Berlin – Mit Aktionen gegen Flüchtlingsunterkünfte meldet sich die rechtsextreme Szene in Berlin wieder verstärkt in die Öffentlichkeit zurück.
Am 1. November hatte die NPD im Berliner Stadtteil Weißensee eine Kundgebung angemeldet, an der sich allerdings nur sieben Personen beteiligten. Etwa 60 Gegendemonstranten protestierten in unmittelbarer Nähe. Im nur wenige Kilometer entfernten Buch demonstrierten allerdings eine Stunde später am Samstag knapp 200 Personen gegen eine Flüchtlingsunterkunft in dem Stadtteil, darunter viele in Anwohner/innen. Nicht nur die Technik und Logistik hatte die NPD von Weißensee nach Buch transportiert. Als Hauptredner trat auf beiden Kundgebungen der Pankower NPD-Kreisvorsitzende Christian Schmidt auf. In Buch verzichtete er allerdings auf einige NS-verherrlichende Passagen, mit der er seine Ansprache in Weißensee beendet hatte.
An der Demonstration beteiligten sich auch Brandenburger Neonazis, die auf einem Transparent für den „Tag der deutschen Zukunft“ warben, der am 6. Juni 2015 in Neuruppin stattfinden soll. Logistische Unterstützung kam von Hellersdorfer Rechten, die im vergangenen Jahr mit ihrer Kampagne „Nein zum Heim“ gegen eine in dem Stadtteil errichtete Flüchtlingsunterkunft bundesweit für Aufsehen sorgten. Die Anwohnerinitiative „Kein Asylanten-Container-Dorf in Buch“ dankte am Schluss der Aktion allen „Demoteilnehmern, Organisatoren, Ordern und Rednern“ und kündigte weitere Aktionen an.
Zwei Tage später nahmen über 200 Rechtsextremisten aus Berlin und Umgebung an einem Aufmarsch gegen eine Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Marzahn teil. Obwohl aus der Menge Parolen wie „Wir wollen keine Asylantenschweine“, „Rudolf Heß“ und „Nationaler Sozialismus jetzt!“ skandiert wurden, griff die Polizei nicht ein. Die extrem rechte Demonstration war über Internet angekündigt, aber zwei Tage vorher überraschend abgesagt worden. Daraufhin hatten Nazigegner auch die geplanten Gegenproteste gecancelt. Am Montagabend stellte sich dann aber heraus, dass die Anmeldung der Demonstration nie zurückgezogen und die öffentliche Absage nur eine Taktik war.
Vor 10 Jahren ging der Mörder von Theo van Gogh so vor, wie heute die IS in Syrien und dem Irak
Der Mann war mit dem Fahrrad unterwegs, als er von einem anderen Fahrradfahrer eingeholt wurde, der auf ihn schoss. Als der Angeschossene verletzt am Boden lag, stieg der andere vom Fahrrad und schnitt seinem Opfer die Kehle durch. Wer hier an den Terror der IS denkt, liegt einerseits falsch und ist doch auf der richtigen Spur.
Die blutige Szene spielte sich vor 10 Jahren auf offener Straße in Amsterdam ab. Das Opfer war der Schriftsteller und Regisseur Theo van Gogh [1], der keine Scheu hatte, Religionen und Kulte, die Menschen heilig scheinen, zu verspotten und zu verhöhnen, keine Religion war vor seinem Spott sicher. Nur wenige Tage vor seiner Ermordung erklärte [2] er, dass er nur ein Dorfnarr sei, dem nichts passieren werde.
Vorläufer des IS-Terrors?
Van Goghs Mörder Mohammed Bouyeri [3] legte bei seinem Verbrechen Elemente an den Tag, die in den letzten Wochen durch den IS-Terror weltweit bekannt wurden und für Entsetzung sorgten. Auch Bouyeri ging es darum, einen Menschen zu vernichten, weil er in seinen Augen den Islam beleidigt hatte, ein Ungläubiger war. Zudem ging es ihn wie dem IS darum, möglichst viel Terror und Schrecken öffentlich zu verbreiten. Deshalb schnitt er seinem Opfer auf offener Straße die Kehle durch. Auch hinterließ er ein Bekennerschreiben, in dem er alle Elemente eines Weltbildes offenlegte, dass man zurecht als islamofaschistisch bezeichnen konnte.
In seinem Schreiben bedrohte er die Parlamentsabgeordnete Ayaan Hirsi Ali [4] und beschuldigte sie, gemeinsame Sache mit den Feinden des Islam zu machen. Hirsi Ali hatte kurz zuvor das Drehbuch zu van Goghs islamkritischem Film Submission [5] verfasst, der dem Regisseur das Leben kostete. Hirsi Ali verließ daraufhin das Land und migrierte in die USA.
Warnung vor Dschihadismus
In Holland gibt es 10 Jahre nach dem Mord an den Regisseur zahlreiche künstlerische und politische Veranstaltungen [6]. In Deutschland ist das Echo wesentlich verhaltener. Gerade bei den Linken hätte man eine lebhaftere Debatte anlässlich dieses Jahrestages erwartet. Schließlich bekommen 10 Jahre nach der Tat durch den Aufstieg der IS nachträglich jene Teile der Linken recht, die bereits damals davor warnten, die dschihadistische Ideologie zu unterschätzen und die islamistische Gewalt in erster Linie als Folge der Unterdrückung der Moslems zu interpretieren.
Genau diese Lesart konnte man nach dem Mord an van Gogh beobachten. Da wurde ihm zumindest eine Mitschuld gegeben, wenn gefragt wurde, warum er auch alles, was irgendwen heilig war, zum Gegenstand von Hohn und Spott machen musste. Auch Hirsi Ali wurde nicht in erster Linie als eine Frau gesehen, die nach den islamistischen Mord an ihren Kollegen und den Drohungen gegen sie dei Niederlande verlassen [7] hat, sondern als eine Konservative, die sich in ihrer politischen Arbeit mehr und mehr an bestimmte, von den Linken wenig geschätzte Organisationen anlehnte.
Die Frage, ob das auch daran gelegen haben kann, dass viele Linke in Holland, aber auch in anderen Ländern den radikalen Islamismus in Theorie und Praxis unterschätzten und teilweise sogar kleinredeten, wurde zu wenig gestellt.
Auch in Deutschland wurden Menschen, die nach den islamistischen Anschlägen des 11. September in den USA darauf hinwiesen, dass die Ideologie und die Praxis des Islamismus eine Gefahr für Juden, Linke und überhaupt alle Freunde der Freiheit sind, schnell in die konservative Ecke geschoben. Wobei man durchaus nicht verschweigen sollte, dass einige dieser Gruppen dann auch tatsächlich in diesen Kreisen ihre politische Heimat fanden.
Religionskritisches Potential der Linken
Die Kritik daran ist berechtigt. Doch die Frage bleibt, warum linke Gruppen jeglicher Couleur allzu oft Religionskritik im Allgemeinen und Kritik des Islamismus in Theorie und Praxis rechten und rechtspopulistischen Gruppen überließen wie in den Niederlanden Geert Wilders.
Die können sich dann als Rebellen und Streiter für die Freiheit ausgeben.
Dabei müsste sich die Linke nur auf ihre religionskritischen Wurzeln besinnen. Es waren Anarchisten und Anarchosyndikalisten, die für eine Gesellschaft ohne Gott und Staat eintraten. Es war Karl Marx, der in seinen Schriften Elemente einer radikalen Religionskritik propagierte und keine Ehrfurcht vor Tradition und Heiligtümern.
Insofern stand Theo van Gogh – der sich aber keineswegs als Marxist verstand – auch in diesen Traditionen. 10 Jahre nach seiner Ermordung muss man sich schon fragen, warum auf den vielen Demonstrationen, die jetzt überall in der Welt mit Kobane und den kurdischen Verteidigern gegen die IS organisiert wurden, nicht auch an Theo van Gogh erinnert wird. Schließlich war er einer der ersten Opfer dieses speziellen islamistischen Terrors auf europäischen Boden.
Während man sich bei der Einschätzung über die Wahlen in der Ostukraine ziemlich einig in der Ablehnung ist, reagierten Politiker und Medien auf die Wahlen in der übrigen Ukraine viel zu unkritisch
Wer in der vergangenen Woche die Illusionen hegte, dass die vorläufige Einigung zwischen der Ukraine und Russland im Gasstreit zu einer allgemeinen Entspannung zwischen beiden Ländern beitragen könnte, sieht sich nun schnell enttäuscht. Nachdem die Machthaber in der Ostukraine ihre Ankündigung wahr gemacht haben und eigene Wahlen abhielten [1], sind zwischen Russland und der Ukraine wieder kriegerische Töne angesagt.
Der ukrainische Außenminister tönt nun, dass sich das Land die Ostukraine zurückholen [2] werde. Wie das bewerkstelligt werden soll, lässt er allerdings offen. Die Ankündigung aus Kiew, Strafverfahren gegen die Verantwortlichen der Wahlen im Osten des Landes einzuleiten [3], sind hingegen realistischer und erinnern an den tiefsten kalten Krieg zwischen BRD und DDR. Auch damals wurden in Westdeutschland Menschen verurteilt, die beschuldigt wurden, das System im Osten zu unterstützen und sei es nur durch ein Interview.
Klare Wahlentscheidung für eine Europäisierung?
In den meisten Medien wurden die Wahlen in der Ostukraine zumindest als umstritten, oft aber auch als illegal bewertet. Tatsächlich dürfte es nicht besonders schwer sein, auch Nachweise dafür zu finden, dass diese Wahlen selbst nach bürgerlich-demokratischen Standpunkten in vielerlei Hinsicht zu beanstanden sind. Die Frage ist allerdings, ob sie sich in dieser Hinsicht so groß von den Parlamentswahlen in der übrigen Ukraine unterscheiden.
Wenn man den Mainstream der hiesigen Medien und die Erklärungen einer ganz großen Koalition von Politikern zum Maßstab nimmt, verbietet sich schon die Frage. Denn unisono wurde erklärt, mit diesen Wahlen habe die Ukraine den Weg nach Europa gewählt und all jene Lügen gestraft, die immer Nationalisten oder gar Faschisten in Kiew am Werk sehen. Erst am Wochenende erklärte [4] der Grüne Ex-Außenminister Josef Fischer:
„In einer sehr klaren Wahlentscheidung hat die Ukraine einen Präsidenten gewählt, der allseits, auch von Moskau, anerkannt wird. Dann jüngst die Parlamentswahlen. Diese sind besonders bemerkenswert, weil in einer Zeit gewählt wurde, in der Teile des Landes besetzt sind, Krieg herrscht, andere Teile annektiert wurden. Die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung hat ganz klar gezeigt, dass sie eben die Ostverschiebung der Ukraine nicht will. Das ist jetzt eine große Chance. Man darf nur die Fehler, die nach der Orangen Revolution gemacht wurden, nicht wiederholen. Eine europäische Perspektive für die Ukraine wird es nur geben können, wenn es einen echten Bruch mit der postsowjetischen Realität in dem Lande gibt. Das heißt an erster Stelle: Bekämpfung der Korruption und eine innere Europäisierung.“
Damit liegt Fischer ganz auf der Linie der Ukraineberichterstattung der grünennahen Taz, die das Scheitern der extremen Rechten und den Sieg des europafreundlichen Flügels in den Mittelpunkt stellte [5]. Nach einer genaueren Analyse der Wahlen in der Ukraine stellte sich aber schnell heraus, dass die Rechtsaußenparteien sicher nicht besonders gut abgeschnitten haben, UItrarechte und Nationalisten allerdings auf den Listen proeuropäischer Parteien kandidierten und ins Parlament kamen.
„Vom Schützengraben ins Parlament“ hieß die Überschrift eines Artikels [6], der die Jubelberichterstattung über das Scheitern der Ultrarechten in der Ukraine korrigierte. Über die neue Partei Selbsthilfe [7], die ins ukrainische Parlament eingezogen ist und als liberale, proeuropäische Partei in vielen deutschen Medien hochgelobt wurde, heißt es nun:
„Ein Blick auf die Wahlliste und das Wahlprogramm für die jüngsten Parlamentswahlen zeigt, dass keine Partei so von Militär und Militarismus durchdrungen ist wie die Selbsthilfe. Direkt hinter der Spitzenkandidatin, der Aktivistin der Nichtregierungsorganisation „Neubelebung der Reformpakete“, Anna Golko, findet sich Semjon Sementschenko, Kommandeur des Bataillons Donbass.“
Ultrarechte Paramilitärs, die im Donbass an Plünderungen und anderen Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, sind so auf dem Ticket liberaler, proeuropäischer Parteien in das Kiewer Parlament eingezogen und haben diesen Parteien bereits zuvor ihren politischen Stempel aufgedrückt. Es ist dann auch nicht besonders verwunderlich, dass die Rechtsaußenparteien bei diesen Wahlen schlecht abgeschnitten haben, wenn die nationalistischen Inhalte sich über die proeuropäischen Parteien der sogenannten Mitte verwirklichen lassen.
Sollten sie bei der Umsetzung scheitern, stehen schließlich rechtsaußen noch immer genügend Politiker in Reserve. Dazu gehört auch der ultrarechte Nationalist Dmitrij Jarosch, der von Interpol zur Fahndung ausgeschrieben [8] ist. Der führende Politiker des Rechten Sektors kam als Direktkandidat ins Parlament.
Wenig las man in den deutschsprachigen Medien darüber, dass vor allem den Kommandeuren, die auf den verschiedenen Listen kandierten, Einschüchterung der Wähler, ja sogar offener Wahlbetrug vorgeworfen wurde. Dass mehrere ukrainische NGOs bereits im Vorfeld der Parlamentswahlen von einem Rückfall in alte Zeiten in Bezug auf die Wählerbeeinflussung und Bestechung sprachen [9] und diese Vorwürfe nach dem Wahlen untermauerten, wurde hierzulande gerne übersehen.
Weder auf Seiten Russlands noch Kiews
Nach den Wahlen in der West- und Ostukraine wiederholt sich das Schauspiel, das wir seit Monaten kennen. Während die prorussichen Kräfte gerne auf die Nationalisten und Faschisten im Umfeld der Kiewer Regierung zeigen, werden die russischen Rechtsaußenkräfte verschwiegen, die bei den Separatisten im Osten mitwirken.
Umgekehrt wird von den Freunden des Umsturzes in Kiew gern jeder Hinweis auf ultrarechte Kräfte in der Regierung und beim Militär als Parteinahme für Putin verurteilt, wie es bereits vor einigen Monaten in einer Erklärung [10] von grünennahen Wissenschaftlern formuliert und auch von der Grünen Politikern Rebecca Harms wiederholt [11] wurde.
Positionen, die auch im Ukrainekonflikt die Politik sowohl Kiews als auch der Separatisten kritisieren, haben es schwer, gehört zu werden. „Der Platz antifaschistisch und antimilitaristisch denkender Menschen ist nicht an der Seite ukrainischer oder russischer Nationalisten. Unser Platz ist bei den linken und antifaschistisch denkenden Menschen in der Ukraine und Russland, so sehr diese auch momentan an den Rand gedrängt werden“, schrieb [12] der Sozialwissenschaftler Matthias Wörsching all denen ins Stammbuch, die klare Feinbilder statt kritische Analyse der Verhältnisse bevorzugen.
Straßenumbenennungen zur Erinnerung werden oft abgelehnt
Zumindest für einige Stunden wird in Berlin eine Straße zwischen Kurfürstendamm und Joachimsthaler Straße den Namen des NSU-Opfers Mehmet Kubaşık tragen. Der Kioskbesitzer war am 4. April 2006 in Dortmund erschossen
Zumindest für einige Stunden wird in Berlin-Charlottenburg eine Straße zwischen Kurfürstendamm und Joachimsthaler Straße den Namen des NSU-Opfers Mehmet Kubaşık tragen. Der Kioskbesitzer war am 4. April 2006 in seinem Laden in Dortmund erschossen worden. Angehörige und Freunde des Toten gingen nach der Tat schnell von einem neonazistischen Mord aus, fanden damit aber bei der Polizei und vielen Medien kein Gehör.
Damals wurde die Mordserie bei den Behörden noch unter dem rassistischen Obertitel »Dönermorde« geführt. Erst am 4. November 2011 wurde deutlich, dass die Angehörigen von Kubaşık Recht hatten. Durch einen Zufall wurde bekannt, dass eine Gruppe von Neonazis seit über einem Jahrzehnt im Untergrund agierte und quer durch die Republik Menschen ermordete, die nur eines gemeinsam hatten: Sie waren nicht in Deutschland geboren. Der »Nationalsozialistische Untergrund« ermordete zwischen 2000 und 2007 mutmaßlich neun Kleinunternehmer mit Migrationshintergrund und eine Polizistin.
Zum dritten Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU planen am 4. November Angehörige der Opfer und antirassistische Gruppen an den Tatorten symbolische Straßenumbenennungen. Sie sollen die Namen der Mordopfer tragen. Um 17.30 Uhr sollen in ganz Deutschland gleichzeitig Straßen nach den Opfern der NSU-Mordserie benannt.
»Wir wollen unserer ermordeten Angehörigen würdig gedenken und gleichzeitig darauf aufmerksam machen, dass unser Anliegen von den politisch Verantwortlichen und auch Teilen der Anwohnern ignoriert oder sogar regelrecht bekämpft wird«, erklärte Ali Bezkart vom Berliner Bündnis gegen Rassismus gegenüber »nd«. Das Bündnis hatte schon für den vergangenen Samstag eine Demonstration unter dem Motto »Rassismus in der Gesellschaft bekämpfen« organisiert. Rund 1500 Menschen beteiligten sich am Marsch durch den Berliner Ortsteil Wedding. Die massive Ablehnung einer Umbenennung von Straßen nach den Mordopfern des NSU bezeichnete eine Rednerin auf der Abschlusskundgebung als ein Beispiel für Alltagsrassismus.
Schon im Jahr 2012 forderten Angehörige die Umbenennung der Hamburger Schützenstraße, in der der Mord an Süleyman Tasköprü begangen wurde. Mit der Begründung, zu viele Firmen seien dort angesiedelt und die Straße sei viel zu stark bewohnt, traten Teile der Bevölkerung aber auch die örtliche SPD dieser Forderung entgegen. Um weiteren Protest und einen langwierigen Umbenennungsstreit zu vermeiden, einigten sich Politik und die Angehörige der Opfer schließlich auf die Umbenennung der nahe gelegenen Kühnehöfe nach Süleyman Tasköprü. Kaum wurden die Anwohner von diesen Plänen informiert, regte sich Protest. Die in der Straße ansässige Traditionsfirma Kühne stellte sich dagegen. Zudem sammelten die Anwohner Unterschriften gegen die Umbenennung.
Auch in Kassel wurde der Wunsch des Vaters des NSU-Opfers Ismail Yozgat, die Ausfallstraße, an der der Mord geschah, nach seinem Sohn umzubenennen, bisher abgelehnt. Angehörige und antirassistische Gruppen wollen diese Blockadehaltung nicht akzeptieren. »Mit der symbolischen Umbenennung wollen wir deutlich machen, wie wenig sich trotz aller Sonntagsreden auch in der Bevölkerung durch die Aufdeckung des NSU verändert hat«, betonte Bezkart.
SOLIDARITÄT Die von Nachtclubs gestartete Kampagne „Nachtleben für Rojava“ wirbt für die Unterstützung der Menschen in der Stadt Kobani und der Region Westkurdistan
Tausende Menschen gingen am vergangenen Samstag auch in Berlin auf die Straße, um die von den Islamisten des IS eingeschlossenen KurdInnen zu unterstützen (taz berichtete). Der überwiegende Teil waren in Berlin lebende KurdInnen – der kleinere Teil UnterstützerInnen aus der deutschen Linken.
Zu ihnen gehört auch Jan Hoffmann. Er verteilte auf der Demonstration Flyer und Aufkleber mit dem Motto „Nachtleben für Rojava“. Die Kampagne startete am Abend des 1. November – dem Tag des Internationalen Karenztages. Als „Rojava“ wird von Kurden der Anteil Syriens am kurdischen Siedlungsgebiet bezeichnet, das Gebiet ist kurdisch kontrolliert.
Die Kampagne wurde von Menschen organisiert, die als KonzertveranstalterInnen, BarkeeperInnen, TürsteherInnen oder DJs im Berliner Nachtleben tätig sind. „Fassungslos verfolgen wir, was in Irak und Syrien passiert, und fühlen die Verpflichtung, aktiv zu werden“, sagt Jan Hoffmann. Schließlich sei bei vielen Menschen, die tagsüber auf eine Demonstration gingen, nachts beim Feiern die Solidarität oft schnell vergessen.
Für Hoffmann und seine KollegInnen war und ist das ein unbefriedigender Zustand, den sie ändern wollten. „Dabei ist uns die Idee gekommen, eine Initiative zu starten, die Leute in einem Bereich anspricht, in dem wir uns auskennen, vernetzt und kulturell verwurzelt sind – im Berliner Nachtleben“, so Hoffmann. Damit sollen auch Menschen angesprochen werden, die nicht auf Solidemos gehen.
Zunächst wurden Bars und Clubs auf eine Unterstützung angesprochen, die den OrganisatorInnen persönlich bekannt sind. Einige arbeiten dort auch in den unterschiedlichen Bereichen. Zu den Einrichtungen, die den Aufruf sofort unterstützt haben, gehören die Clubs SchwuZ, about blank und Rosis.
Zwei zentrale Ziele hat die Kampagne: Sie will Öffentlichkeit über die Situation der Menschen in Rojava schaffen. Zudem möchte man Spenden sammeln, mit denen die Menschen in Rojana unterstützt werden sollen. In welcher Form die Spenden gesammelt werden, bleibt jeder Location selber überlassen. Einige erheben einen Aufpreis von einem Euro bei den Eintrittspreisen oder den Getränken, andere spenden einen Teil der Einnahmen. Mit Plakaten und Flyern werden die potenziellen BesucherInnen der Einrichtungen über die Ziele der Kampagne informiert.
Von den ersten Reaktionen ist Jan Hoffmann positiv überrascht. Für ihn liegt der Grund dafür vor allem daran, dass die Situation in Rojava medial sehr präsent ist und viele Leute das Bedürfnis verspüren sich einzubringen. „Dabei fehlen jedoch häufig die entsprechenden Kontakte oder konkrete Ideen, sodass unsere Initiative von vielen Leuten dankbar aufgenommen wird.“
In der nächsten Zeit soll die Zahl der beteiligten Clubs und Bars erweitert werden. Diskussionen darüber gibt es in so angesagten Clubs wie Berghain oder SO 36. Die Gespräche unter den MitarbeiterInnen laufen und sind teilweise noch nicht abgeschlossen. Doch Hoffmann ist optimistisch, dass sich in der nächsten Zeit weitere Einrichtungen dem Aufruf anschließen werden. Mittlerweile habe es auch Anfragen von KollegInnen aus Hamburg und Frankfurt gegeben, so Hoffmann.
Waffen für Rojava
Eine Erfolgsmeldung kam auch von einer anderen Kampagne „Waffen für Rojava“, die Anfang Oktober wesentlich von der Neuen Antikapitalistischen Organisation (NaO) initiiert worden ist. „Mittlerweile sind 50.000 Euro gesammelt worden“, erklärte NaO-Sprecher Michael Prütz gegenüber der taz. Mitte Oktober wurde dem Berliner Vorsitzenden der kurdischen Partei der demokratischen Union (PYD) Sherwan Abdulmajid auf einer Pressekonferenz ein Scheck über 20.000 Euro übergeben. Die Solidaritätsinitiative aus dem Berliner Nachtleben begrüßt Michael Prütz als willkommene Ergänzung. (pn)
Wenn Merkel zum 3. Jahrestag der NSU-Aufdeckung, zu der der Verfassungsschutz nichts beigetragen hat, das Bundesamt besucht, ist das auch ein politisches Statement
Großes Aufsehen erregte der Besuch [1] von Bundeskanzlerin Merkel beim Bundesamt für Verfassungsschutz [2] in Köln am vergangenen Freitag nicht. Warum auch? Schließlich scheint es ein Routinetermin.
Nur wenigen fiel auf, dass er just vor dem dritten Jahrestag der Selbstaufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds gelegt wurde. Dann klingt es schon seltsam, wenn es zu dem Besuch von Merkel auf der Homepage des Verfassungsschutzes heißt: „Die Kanzlerin hob dabei besonders den Beitrag des BfV für Deutschlands Sicherheit hervor. Die Bundesrepublik befinde sich in einer guten Verfassung, und dies sei auch ein Verdienst des Verfassungsschutzes.“
Dinge aus Vergangenheit, die aufgearbeitet werden müssen
Aber ganz ausgespart wurde beim Besuch der Kanzlerin der Jahrestag der Selbstaufdeckung des NSU nicht. Auf der Homepage der Bundeskanzlerin teilte man zur Stippvisite in Köln mit: „Die Kanzlerin führte weiter aus, es sei auch darüber gesprochen worden, dass zum Teil Dinge aus der Vergangenheit aufgearbeitet werden müssten: ‚So hat der NSU-Untersuchungsausschuss zutage gefördert, dass hier im Bundesamt für Verfassungsschutz Veränderungsbedarf bestand‘.“
Die Opfer des NSU müssen eine solche Erklärung gleich in mehrfacher Weise als Zynismus empfinden. Mit „Dinge aus der Vergangenheit“ wird hier umschrieben, dass über ein Jahrzehnt eine rechte Mörderbande quer durch die Republik Menschen kaltblütig ermordete, die nur eines einte, dass sie nicht in Deutschland geboren wurden.
Dinge der Vergangenheit sollen auch das Agieren eines Verfassungsschutzes sein, der von einen rechten Hintergrund der Mordserie nichts wissen wollte, sondern die Opfer, ihre Angehörigen und ihr Umfeld ins Visier nahm, verdächtigte und so zu Opfern machte. Dinge aus der Vergangenheit sollen auch die vielen ungeklärten Fragen sein, die offen lassen, ob nicht zumindest Teile der Verfassungsschutzbehörden näher an dem NSU dran waren, als sie offiziell zugeben.
Es sind zahlreiche Bücher über diese vielen ungeklärten Fragen geschrieben worden, die in ihrer Dimension über Deutschland hinausreichen. Man braucht nur als ein Exempel einen Spiegel-Artikel [3] vom August 2011, also wenige Monate vor der Selbstaufdeckung des NSU, heranziehen, um deutlich zu machen, wie viele offene Fragen es zu dem Komplex noch gibt. Dort ist von einem Verfassungsschutzspitzel Mehmet und der dubiosen Rolle der Behörden die Rede, einen Erfolg bei der Aufdeckung der Mordserie zu vereiteln.
Der Artikel war in Diktion und politischer Stoßrichtung noch stark von der damaligen offiziellen Lesart der Mordserie geprägt, die unter dem rassistischen Stereotyp Dönermorde in der behördlichen wie öffentlichen Meinung verhandelt worden war. Die Fragen, die aber dort aufgeworfen wurden, haben sich damit keineswegs erledigt. Daher ist es absurd, wenn Merkel hier lapidar von Dingen aus der Vergangenheit spricht, wenn sie die Rolle der Dienste bei der Entstehung und der Geschichte des NSU erwähnt.
Kampf um Straßenumbenennungen nach den Opfern
Dass Merkel zum 3. Jahrestag der NSU-Aufdeckung, zu der der Verfassungsschutz nichts beigetragen hat, genau die Zentrale dieser Dienste besuchte, ist auch ein politisches Statement. Die Dienste sollen aus der öffentlichen Kritik genommen werden. Wenn es noch ungeklärte Fragen gibt, sind es Dinge aus der Vergangenheit. Die Opfer werden offiziell zum 3. Jahrestag gar nicht erwähnt. Schließlich gab es für sie Gedenkveranstaltungen, auf denen salbungsvolle Worte fielen. Das muss nach offizieller Lesart genügen.
Dass viele Angehörige bei ihrem Anliegen gegen starke Widerstände zu kämpfen haben, dass
Straßen, an denen die Morde geschahen, nach den Opfern benannt [4] werden, wird in der Öffentlichkeit gerne ausgeblendet. Bisher waren nur symbolische Straßenumbenennungen möglich, weil die zuständigen Behörden diesem Anliegen keineswegs aufgeschlossen gegenüber stehen. Am 4. November wird es gleich in mehreren Straßen solche symbolischen Straßenumbenennungen [5] geben, darunter in Berlin und Köln, die von antirassistischen Bündnissen organisiert werden. Bereits am vergangenen Samstag demonstrierten [6] knapp 1000 Menschen durch Berlin-Wedding, für die die NSU-Mordserie und die Rolle der verschiedenen Verfassungsschutzämter keine Dinge von gestern sind.
In Deutschland wehrt sich ein Bündnis öffentlichkeitswirksam gegen Verschärfungen bei der Sterbehilfe, Michael Schmidt-Salomon über Sterbehilfe
Die Todesstrafe ist in Belgien schon lange abgeschafft. Doch manche Langzeitstrafgefangene scheinen den Tod einer langen Gefängnisstrafe vorzuziehen. 15 Strafgefangene haben in Belgien einen Antrag gestellt, unter fachkundiger Begleitung in einem Krankenhaus ihr Leben beenden zu können.
Den Anfang machte Frank Van den Belegen. Der wegen Vergewaltigung und Mord zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilte Mann hat juristisch dafür gekämpft, sterben zu dürfen. Jetzt hatte er Erfolg[1]. Zu den Kritikern dieser Entscheidung zählte auch die Angehörigen der von Van den Belegen ermordeten Frau, die fordern, er solle bis zum Lebensende hinter Gittern verbringen und könnte sich daher nicht einfach zum Sterben entschließen.
Es gibt ein Leben vor dem Tod
Andere Kritiker der liberalen Sterbehilferegelung sehen sich durch die starke Häufung des Sterbewunsches bei Langzeithäftlingen in ihrer Auffassung bestätigt, dass es für unerträglich gehaltene Lebensumstände sind, die bei vielen Menschen den Wunsch zum Sterben beflügeln. Dass müssen durchaus nicht nur Gefängnisse sein. Auch eine schlechte soziale Lage, Altersarmut, das Gefühl überflüssig zu sein, kann den Sterbewunsch befördern.
Das Bündnis „Mein Ende gehört mir“[2] wendet sich gegen eine weitere Verschärfung des Sterbewunsches und setzt dabei auf Werbung, über die man spricht. So finden sich seit einigen Wochen in vielen deutschen Großstädten nicht nur an den Litfaßsäulen, sondern auch auf große Reklametafeln, die auf LKWs montiert waren, Poster mit der Aufschrift „Mein Ende gehört mir“. Daneben haben sich zahlreiche Prominente fotografieren lassen.
„So wie es ein Recht auf Erste Hilfe gibt, sollte es auch ein Recht auf Letzte Hilfe geben“
Michael Schmidt-Salomon[3] ist Vorstandsmitglied der Giordano Bruno Stiftung[4], die die Kampagne „Mein Ende gehört mir“ seit langem unterstützt.
Unter dem Motto „Mein Ende gehört mir“ haben Sie eine öffentliche Plakatkampagne gestartet. Was ist das Ziel?
Michael Schmidt-Salomon: Wir wollen verhindern, dass die Selbstbestimmungsrechte der Patientinnen und Patienten am Lebensende eingeschränkt werden. Denn bislang sind ärztliche Freitodbegleitungen in Deutschland strafrechtlich nicht verboten. Ein solches Verbot einzuführen, ist Ausdruck eines illiberalen Denkens, das schwerstleistenden Menschen die Chance raubt, ihr Leben so zu beenden, wie sie es wünschen.
Wir sind überzeugt: So wie es ein Recht auf Erste Hilfe gibt, das dafür sorgt, dass unser Leben im Notfall gerettet wird, sollte es auch ein Recht auf Letzte Hilfe geben, das garantiert, dass wir unser Leben in Würde beschließen können. Die Umsetzung eines solchen Rechts verlangt nicht nur eine Verbesserung der palliativmedizinischen Versorgung, sondern auch die Möglichkeit, mit Unterstützung eines Arztes eigenverantwortlich aus dem Leben zu scheiden, wenn das Leiden unerträglich wird.
Sollten Ärzte nicht Leben erhalten, statt beim Sterben zu helfen?
Michael Schmidt-Salomon: Ärzte sollten sich dem Patientenwillen verpflichtet fühlen – nicht einem religiösen, medizintechnokratischen oder von ökonomischen Interessen gespeisten Dogma der unbedingten Lebensverlängerung. In der Regel gehen Patienten zum Arzt, weil sie möglichst lange und möglichst gut weiterleben wollen. Doch es gibt Bedingungen, unter denen selbst die beste Palliativmedizin nicht verhindern kann, dass das Leben zu einer Qual wird. Ein guter Arzt sollte den Sterbewunsch seiner freiverantwortlich handelnden Patienten ebenso respektieren wie deren Willen zum Leben.
Was aber ist, wenn der Patient nicht freiverantwortlich entscheidet, wenn sein Sterbewunsch auf eine psychische Störung zurückzuführen ist?
Michael Schmidt-Salomon: In einem solchen Fall wäre eine Freitodbegleitung schon unter geltendem Recht unzulässig. Ein schwerstdepressiver Mensch braucht keine Hilfe zum Sterben, sondern Hilfe zum Leben. Allerdings ist diese Hilfe sehr viel leichter möglich, wenn ärztliche Freitodbegleitungen akzeptiert werden.
Warum?
Michael Schmidt-Salomon: Weil man mit Sterbewilligen nur dann ein offenes Gespräch führen kann, wenn der Suizid nicht prinzipiell verpönt ist. Wir sollten hier von Erfahrungen auf anderen Gebieten lernen. Rigorose Forderungen wie „Keine Drogen!“, „Kein Sex unter Teenagern!“, „Keine Abtreibung!“, „Keine Suizide!“ sind kontraproduktiv. Sie führen im Ergebnis zu mehr Drogentoten, mehr Teenager-Schwangerschaften, mehr Schwangerschaftsabbrüchen und auch zu mehr Verzweiflungssuiziden.
Sie kritisieren in Ihrem Aufruf konservative Politiker, die die Möglichkeit zur Sterbehilfe einschränken wollen. Aber es gibt auch Stimmen aus der Linken, die vor der Aufweichung der Sterbehilfe warnen. Wie reagieren sie darauf?
Michael Schmidt-Salomon: Leider gibt es auch unter Linken einige Menschen, die den Nazivergleichen reaktionärer Sterbehilfegegner wie Robert Spaemann auf den Leim gehen. Deshalb zur Klarstellung: Im Nationalsozialismus ging es niemals um „Euthanasie“, den „guten, schönen Tod“, sondern um systematischen Massenmord an behinderten und psychisch kranken Menschen! Wer den vernebelnden Sprachgebrauch der Nazis übernimmt, bagatellisiert damit den Massenmord und verhöhnt die Opfer! Zudem belegen zahlreiche Studien, dass nicht die Gewährung, sondern die Verhinderung der ärztlichen Suizidassistenz die Gefahr erhöht, dass Patienten ohne deren Verlangen getötet werden. Tatsächlich ist nirgends die Gefahr größer, fremdbestimmt sterben zu müssen, als dort, wo Menschen nicht selbstbestimmt sterben dürfen.
Das „Geschäft mit der Leidensverlängerung“ ist sehr viel lukrativer als das „Geschäft mit dem Tod“!
Sterbehilfe ist vor allem Lebenshilfe
Aber könnte bei einer vereinfachten Sterbehilfe nicht gerade auf einkommensschwache Menschen der Druck wachsen, durch Sterbehilfe dazu beigetragen, dass sie nicht weiter die öffentlichen Haushalte belasten?
Michael Schmidt-Salomon: Das wird oft behauptet, die langjährigen Erfahrungen im US-Bundesstaat Oregon, in der Schweiz und den Beneluxländern zeigen aber, dass es einen derartigen Effekt nirgends gegeben hat. Sollte es jemals zu solchen Folgen kommen, müssten wir natürlich entschieden gegenlenken. Gegenwärtig aber zielt der ökonomische Druck exakt in die umgekehrte Richtung, denn das „Geschäft mit der Leidensverlängerung“ ist sehr viel lukrativer als das „Geschäft mit dem Tod“!
In dem Buch „Letzte Hilfe“, das ich mit dem Berliner Sterbehelfer Uwe-Christian Arnold geschrieben habe, berichten wir unter anderem von dem Fall einer Patientin, die gegen ihren Willen fünf Jahre lang im Wachkoma gehalten wurde. Das brachte allein dem Pflegeheim einen zusätzlichen Umsatz von 200.000 Euro. Wenn man nachforscht, warum einige Gruppen heute so massiv gegen Selbstbestimmungsrechte am Lebensende eintreten, stößt man nicht nur auf religiöse Motive wie die Vorstellung, der Mensch dürfe über sein „von Gott geschenktes Leben“ nicht verfügen, sondern auch auf handfeste ökonomische Interessen. „Leidensverlängerung“ ist heute ein Multi-Milliardengeschäft, das sich keiner der Profiteure verderben lassen möchte. Wir hoffen, dass unser Buch dazu beitragen kann, dass die wahren Hintergründe der Debatte nicht weiter verschwiegen werden.
Wäre es nicht sinnvoller, die Welt so zu gestalten, dass sie für alle Menschen lebenswert ist, als die Sterbehilfe zu vereinfachen?
Michael Schmidt-Salomon: Natürlich sollten wir alles dafür tun, dass Menschen ihre Existenz bis zum Schluss als lebenswert empfinden können. Doch selbst unter idealsten gesellschaftlichen Bedingungen, von denen wir bekanntlich weit entfernt sind, wären wir nicht in der Lage, jeder Person einen würdevollen natürlichen Tod zu ermöglichen. Hospizdienste und Palliativmediziner können vielen Patienten helfen, aber längst nicht allen. Dies gilt insbesondere für Patienten, die gar nicht befürchten, in absehbarer Zeit sterben zu müssen, sondern auf unabsehbare Zeit unter für sie unwürdigen Bedingungen weiterleben zu müssen. Es wäre zutiefst inhuman, Menschen, die aufgrund einer schweren Form von MS oder ALS unbedingt sterben wollen, in ihrer Not allein zu lassen.
Dennoch: Würden nicht viele Schwerkranke durchaus weiterleben wollen, wenn die Pflege und Betreuung besser wäre? Müsste darauf nicht das Augenmerk liegen?
Michael Schmidt-Salomon: Genau darum geht es ja! Es ist beileibe kein Zufall, dass ausgerechnet die Länder, die Freitodbegleitungen ermöglichen, über die beste palliativmedizinische Versorgung der Welt verfügen. Zudem sollte man die positiven Effekte nicht übersehen, die mit der Möglichkeit der ärztlichen Freitodbegleitung einhergehen. Denn die Gewissheit, im Notfall mit Unterstützung des Arztes das eigene Leid beenden zu können, führt zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität – auch wenn viele Patienten diese Hilfe am Ende gar nicht in Anspruch nehmen. Wer sich intensiver mit dem Thema beschäftigt, der erkennt schnell, dass Sterbehilfe vor allem Lebenshilfe ist.
Wie beurteilen Sie Sterbehilfe-Projekte, wie sie von dem ehemaligen konservativen Politiker Roger Kusch vorangetrieben wurden?
Michael Schmidt-Salomon: Die Idee, den Zeitpunkt einer Freitodbegleitung von der Höhe der Spende abhängig zu machen, konnte wohl nur einem ehemaligen CDU-Rechtsaußen wie Kusch kommen.
Sollte man dem mit Verbotsgesetzen begegnen?
Michael Schmidt-Salomon: Nein! Ginge es den Politikern wirklich darum, das „Geschäft mit dem Tod“ zu unterbinden, würden sie kein Verbot der Freitodbegleitungen erwägen, sondern dafür sorgen, dass sie als ärztliche Aufgabe anerkannt und vergütet werden. Damit wäre die Gefahr eines „Geschäftsmodells Sterbehilfe“ gebannt, da kein Mensch Geld für eine Hilfeleistung ausgeben würde, die er von seinem Arzt ohne Zusatzkosten erhält.
Sollte es hingegen zu einem Verbot der Suizidbeihilfe kommen, würden sich begüterte Menschen ihren Sterbewunsch weiterhin verdeckt in Deutschland oder legal in der Schweiz erfüllen können. Die aktuellen Verbotsbestrebungen missachten somit nicht nur die individuellen Selbstbestimmungsrechte, sondern auch das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Wir sollten unbedingt verhindern, dass die Höhe des Kontostands darüber entscheidet, ob ein Mensch selbstbestimmt sterben kann oder nicht.
Die Kampagne »Mein Ende gehört mir« fordert eine Entkriminalisierung der Sterbehilfe in Deutschland. Michael Schmidt-Salomon, Vorstandsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung, erklärt im Gespräch, warum Sterbehilfe als Lebenshilfe verstanden werden sollte.
Was ist das Ziel der öffentlichen Plakatkampagne »Mein Ende gehört mir«?
Wir wollen verhindern, dass die Selbstbestimmungsrechte der Patientinnen und Patienten am Lebensende eingeschränkt werden. Denn bislang ist ärztliche Freitodbegleitung in Deutschland strafrechtlich nicht verboten. Ein solches Verbot einzuführen, ist Ausdruck eines illiberalen Denkens, das schwerstleidenden Menschen die Chance nimmt, ihr Leben so zu beenden, wie sie es wünschen. Wir sind überzeugt: So wie es ein Recht auf Erste Hilfe gibt, das dafür sorgt, dass unser Leben im Notfall gerettet wird, sollte es auch ein Recht auf Letzte Hilfe geben, das garantiert, dass wir unser Leben in Würde beschließen können. Die Umsetzung eines solchen Rechts verlangt nicht nur eine Verbesserung der palliativmedizinischen Versorgung, sondern auch die Möglichkeit, mit Unterstützung eines Arztes eigenverantwortlich aus dem Leben zu scheiden, wenn das Leiden unerträglich wird.
Sollten Ärzte nicht Leben erhalten, statt beim Sterben zu helfen?
Ärzte sollten sich dem Patientenwillen verpflichtet fühlen – nicht einem religiösen, medizintechnokratischen oder von ökonomischen Interessen gespeisten Dogma der unbedingten Lebensverlängerung. In der Regel gehen Patienten zum Arzt, weil sie möglichst lange und möglichst gut weiterleben wollen. Doch es gibt Bedingungen, unter denen selbst die beste Palliativmedizin nicht verhindern kann, dass das Leben zu einer Qual wird. Ein guter Arzt sollte den Sterbewunsch seiner freiverantwortlich handelnden Patienten ebenso respektieren wie deren Willen zum Leben.
Was aber ist, wenn der Patient nicht freiverantwortlich entscheidet, wenn sein Sterbewunsch auf eine psychische Störung zurückzuführen ist?
In einem solchen Fall wäre eine Freitodbegleitung schon unter geltendem Recht unzulässig. Ein schwerstdepressiver Mensch braucht keine Hilfe zum Sterben, sondern Hilfe zum Leben. Allerdings ist diese Hilfe sehr viel leichter möglich, wenn ärztliche Freitodbegleitungen akzeptiert werden.
Warum?
Weil man mit Sterbewilligen nur dann ein offenes Gespräch führen kann, wenn der Suizid nicht prinzipiell verpönt ist. Wir sollten hier von Erfahrungen auf anderen Gebieten lernen. Rigorose Forderungen wie »Keine Drogen!«, »Kein Sex unter Teenagern!«, »Keine Abtreibung!«, »Keine Suizide!« sind kontraproduktiv. Sie führen im Ergebnis zu mehr Drogentoten, mehr Teenager-Schwangerschaften, mehr Schwangerschaftsabbrüchen und auch zu mehr Verzweiflungssuiziden.
Nicht nur konservative Politiker, sondern auch Stimmen aus der Linken warnen vor der Aufweichung der Regelungen zur Sterbehilfe. Was halten Sie davon?
Auch unter Linken gibt es einige Menschen, die den Nazivergleichen reaktionärer Sterbehilfegegner wie Robert Spaemann auf den Leim gehen. Deshalb zur Klarstellung: Im Nationalsozialismus ging es niemals um Euthanasie, also den »guten, schönen Tod«, sondern um systematischen Massenmord an behinderten und psychisch kranken Menschen. Wer den vernebelnden Sprachgebrauch der Nazis übernimmt, bagatellisiert damit den Massenmord und verhöhnt die Opfer. Zudem belegen zahlreiche Studien, dass nicht die Gewährung, sondern die Verhinderung der ärztlichen Suizidassistenz die Gefahr erhöht, dass Patienten ohne deren Verlangen getötet werden. Tatsächlich ist nirgends die Gefahr größer, fremdbestimmt sterben zu müssen, als dort, wo Menschen nicht selbstbestimmt sterben dürfen.
Aber könnte bei einer vereinfachten Sterbehilfe nicht gerade auf arme Menschen der Druck wachsen, nicht weiter die öffentlichen Haushalte zu belasten?
Das wird oft behauptet, die langjährigen Erfahrungen im US-Bundesstaat Oregon, in der Schweiz und den Benelux-Ländern zeigen aber, dass es einen derartigen Effekt nirgends gegeben hat. Gegenwärtig zielt der ökonomische Druck exakt in die umgekehrte Richtung, denn das Geschäft mit der Leidensverlängerung ist sehr viel lukrativer als das Geschäft mit dem Tod! In unserem Buch »Letzte Hilfe« berichten Uwe-Christian Arnold und ich unter anderem von dem Fall einer Patientin, die gegen ihren Willen fünf Jahre lang im Wachkoma gehalten wurde. Das brachte dem Pflegeheim einen zusätzlichen Umsatz von 200 000 Euro. Wenn man nachforscht, warum einige Gruppen heute so massiv gegen Selbstbestimmungsrechte am Lebensende eintreten, stößt man nicht nur auf religiöse Motive, sondern auch auf handfeste ökonomische Interessen. »Leidensverlängerung« ist heute ein Multimilliardengeschäft, das sich keiner der Profiteure verderben lassen möchte.
Wäre es nicht sinnvoller, die Welt so zu gestalten, dass sie für alle Menschen lebenswert ist, als die Sterbehilfe zu vereinfachen?
Natürlich sollten wir alles dafür tun, dass Menschen ihre Existenz bis zum Schluss als lebenswert empfinden können. Doch selbst unter idealen gesellschaftlichen Bedingungen, von denen wir bekanntlich weit entfernt sind, wären wir nicht in der Lage, jeder Person einen würdevollen natürlichen Tod zu ermöglichen. Hospizdienste und Palliativmediziner können vielen Patienten helfen, aber längst nicht allen. Dies gilt insbesondere für Patienten, die gar nicht befürchten, in absehbarer Zeit sterben zu müssen, sondern auf unabsehbare Zeit unter für sie unwürdigen Bedingungen weiterleben zu müssen. Es wäre zutiefst inhuman, Menschen, die aufgrund einer schweren Form von MS oder ALS unbedingt sterben wollen, in ihrer Not allein zu lassen.
Dennoch: Würden nicht viele Schwerkranke durchaus weiterleben wollen, wenn die Pflege und Betreuung besser wäre?
Genau darum geht es ja! Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Länder, die Freitodbegleitungen ermöglichen, über die beste palliativmedizinische Versorgung der Welt verfügen. Zudem sollte man die positiven Effekte nicht übersehen, die mit der Möglichkeit der ärztlichen Freitodbegleitung einhergehen. Denn die Gewissheit, im Notfall mit Unterstützung des Arztes das eigene Leid beenden zu können, führt zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität– auch wenn viele Patienten diese Hilfe am Ende gar nicht in Anspruch nehmen. Wer sich intensiver mit dem Thema beschäftigt, der erkennt schnell, dass Sterbehilfe vor allem Lebenshilfe ist.
Wie beurteilen Sie Sterbehilfeprojekte, wie sie von dem ehemaligen konservativen Politiker Roger Kusch vorangetrieben wurden?
Die Idee, den Zeitpunkt einer Freitodbegleitung von der Höhe der Spende abhängig zu machen, konnte wohl nur einem ehemaligen CDU-Rechtsaußen wie Kusch kommen.
Sollte man dem mit Verbotsgesetzen begegnen?
Nein! Ginge es den Politikern wirklich darum, das »Geschäft mit dem Tod« zu unterbinden, würden sie kein Verbot der Freitodbegleitungen erwägen, sondern dafür sorgen, dass sie als ärztliche Aufgabe anerkannt und vergütet werden. Damit wäre die Gefahr eines »Geschäftsmodells Sterbehilfe« gebannt, da kein Mensch Geld für eine Hilfeleistung ausgeben würde, die er von seinem Arzt ohne Zusatzkosten erhält. Sollte es hingegen zu einem Verbot der Suizidbeihilfe kommen, würden sich begüterte Menschen ihren Sterbewunsch weiterhin verdeckt in Deutschland oder legal in der Schweiz erfüllen können. Die aktuellen Verbotsbestrebungen missachten somit nicht nur die individuellen Selbstbestimmungsrechte, sondern auch das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Wir sollten unbedingt verhindern, dass die Höhe des Kontostands darüber entscheidet, ob ein Mensch selbstbestimmt sterben kann.
Am 26. Oktober 2004 nahm Frontex die Arbeit auf, eine Organisation, die an den Außengrenzen der Festung Europa Flüchtlinge abwehren soll. Knapp 200 Menschen erinnerten am vergangenen Samstag mit einer Kundgebung an dieses Datum. »10 Jahre Frontex – kein Grund zum Feiern«, lautete das Motto. Aufgerufen hatte das Bündnis »Freiheit statt Angst«, das sich in den vergangenen Jahren hauptsächlich zum Thema Überwachung geäußert hat. Mehrere Redner machten auf der Kundgebung klar, dass Frontex für die lückenlose Überwachung von Geflüchteten steht. So gibt es Dateien, in denen die Fingerabdrücke von Menschen gespeichert sind, die die Grenzen passieren. In einer anderen Datei sind Informationen über alle Menschen gespeichert, denen vorgeworfen wird, sich ohne gültige Papiere im EU-Raum aufgehalten zu haben. Auch Menschen, die Gäste aus dem globalen Süden einladen, sind in einer eigenen Datei gespeichert. Wie die gesammelten Daten repressiv bis hin zur Abschiebung genutzt werden, wurde in den vergangenen Wochen in Berlin immer wieder deutlich. An der Kundgebung beteiligte sich auch eine Gruppe Geflüchteter, die ihre Unterkünfte in Berlin verlassen müssen und nicht wissen, wo sie unterkommen sollen. Sie hatten zuvor bereits auf der Strecke vom Oranienplatz, der lange Zeit das Zentrum des Flüchtlingswiderstands war, zur Schule in der Ohlauer Straße demonstriert, wo die dort lebenden Flüchtlinge erneut zur Räumung aufgefordert worden waren. Im Vergleich zum Sommer ist die Zahl der Unterstützer geschrumpft. Daher ist den Geflüchteten die Hilfe aus dem Kreis der Überwachungsgegner sehr willkommen. Sie wandten sich auch gemeinsam gegen die europaweite Kontrolle von Flüchtlingen unter dem Namen »Mos Mairoum«, mit der zwei Wochen lang bis zum 26. Oktober gezielt Jagd auf Menschen ohne gültige Papiere gemacht wurde. Auch an dieser Maßnahme war Frontex federführend beteiligt.
»Allmende bleibt« steht auf einem großen Transparent, das am Mittwochvormittag vor dem Berliner Landgericht gezeigt wird. Rund 40 Mitglieder und Unterstützer des »Vereins für alternative Migrationskultur« haben sich vor dem Gerichtsgebäude versammelt. Im Jahr 2006 hat der Verein seine Räume in Kreuzberg bezogen. Jetzt soll der Verein den Standort verlassen, weil der Hausbesitzer den Mietvertrag nicht verlängerte. Vor dem Berliner Landgericht ging es am Mittwoch nun um die Frage, ob die Kündigung Bestand hat. Der Rechtsanwalt von Allmende, Berndt Hintzelmann, sagt, dass er diese Frage verneine. Er beruft sich dabei auf einen Formfehler im Mietvertrag. In dem ist in der beigefügten Skizze der gemieteten Räume ein Zimmer eingezeichnet, das gar nicht existiert. Der Anwalt verweist auf Urteile in ähnlichen Fällen, wo wegen einer fehlerhaften Wohnraumskizze Mietverträge für nichtig erklärt wurden.
Für den Verein Allmende wäre eine solche Entscheidung nach dieser Rechtssprechung ein großer Erfolg. Denn der angefochtene Vertrag ist ein Gewerbemietvertrag mit vereinfachten Kündigungsfristen, die der Hausbesitzer in diesem Fall anwandte. Wäre der Vertrag ungültig, würden die längeren gesetzlichen Kündigungsfristen gelten. »Dann hätten wir eine längere Frist und könnten noch eine Zeit in den Räumen bleiben«, erklärt Türkay Bali vom Verein Allmende dem »nd«. Am 19. November will das Berliner Landgericht seine Entscheidung verkünden. Die Solidarität für den Verein wächst unterdessen. Zahlreiche Mieterinitiativen und das Berliner Bündnis gegen Zwangsräumung haben ihre Unterstützung angekündigt.
Grischa Dallmer über Aktionen gegenZwangsräumungen
Grischa Dallmer ist seit Jahren in der Berliner Mieterbewegung aktiv und hat am Film Mietrebellen« (oers/Schulte Westenberg) mitgearbeitet. Den Film stellte Dallmer auch auf dem einwöchigen Internationalen Treffen gegen
Zwangsräumungen (ENTRAD) im spanischen Córdoba vor, das am Sonntag zu Ende ging. Mit ihm sprach Peter Nowak.
Wer nahm am Treffen teil?
Aktive von Initiativen gegen Zwangsräumungen aus ganz Europa. Es gab Workshops zur Antirepressionsarbeit, Verhinderung von Burn-outs und Entscheidungsfindungsprozessen. Zudem wurde über den Widerstand gegen
Zwangsräumungen in Europa gesprochen. Austausch und Koordination der Initiativen standen dabei im Mittelpunkt. Neben spanischen waren polnische, griechische, britische, rumänische, portugiesische und deutsche Gruppen dabei. Es war das erste größere transnationale Treffen von Anti-Zwangsräumungs-Initiativen.
Wer hat es vorbereitet?
Ein internationaler Vorbereitungskreis. Das Treffen wurde in Netzwerken und Verteilern beworben.
Warum fand es in Spanien statt?
Weil in Spanien Zwangsräumungen, aber auch der Widerstand dagegen in den vergangenen Jahren zum Massenphänomen geworden sind. Viele Menschen kauften vor der Krise Wohnungen und verschuldetem sich bei den
Banken. Wenn sie die Hypotheken nicht mehr bezahlen können, lassen die Banken sie räumen. Viele Betroffen wehren sich inzwischen.
Und wenn die Räumung nicht verhindert werden kann?
Viele Menschen organisieren sich weiter in den Initiativen und besetzen Wohnungen in den vielen Neubauten, die wegen der Immobilienblase leerstehen. Diese Wiederaneignung von Wohnraum nennen sie Obra social (Die soziale Tat) – sie hat sich in vielen Städten ausgebreitet.
Welche Rolle spielte der Mieterwiderstand in Deutschland?
Viele Teilnehmer aus Spanien waren erstaunt, dass auch in Deutschland trotz vermeintlich boomender Wirtschaft einkommensschwache Menschen oft keine Wohnung finden und dass es Zwangsräumungen gibt.
Gibt es weitere Aktionen für transnationalen Mietwiderstand?
2013 organisierte ein Kreis um die Berliner MieterGemeinschaft die Veranstaltungsreihe »Wohnen in der Krise«, bei der Aktivisten aus Europa über ihre Lage berichteten. Alle Beiträge findet man auf youtube.com/WohneninderKrise. Zuletzt organisierte die »Europäische Aktionskoalition für das Recht auf Wohnen und die Stadt« internationale
Aktionstage. Das breite Interesse am länderübergreifenden Austausch zeigt sich auch daran, dass der Film »Mietrebellen« über den Berliner Widerstand in Großbritannien, Spanien, Italien, USA oder Mexiko gezeigt wurde und
da Debatten anregt.
STADTAUTOBAHN Die letzten Mieter der Beermannstraße 22 wurden vom Senat aufgefordert, ihre Wohnungen bis morgen zu verlassen. Das Haus soll dem Bau der A 100 weichen
Jonas Steinert (Name geändert) ist nervös. Der Unternehmer hat eine Mail von einer Mitarbeiterin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt bekommen. Darin wurde ihm am 17. Oktober mitgeteilt, dass er seine Wohnung in der Beermannstraße 22 in Berlin-Treptow verlassen soll – bis zum 31. Oktober.
Das geräumige Gebäude mit Vorder- und Hinterhaus soll der Stadtautobahn A 100 weichen, es ist im Besitz des Bundes und wird von der Senatsbehörde verwaltet. Jahrelang haben sich die MieterInnen gegen den Abriss gewehrt und stießen dabei durchaus auf Sympathie in der Öffentlichkeit. Selbst in der SPD war der Autobahnbau äußerst umstritten. Nachdem sich auf Druck von Klaus Wowereit eine Mehrheit für die A 100 aussprach und das Projekt alle juristischen Hürden genommen hatten, fügten sich viele der HausbewohnerInnen in das scheinbar Unvermeidliche und zogen aus.
Doch zehn Mietparteien denken nicht ans Packen. Steinert gehört zu ihnen. Ihm wurde bereits vor einem Jahr gekündigt. „Aber ich habe Widerspruch eingelegt“, empört sich Steinert. Doch gab es darauf keine Reaktion von den Eigentümern und auch keinen Gerichtstermin. Stattdessen kam nun die Aufforderung, die Wohnung bis Monatsende zu räumen, ohne dass dafür ein Rechtstitel genannt wurde. Steinert hält das Schreiben für einen Versuch, die letzten MieterInnen in der Beermannstraße 22 unter Druck zu setzen.
„Wir sind doch für die Senatsverwaltung nur eine lästige Verwaltungsakte“, moniert auch Steinerts Nachbar Klaus Pfeiffer (Name geändert). Der Endfünfziger wohnt im Vorderhaus und schließt einen Umzug generell nicht aus. „Wir sind an Lösungen interessiert, aber wenn solche Töne aus der Senatsverwaltung kommen, lassen wir das nicht mit uns machen“, sagt Pfeiffer.
Grund für seinen Zorn ist ein weiteres Schreiben aus der Behörde des künftigen Regierenden Bürgermeisters Michael Müller an die letzten MieterInnen des Hauses. „Ich teile Ihnen mit, dass ich zur Wahrung unserer Interessen in Kürze bei der zuständigen Behörde die vorzeitigen Besitzeinweisung und die Enteignung des Mietrechts beantragen werde“, heißt es dort. Laut Paragraf 116 Baugesetzbuch können Mietern einer Wohnung, ihre Rechte genommen werden, wenn „die sofortige Ausführung der beabsichtigten Maßnahme aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit dringend geboten“ ist. Damit der Beschluss gilt, ist eine mündliche Verhandlung aber zwingend vorgeschrieben.
Die letzten MieterInnen bekommen nun Unterstützung von Umwelt- und Stadtteilinitiativen. Ende September organisierten sie gemeinsam mit Robin Wood und der Treptower Stadtteilinitiative Carla Pappel ein Hoffest.
Stadtentwicklungssenator Michael Müller hatte am 14. Oktober im Berliner Abgeordnetenhaus den MieterInnen der Beermannstraße 22 Unterstützung zugesagt, „bei denen die Wohnungssuche aus privaten Gründen schwierig wird“. Mieter Steinert sagt, dass ihm bereits Wohnungen angeboten wurden. Allerdings seine diese 70 bis 120 Prozent teurer gewesen. Das könne er sich nicht leisten.
Der Kampf der kurdischen Verteidiger gegen den IS sorgt für neue Solidaritätsprojekte, aber auch für Kontroversen
Demnächst könnte der Eintritt in einigen Berliner Clubs um einen Euro angehoben werden. Der Extrabeitrag soll an die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten gehen, die im nordsyrischen Rojava gegen die islamistische IS kämpfe., „Nachtleben für Rojava“ [1] heißt der Zusammenschluss Berliner Clubs und Bars, die ab 1. November ihre Unterstützungskampagne starten.
„Das Berliner Nachtleben verteidigt individuelle Freiheiten, die der IS vernichten wollen. Deswegen unterstützen wir die kurdischen Kräfte, die an vorderster Front des Kampfes stehen“, erklärte Jan von der Initiative „Nachtleben für Rojava“ am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Berlin. Dort hatte zuvor Georg Gruhl von der Interventionistischen Linken [2], einem außerparlamentarischen linken Bündnis, eine Unterschriftenkampagne von Prominenten aus Kultur und Wissenschaft [3] vorgestellt, die unter dem Motto „Wer wenn nicht wir? Wann wenn jetzt?“ zur Solidarität mit Rojava aufruft.
Es gehe der IL nicht nur um die Verteidigung gegen den IS betonte Gruhl. Man wolle auch die demokratischen Strukturen stärken, die kurdischen Kräfte in den letzten Monaten in der Region aufgebaut haben. „Die Rätestrukturen und die demokratische Autonomie der Städte und Gemeinden Rojavas sind für viele Menschen im Nahen und Mittleren Osten zu einem Hoffnungsträger geworden“, betonte Gruhl.
Auch Sozdar Sevim vom Verband der Studierenden ausKurdistan [4], der gemeinsam mit der IL die Kampagne vorbereitet, betonte auf der Pressekonferenz, dass es in den kurdischen Gebieten gelungen sei, Rätestrukturen aufzubauen. Die allgemeinen Menschenrechte sowie die Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten würden dort geachtet.
In Deutschland sei die Unterstützung bisher noch schwach. Auf den Demonstrationen zur Unterstützung von Kobanie seien vor allem die üblichen Verdächtigen auf der Straße gewesen konstatiert Gruhl. Mit ihrer Unterstützungskampagne hofft die IL den Kreis der solidarischen Menschen zu verbreitern. Ihnen ist es bereits jetzt gelungen, Menschen für den Aufruf zu
gewinnen, die sonst selten gemeinsam politisch auftreten. So stehen mit dem Hamburger Publizisten Thomas Ebermann und dem Völkerrechtler Norman Paech zwei Linkeunter dem Aufruf, die nicht nur in der Nahostfrage Welten trennen. Auch den Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik und der Kunstwissenschaftler Diedrich Diederichsen findet manselten auf einer gemeinsamen Unterschriftenliste.
Aufruf zur Selbstaktivierung statt Forderungen an die Regierung
Der Aufruf enthalte bewusst keine Forderungen an die Regierung, sondern sei eine Aufforderung zur Selbstaktivierung betont Gruhl. Deshalb habe man die Forderung nach einer Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland nicht in den Aufruf aufgenommen. Bis zum internationalen Blockupy-Festival [5], das am 22. und 23. November in Frankfurt/Main will die IL 1000 Unterstützer gewonnen haben.
Die Initiative der IL ist bereits die zweite zur Unterstützung der kurdischen Kämpfer gegen den IS. Unter dem Motto „Waffen für Rojava“ [6] hatten bereits vor einigen Wochen die Neue Antikapitalistische Organisation [7] und die mit ihr mittlerweile fusionierte Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin [8] eine Spendenkampagne initiiert. Sie sammeln Geld „für die militärische Verteidigung Rojavas gegen die fundamentalistische Reaktion des IS und die kolonialistische Besatzungspolitik des NATO-Staates Türkei“.
Der Unterschied der beiden Aufrufe liegt vor allem in der Diktion und der Zielgruppe. Die
Kampagne für das Sammeln von Waffen richtet sich mehr an die Linke während der Aufruf der IL auf größere Teile der Gesellschaft ausgerichtet ist.
Wie hältst Du es mit den Luftangriffen der USA?
In dem NAO-Aufruf wird die Luftunterstützung der USA für die kurdischen Kämpfer gegen den IS nicht erwähnt. Georg Gruhl von der IL hingegen sieht sie als späte Luftunterstützung aus den USA auch als Folge der internationalen Solidarität mit den Verteidigern von Kobane. Die USA habe darauf reagieren müssen, erklärte er.
Die Rolle der USA in dem Konflikt ist schon länger Gegenstand von Kontroversen in der Linken. Dabei werden oft die unterschiedlichen Positionierungen abqualifiziert statt sie argumentativ zu überprüfen. Das zeigte sich, als die Bundestagsabgeordnete der Linken Christine Buchholz
auf Facebook mit einem Schild [9] zu sehen war, auf dem sie ihre Solidarität mit den von den IS eingeschlossenen Kurden ausdrückteund gegen das US-Bombardement Stellung nahm. Nicht nur im Spiegel war die Überschrift „Linken-Abgeordnete fordert Solidarität ohne Luftschläge“ nicht etwa Gegenstand einer Reflektion über unterschiedliche Möglichkeiten der Solidarität sondern ein schwerer Vorwurf. Auch in der linken Wochenzeitung Jungle World kommentiert [10] ein Journalist bedauernd: „Dass die Sache für Buchholz Konsequenzen hat, ist nicht zu erwarten. Die Politik des als ‚Pazifismus‘ bezeichneten strikten Raushaltens ist Mehrheitsmeinung im sogenannten linken Flügel der Partei.“
Warum es Konsequenzen haben soll, wenn die Politikerin einer Oppositionspartei, die schließlich den Antimilitarismus im Programm hat, in immer mehr Bomben nicht die Lösung sieht, fragt er gar nicht erst. Es wird sich auch gar nicht die Mühe gemacht, Buchholz Argumente, dass die Luftschläge dem IS eher nutzen als schaden, ernsthaft zuwiderlegen. Dabei hat auch der syrische Arzt und Oppositionelle Bascha al-Tammawi, der selber auf der Todesliste des IS steht, die Sinnhaftigkeit der US-Bombardements angezweifelt.In einem Taz-Interview begründete [11] er seine Haltung:
„Die Luftangriffe auf meine Heimatstadt Deir al-Sor trafen nur etwa zur Hälfte Stellungen des IS. Stattdessen hat man Getreidesilos und die Ölfelder bombardiert. Aber der Winter steht vor der Tür, wie sollen die Leute jetzt heizen, wie an Brot kommen? Von den giftigen Dämpfen gar nicht zu reden. Wer weder IS noch Assad noch den US-Luftangriffen zum Opfer gefallen ist, wird jetzt von ihnen vergiftet. Wir sprechen von einer Region, in der es überhaupt keine medizinische
Versorgung gibt. Klar, es ging darum, den IS finanziell zu schwächen. Aber die haben Millionen US-Dollar in Mosul durch die Übernahme der Bank erobert. Auf diese Weise wird man sie nicht bremsen können. Durch die US-Angriffe werden jetzt noch mehr normale Leute erkranken und voraussichtlich sterben. Das ist verrückt.“
Aus radikalpazifistischen Erwägungen lehnt schließlich ein Kreis von Friedensaktivsten [12] sowohl Luftschläge der USA als auch die Waffenlieferungen der Bundesregierung an die Kurden ab und fordern stattdessen eine humanitäre Intervention mit Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft. Es wäre natürlich zu hinterfragen, ob diese Strategie wirklich mehr Menschenleben rettet. Es ist aber wichtig, dass es diese Diskussionen und Kontroversen gibt. Es wäre doch mehr als bedenklich, wenn es selbst in Oppositionskreisen keine Diskussionenüber Alternativen zur herrschenden Politik mehr geben sollte.
Kritische Solidarität mit den kurdischen Selbstverwaltungsorganen
Kritisch sollte auch der Charakter der kurdischen Selbstverwaltungsorgane betrachtetwerden. Sie werden auf der Online-Plattform Kurdwatch [13] sehr kritisch unter die Lupe genommen. Wenn den Selbstverwaltungsorganen aber vomMitbegründer der Plattform Siamend Hajo vorgeworfen [14]wird, mit dem Assad-Regime zu kooperieren, ist auch das Propaganda.
Sozdar Sevim vom kurdischen Studentenverband wies diesen Vorwurf auf der Pressekonferenz zurück. Die kurdischen Selbstverwaltungsorgane hätten einen 3. Weg gewählt, sich weder auf die Seite des Assad-Regimes noch auf die Seite der bewaffneten Opposition gestellt und bei aller Kritik tatsächlich relativ demokratische Verhältnisse in den von ihnen kontrollierten Gebieten aufgebaut, die mit dem Rätemodell sogar über Formen der bürgerlichen Demokratie hinausweisen können. Das sollte man bei aller berechtigten Kritik nicht außer Acht lassen.Das genügt schon zur Solidarität. Den Pathos eines David Graeber, der gleich den Spirit der Spanischen Revolution 1936 beschwört [15] braucht man dazu gar nicht.
Prominente fordern Solidarität mit Kurden in der syrischen Region
Demnächst könnte der Eintritt in einigen Berliner Clubs um einen Euro angehoben werden. Der Extrabeitrag soll an die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten gehen, die im nordsyrischen Rojava gegen den IS kämpfen. »Nachtleben für Rojava« heißt der Zusammenschluss Berliner Clubs und Bars, die ab 1. November ihre Unterstützungskampagne starten. »Das Berliner Nachtleben verteidigt individuelle Freiheiten, die der IS vernichten will. Deswegen unterstützen wir die kurdischen Kräfte, die an vorderster Front des Kampfes stehen«, erklärte Jan von der Initiative »Nachtleben für Rojava« am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Berlin.
Das Bündnis hatte eine Unterschriftenkampagne von Prominenten aus Kultur und Wissenschaft vorgestellt, die unter dem Motto »Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?« zur Solidarität mit Rojava aufrufen.
Es gehe der IL nicht nur um die Verteidigung gegen den IS, betonte Gruhl. Man wolle auch die demokratischen Strukturen stärken, die kurdische Kräfte in den letzten Monaten in der Region aufgebaut haben. »Die Rätestrukturen und die demokratische Autonomie der Städte und Gemeinden Rojavas sind für viele Menschen im Nahen und Mittleren Osten zu einem Hoffnungsträger geworden«, betonte Gruhl. Auch ein Sprecher vom Verband der Studierenden aus Kurdistan, der gemeinsam mit der IL die Kampagne vorbereitet, betonte auf der Pressekonferenz, dass es in den kurdischen Gebieten gelungen sei, Rätestrukturen aufzubauen. Die Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten werden geachtet.
In Deutschland sei die Unterstützung bisher noch schwach. Bei den Demonstrationen zur Unterstützung von Kobanê seien vor allem die üblichen Verdächtigen auf der Straße gewesen, konstatiert Gruhl. Mit ihrer Unterstützungskampagne hofft die IL, den Kreis der solidarischen Menschen zu verbreitern. Nach den bisherigen Unterstützer-Unterschriften zu urteilen, scheint dies zu gelingen.
Der Kreis der Unterstützer reicht von dem Hamburger Publizisten Thomas Ebermann über den Tocotronoc-Musiker Dirk von Lowtzow bis zum Chefredakteur des »neuen deutschland«, Tom Strohschneider. Auch die Initiative der Berliner Clubbetreiber ist Teil dieser Kampagne.
Der Aufruf enthalte bewusst keine Forderungen an die Regierung, sondern sei eine Aufforderung zur Selbstaktivierung, betont Gruhl. Deshalb habe man die Forderung nach einer Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland nicht in den Aufruf aufgenommen. Bis zum internationalen Blockupy-Festival am 22. und 23. November in Frankfurt am Main will die IL 1000 Unterstützer gewonnen haben.