Seit 50 Jahren gibt es die Zeitung „Graswurzelrevolution“. Sie steht für konsequente Gewaltfreiheit – auch der Ukrainekrieg ändert daran nichts.

Pazifismus als Markenkern

Bernd Drücke sieht gerade in Kriegszeiten Bedarf für eine konsequent antimilitaristische Publikation. „Der Krieg und die Re-Militarisierung müssen überall sabotiert werden. Jeder Panzer, der durch Zucker im Tank unbrauchbar wird, ist gut“, fasst Drücke das Credo der gwr zusammen.

Die Zeitung Graswurzelrevolution (gwr) feierte stilgerecht auf der Anarchistischen Buchmesse in Mannheim ihren 50. Geburtstag. Für sie ist ein konsequenter Pazifismus seit 50 Jahren der Markenkern, ihre GründerInnen sind gewaltfreie SozialistInnen um Wolfgang Hertle, Wolfgang Zucht und Helga Weber. Sie wollten Gewaltfreiheit und libertären Sozialismus verbinden. Heute wird in der Zeitung allmonatlich über Arbeits- und Mietkämpfe, aber auch antifaschistische Aktionen berichtet. In den letzten Jahren widmete sich die Zeitung auch verstärkt feministischen Themen. Ihre Hoch-Zeit hatte die gwr als Teil der …

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Vielleicht war das MDR-Sommerinterview mit Höcke im August aufschlussreicher, nur hat es kaum jemanden interessiert

Wem nützt das abgebrochene Höcke-Interview?

Nun muss man sich aber auch kritisch fragen, ob das ZDF nicht selbst dem zutiefst bürgerlich-liberalen Narrativ verfangen ist, wenn sie für Höckes rechtes Vokabular nur auf Hitlers "Mein Kampf" zurückgreift. Tatsächlich finden sich solche Versatzstücke in vielen Verlautbarungen von bisher völlig anerkannten Künstlern, Politikern und Wissenschaftlern

War es eine mediale Niederlage für Höcke oder gewinnt die AfD immer? Diese Fragen werden diskutiert, nachdem Björn Höcke ein Interview mit dem ZDF nach mehr als 10 Minuten abgebrochen hatte, das anschließend vom Sender gegen seinen Willen verbreitet wurde. Nun ist klar, dass diejenigen, die….

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Diskussion über rechte Geländegewinne

Eine Veranstaltung in Berlin vergaß allerdings, dass Rechten auch immer wieder Räume genommen wurden

In den 1990er Jahren machte der Begriff „national befreite Zone“ die Runde. Es ging um Orte, die Menschen, die nicht ins Weltbild der extrem rechten Bewohner passten, möglichst meiden sollen. Das Dorf Jamel in Mecklenburg-Vorpommern ist heute eine solche „national befreite Zone“.

Eine völkische Dorfgemeinschaft [1] prägt den Ort auch mit ihren Symbolen. „Dorfgemeinschaft Jamel – sozial -national -frei“ steht dort an einer Wand. Die national befreite Zone könnte sich jetzt noch vergrößern. Die Gemeinde hat ein weiteres Grundstück an rechte Investoren verkauft. Dann fehlen dem jährlichen Anti-Rechts-Festival [2] in Jamel die Parkplätze.

Es wird von einem Ehepaar organisiert, das in den Ort gekommen ist, um ihn nicht ganz den Rechten zu überlassen. Für ihre Courage hat es mehrere Preise bekommen. Dass die Rechten und nicht ihre Gegner noch immer Unterstützung von der Gemeinde bekommen, wenn dahinter solvente Investoren stehen, hat bundesweit bisher kaum Resonanz gefunden.

Über den rechten Geländegewinn in Mecklenburg-Vorpommern informierte die Journalistin und wohl beste Kennerin der rechten Szene, Andrea Röpke [3], am Samstag auf der gut besuchten, vom Philosophen Armen Avanessian [4] moderierten Veranstaltung „Rechte Räume“ [5] in der Berliner Volksbühne.

National befreite Zonen wie Jamel waren dabei aber nur ein Thema. Es ging vor allem um ideologische Geländegewinne auch auf Gebieten, wo es gemeinhin nicht vermutet wird.

Rechte Erfolge bei der Stadtrekonstruktion

Der Architekturprofessor Stephan Trüby [6] berichtete darüber, dass die historische Stadtrekonstruktion ein Thema für extrem Rechte ist. So ging die Initiative sowohl für die Rekonstruktion der historischen Innenstadt von Frankfurt/Main [7] als auch den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonskirche von extrem Rechten [8] aus.

Trüby betont allerdings, dass die späteren Akteure nicht aus diesem Spektrum kommen. Deutlich wird hier, dass die Sehnsucht nach einer heilen deutschen Vergangenheit unter Ausblendung der NS-Zeit weite Teile des Bürgertums teilen. Die von Trüby vorgetragenen Thesen erinnern an Debatten einer Linken, die sich in den 1990er Jahren kritisch zur Gestaltung der Neuen Wache in Berlin [9] mit genau den gleichen Argumenten äußerte, die Trüby nun gegen die historische Stadtrekonstruktion vorbringt.

Er bezog sich allerdings nicht auf diese Debatte vor mehr als 25 Jahren. So blieb unklar, ob er davon beeinflusst war. Seine zentrale These, dass es keine rechte Architektur, aber sehr wohl rechte Konzepte für eine nationalistische Stadtentwicklung gibt, dokumentiert Trüby an zahlreichen Beispielen aus dem In- und Ausland.

Der Flügel am Kyffhäuser-Denkmal

Rechte Politiker, nicht nur der AfD, fordern wieder verstärkt, deutsche Denkmäler statt Mahnorte aufzustellen. Auch das zeichnete sich bereits vor mehr als 25 Jahren ab und wurde auch im Zusammenhang mit der Kritik an der Gestaltung der Neuen Wache thematisiert.

Diese Symbolpolitik zeigte Trüby an einem Treffen des völkischen AfD-Flügels, der sich demonstrativ vor dem Kyffhäuserdenkmal ablichten lässt, einer der historisch wirkungsmächtigsten völkischen Mythenorte in Deutschland.

Gefährlicher aber dürfen jene von Trüby gezeigten rechten Orte seins, in denen beispielsweise die faschistische italienische Organisation Casa Pound (https://de-de.facebook.com/casapounditalia/ [10] eine hippe rechte Postmoderne [11] zelebriert. Dort werden Menschen angesprochen, die für den muffigen Kyffhäuser-Kult wohl kaum zu begeistern sind.

Auch die rechte Initiative Kulturraum Land [12] die in den Dörfern „patriotische Zentren“ aufbauen will, könnte Zulauf bekommen. Zu Beginn der Veranstaltung wurde von Armen Avanessian angekündigt, auch die Gegenstrategien sollten nicht zu kurz kommen.

Doch da blieb nach knapp zwei Stunden neben den Jamelner Antirechts-Festival nur die bekannte und kontrovers diskutierte Aktion des Zentrums für politische Schönheit [13] übrig, in unmittelbarer Nachbarschaft von Höcke in Bornhagen ein Holocaust-Denkmal in Miniaturformat [14] nachzubauen.

Die bekannteste Persönlichkeit des Zentrums, Philipp Rucht, erläuterte noch einmal die Aktion, ohne auf die Kritik einzugehen, dass damit auch eine Banalisierung des Holocausts betrieben werde. Sehr anschaulich wurde das Agieren einer rechten Bürgerwehr gezeigt, die die Höcke-Kritiker sofort aus dem Dorf treiben wollten.

Auch auf Namensspielchen, wo aus Björn „Bernd Höcke“ wird [15], ging Rucht ein. Er verwies auf eine weitere Kulturaktion, in der Höcke mit dem Pseudonym Landolf Ladig [16] verbunden wird.

Nach Sprachvergleichen [17] des Münsteraner Sozialwissenschaftlers Andreas Kemper [18] soll Höcke für NPD-nahe Publikationen Artikel verfasst haben, bevor er in der AfD aktiv wurde.

Höckes Dementi wurde selbst von Teilen der AfD nicht geglaubt. Im Ausschlussantrag der AfD unter Frauke Petry wurde auf die Arbeit von Kemper verwiesen. Auch der Leiter des Thüringer Verfassungsschutzes Kramer zitierte aus Artikel von Kemper zu Höcke in der libertären Wochenzeitung Graswurzelrevolution [19] und löste damit einen rechten Shitstorm [20] aus.

Kramer hatte zunächst Kemper nicht als Quelle angegeben, sich für das Versäumnis entschuldigt. Auch Rucht vergaß bei seinem Vortrag in der Volksbühne, die Quelle für seine Ladig-Höcke-Satire zu benennen. Allerdings sind im Internet Kempers Texte verlinkt.

Keine Erwähnung von linken Räumen

Egal, wie man zu den Aktionen des Zentrums für politische Schönheit steht, als Gegenstrategien zur Ausbreitung rechter Räume können sie nicht gelten. Dieser Punkt blieb am Samstag ausgespart, obwohl Armen Avanessian ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass der Punkt nicht zu kurz kommen solle.

Dabei hätte man doch Beispiele aus Berlin nehmen können, wie Rechte ihre Räume auch wieder verloren haben. Das in den früheren 1990er Jahren von Neonazis besetzte Haus in der Lichtenberger Weitlingstraße [21] wäre da ebenso zu nennen wie eine Straße in Oberschöneweide, wo zivilgesellschaftliche Gruppen die Etablierung einer nationalen Zone [22] eindämmten [23].

Peter Nowak
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http://www.heise.de/-4205757
https://www.heise.de/tp/features/Diskussion-ueber-rechte-Gelaendegewinne-4205757.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.facebook.com/events/753726978170928
[2] https://www.forstrock.de/
[3] https://www.christoph-links-verlag.de/index.cfm?view=6&autoren_id=289
[4] https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2018/geduld/armen-avanessian-interview-wir-haben-keinen-positiven-zukunftsbegriff-mehr
[5] https://www.volksbuehne.berlin/de/programm/5901/rechte-raeume
[6] https://www.ar.tum.de/aktuell/news-singleview/article/prof-stephan-trueby-wechselt-zur-universitaet-stuttgart/
[7] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/neue-frankfurter-altstadt-durch-rechtsradikalen-initiiert-15531133.html
[8] https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2018/januar/sehnsuchtsort-der-neuen-rechten-die-potsdamer-garnisonkirche
[9] https://theculturetrip.com/europe/germany/articles/k-the-kollwitz-and-berlin-s-neue-wache/
[10] CasaPoundhttps://de-de.facebook.com/casapounditalia/
[11] https://www.antifainfoblatt.de/tags/casa-pound
[12] https://einprozent.de/blog/gegenkultur/kulturraum-land-fleissige-helfer-gesucht/2364
[13] https://www.politicalbeauty.de/
[14] https://www.politicalbeauty.de/mahnmal.html
[15] https://www.koelner-abendblatt.de/artikel/politik/warum-bernd-hoecke-afd-von-manchen-medien-bjoern-genannt-wird-22858186.html
[16] https://www.politicalbeauty.de/landolf/
[17] https://andreaskemper.org/2016/01/09/landolf-ladig-ns-verherrlicher/
[18] https://andreaskemper.org
[19] https://www.graswurzel.net/gwr/
[20] https://www.graswurzel.net/gwr/2018/10/linksextremes-schmierblatt/
[21] http://telegraph.cc/berliner-hausbesetzerinnen-geschichte-das-neo-nazi-haus-weitlingstrasse-122-in-berlin-lichtenberg/
[22] https://www.antifa-berlin.info/sites/default/files/dateien/artikel/Schoeneweide.pdf
[23] http://www.taz.de/!5291945/

Was soll die Linke nach Chemnitz machen?

Wie die Angst vor der Rechten eine Merkel-Linke schafft. Eine Diskussion in Berlin zeigte viel Ratlosigkeit, aber auch ein paar Ansätze

Die Bundesregierung hat die Causa Maaßen vordergründig gelöst, doch der Streit geht unmittelbar weiter. Die SPD-Vorsitzende Nahles soll den jetzt getroffenen Vorschlag vor einigen Tagen noch abgelehnt haben, was Innenminister Seehofer behauptet und Nahles bestreitet. Doch auch die außerparlamentarische Linke ringt noch um eine Position.

Am vergangenen Samstag diskutierten Flüchtlingsaktivisten und Antifaschisten aus Chemnitz über die Frage der Solidarität [1]. Eingeladen hatte die Monatszeitschrift ak (analyse und kritik) [2], die vor mehr als vier Jahrzehnten gegründet wurde und die Veränderung der außerparlamentarischen Bewegungen seitdem kritisch begleitet.

Da hätte man sich doch eine gesellschaftliche Einordnung gewünscht. Schließlich können sich viele ak-Autoren an die Zeiten Anfang der 1990er Jahre erinnern, als Flüchtlingsunterkünfte wie in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda oder Mannheim-Schönau von Neonazis angegriffen und in Brand gesetzt wurden, während „besorgte Bürger“ danebenstanden und applaudierten.

Die Angst vor der Rechten und die Merkel-Linke

Diese historischen Reminiszenzen sind schon deshalb wichtig, um vor einer Stimmung zu warnen, die „nach Chemnitz“ fast den Sieg des Faschismus an die Wand malt. Das ist nicht nur historisch falsch und lähmt die Gegenkräfte. So wird mit der Gefahr eines drohenden Faschismus der real existierende Kapitalismus beinahe schon als letzte Verteidigungslinie dargestellt.

Das ist der Grund für die wachsende Merkellinke, die es von SPD über Grüne bis zur Linkspartei und gelegentlich in der außerparlamentarischen Linken gibt. Selbst so schlaue Analytiker wie Rainer Trampert [3] sind davon nicht frei. Das Paradoxe dabei ist, dass das Erstarken der Merkel-Linke mit dazu führt, dass sich die Rechte als einzige Alternative zum Status Quo aufspielen kann.

So wird aus Angst vor der Rechten genau diese verstärkt. Eine weitere Paradoxie wurde auch auf der Berliner Veranstaltung nicht erwähnt, weil sie wenig bekannt ist. Die CDU/CSU unter Kohl hat einen großen Anteil daran, dass Sachsen zur rechten Ordnungszelle wurde. Ab Ende Oktober 1989 wurde die nationalistische Welle mit Deutschlandfahnen und entsprechenden Materialien aus dem Westen massiv angeheizt.

Es ging zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr um die schon geschlagene SED, sondern um die linke DDR-Opposition [4] die zu dem Zeitpunkt noch für eine eigenständige DDR agierte [5]. Im Kampf dagegen bedienten sich die Unionsparteien auch der Rechtspartei DSU, die durchaus als ein AfD-Vorläufer gelten kann. Seit Herbst 1989 war Sachsen eine rechte Ordnungszelle.

„Ich würde mein Bett nie an ein Fenster zur Straße stellen“

Wie sich auf das Alltagsleben für linksalternative Chemnitzer auswirkte, berichteten mehrere Aktive des Bündnisses Chemnitz Nazifrei [6]. So erzählten Bewohner von linken Chemnitzer Wohnprojekten, dass sie darauf achten, ihr Bett nicht an ein Fenster zur Straßenseite aufzustellen. Schließlich müsse immer damit gerechnet werden, dass es rechte Angriffe gebe.

Ein anderer Chemnitzer Linker sprach davon, dass es sich wie Urlaub anfühlt, wenn er mal nur die Stadt verlässt. Er muss nicht immer darauf achten, ob ihm Rechte auf der Straße entgegenkommen. Die jungen Chemnitzer betonen, dass diese Vorsichtsmaßnahmen bei ihnen seit Jahren Alltag gewesen seien.

Nur hatte lange eben niemand so genau hingeguckt. Mittlerweile guckt man auch wieder weg, obwohl erst vor wenigen Tagen wieder mehrere Tausend Menschen an einer Demonstration der rechten Partei Pro Chemnitz teilgenommen haben, wie die Chemnitzerin Ida Campe [7] informiert, die ausführlich über die rechte Szene in dieser Stadt berichtet, wenn die meisten auswärtigen Medienvertreter schon wieder abgereist sind.

Bild-Zeitung und AfD einig gegen „graswurzelrevolution“

Manche haben sie sich schon wieder auf die Linke eingeschossen, beispielsweise auf die Monatszeitung graswurzelrevolution [8], die sich als gewaltfrei-libertär versteht. Das hindert die Bild-Zeitung [9] aber nicht, gegen das „Anarchistenblatt“ zu hetzen.

Die Kampagne hatte die AfD-Thüringen [10] begonnen, die sich darüber echauffierte, dass der liberale Verfassungsschutzpräsident von Thüringen aus einem analytischen Artikel [11] des Sozialwissenschaftlers Andreas Kemper [12] über den AfD-Rechtsaußen Björn Höcke in der graswurzelrevolution zitierte.

Dass ein VS-Präsident aus einer linken Zeitung zitiert, geht gar nicht, da sind sich Bild und AfD einig. Pikant für die Rechtspartei: Der alte AfD-Bundesvorstand hatte mit Materialien von Andreas Kemper seinen mittlerweile gescheiterten Ausschlussantrag gegen Höcke begründet. Im Umgang mit der graswurzelrevolution wird der bürgerliche Normalfall deutlich, da sind sich Ultrarechte und Konservative einig im Kampf gegen links. Das wollen manche Merkellinke nicht wahrhaben.

Kampf für eine solidarische „Stadt für alle“ ist der beste Kampf gegen rechts

Bei der ak-Diskussion war diese Merkel-Linke nicht vertreten. Da hätte man sich mehr eigenständige linke Positionen gewünscht. Doch da gab es eher Ratlosigkeit und Vorschläge, die weniger durch eine Analyse als durch Endzeitstimmung geprägt sind. Da kamen Vorschläge für eine antifaschistische Belagerung von Städten mit rechten Aktivitäten. Ernster zu nehmen ist der Appell der Chemnitzer Linken, doch in ihre Stadt zu kommen.

„Da gibt es günstig Wohnungen und Häuser“, wollte einer von hohen Mieten geplagten Berlinern einen Umzug schmackhaft machen. Es ist aber nur sehr unwahrscheinlich, dass er damit viel Erfolg hat. Wünschenswert wäre ein solcher Zuzug durchaus, wenn es um die Stärkung von Alltagskämpfen und solidarischen Netzwerken für alle in der Stadt lebende Menschen ging.

Das könnten solidarische Begleitungen zum Jobcenter ebenso sein, wie Unterstützung bei Mietproblemen und Arbeitskämpfen. Wichtig ist, dass es dabei um die Kooperation von Menschen unterschiedlicher Herkunft geht. So könnte man ein solidarisches Klima in der Stadt erzeugen, das der AfD und ihrem Umfeld den Wind aus den Segeln nimmt.

Sie profitieren davon, dass Menschen Angst vor Migranten, vor Kriminalität etc. haben. Sie verlieren da, wo Menschen ihre Rechte als Mieter, Erwerbslose, Lohnabhängige wahrnehmen. Daher wäre ein Beitrag zum Kampf gegen Rechts nicht eine „Belagerung der Stadt“, sondern solidarische Aktionen an Jobcentern, gemeinsam mit Betroffenen, woher auch immer sie kommen, oder bei Unternehmen, die den Beschäftigten zu wenig Lohn zahlen.

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-4171983
https://www.heise.de/tp/features/Was-soll-die-Linke-nach-Chemnitz-machen-4171983.html

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.taz.de/!be=c379903abb25e8b175/
[2] https://www.akweb.de/
[3] https://www.rainertrampert.de/artikel/kategorie/angela-merkel
[4] http://telegraph.cc/
[5] http://www.ddr89.de/vl/VL.html
[6] http://chemnitz-nazifrei.de/
[7] https://twitter.com/idacampe?lang=de
[8] https://www.graswurzel.net/431/hoecke.php
[9] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/verfassungsschutz-chef-wehrt-sich-gegen-afd-vorwuerfe-57413280.bild.html
[10] https://afd-thueringen.de/2018/09/henke-anschlag-auf-die-verfassung-durch-verfassungsschutzpraesident-kramer
[11] https://www.graswurzel.net/431/hoecke.php
[12] https://andreaskemper.org/tag/bjorn-hocke/

Kapitulation vor Antifeminismus?

Der Heinrich-Böll-Stiftung hat ihr Online-Lexikon „Agent*In“ vom Netz genommen. Ein Kommentar

Ein kritisches Lexikon zum Antifeminismus[1] wollte die grünennahe Heinrich-Böll- Stiftung[2] zur Verfügung stellen. Doch wer die Seite anklickt, erfährt nur, dass das Projekt zurzeit ruht. Dafür gibt es auf der Homepage der Heinrich-Böll-Stiftung eine Erklärung[3], die eine Kapitulation vor einer wochenlangen rechten Kampagne darstellt.

Dort heißt es:

In Abstimmung mit der Redaktion des Projekts hat der Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung das Online-Lexikon „Agent*In“ vom Netz genommen. Die öffentlich und intern geübte Kritik am Format der „Agent*In“ hat uns deutlich gemacht, dass dieser Weg nicht geeignet ist, die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung zu Antifeminismus zu führen. Wir bedauern sehr, dass durch die gewählte Form manche an antidemokratische Methoden erinnert werden und entschuldigen uns bei denjenigen, die sich möglicherweise persönlich verletzt fühlen.

Stellungnahme der Heinrich-Böll- Stiftung[4]
Offensive gegen Antifeminismus

Hier wird sich bei denen entschuldigt, die als bekannte Personen des Antifeminismus auf dem Wiki aufgeführt waren. Mitte Juli wurde er freigeschaltet und zeitgleich wurde eine Broschüre unter dem Titel „Gender raus“[5] publiziert. In einer Pressemitteilung[6], in der die Broschüre und das Wiki beworben wurden, heißt es:

Angriffe gegen Feminismus, Gleichstellungspolitik, sexuelle Selbstbestimmung, gleichgeschlechtliche Lebensweisen und Geschlechterforschung haben stark zugenommen. Die gemeinsam vom Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebene Broschüre „Gender raus!“ Zwölf Richtigstellungen zu Antifeminismus und Gender-Kritik bietet verständliche Argumente und Anregungen, wie antifeministische Behauptungen und Parolen entlarvt und richtiggestellt werden können. Das Online-Lexikon Agent*In (Information on Anti-Gender-Networks) informiert tiefergehend zu den Gruppierungen und Akteur*innen, die hinter diesen Angriffen und Parolen stecken. Die Agent*In ist als sogenanntes Wiki ein gemeinsames Projekt des Gunda-Werner-Instituts in Zusammenarbeit mit einer Gruppe von feministischen Autor*innen. Lexikon und Broschüre ergänzen sich gegenseitig.

Pressemitteilung
Von ganz rechts bis in die liberale Mitte

Die Heinrich-Böll-Stiftung ist mit ihren Rückzug des Wikis den beteiligten Wissenschaftlern in den Rücken gefallen und hat einen Kniefall vor den antifeministischen Netzwerken gemacht, die Unterstützung von ganz rechts bis weit in die liberale Mitte bekommen haben. Denn viele derer, die im berechtigten Kampf gegen den Islamismus immer wieder die Frauenrechte hochhalten, wollen nichts davon hören, wenn es um Feminismus im eigenen Land geht.

So war die Freischaltung des Wiki auch begleitet von einer Kampagne, an der sich die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit ebenso beteiligt hat wie die rechtspopulistische Webseite Pi-News. Aber auch der liberale Tagesspiegel hat das Wiki – in einer Glosse – als „Verfassungsschutzbericht der Genderszene“[7] betitelt. Besonders empört den Tagesspiegel-Kommentator, dass auch ihr langjähriger Mitarbeiter Harald Martenstein auf dem Wiki aufgeführt war.

Dabei muss der doch stolz darauf gewesen sein. Schließlich hat er in der letzten Zeit keine Zeit und Mühe gescheut, um sich als erklärter Antifeminist zu gerieren. Seine neue rechte Tonlage pflegt Martenstein nicht nur in dem Kampf gegen den Feminismus[8]. Auch gegen Migranten und überhaupt gegen alles, was als links gilt, hat er sich immer wieder positioniert. Es ist natürlich sein Recht, sich als Antifeminist darzustellen. Das gilt auch für all die anderen Personen, die auf dem Gender-Wiki aufgeführt wurden. Aber warum die Aufregung, wenn all die Personen dann auch namentlich genannt werden?

Sie lassen doch sonst keine Talk-Show, keinen Kommentarplatz und kein Mikrophon aus, um ihre Thesen oft im Gestus des Tabubrechers öffentlich zu machen. Sie werden also mitnichten durch das Wiki in die Öffentlichkeit gezerrt. Im Gegenteil suchen sie die Öffentlichkeit.

Heinrich-Böll-Stiftung-Bündnispartner gegen rechts?

Wenn nun die Heinrich-Böll-Stiftung vor der rechten Kampagne in die Knie geht, ist das vor allem dem Wahlkampf zu schulden. Die Grünen sind längst in der Mitte angekommen und viele führende Politiker liebäugeln mit einen Bündnis mit der Union nach der Bundestagswahl. Nun sind aber einige der im Wiki aufgeführten Personen Mitglieder dieser Partei oder stehen ihr nahe.

Da passt es den Wahlstrategen gar nicht, sich in der Genderfront so deutlich zu positionieren. Mag die Böll-Stiftung auch formal von der Partei unabhängig sein, so wird die Partei natürlich für die Aktivitäten der parteinahen Stiftung mit in die Verantwortung genommen. So nimmt man nun in Kauf, dass durch den Kniefall vor der antifeministischen Kampagne feministische und gendersensible Kreise verprellt werden.

Schließlich bringen die nicht die nötigen Wählerstimmen. Für kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellt sich aber jetzt noch einmal mehr die Frage, was die Heinrich-Böll-Stiftung als Bündnispartner gegen reaktionäre Politik überhaupt taugt.

Sie mag schöne Erklärungen abgeben, doch wenn es ernst wird, und auch die liberalen Medien Kritik anmelden, knickt die Stiftung ein. Das zeigt sich an der Causa „Agent*In“ besonders deutlich. Publizisten wie Andreas Kemper[9] informieren auch ohne Unterstützung grünennaher Stiftungen seit Jahren über die antifeministische Szene. Kemper hat die Kampagne gegen das Wiki treffend kommentiert[10]:

Die Antifeminist*innen fühlen sich getroffen, nicht nur eine aufgeregte Streitmacht von bislang ca. dreißig konservativen Blogs und Foren kritisierten das Wiki, sondern auch Journalisten.

Andreas Kemper[11]
Die Freischaltung des Wiki war von Anfang an von heftiger Kritik bis weit in die liberalen Medien begleitet.

URL dieses Artikels:

Peter Nowak
http://www.heise.de/-3796346
https://www.heise.de/tp/features/Kapitulation-vor-Antifeminismus-3796346.html
Links in diesem Artikel:
[1] http://www.gwi-boell.de/de/2017/07/17/neu-agentin-ein-kritisches-online-lexikon-zu-anti-feminismus
[2] https://www.boell.de/de)
[3] https://www.boell.de/de/2017/08/07/stellungnahme-des-vorstands-der-heinrich-boell-stiftung-zum-online-lexikon-agentin
[4] https://www.boell.de/de/2017/08/07/stellungnahme-des-vorstands-der-heinrich-boell-stiftung-zum-online-lexikon-agentin
[5] http://www.gwi-boell.de/de/2017/07/04/gender-raus-12-richtigstellungen-zu-antifeminismus-und-gender-kritik
[6] https://www.boell.de/de/2017/07/17/%20gender-raus-und-agentin-erschienen
[7] http://www.tagesspiegel.de/politik/feminismus-eine-art-verfassungsschutzbericht-der-gender-szene/20101430.html
[8] http://uebermedien.de/12163/harald-martenstein-macht-luegenpresse-vorwuerfe-salonfaehig
[9] https://andreaskemper.org
[10] https://andreaskemper.org/2017/07/25/zur-agentin-1-ein-online-lexikon-ist-ein-online-lexikon
[11] https://andreaskemper.org

Uni ohne Arbeiterkinder?

Andreas Kemper vertritt studierende »Arbeiterkinder« an der Uni Münster

nd: Sie gehören zu den Initiatoren des deutschlandweit bislang einmaligen Referats »Arbeiterkinder« an der Universität Münster. Der AStA der Uni wollte das Referat nach rund zehn Jahren Existenz jetzt rechtlich und sozial absichern. Ein entsprechender Beschluss des Studentenparlaments wurde von der Unileitung aber gekippt. Wie erklären Sie sich diese Ablehnung?

Dass sich das Rektorat kaum Gedanken über die studierenden Arbeiterkinder macht hat historische Gründe. So gab es bis in die späten 1960er Jahre hinein an der Uni-Klinik Münster Dekane, die in der Nazizeit an Zwangssterilisierungen von Arbeiterkindern beteiligt waren. Der bekannteste Fall ist der Doktorvater von Mengele, Otmar von Verschuer, der bereits als Freikorps-Adjutant nach dem Ersten Weltkrieg an standrechtlichen Erschießungen von aufständischen Arbeitern beteiligt war.

Gibt es auch aktuelle Beispiele für die Ignoranz gegenüber Arbeiterkindern?

A.K.: Ja. Die Uni Münster setzt eine Kann-Bestimmung nicht um, die es Kindern aus der Arbeiterschicht erleichtert, ein Deutschland-Stipendium zu erhalten, dass eingeführt wurde, um genau diese Studierenden zu unterstützen. Ein anderer Fall: Vor zehn Jahren beauftragte das Rektorat das HIS, um eine Erhebung über die Bedürfnisse und Probleme der Studierenden der Uni Münster durchzuführen. Bei der Auswertung wurde allerdings darauf verzichtet, die soziale Herkunft auszuwerten.

Welche Schwerpunkte hat das Referat Arbeiterkinder in seiner Arbeit?

A.K.: Das Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (Fikus), so die offizielle Bezeichnung, soll die Situation von Arbeiterkindern im Bildungssystem und explizit an Hochschulen verbessern. Dies wird in erster Linie als bildungspolitischer Auftrag verstanden. Es findet zwar auch Beratung und direkte Unterstützung statt, aber in erster Linie geht es darum, die Ursachen von Bildungsbarrieren zu ermitteln und zu bekämpfen. Daher haben wir in den letzten zehn Jahren über einhundert Veranstaltungen mit Bildungsforschern und fünf Tagungen mitorganisiert.

Also nicht nur Service sondern auch Politik?

A.K. : Das Referat ist kein Service-Referat. Darin unterscheidet es sich fundamental von Arbeiterkind.de, die explizit unpolitisch sind und nur helfen wollen. Zur Arbeit der Fikus-Referates gehörte die Zusammenarbeit mit Leuten, die gegen das Bibliotheken-Sterben vorgingen, vor allem ging es darum, Stadtteilbibliotheken in ressourcenarmen Stadtteilen zu retten. Wir waren engagiert gegen Studiengebühren und gegen Latein-Voraussetzungen. Und wir sehen unsere Aufgabe darin, Arbeiterkinder im Bildungsbereich zu organisieren und zu vernetzen. Zu dieser Vernetzung gehört, andere Arbeiterkinderzusammenschlüsse zu unterstützen, außerdem arbeiten wir mit entsprechenden Organisation in Wien und den Vereinigten Staaten zusammen. Nicht zuletzt geht es auch um inhaltliche Auseinandersetzungen zu dem Thema. Und uns ist wichtig, dass soziale Herkunft als Diskriminierungsgrund anerkannt wird.

Wie soll es nach der Ablehnung weitergehen?
A.K. Am 16.10. wird auf einer Vollversammlung der studierenden Arbeiterkinder das weitere Vorgehen beschlossen. Das Rektorat musste zudem bereits dem NRW-Bildungsministerium und der Gleichstellungsbeauftragten erläutern, warum die Satzungsänderung abgelehnt wurde.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/801000.uni-ohne-arbeiterkinder.htm

Interview: Peter Nowak

Sind Arbeiterkinder an der Hochschule nicht förderungswürdig?

Rektorat der Universität Münster lehnt eine soziale und rechtliche Besserstellung eines Referats ab

Vor nun mehr 12 Jahren wurde am Asta der Universität Münster ein Referat gegründet, das sich in Deutschland einmalig der Förderung von Arbeiterkindern an der Hochschule widmete. Vor einigen Wochen hatte die Studierendenvertretung eine rechtliche und finanzielle Aufwertung zum autonomen Referat beschlossen. Es hätte bedeutet, dass das Referat nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Studierendenparlament wieder abgeschafft werden kann.

Doch dagegen legte das Rektorat der Münsteraner Universität, die als Rechtsaufsicht dem Beschluss zustimmen muss, ihr Veto ein. Nach Ansicht des Rektorats ist nicht hinreichend bestimmbar, „wer als ‚finanziell und kulturell benachteiligter‘ Studierender anzusehen ist“, lautete die Begründung.

Kein Interesse an der Förderung von Arbeiterkindern?

Der Soziologe Andreas Kemper, der das Referat vor 12 Jahren mitbegründet hat und sich auch theoretisch mit dem Klassismus beschäftigt, wie die Diskriminierung aufgrund der Klassenlage genannt wird, sieht in der Ablehnung ein Desinteresse der Unileitung an den Arbeiterkindern. Im Gespräch mit Telepolis nennt er dafür historische aber auch aktuelle Beispiele. So habe es bis in die späten 1960er Jahre hinein an der Uni-Klinik Münster Dekane gegeben, die in der Nazizeit an Zwangssterilisierungen von Arbeiterkindern beteiligt waren. Der bekannteste Fall sei der Doktorvater von Mengele, Otmar von Verschuer, gewesen, der bereits als Freikorps-Adjutant nach dem Ersten Weltkrieg an standrechtlichen Erschießungen von aufständischen Arbeitern beteiligt war.

Auch aktuell würden schon vorhandene Möglichkeiten zur Förderung von Arbeiterkindern an der Hochschule nicht wahrgenommen. So habe die Uni Münster eine Kann-Bestimmung nicht umgesetzt, die es Kindern aus der Arbeiterschicht erleichtert, ein Deutschland-Stipendium zu erhalten, das eingeführt wurde, um genau diese Studierenden zu unterstützen. Ein weiterer Fall für eine klassische Blindheit der Unileitung führt Kemper an: „Vor zehn Jahren beauftragte das Rektorat das HochschuIinformationssystem , um eine Erhebung über die Bedürfnisse und Probleme der Studierenden der Uni Münster durchzuführen. Bei der Auswertung wurde allerdings darauf verzichtet, die soziale Herkunft auszuwerten.“

Kein Service-Referat

Kemper betont die politische Dimension hinter den von Studierenden durchgesetzten Referats. „Es ist kein Service-Referat und unterscheidet sich damit fundamental von dem Projekt Arbeiterkind, das explizit unpolitisch ist und nur helfen will.“ Das Münsteraner Referat engagierte sich gegen unter Anderem gegen Studiengebühren und gegen Latein-Voraussetzungen. „Wir sehen unsere Aufgabe darin, Arbeiterkinder im Bildungsbereich zu organisieren und zu vernetzen. Zu dieser Vernetzung gehört, andere Arbeiterkinderzusammenschlüsse zu unterstützen, außerdem arbeiten wir mit entsprechenden Organisation in Wien und den Vereinigten Staaten zusammen. Nicht zuletzt geht es auch um inhaltliche Auseinandersetzungen zu dem Thema. Und uns ist wichtig, dass soziale Herkunft als Diskriminierungsgrund anerkannt wird“, betonte Kemper.

Dieses Ziel könnte durch die ablehnende Haltung des Rektorats eher gefördert werden, so seine Hoffnung. Das Rektorat musste bereits dem NRW-Bildungsministerium und der Gleichstellungsbeauftragten der Uni Münster erläutern, warum die Satzungsänderung abgelehnt wurde. Zudem soll auf einer Vollversammlung der studierenden Arbeiterkinder am 16.10. das weitere Vorgehen besprochen werden. Derweil diskutierten aktive Studierende, ob der Trend zur Eliteuniversität und die zunehmende Spaltung der Gesellschaft nicht die andere Medaille der Ablehnung einer Förderung von Arbeiterkindern an der Hochschule ist.

http://www.heise.de/tp/blogs/10/152956
Peter Nowak

Klassismus

Konzept zur Gesellschaftsveränderung oder zur Mittelstandsförderung?

 
Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff Klassismus relativ unbekannt. Im US-amerikanischen Kontext wird er analog zu Rassismus und Sexismus als eine Diskriminierungs- und Unterdrückungsform bezeichnet und spielt sowohl in der Wissenschaft als auch in der Bildungsarbeit eine Rolle. Mit ihrem im Unrast-Verlag erschienenen Band liefern Heike Weinbach und Andreas Kemper eine gute Einführung in das Konzept und schaffen so die Voraussetzung, sich mit dessen Stärken und Schwächen auseinandersetzen zu können. Sie gehen kurz auf die eng mit der antirassistischen und feministischen Bewegung verbundene Geschichte des Klassismus-Konzepts ein und stellen bei uns weitgehend unbekannte politische Zusammenhänge vor, die dieses Konzept vertreten haben. Dazu gehört die sozialistische Lesbengruppe »The Furies«, die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre ihre gesellschaftliche Position als Töchter aus der ArbeiterInnenklasse thematisierten. Dabei kritisierten sie auch die Umgangsweise der sozialen Bewegungen mit dem Thema Klasse. »Sie sei entweder durch und durch romantisierend und führe zu der sogenannten Abwärtsmobilität der Mittelschicht-Jugend oder finde in akademischen marxistischen Debatten statt.« (S. 34) Mit der Metapher
der Abwärtsmobilität kritisieren die Furies, dass sich Studierende aus dem Mittelstand selber marginalisieren, was sie als Töchter der ArbeiterInnenklasse mit Unverständnis kommentierten. Aber auch die Debatten in der ArbeiterInnenbewegung wurden von den Furies kritisiert: »Klasse bedeutet weit mehr als die marxistische Definition von Beziehungen im Spiegel der  Produktionsverhältnisse. Klasse schließt dein Verhalten und deine fundamentalen Überzeugungen mit ein; was du von dir und anderen erwarten darfst, deine Idee von der Zukunft, wie du Probleme verstehst und löst; wie du denkst, fühlst und handelst« (S. 36). Sie reflektierten auch ihre Rolle als Akademikerinnen mit proletarischer Herkunft. »Ja, wir haben College-Abschlüsse;
nein, wir arbeiten nicht in Fabriken, wie unsere Eltern es taten, und wir lernten von der Vergewaltigung unserer Eltern, gerade deshalb wollen wir die Revolution machen« (S. 37).

Von der Gesellschaftsveränderung zur Karriereförderung
Die Furies werden in dem Buch als eine Gruppe von Frauen aus der ArbeiterInnenklasse vorgestellt, die eine ganz eindeutig antikapitalistische Zielsetzung verfolgten. Eine andere in dem Buch vorgestellte Gruppe, die Working-Class-Akademikerinnen (WCA), haben mit den Furies die Herkunft gemeinsam. Doch zwischen ihren politischen Intentionen klaffen Welten. Den in den 90er-Jahren gegründeten WCA ging es nicht um die gesellschaftliche Umwälzung, sondern um die gegenseitige Unterstützung bei der Jobsuche im Wissenschaftsapparat. »Die WCA-Aktivistinnen tauschen sich inhaltlich über ihre Erfahrungen aus, führen Selbstverständnisdiskussionen, unterstützen sich in Forschungsprojekten« (S. 46). Dieser Wandel von der Gesellschaftsveränderung zur Karriereförderung ist einerseits dem Abflauen gesellschaftskritischer Theorie und Praxis geschuldet. Er ist andererseits bereits in den beiden durchaus nicht identischen Bedeutungen des Klassismusbegriffs angelegt, den die AutorInnen in der Einleitung vorstellen. Zum einen bedeute er den »Ausschluss von materiellen Ressourcen und Partizipation, zum anderen die Verweigerung von Respekt und Anerkennung gegenüber Menschen mit ihren Rechten, Lebensweisen und Vorstellungen (S.7). Allerdings stellen die AutorInnen zu wenig die Differenzen und unterschiedlichen politischen Implikationen dar, die sich aus den beiden Erklärungsversuchen ergeben. Wer unter Klassismus den Ausschluss von materiellen Ressourcen und Partizipation versteht, strebt, wie die Furies, eine Änderung dieser Verhältnisse an. Wer unter Klassismus hingegen die Verweigerung von Respekt und Anerkennung gegenüber Menschen mit ihren Rechten, Lebensweisen und Vorstellungen versteht, muss nichts dagegen haben, dass Menschen arm und beispielsweise gezwungen sind, Flaschen zu sammeln. Nur sollten das bitte auch alle respektieren. Aus einem Problem der ungleichen Verteilung von Ressourcen und Macht in einer Gesellschaft wird die Sorge, dass auch diejenigen, die wenig oder keine Ressourcen haben, respektiert werden sollen. Klemper/Weinbach versuchen an verschiedenen Stellen im Buch, zwischen den beiden unterschiedlichen Klassismus-Definitionen zu vermitteln. »Klassismus verbindet im Grundverständnis die alten Kritikformen der ArbeiterInnenbewegung am materiellen und politischen Ausschluss mit der Kritik an der Nichtanerkennung und der Herabsetzung von Kulturen und Leben der ArbeiterInnen, Arbeitslosen und Armen« (S.17 ). Als Beispiel dafür wird ein längeres Zitat aus einem Handbuch für gewaltfreie Aktion aufgeführt: »Klassismus  wird ebenso aufrechterhalten durch ein Glaubenssystem, in dem Menschen aufgrund ihrer Kinderzahl, ihres Jobs, ihres Bildungsniveaus hierarchisiert werden. Klassismus sagt, dass Menschen aus einer höheren Schicht klüger sind und sich besser artikulieren können als Menschen aus der Arbeiterklasse und arme
Menschen. Es ist eine Art und Weise, Menschen klein zu halten – damit ist gemeint, dass Menschen aus der höheren Klasse und reiche Menschen definieren, was ›normal‹ oder ›akzeptiert‹ ist. Viele von uns haben diese Standards als die Norm akzeptiert, und viele von uns haben den Mythos geschluckt, dass die meisten im Land zur Mittelklasse gehören« (S. 16f.).

Interessant wäre, diese Definition auch auf sich links und emanzipatorisch verstehende Zusammenhänge anzuwenden. Schließlich geht es sowohl bei Konflikten in selbstverwalteten Zentren und Häusern als auch in linkspolitischen Zusammenhängen oft um die Frage, ob eher universitär und mittelstandsorientierte Menschen die politischen Spielregeln bestimmen und damit Menschen aus der Arbeiterklasse oder Erwerbslose dominieren und unter Umständen auch auszugrenzen. Wie komplex diese Auseinandersetzung sein kann, zeigt sich daran, wenn bei einem Konflikt um antisexistische Praxen in einem selbstverwalteten Zentrum junge Erwerbslose Frauen- und Lesbenzusammenhängen vorwerfen, sie versuchten Normen und Verhaltensweisen des akademischen Mittelstands einzuführen. Ähnliche Konflikte gibt es in der Auseinandersetzung mit Schwulen und jungen MigrantInnen. Diese Beispiele machen deutlich, dass ein Konzept zu kurz greift, das sich den Respekt und die Anerkennung der unterschiedlichen Kulturen auf die Fahnen schreibt, ohne zu berücksichtigen, dass sich diese gegenseitig ausschließen können. Wenn im  Klassismuskonzept beispielsweise Respekt vor den Kulturen der Armen, Erwerbslosen und ArbeiterInnen verlangt wird, ist zu
fragen, wie damit umzugehen ist, wenn diese Kulturen ihrerseits ausschließend gegen Menschen anderer Länder oder sexueller Orientierung sind. Diese Fragestellung verweist schon darauf, dass Kulturen nichts Statisches und Unveränderliches, sondern selbst Gegenstand von politischer und gesellschaftlicher Positionierung sind. So hat sich immer wieder gezeigt, dass in Arbeitskämpfen und Streiks, zumindest zeitweilig, nationalistische und rassistische Einstellungen gegenüber KollegInnen zugunsten eines gemeinsamen Handelns zurückgedrängt werden können. Mit der bloßen Forderung nach Respekt vor Kulturen besteht auch
die Gefahr, dass deren konservative, rückwärtsgewandte Elemente konserviert werden. Die AutorInnen verweisen darauf, dass in der Literatur auch Vorurteile von ArbeiterInnen gegenüber Reichen als Klassismus bezeichnet werden. Könnte es vielleicht einmal so weit kommen, dass streikende ArbeiterInnen, die sich über Ausbeutung und Lohndrückerei beschweren, des Klassismus geziehen werden, weil sie der ›Kultur‹ der Reichen und Besitzenden nicht den gebührenden Respekt zollen? Diese Frage mag sich polemisch
anhören, doch wenn es nur noch um Identitäten und Respekt vor den unterschiedlichen Kulturen geht, ist eine solche Entwicklung nicht ausgeschlossen. Wenn aber das Klassismuskonzept mit einer gesellschaftlich klaren Positionierung verbunden ist, kann es auch für heutige Organisierungsprozesse am Arbeitsplatz, im Jobcenter oder wo auch immer hilfreich sein, insofern es den Blick auf in der marxistischen Tradition verbreitete Verkürzungen eines ökonomistischen Klassenbegriffs lenkt, die nicht einfach durch die Addition einer Portion Respekt oder gar die Substitution von ökonomischen durch moralische Kategorien zu beheben sind. Die Einführung in die Theorie und Praxis des Klassismus könnte in diesem Sinne eine gute Diskussionsgrundlage dafür sein, wie der Klassenbegriff nicht-ökonomistisch zu rekonstruieren und zu reformulieren wäre.

Peter Nowak
Andreas Kemper / Heike Weinbach: »Klassismus. Eine Einführung«, Unrast Verlag, Münster 2009,
ISBN 978-3-89771-4670, 185 Seiten, 13 Euro

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/11
express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express