Geschichte und Politik

Peter Nowak, Kurze Geschichte der Antisemitismusdebatte in der deutschen Linken, Edition Assemblage, Münster 2013.

Peter Nowak, Kurze Geschichte der Antisemitismusdebatte in der deutschen Linken, Edition Assemblage, Münster 2013.

Oktober 10, 2013

Ver­folgt man die ein­schlä­gi­gen Debat­ten, so kann man sich oft des Ein­drucks nicht erweh­ren, dass die deut­sche Linke ihren ganz eige­nen Nah­ost­kon­flikt aus­trägt. Überi­den­ti­fi­ka­tion und unre­flek­tierte Soli­da­ri­tät ent­we­der mit Israel oder mit Paläs­tina tra­gen beson­ders in den letz­ten zwölf Jah­ren zu einer in Tei­len hoch­e­mo­tio­na­len Debat­ten­kul­tur bei, die eine sach­li­che Erör­te­rung und dif­fe­ren­zierte Zugänge zur Pro­ble­ma­tik erschwe­ren, wenn nicht unmög­lich machen. Alter­na­tive linke Per­spek­ti­ven auf den Kon­flikt zwi­schen Israel und Paläs­tina, die die berech­tig­ten Inter­es­sen aller in der Region leben­der Men­schen im Auge haben und daher etwa eine ana­ly­ti­sche Gleich­ran­gig­keit von Kolo­nia­lis­mus­kri­tik, Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik und Ideo­lo­gie­kri­tik ein­for­dern sowie die Anwen­dung glei­cher uni­ver­sa­lis­ti­scher Stan­dards an die Beur­tei­lung der Kon­flikt­par­teien, gel­ten in hoch­dog­ma­ti­schen Milieus als nicht diskursfähig.

Außer­halb die­ser Milieus gewinnt in den letz­ten Jah­ren ein selbst­re­fle­xi­ver Blick auf das Ver­hält­nis der deut­schen Lin­ken zum Kon­flikt im Nahen Osten, zu Anti­se­mi­tis­mus– und Kolo­nia­lis­mus­kri­tik, zu Israel– bzw. Paläs­ti­naso­li­da­ri­tät an Bedeu­tung, der neue Per­spek­ti­ven für For­schung und poli­ti­sches (u. a. cross-solidarisches) Han­deln eröff­net. Bei­spiel­haft kann auf das kon­ti­nu­ier­li­che Bil­dungs­an­ge­bot der Rosa Luxem­burg Stif­tung hin­ge­wie­sen wer­den.[1]

In jün­ge­rer Zeit hat beson­ders Peter Ull­rich wich­tige Bei­träge zur Sozio­lo­gie des inner­lin­ken Kon­flik­tes um Israel und Paläs­tina und zur Anti­se­mi­tis­mus­de­batte vor­ge­legt.[2] Dage­gen man­gelt es an aktu­el­len sys­te­ma­ti­schen Dar­stel­lun­gen des Anti­se­mi­tis­mus­streits in der deut­schen Lin­ken aus his­to­ri­scher Per­spek­tive.[3] Einen gelun­gen Ver­such hierzu hat nun der Jour­na­list Peter Nowak unter­nom­men, der u. a. für Neues Deutsch­land, Jungle World und Kon­kret schreibt.

In sei­ner in der edi­tion assem­blage erschie­ne­nen Kurze(n) Geschichte der Anti­se­mi­tis­mus­de­batte in der deut­schen Lin­ken, die auf ereig­nis­ge­schicht­li­che und theo­rie­his­to­ri­sche Aspekte abhebt, for­dert der Autor mehr ana­ly­ti­sche Trenn­schärfe und Sen­si­bi­li­tät sowie Sach­lich­keit in den Dis­kur­sen ein. Nowak skiz­ziert anhand zen­tra­ler Basis­texte und aus­ge­wähl­ter Ereig­nisse wich­tige Etap­pen in der Ent­wick­lung der Debatte und der Aus­dif­fe­ren­zie­rung lin­ker Spek­tren in deren Folge. In zehn Kapi­teln glie­dert Nowak sei­nen Stoff chro­no­lo­gisch, der gän­gi­gen Perio­di­sie­rung fol­gend, ent­lang der his­to­ri­schen Zäsu­ren von 1989/1991 und 2001 und ent­fal­tet den Leser_innen ein brei­tes Pan­orama ver­gan­ge­ner und aktu­el­ler Aus­ein­an­der­set­zun­gen in einer sich über Jahre zuspit­zen­den Debatte über For­men, Inhalte und Legi­ti­mi­tät von Israel­kri­tik und Anti­zio­nis­mus und deren etwaige Anschluss­fä­hig­keit an Anti­se­mi­tis­mus. Sein Haupt­au­gen­merk rich­tet Nowak auf die nicht par­tei­för­mig orga­ni­sierte radi­kale Linke und somit auf jene Szene, in wel­cher die Anti­se­mi­tis­mus­de­batte Anfang der 1990er Jahre auf die Agenda gesetzt wurde und seit­her mit häu­fig erup­ti­ver Vehe­menz geführt wird.

Nowak, der regel­mä­ßig publi­zis­tisch in die Nah­ost– und Anti­se­mi­tis­mus­de­batte inter­ve­niert[4], adres­siert seine äqui­dis­tant gehal­tene Ein­füh­rung in die Geschichte des  Anti­se­mi­tis­mus­strei­tes in der deut­schen Lin­ken in ers­ter Linie an eine jün­ger Leser_innenschaft bzw. Einsteiger_innen in die The­ma­tik. Die Über­blicks­dar­stel­lung will Ori­en­tie­rung in einer schwie­ri­gen Debatte bie­ten und Hil­fe­stel­lung bei der For­mu­lie­rung eines eige­nen Stand­punk­tes leis­ten. Die­sem Anspruch, soviel sei vor­weg­ge­nom­men, wird Nowak gerecht.

Die Stu­die basiert auf einer sinn­voll getrof­fe­nen Aus­wahl aktu­el­ler For­schungs­pu­bli­ka­tio­nen sowie poli­ti­scher Lite­ra­tur. Hier­bei ver­säumt Nowak lei­der hin­sicht­lich der poli­ti­schen Schrif­ten in Sekun­där­li­te­ra­tur und Texte mit Quel­len­chark­ter zu dif­fe­ren­zie­ren. Unscharf bleibt Nowak auch im Hin­blick auf die für die Leser_innen wich­tige Unter­scheid­bar­keit von poli­ti­scher, i. e. welt­an­schau­li­cher Lite­ra­tur und For­schungs­pu­bli­ka­tio­nen, die zwar auch keine Objek­ti­vi­tät in der Dar­stel­lung für sich bean­spru­chen kön­nen, aber zumin­dest Kri­te­rien inter­sub­jek­ti­ver Nach­prüf­bar­keit genü­gen (müssen).

Eine sys­te­ma­ti­sche Anti­se­mi­tis­mus­de­batte wird in der deut­schen Lin­ken seit rund fünf­und­zwan­zig Jah­ren geführt. Damit ist die Geschichte der Debatte, die erst seit 2001 auch Kon­ti­nui­tät auf­weist, jün­ger, als man es zunächst von einer poli­ti­schen Strö­mung erwar­ten könnte, für die Ableh­nung des Anti­se­mi­tis­mus’ zu den welt­an­schau­li­chen Grund­über­zeu­gun­gen gehört. Im ers­ten Haupt­ka­pi­tel beleuch­tet Nowak die Geschichte der Debatte vor 1989. Streng genom­men kann von einer all­ge­mei­nen Anti­se­mi­tis­mus­de­batte in der Lin­ken zu die­sem Zeit­punkt noch keine Rede sein. Ein impe­ria­lis­mus– und zio­nis­mus­kri­ti­scher Grund­kon­sens domi­nierte die Dis­kurse zum Nahost-Konflikt, die sich lei­der oft genug ledig­lich in der Schärfe der Pole­mik nicht aber im ana­ly­ti­schen Niveau von­ein­an­der unter­schie­den. Eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem eli­mi­na­to­ri­schen Anti­se­mi­tis­mus der Natio­nal­so­zia­lis­ten fand nur ansatz­weise statt. Die Geschichte des Natio­nal­so­zia­lis­mus wurde von der Geschichte Paläs­ti­nas und Isra­els getrennt ver­han­delt. Auch kam die Refle­xion gesell­schaft­li­cher Ursa­chen für Anti­se­mi­tis­mus in Geschichte und Gegen­wart über Ansät­zen kaum hin­aus. Dies sollte sich mit dem Ende des Staatso­zia­lis­mus und der soge­nann­ten Wie­der­ver­ei­ni­gung ändern.

Bis dahin blieb in wei­ten Tei­len der Lin­ken, ange­fan­gen bei kom­mu­nis­ti­schen Grup­pen über auto­nome Antifa-Zusammenhänge bis hin­ein in die Frie­dens­be­we­gung, eine ver­kürzt oder regres­siv zu nen­nende Israel– und Zio­nis­mus­kri­tik maß­ge­bend, die bis­wei­len unge­wollt an anti­se­mi­ti­sche Denk­mus­ter anschluss­fä­hig war, ohne dass ihr zwangs­läu­fig welt­an­schau­li­cher Anti­se­mi­tis­mus zu unter­stel­len gewe­sen wäre. Nowak gibt hier­für mit dem Dis­put in der Hausbesetzer_innenszene um eine Israel­boy­kott­pa­role an einer Fas­sade in der Ham­bur­ger Hafen­straße im Jahre 1988 ein plas­ti­sches Bei­spiel. «Boy­kot­tiert ‹Israel›! Waren, Kib­bu­zim und Strände! Paläs­tina – Das Volk wird Dich befreien! Revo­lu­tion bis zum Sieg» stand dort zu lesen (S. 14). Nowak stellt anschau­lich dar, dass die­ser erste auf über­re­gio­na­ler Ebene geführte linke Anti­se­mi­tis­mus­streit nicht die Legi­ti­mi­tät von Israel­kri­tik und Paläs­ti­naso­li­da­ri­tät in Frage stellte, son­dern deren For­men und Her­an­ge­hens­wei­sen pro­ble­ma­ti­sierte. Darf eine deut­sche Linke ange­sichts der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Devise «Deut­sche, kauft nicht bei Juden» zu einem Boy­kott Isra­els auf­ru­fen? Eine Frage, auf die bis heute unter­schied­li­che Ant­wor­ten for­mu­liert wer­den. Das gilt auch für die Zuläs­sig­keit der Ver­gleich­bar­keit bzw. Gleich­set­zung israe­li­scher Besat­zungs­po­li­tik mit der Ver­nich­tungs­po­li­tik der Nationalsozialisten.

In die­sem Kon­text berei­tet der mili­tante Anti­zio­nis­mus ver­schie­de­ner aus radi­ka­len lin­ken Milieus her­vor­ge­gan­ge­ner Unter­grund­or­ga­ni­sa­tio­nen Pro­bleme. Nowak erör­tert Bei­spiele für Theo­rie und Pra­xis im Umfeld der Revo­lu­tio­nä­ren Zel­len und der Tupama­ros West­ber­lin (S. 16–23). Letz­tere plan­ten für den 9. Novem­ber 1969, dem Jah­res­tag der Reichs­pro­grom­nacht, einen Bom­ben­an­schlag auf das Haus der Jüdi­schen Gemeinde. Das expan­sio­nis­ti­sche Israel galt vie­len Lin­ken in der Bun­des­re­pu­blik spä­tes­tens seit 1967 als der Außen­pos­ten des US-Imperialismus im Nahen Osten und als faschis­ti­sches Unter­drü­ckungs­re­gime. Die israe­li­sche Besat­zungs­po­li­tik in Paläs­tina wurde (und wird) seit­her in bestimm­ten Spek­tren, die dazu nei­gen, anti­ko­lo­nia­lis­ti­schen Wider­stand per se als Befrei­ungs­na­tio­na­lis­mus mit sozia­lis­ti­schem Trans­for­ma­ti­ons­po­ten­tial zu iden­ti­fi­zie­ren, häu­fig mit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­nich­tungs­po­li­tik gleich­ge­setzt. Dies bedeu­tete nicht nur eine Rela­ti­vie­rung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­bre­chen. Nicht sel­ten wurde das Exis­tenz­recht Isra­els infrage gestellt.

Die Tupama­ros begrün­de­ten ihren Anschlags­plan damit, dass „aus den vom Faschis­mus ver­trie­be­nen Juden (…) selbst Faschis­ten gewor­den (sind), die das jüdi­sche Volk aus­ra­die­ren wol­len.“ (S. 19ff.) In eine ähnli­che Rich­tung geht eine ungleich kom­ple­xere pro­gram­ma­ti­sche Schrift einer ande­ren sich links ver­or­ten­den Unter­grund­or­ga­ni­sa­tion, die Nowak in sei­ner Dar­stel­lung lei­der nicht berück­sich­tigt. Gemeint ist das R.A.F.-Dokument «Zur Stra­te­gie des anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Kamp­fes» aus dem Jahre 1972. Die Rote Armee Frak­tion wür­digt hier den Anschlag der paläs­ti­nen­si­schen Unter­grund­or­ga­ni­sa­tion «Schwar­zer Sep­tem­ber» auf die israe­li­sche Olym­pia­mann­schaft in Mün­chen als her­aus­ra­gen­den Akt der Befrei­ung von Kapi­ta­lis­mus, Impe­ria­lis­mus und Faschis­mus. Der Text argu­men­tiert struk­tu­rell im Mus­ter anti­se­mi­ti­scher Ver­schwö­rungs­stra­te­gie und stellt ein zen­tra­les Doku­ment in der Geschichte der Anti­se­mi­tis­mus­re­zep­tion in der deut­schen Lin­ken dar.[5]

Der Anschluss der DDR an die Bun­des­re­pu­blik, geschichts­po­li­tisch als «Wie­der­ver­ei­ni­gung» insze­niert, und die hier­aus erwach­sene Hybris deut­schen Natio­na­lis­mus’ und Neo­na­zis­mus’, stellt eine wich­tige Zäsur für die Anti­se­mi­tis­mus­de­batte in der Lin­ken dar. Nowak ver­steht es, die kom­plexe Ent­wick­lung der Dis­kurse in die­ser Zeit, die bald zur Spal­tung der radi­ka­len Lin­ken füh­ren sollte, im zwei­ten Haupt­ka­pi­tel sei­ner Unter­su­chung strin­gent in der Argu­men­ta­tion, tref­fend in der Kon­text­ua­li­sie­rung und kon­zise in der Dar­stel­lung ins Bewusst­sein zu rufen. Die Anti­se­mi­tis­mus­de­batte in der deut­schen Lin­ken wurde vor Beginn des zwei­ten Golf­krie­ges kaum im Kon­text des Nah­ost­kon­flikts geführt. Viel­mehr stand die offi­zi­elle deut­sche Erin­ne­rungs­po­li­tik in kon­kre­ter Gestalt der «Nor­ma­li­sie­rungs­po­li­tik»[6] im Mit­tel­punkt der Anti­se­mi­tis­mus­de­batte der 1990er Jahre.

Das neue und grö­ßere Deutsch­land wollte end­lich wie­der eine nor­male Nation sein, frei von «Schand­mah­len» der Geschichte. Als Glei­che unter Glei­chen sollte der Weg zurück in die Welt­po­li­tik beschrit­ten wer­den. Hierzu war es nötig, sich der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­gan­gen­heit zu ent­le­di­gen. Da diese nicht zu leug­nen war, wurde mit der Umdeu­tung der jün­ge­ren deut­schen Geschichte begon­nen. Deutsch­land und die Deut­schen soll­ten fortan nicht mehr in der Täter­rolle erschei­nen. In den Vor­der­grund rückte nun eine neue Opfer­nar­ra­tive, eine Selbst­vikti­mi­sie­rung, wel­che die Mehr­heit der Deut­schen als Opfer und Ver­führte des Natio­nal­so­zia­lis­mus, von alli­ier­ten Bom­ben­krieg und Hei­mat­ver­trei­bung dar­stellte und es so ermög­lichte den Natio­nal­so­zia­lis­mus zu his­to­ri­sie­ren – einen Schluss­strich zu zie­hen, sich der eige­nen Ver­ant­wor­tung weit­ge­hend zu ent­le­di­gen und sich für höhere Auf­ga­ben in der west­li­chen Werte-und Staa­ten­ge­mein­schaft zu emp­feh­len. Es muss nicht eigens erwähnt wer­den, dass auf diese Weise auch die Ver­bre­chen des Natio­nal­so­zia­lis­mus rela­ti­viert wur­den, beson­ders die Ver­nich­tung der euro­päi­schen Jüd_innen.

Am Bei­spiel der «Nie wider Deutschland»-Kampagne, die 1989 begann und bald zu einer Bewe­gung wer­den sollte, erör­tert Nowak die Ent­wick­lung der Anti­se­mi­tis­mus­de­batte in der außer­par­la­men­ta­ri­schen Lin­ken. Eine inten­sive und sys­te­ma­ti­sche Befas­sung in der Lin­ken mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus setzte ein, die ana­ly­tisch und metho­disch neue Wege ging. Es war der Beginn einer erin­ne­rungs– und geschichts­po­li­tisch geprägte Debatte zum Anti­se­mi­tis­mus, die sich mit den «deut­schen Zustän­den» nach 1989 aus­ein­an­der­setzte und auch den eige­nen welt­an­schau­li­chen Tra­di­ti­ons­be­stand kri­tisch hin­ter­fragte (S. 24ff.). Als wich­tige Anlässe der erin­ne­rungs­kul­tu­relle Fra­gen in den Vor­der­grund rücken­den Debatte iden­ti­fi­ziert Nowak den Streit um die Aus­ge­stal­tung der Neuen Wache in Ber­lin 1993 (S. 26), die Kon­tro­verse um Daniel Gold­ha­gens Stu­die «Hit­lers wil­lige Voll­stre­cker» (S. 27 ff.) sowie die Rede Mar­tin Walsers anläss­lich der Ver­lei­hung des Frie­dens­prei­ses des deut­schen Buch­han­dels 1998, aus wel­cher sich dann eine Kon­tro­verse mit dem dama­li­gen Vor­sit­zen­den des Zen­tral­rats der Juden, Ignatz Bubis, um die Bedeu­tung von Ausch­witz als Erin­ne­rungs­ort in der Geschichte ent­wi­ckelte. Die Auf­zäh­lung ließe sich ergän­zen, etwa um die Insze­nie­rung wei­te­rer deut­scher Erin­ne­rungs­orte, wie die Jah­res­tage der alli­ier­ten Luft­an­griffe auf Dres­den.[7]

Unter­des­sen hatte die linke Anti­se­mi­tis­mus­de­batte eine neue Qua­li­tät erreicht. Mit Beginn des Golf­krie­ges 1991 und des Beschus­ses Isra­els mit ira­ki­schen Scud-Raketen rückte der Nah­ost­kon­flikt in den Mit­tel­punkt der Dis­kus­sion. Ver­gan­gen­heits­po­li­ti­sche Fra­gen gerie­ten in den Hin­ter­grund. Jetzt wurde über For­men und Legi­ti­mi­tät von Israel– und Paläs­ti­naso­li­da­ri­tät gestrit­ten und um die Legi­ti­mi­tät von Krieg zur Ver­hü­tung eines befürch­te­ten neuen Geno­zids an den euro­päi­schen Jüd_innen. Aus­lö­ser hier­für war Kri­tik aus dem Umfeld der «Nie wie­der Deutsch­land»- Kam­pa­gne an Baga­tel­li­sie­rung und Igno­ranz der Beschie­ßung und der so wahr­ge­nom­me­nen exis­ten­zi­el­len Bedro­hung Isra­els in der deut­schen Anti-Kriegs-Bewegung (S. 34ff). Nowak hebt die beson­dere Bedeu­tung der Monats­zeit­schrift Kon­kret als dem media­len Ort her­vor, an wel­chem die Kon­tro­verse aus­ge­tra­gen wurde, und schil­dert deren Ver­lauf (S. 36 ff.). Mit dem Ende des Golf­krie­ges schwächte sich die Fixie­rung auf den Nah­ost­kon­flikt in der Anti­se­mi­tis­mus­de­batte ab, ohne dass die­ser an Bedeu­tung für die Struk­tu­rie­rung der Dis­kurse ver­lo­ren hätte.

Über die Frage, wie den oben kurz skiz­zier­ten «deut­schen Zustän­den», dem dra­ma­ti­schen Rechts­ruck in Poli­tik und Gesell­schaft, politisch-inhaltlich und stra­te­gisch zu begeg­nen sei, kam es inner­halb der bun­des­wei­ten auto­no­men Antifa-Zusammenhänge ab Mitte der 1990er Jahre zu hef­ti­gen Kon­tro­ver­sen. Mehr oder weni­ger einig war man sich in der Fest­stel­lung, dass die klas­si­schen Mit­tel der Aus­ein­an­der­set­zung nicht zur Über­win­dung eben die­ser Zustände taug­ten. Zu Recht weist Nowak dar­auf hin, dass die Anti­se­mi­tis­mus­de­batte nicht ursäch­lich für die Krise der orga­ni­sier­ten Antifa war (S. 48). Sie sollte aber bald nach der Auf­lö­sung der maß­geb­li­chen bun­des­wei­ten Trä­ger­struk­tu­ren erheb­lich zur Spal­tung der radi­ka­len Lin­ken beitragen.

Die Anschläge vom 11. Sep­tem­ber 2001 fie­len ziem­lich genau mit dem Ende des nach 1989 begrün­de­ten Antifa-Bündnisses zusam­men (S. 47). Man mag Nowaks Fest­stel­lung tei­len kön­nen, dass ein Teil der alten Antifa in der ent­ste­hen­den glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­schen Bewe­gung ein neues Akti­ons­feld fand und sich andere Grup­pen mehr auf staats– u. ideo­lo­gie­kri­ti­schen Fra­gen kon­zen­trier­ten. Ähnlich wie wäh­rend des zwei­ten Golf­krie­ges führ­ten die Anschläge auf New York und Washing­ton beson­ders in den zuletzt genann­ten Zusam­men­hän­gen zu einer (not­wen­di­gen) Wie­der­be­le­bung einer nach außen und innen gerich­te­ten Anti­se­mi­tis­mus­de­batte, wel­che die so wahr­ge­nom­mene regres­sive Israel­kri­tik in Tei­len der glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­schen Bewe­gung kri­ti­sierte. Im Unter­schied zu 1991 erlebe der Dis­kurs nun eine neue Dyna­mik, eine bis­her nicht gekannte Schärfe und Kon­fron­ta­tion, die der ana­ly­ti­schen Strin­genz und einer sach­li­chen Debatte häu­fig abträg­lich waren. Bald sollte es nicht mehr um die Frage gehen, wel­che For­men von Israel­kri­tik und Paläs­ti­naso­li­da­ri­tät (bzw. Isra­el­so­li­da­ri­tät und Paläs­ti­na­kri­tik) adäquat und legi­tim sind. In Tei­len prägte die neu­for­mierte isra­el­so­li­da­ri­sche Linke in kur­zer Zeit einen rigi­den Dog­ma­tis­mus aus, wie Nowak anschau­lich aus­zu­füh­ren weiß (S. 50 ff.). Israel­kri­tik und Anti­zio­nis­mus, Isla­mis­mus und Kolo­nia­lis­mus­kri­tik gal­ten in man­chen Spek­tren fortan als per se anti­se­mi­tisch oder zumin­dest anti­se­mi­tis­mus­ver­däch­tig. Hierin unter­schied sich die Anti­se­mi­tis­mus­ana­lyse und Kri­tik vom Dis­kurs der frü­hen 1990er Jahre.

Nowak beschreibt ein­dring­lich, wie an der Frage der Posi­tio­nie­rung zum Nah­ost­kon­flikt, der jetzt wie­der in den Mit­tel­punkt der Anti­se­mi­tis­mus­de­batte rückte, linke Pro­jekte und Initia­ti­ven, Wohn­ge­mein­schaf­ten und Freund­schaf­ten zer­bra­chen (S. 48). Gemäß der gän­gi­gen (Selbst-) Zuschrei­bun­gen stan­den sich seit­her häu­fig nicht weni­ger dog­ma­ti­sche paläs­ti­naso­li­da­ri­sche «Anti­imps» und isra­el­so­li­da­ri­sche «Anti­deut­sche» unver­söhn­lich gegen­über. Aller­dings scheint der Höhe­punkt der Front­stel­lung, wie oben ange­merkt, inzwi­schen über­schrit­ten wor­den zu sein.

Nowaks ereig­nis­ge­schicht­li­cher Zugang über­zeugt auch in die­sem Teil sei­ner Unter­su­chung. Aller­dings fehlt es aus­ge­rech­net für diese ent­schei­dende Phase der Geschichte der radi­ka­len Lin­ken in der Bun­des­re­pu­blik an theo­rie­ge­schicht­li­cher Fun­die­rung. Die Frage, warum ein Teil der Antifa «anti­deutsch» und  zuneh­mend unein­ge­schränkt isra­el­so­li­da­risch wurde, die Frage nach den literarisch-theoretischen Grund­lan­gen für den welt­an­schau­li­chen Wan­del und die Bedeu­tung der aktu­el­len Anti­se­mi­tis­mus­de­batte für die Theo­rie– und Mei­nungs­bil­dung in der Lin­ken wer­den wenn über­haupt, dann nur sehr ober­fläch­lich behan­delt. An die­ser Stelle sei den inter­es­sier­ten Leser_innen nahe­ge­legt, die kom­men­tierte Biblio­gra­phie von Peter Ull­rich zu kon­sul­tie­ren, wel­che die ein­schlä­gige Lite­ra­tur ver­zeich­net.[8]

Noch bevor beim Leser hier­über Ent­täu­schung Raum grei­fen kann, erfüllt das anschlie­ßende Inter­view mit Peter Ull­rich die Erwar­tun­gen in eine fun­dierte Ana­lyse. Im Gespräch äußert sich Ull­rich u. a. zu den Grün­den für die Ver­schie­bung der Dis­kurse um Israel und Paläs­tina, zur Bedeu­tung der spe­zi­fi­schen deut­schen Erin­ne­rungs­kul­tur zu Natio­nal­so­zia­lis­mus und Shoa, zu den Kri­te­rien einer eman­zi­pa­to­ri­schen Paläs­tina– bzw. Israel­kri­tik, zur Kri­tik an lin­kem Anti­se­mi­tis­mus und zu bestimm­ten Aus­for­mun­gen der lin­ken Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik (S. 64–78).

Nowak schließt seine Dar­stel­lung mit einem über­zeu­gen­den Plä­do­yer für eine ste­tige Ver­sach­li­chung der Debatte (S. 79). Nowak ist darin zuzu­stim­men, dass der Dua­lis­mus von «anti­deutsch» und «anti­im­pe­ria­lis­tisch» im Hin­blick auf den dis­ku­tier­ten Gegen­stand, den Anti­se­mi­tis­mus, wenig erklä­rungs­kräf­tig – man möchte hin­zu­fü­gen eher irre­füh­rend – ist (S. 5f.). Begriff­li­che Prä­zi­sion, so Nowak, kann ein ers­ter Schritt zur Ent­e­mo­tio­na­li­sie­rung und Pro­blem­ori­en­tie­rung der Dis­kurse sein. Kon­se­quen­ter Weise ver­mei­det Nowak zumeist die klas­si­schen Adjek­tive und unter­schei­det eine in sich jeweils hete­ro­gene isra­el­so­li­da­ri­sche von einer israel­kri­ti­schen Strö­mung in der Lin­ken. Nowak, der selbst einen wohl­tu­end dif­fe­ren­zier­ten und ver­mit­teln­den Stand­punkt ver­tritt, weist jede Form von Pau­schal­kri­tik und Gene­ra­li­sie­rung in der Debatte als wenig gegen­stand­s­ad­äquat und erkennt­nis­för­der­lich zurück. Nowaks Vor­schlag dif­fe­ren­zierte von ver­kürz­ter Kri­tik ana­ly­tisch zu unter­schei­den – Nowak ver­wen­det hier­für die Begriffe regres­sive Israel­kri­tik bzw. regres­si­ver Anti­zio­nis­mus – kann man sich nur anschlie­ßen. So setzt sich Nowak u. a. dafür ein, not­wen­dige Kri­tik etwa an der israe­li­schen Besat­zungs­po­li­tik zu for­mu­lie­ren. Diese dürfe aber nicht zur Dämo­ni­sie­rung und Dele­gi­ti­mie­rung Isra­els füh­ren. Dop­pelte Stan­dards bei der Bewer­tung der Kon­flikt­par­teien sind zu ver­mei­den, soll eine linke eman­zi­pa­to­ri­sche Kri­tik for­mu­liert wer­den, die, wie ein­gangs for­mu­liert, Antisemitismus-, Kolo­nia­lis­mus– und Ideo­lo­gie­kri­tik sowie die Inter­es­sen aller in der Region leben­den Men­schen gleich­be­rech­tigt berücksichtigt.

Resü­mie­rend kann fest­ge­hal­ten wer­den, dass Peter Nowak ein wich­ti­ger Bei­trag zur Geschichte der Anti­se­mi­tis­mus­de­batte in der deut­schen Lin­ken gelun­gen ist, der mit Gewinn gele­sen wer­den und einen Aus­gangs­punkt für eine ver­tiefte Beschäf­ti­gung mit der The­ma­tik bil­den kann. Kri­tisch bleibt neben den bereits genann­ten Punk­ten anzu­mer­ken, dass es Nowak nicht immer durch­gän­gig gelingt, seine strin­gente Glie­de­rung auf­recht­zu­er­hal­ten. Nowak beginnt bis­wei­len Exkurse ohne diese schlüs­sig zu ver­tie­fen. Ent­wick­lun­gen wer­den ange­deu­tet und blei­ben im stich­punkt­ar­ti­gen ver­haf­tet. Das gilt beson­ders für sein Streif­licht auf die Anti­se­mi­tis­mus­de­batte in der DDR und den Exkurs: «Zwi­schen den Fron­ten – Linke Juden und die Linke in Deutsch­land». Mehr addi­tiv als sys­te­ma­tisch rubri­ziert wir­ken die in der Sache über­zeu­gen­den Aus­füh­run­gen von Bern­hard Schmid über die Rechte und Israel, die den Nowak-Band abschlie­ßen. Hier­durch wird der Lese­fluss an man­chen Stel­len beein­träch­tigt. Schließ­lich bleibt die feh­lende Trenn­schärfe zwi­schen tra­di­tio­nel­ler Antifa und «Nie wie­der Deutschland»-Bewegung und den seit 2001 neu ent­ste­hen­den Antifa-Zusammenhängen zu monieren.

Peter Nowak: Kurze Geschichte der Anti­se­mi­tis­mus­de­batte in der deut­schen Lin­ken, Edi­tion Assem­blage, Müns­ter 2013.


[2] Peter Ull­rich, Begrenz­ter Uni­ver­sa­lis­mus. Sozia­lis­mus, Kom­mu­nis­mus, Arbeiter(innen)bewegung und ihr schwie­ri­ges Ver­hält­nis zu Juden­tum und Nah­ost­kon­flikt, Ber­lin 2007. Ders., Die Linke, Israel und Paläs­tina. Nah­ost­dis­kurse in Groß­bri­tan­nien und Deutsch­land, Ber­lin 2008. Ders., Kath­rin Vog­ler, Mar­tin For­berg, Königs­weg der Befrei­ung oder Sack­gasse der Geschichte? BDS – Boy­kott, Des­in­ves­ti­tion und Sank­tio­nen. Annä­he­run­gen an eine aktu­elle Nah­ost­de­batte, Ber­lin 2011. Ders., Linke. Nah­ost­kon­flikt. Anti­se­mi­tis­mus. Weg­wei­ser durch eine Debatte. Eine kom­men­tierte Biblio­gra­phie. Reihe Ana­ly­sen der Rosa Luxem­burg Stif­tung, Ber­lin 2012. Ders., Deut­sche Linke und der Nah­ost­kon­flikt – Poli­tik im Anti­se­mi­tis­mus– und Erin­ne­rungs­dis­kurs, Göttingen 2013.

[3] Ger­hard Han­lo­ser (Hrsg.), «Sie waren die anti­deut­sches­ten der deut­schen Lin­ken». Zu Geschichte, Kri­tik und Zukunft anti­deut­scher Poli­tik, Müns­ter 2004. Mar­tin W. Klo­cke: Israel und die deut­sche Linke. Zur Geschichte eines schwie­ri­gen Ver­hält­nis­ses. Schrif­ten­reihe des Deutsch-israelischen Arbeits­krei­ses für Frie­den im Nahen Osten, Frank­furt a. M. 1994. Mar­cus Hawel, Moritz Blanke (Hrsg.), Der Nah­ost­kon­flikt. Befind­lich­kei­ten der deut­schen Lin­ken, Ber­lin 2010.

[4] Vgl. hierzu die ein­schlä­gi­gen Arti­kel unter http://​peter​-nowak​-jour​na​list​.de/

[5] Vgl. hierzu: Mar­tin Hoff­mann, Rote Armee Frak­tion. Texte und Mate­ria­lien zur Geschichte der RAF, Ber­lin 1997.

[6] Vgl. hierzu: Mar­cus Hawel, Die nor­ma­li­sierte Nation. Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung und Außen­po­li­tik in Deutsch­land. Mit einem Vor­wort von Moshe Zucker­mann, Han­no­ver 2007.

[7] Vgl. hierzu aktu­ell: Hen­ning Fischer Dres­den und Deutsch­land: Zwei­er­lei Mythos. Zum Mythos Dres­den als Teil der deut­schen Geschichte, in: Ders., Uwe Fuhr­mann, Jana König, u. a. (Hrsg.), Zwi­schen Igno­ranz und Insze­nie­rung. Die Bedeu­tung von Mythos und Geschichte für die Gegen­wart der Nation, Müns­ter 2012, S. 32–59.