel „Seid wachsam, dass über Deutschland nie wieder die Nacht hereinbricht“. Noch bis Monatsende ist sie im DGB-Haus am Hackeschen Markt zu sehen.

In zwei Räumen werden die Biografien von Gewerkschaftern der unterschiedlichen politischen Strömungen vorgestellt, die von den Nazis verfolgt wurden. Viele überlebten den Naziterror nicht. So starb der Sozialdemokrat und Bergarbeiter-Gewerkschafter Fritz Husemann nach schweren Misshandlungen im KZ Esterwegen. „Die Lippen waren blutig geschlagen, die Augen stark geschwollen von Schlägen. Er wurde mit den Worten empfangen: ,Da kommt der rote Hund, der das Ruhrgebiet verseuchen wollte'“, beschreibt ein Augenzeuge.

Auch der in der Ausstellung porträtierte Lothar Erdmann starb 1939 im KZ Sachsenhausen. Dabei hatte sich der Exponent des rechten Flügels der Gewerkschaften noch bis Mai 1933 für eine Verständigung mit den Nationalsozialisten eingesetzt und „die nationale Organisation der Arbeit“ beschworen. Mit Maria Pleßner und Mathilde Klose werden auch zwei vergessene Gewerkschafterinnen in der Ausstellung vorgestellt.

Streit um eine Jacke

Besonders tragisch ist die Biografie des kommunistischen Gewerkschafters Rudolf Lentzsch. Nach jahrelangen KZ-Aufenthalten wurde er wenige Tage vor dem Ende des Naziregimes von einem sowjetischen Soldaten beim Streit um eine Lederjacke erschossen. Lentzsch war Mitbegründer der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO), mit der die KPD in den letzten Jahren der Weimarer Republik eine Linkswende unter den ArbeiterInnen erreichen wollte. In diesem Zusammenhang korrigiert Stefan Heinz von der Arbeitsstelle Nationale und Internationale Gewerkschaftspolitik am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin das Bild der völlig von Moskauer Direktiven abhängigen RGO und arbeitet die relative Autonomie der linken GewerkschafterInnen heraus – auch gegenüber der KPD.

Die Arbeitsstelle hat die Ausstellung mit der Heinz-Böckler-Stiftung und der Stiftung Brandenburgischer Gedenkstätten konzipiert. Ihr Anliegen ist es, den Arbeiterwiderstand wieder stärker bekannt zu machen. Die meisten der hier Porträtierten waren schon gegen die Nazis aktiv, als viele der später umfangreich geehrten „Männer des 20. Juli“ noch glühende Hitleranhänger waren. 

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2011%2F06%2F14%2Fa0149&cHash=7e337cc88e

Peter Nowak

 „Seid wachsam, dass über Deutschland nie wieder die Nacht hereinbricht. Gewerkschafter in Konzentrationslagern 1933-1945“. Bis 30. 6. im DGB-Haus, Hackescher Markt. Mo.-Sa. 10-18 Uhr, Eintritt frei. Broschüre, 240 Seiten, 4 Euro

Aufklärung über „Neofaschismus“

ANTIFA Eine Ausstellung in der TU informiert über neue Entwicklungen im Rechtsextremismus

Über die aktuellen Erscheinungsformen des „Neofaschismus in Deutschland“ informiert derzeit eine Ausstellung im Lichthof der Technischen Universität. Sie wurde von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN/BdA) gemeinsam mit dem Asta der TU erstellt. Auf 26 Tafeln wird auf unterschiedliche Aspekte der Ideologie und Praxis der extremen Rechten eingegangen. Durch die Kombination von Fotos und knappen, aber aussagekräftigen Erklärungen und Zitaten aus rechten Publikationen und Interviewmitschnitten wird auch BesucherInnen ohne Vorwissen ein guter Einblick in die rechte Szene vermittelt.

Die Tafeln gehen auf die unterschiedlichen Politikfelder ein, in denen die extreme Rechte mitmischt. Dazu gehört natürlich die Hetze gegen MigrantInnen und die Agitation für Härte gegen Kriminelle. So findet sich die Parole „Wir räumen auf“ auf verschiedenen Fotographien rechter Demonstrationen. Die T-Shirt-Motive mancher TeilnehmerInnen sind oft noch deutlicher. „Jesus konnte angeblich über Wasser gehen, ich gehe über Leichen“ lautet etwa das Bekenntnis eines Jungrechten.

Wesentlich schwerer ist rechte Propaganda in sozialen Bewegungen zu erkennen. Da findet sich auf einen Transparent die Anti-AKW-Sonne mit der Parole „Nationalisten gegen Atomkraft“. Freie NationalistInnen verteilen Flyer gegen Sozialabbau, die sich im Layout kaum von linken Materialien unterscheiden.

Eine Tafel widmet sich den Schnittstellen zwischen der extremen Rechten und der Debatte im gesellschaftlichen Mainstream. So titelte Bild am 3. 1. 2008: „Dauerkriminelle Ausländer ausweisen“, und fand damit viel Beifall in der extremen Rechten. Der Bundesgeschäftsführer der VVN/BdA Thomas Willms warnt vor einer Unterschätzung dieses Aspekts. „Neofaschistische Gruppen haben schließlich nur Erfolg, wenn es ihnen gelingt, relevante politische Fragen aufzunehmen und Impulse aus dem politischen und sozialen Geschehen zu ziehen.“ PETER NOWAK

 Bis 26. 11., Hauptgebäude der TU, Straße des 17. Juni 135, Eintritt frei. Begleitend zur Ausstellung findet jeden Montag um 18 Uhr im Raum H 2038 Veranstaltungen statt

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2010%2F11%2F10%2Fa0158&cHash=47a0c44822

Peter Nowak

Berliner »Studentenpack«

Ausstellung wirft einen kritischen Blick auf 200 Jahre Studentenbewegungen
Beim Begriff Studentenbewegung denken die meisten sicher an die APO-Zeit der 1960er Jahre. Doch Studenten waren in Deutschland schon immer politisch in Bewegung – nach rechts wie nach links. Daran erinnert derzeit eine Ausstellung in der Berliner Humboldt-Universität.

»Studentenpack« lautete das Schimpfwort von Konservativen, die sich nach 1968 von den Aktivitäten aufbegehrender Universitätsabsolventen gestört fühlten. Wenn der Begriff zurzeit auf Plakaten im Berliner Straßenbild auftaucht, wird damit allerdings für eine Ausstellung geworben, für die der Begriff »in Bewegung bleiben« gleich in doppelter Hinsicht gilt. Da die Ausstellung auf sechs Etagen im Hegelgebäude der Berliner Humboldt-Universität verteilt ist, sollte der Betrachter viel Zeit mitbringen. Denn auf den Tafeln wird man über die durchaus nicht nur fortschrittliche Geschichte der Studierenden und ihrer Bewegungen in den letzten 200 Jahren in Berlin informiert.

So wird an die schon Mitte des 19. Jahrhundert beginnende Kampagne gegen polnische Kommilitonen erinnert. »Die Ausländerinnen erdrücken uns durch die Überzahl«, wird eine Medizinstudentin Anfang des 20. Jahrhunderts in der Ausstellung zitiert. Dabei hatten auch Frauen nach der Meinung vieler Studentenverbände nichts an den Universitäten verloren. Manche der Kommilitoninnen forderten ihr Recht auf ein Studium deshalb mit ihrem Status als deutsche Frau ein.

Auch die jüdischen Studierenden wurden schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts diskriminiert, verbal und zunehmend auch tätlich angegriffen. Der Antisemitismus am Campus der Berliner Hochschule wird in der Ausstellung gründlich dokumentiert. So unterschrieben 1880 fast 20 Prozent der damaligen Studierenden an der Berliner Universität eine Petition gegen die Gleichstellung der jüdischen Kommilitonen. Die Novemberrevolution 1918 änderte an der reaktionären Grundstimmung an der Universität wenig. Einem Rat sozialistischer Studierender, die die Revolution unterstützte und am Dach der Universität die rote Fahne hissen ließ, wurde schon nach wenigen Tagen vom Rat der Volksbeauftragten das Recht aberkannt, als Vertretungsorgan der Berliner Studierenden zu fungieren. Dafür hatten die massiven Proteste der konservativen Studierenden gesorgt. Nicht wenige von ihnen kämpften 1919 als Freiwillige in den Freikorps gegen die Arbeiteraufstände oder schlossen sich 1920 dem Kapp-Putsch für die Abschaffung der Republik an. Ein jüdischer Kosmopolit wie der Mediziner Georg Friedrich Nicolai wurde 1920 vom akademischen Senat als »moralisch unwürdig« klassifiziert, weil er während des 1. Weltkriegs in der Schweiz alle Europäer gegen den Krieg aufgerufen hatte.

Wer diese in der Ausstellung gut belegten Fakten kennt, wundert sich nicht mehr über die freiwillige Gleichschaltung der Universität im Nationalsozialismus. Am Beispiel der Juristin Erna Proskauer werden Kontinuitäten bis in die Nachkriegszeit deutlich. 1956 verweigerte das Bundesverfassungsgericht der aus dem Exil zurückgekehrten Frau eine Entschädigung für ihre Entlassung als angehende Juristin im Jahr 1933. Als Frau und mit ihren Notendurchschnitt hätte sie sowieso keine Chance auf eine Verbeamtung gehabt, lautete die zynische Begründung der Richter.

Die beiden unteren Etagen sind den aktuelleren Studierendenbewegung gewidmet. Dort werden am Beispiel der Geschichte von studentischen Publikationen die unterschiedlichen Wege der Protestszene dokumentiert. Während die im Westberliner Universitätsstreik von 1989 gegründete »Faust« Mitte der 1990er Jahren ihr Erscheinen einstellte, mutierte die »Unaufgefordert«, ein Produkt des Ostberliner Wendeherbstes am Campus, zum Life-Style-Magazin. Mittlerweile ist das Internet zum wichtigen Medium geworden.

Die Ausstellung »stud. Berlin – 200 Jahre Studieren in Berlin« ist bis zum 23. Dezember 2010 im HU-Seminargebäude am Hegelplatz (Dorotheenstr. 24) von Mo-Fr, 8-22 Uhr und Sa., 10-18 geöffnet. Der Eintritt ist frei. Im Internet: www.studierbarkeit.de

http://www.neues-deutschland.de/artikel/175797.berliner-studentenpack.html

Peter Nowak

Unsichtbare Grenzen

FLÜCHTLINGE Eine von Neonazis in Zossen zerstörte antirassistische Ausstellung zur FLüchtlingspolitik ist rekonstruiert worden und im Haus der Demokratie zu sehen

Der Mann mittleren Alters war empört: Er sei nicht vor 20 Jahren gegen die Mauer auf die Straße gegangen, um jetzt einen schriftlichen Antrag zu stellen, wenn er von Oberhavel nach Berlin fahren will. Diese Maßnahme hatte ihm ein Team junger Männer und Frauen angekündigt, die sich „Arbeitskreis Innere Sicherheit Oberhavel“ nannten. Die Szene findet sich in einem Video, das in der am Montagabend im Berliner Haus der Demokratie wiedereröffneten Ausstellung „Residenzpflicht – Invisible Borders“ zu sehen ist. Die 1982 im Bundestag verabschiedete Regelung verbietet Flüchtlingen das Verlassen des ihnen von den Ausländerbehörden zugewiesenen Landkreises ohne Genehmigung. Die in dem Video gezeigten Szenen sind also nicht so absurd, wie sie sich anhören.

Die Ausstellung ist Teil einer Diplomarbeit, die der Architektursoziologe Philipp Kuebart an der TU Berlin erstellt hat. Dass die Exposition jetzt in Berlin gezeigt werden kann, ist dem Engagement vieler UnterstützerInnen zu verdanken. Sie war am 22. Januar bei einem von Neonazis gelegten Brand im Haus der Demokratie in Zossen (Teltow-Fläming) völlig zerstört worden. Während zivilgesellschaftliche Initiativen in Zossen im Gebäude einer ehemaligen Kfz-Zulassungsstelle ein neues Haus der Demokratie aufbauen, ist die überarbeitete und erweiterte Ausstellung im Berliner Haus der Demokratie bis 2. Juli zu sehen.

Neu hinzugekommen sind die Landschaftsbilder des Fotografen Max Kratzer. Die abgebildeten Wiesen, Feld- oder Waldwege sind für Flüchtlinge Orte der Angst und Kontrolle, die sie beim Verlassen ihres Flüchtlingsheims passieren müssen. Kay Wendel vom Flüchtlingsrat Brandenburg betonte in seiner Eröffnungsrede, dass in der Ausstellung Flüchtlinge nicht zu Opfern gemacht werden. Stattdessen stehe in den Arbeiten die Technik der Überwachung und Kontrolle im Mittelpunkt. Das wird an den ausgestellten Modellen verschiedener Brandenburger Flüchtlingsheime deutlich, die häufig in ehemaligen Kasernen errichtet worden sind. In Wort, Bild und Text werden den BesucherInnen Hintergründe zum deutschen Asylrecht vermittelt.

In der letzten Zeit sei der Druck zur Aufhebung dieser Bewegungseinschränkung in verschiedenen Bundesländern gewachsen, betont Wendel. In Bayern und Thüringen habe der kontinuierliche Widerstand von Flüchtlingen für Diskussionen gesorgt. In Brandenburg und Berlin habe sich die Linkspartei als Teil der Landesregierung gegen die Residenzpflicht ausgesprochen, während die SPD noch bremse. Deswegen planen antirassistische Gruppen anlässlich des SPD-Parteitags am Samstag um 8.30 Uhr vor der Kongresshalle eine Kundgebung.

Die Ausstellung könne in einer Zeit, wo es eine öffentliche Diskussion über die Residenzpflicht gibt, eine wichtige Aufklärungsfunktion übernehmen, betonte Wendel. Unter anderem soll sie in der Kreisverwaltung von Luckenwalde zu sehen sein, wo auch ein Publikum garantiert ist, das Informationsbedarf hat.

 Die Ausstellung „Residenzpflicht – Invisible Borders“ ist bis 2. Juli montag bis samstags von 10- 17 Uhr im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Str. 4, zu sehen
Antirassistische Gruppen planen anlässlich des SPD-Parteitags am Samstag um 8.30 Uhr eine Kundgebung

 http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2010%2F06%2F23%2Fa0165&cHash=aecdb71f33

Peter Nowak

Tatort Brunnenstraße – zwischen Kunst und Widerstand

Wegen eines Fehlers des Autors wurde in der ersten Version der Ausstellungsbesprechung die Fotoarbeit von Said Sennine der  Künstlerin Giovanna Schulte-Ontrop zugeordnet. Der Autor bedauert den Fehler und entschuldigt sich bei Frau Schulte-Ontrop.

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Ein schwarzgekleideter, vermummter Jugendlicher steht auf einen  Dach und  schwenkt eine Fahne mit einem Anarchiezeichen. Im Loop von Jan Wirdeier  wiederholt sich die Szene immer wieder von Neuem.    

 Bis vor einigen Monaten konnte man in der  Berliner Brunnenstraße solche Szenen noch  im realen Leben sehen. Am 21. November 2009 wurde mit der Brunnenstraße 181 eines der letzten besetzen Häuser Berlins geräumt.

In der Ausstellung „Tatort Brunnenstraße“ in der Neuen Schule für Fotografe  kommt das Hausprojekt, in dem Berlins erster Umsonstladen sein Domizil gefunden hatte, gleich mehrfach vor.  Schließlich stelle die Dozentin  Eva Bertram den Studierenden ihrer Klasse die Aufgabe, sich in ihren Semesterabschlussarbeiten mit der Straße zu befassen, in der sich die Schule seit einiger Zeit befindet.

Nicht alle Fotografen konnten mit der gestellten Aufgabe etwas anfangen.  Tobias Wirth betonte, dass er keinen Zugang zu der Straße gefunden hat. Deshalb  hatte er auch Modefotografien zur Ausstellung beigesteuert. Die übrigen Arbeiten drehen sich tatsächlich um die Brunnenstraße, die im Wedding beginnt und fast am Hackeschen Markt endet.  Der Kontrast der beiden Stadtteile wird in der Arbeit von  Said Sennine  etwas überstrapaziert. Auf den 10 Fotos sind unter Anderem ein Blumenladen,  ein Imbiss, ein Restaurant abgebildet. Die Zuordnung nach Stadtteilen aber will dem unbefangenen Betrachter nicht sofort gelingen. Denn der im Begleittext aufgestellten These, dass im Weddinger Teil der Brunnenstraße eher bürgerliche, ältere Menschen das Bild prägen, werden zumindest langjährige Bewohner oder Besucher der Gegend nicht zustimmen.

Auf den ersten Blick irritierend wirken die Fotographien von Juliane Apel mit dem vielen zugemauerten Fenstern und Türen und den verlassenen Häusern. Sie wurden nicht in Berlin sondern in der Großen Brunnenstraße in Halle, dem Heimatort der Künstlerin, aufgenommen. Das Bild dieser Straße  ist von der Verarmung und dem Wegzug vieler Menschen geprägt.  An den alten Brunnen erinnert nur noch der Name,    aus der eine Schule waren ein Armenhaus und dann ein Gefängnis geworden, bevor das Gebäude verschwand. Auch die Studentenkneipe hat schon lange geschlossen.

Die Arbeiten drehen sich um den schnellen Wandel einer Straße und da ist die Berliner Brunnenstraße tatsächlich ein gutes Beispiel. Nur wenige Meter von dem Ausstellungsort  befindet sich das geräumte  Gebäude, jetzt ohne Fenster und mit zugemauerten Türen. „Wir bleiben alle“ prangt noch groß auf den Außenmauern. Direkt gegenüber der Galerie findet sich auf der Fassade eines sanierten Gebäudes der Satz: „Dieses Haus stand einmal in einem anderen Land“. Kunst und Widerstand findet sich also hier auf engsten Raum. Die Ausstellung lädt auch zur Frage ein, wie die Straße in 10 Jahren aussehen wird. 

 Wo heute noch kleine Galerien ihr Domizil haben, könnte in wenigen Jahren mondäne Restaurants die Pforten eröffnen. Schließlich sind Kunstobjekte auch nur zeitweilige Platzhalter im Aufwertungsprozess eines Stadtteils und einer Straße. Deshalb könnte auch das Forum für Neue Fotografie nur ein temporäres Projekt in der Brunnenstraße sein, so wie viele der Einrichtungen, die auf den Fotos zu sehen ist. 

aus Neues Deutschland, 30.3.2010  

Peter Nowak