Rechtspopulistisches Agenda-Setting beim TV-Duell

Allein die Fragenkomplexe machten deutlich, wie stark die AfD die Themen des Wahlkampfes bestimmt

Mit den sogenannten Fernsehduellen ist der Wahlkampf endgültig in die heiße Phase eingetreten. Bestätigt wurde dann aber nur, was Kritiker dieser Art von Urnendemokratie schon lange sagen. Über politische Alternativen wurde dort nicht debattiert, sondern zwei Partner, die schon lange gemeinsam koalisieren, stehen im Wettbewerb, wer künftig die Richtlinienkompetenz für die Verwaltung des Standorts Deutschland bekommen soll. Und dafür der ganze Aufwand?

Dieser Mangel an Kontroversen wurde auch von manchen kritisiert, die damit die Gefahr sahen, dass damit die Zahl derer, die sich von den Wahlen abwenden, noch zunimmt. Sie sahen für die mangelnde Streitkultur dann entweder beide Kandidaten oder besonders Martin Schulz oder das einengende Format des Gesprächs verantwortlich. Nur wenige hinterfragten die ganze Veranstaltung und die Fragen, die dort gestellt wurden. Dazu zählt der Journalistikprofessor Volker Lilienthal[1]. Im Deutschlandfunk hat er darauf hingewiesen[2], dass das Agendasetting eine rechtspopulistische Schlagseite gehabt habe:

Wer mit dem Reizthema Flüchtlingskrise anfängt, der muss natürlich damit rechnen, dass das viel Sendezeit auffrisst – mit dem Effekt, dass ja am Ende nur noch mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ auf letzte Fragen geantwortet wenden sollte. Und wichtige Themen wie zum Beispiel Modernisierung der Infrastruktur, Bildung oder Klimawandel fehlten fast völlig.

Volker Lilienthal

Abbau der Demokratie war kein Thema bei der Runde

Auch ein anderes wichtiges innenpolitisches Thema wurde in der Runde nicht angesprochen. Der Abbau demokratischer Grundrechte, der nach den Protesten gegen die G20-Proteste forciert worden ist. Dabei muss allerdings betont werden, dass die militanten Aktionen in Hamburg nicht der Anlass, sondern die günstige Gelegenheit sind, Pläne, die schon lange in der Schublade liegen, endlich umzusetzen. So wurde durch den nachträglichen Entzug von Journalistenakkreditierungen bekannt, dass in den Dateien auch Menschen gespeichert sind, die nie wegen einer Straftat verurteilt wurden und diese Praxis soll auch fortgesetzt werden. Die Verweigerung hat diese Praxis erstmals in einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht.

Mittlerweile gibt es ein Bündnis unter dem Motto „Demonstrationsrecht verteidigen“[3], das sich der weiteren Aushöhlung eines Grundrechts wendet. „Nach den Repressionen gegen Flüchtlinge und Migrantenorganisationen werden der gesamten sozialen Bewegung und der ganzen Bevölkerung der Bundesrepublik grundlegende demokratische Rechte genommen – insbesondere das Recht auf Versammlungsfreiheit“, heißt es in der Erklärung[4], die von zahlreichen linken Organisationen aber auch von Gewerkschaftlern unterzeichnet[5] wurde.

Verwiesen wird in der Erklärung auf die Gesetzesverschärfungen, die bereits vor dem G20-Gipfel erlassen wurden. Nach §113[6] und § 114[7] des Strafgesetzbuches („Widerstand oder tätlicher Angriff gegen Vollstreckungsbeamte“) kann eine Mindeststrafe von drei Monaten Haft schon drohen, wenn bei einer Festnahme ein Arm weggezogen wird. Das kann bereits als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte ausgelegt werden. Zudem wurde der Katalog für besonders schwere Fälle erweitert. Schon eine gemeinsame Tatausübung kann mit einer Mindesthaftstrafe von sechs Monaten belegt werden: „Doch welche Demonstration, welcher Streik erfolgt nicht gemeinschaftlich?“

Diese Frage in der Erklärung trifft den Punkt. Hier soll gemeinsames kollektives Agieren insgesamt kriminalisiert werden. Die ersten Urteile gegen G20-Gegner in Hamburg[8] zeigen, dass die Justiz die Signale aus der Politik verstanden hat. Wegen ihrer Härte werden sie auch von liberalen Kommentatoren kritisiert[9].

Demokratieabbau wird ganz offen wieder propagiert. Das Vorgehen gegen die linke Onlineplattform Indymedia Linksunten[10] ist ein weiterer Schlag gegen eine außerparlamentarische Opposition, die sich in der Mehrheit nicht als Teil der radikalen Linken versteht, wie medial immer wieder behauptet wird.

AfD und Union – Klare Kante gegen Linke

Schon wenige Monate nach den Verschärfungen legen CDU und CSU nach und fordern „Klare Kante gegen links außen“[11]. In einer gemeinsamen Erklärung der Innen- und Justizminister der CDU oder CSU[12] wird der Ton gegen die außerparlamentarische Linke weiter verschärft. Linke Zentren wie die Rote Flora in Hamburg sind weiterhin räumungsbedroht.

Dabei versucht sich der Bundesinnenminister De Maiziere als rechter Law and Order-Politiker zu profilieren. Nicht nur rhetorisch trennt ihn da nicht viel von der AfD. In Sachsen-Anhalt unterstützten große Teile der Unionsfraktion einen Antrag der AfD zur Einrichtung einer Kommission zum sogenannten Linksextremismus bei der Landeszentrale für politische Bildung (Schwarz-braun macht mobil[13]. Hier könnte eine neue rechte Front entstehen, die mit dem Kampf gegen Linke ein gemeinsames Feindbild hat.

Der Aufruf zur Rettung der Demonstrationsfreiheit zielt auf Bündnisse bis in die Reste des linksliberalen Milieus. Es wird sich zeigen, ob das gelingt. Von alldem kam im sogenannten Fernsehduell nichts zur Sprache. Abbau von demokratischen Rechten, Verbot einer linken Onlineplattform, hohe Strafen gegen G20-Demonstranten waren kein Thema bei der Show. Daher hat Volker Lilienthal völlig recht, wenn er von einem rechten Agendasetting spricht. Es wurden die Themen stark in den Vordergrund geschoben, die AfD-Wähler ansprechen. Linke und linksliberale Themen wie der Kampf gegen Überwachung und Abbau der Demokratie blieben außen vor.

https://www.heise.de/tp/features/Rechtspopulistisches-Agenda-Setting-beim-TV-Duell-3822045.html

Peter Nowak
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[1] https://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sowi/professuren/lilienthal/team/lilienthal-volker.html
[2] http://www.deutschlandfunk.de/moderatoren-beim-tv-duell-das-journalistische-resultat-war.2907.de.html?dram:article_id=395054
[3] http://demonstrationsrecht-verteidigen.de/
[4] http://demonstrationsrecht-verteidigen.de/erklaerung-demonstrationsrecht-verteidigen-2/#more-112
[5] http://demonstrationsrecht-verteidigen.de/unterzeichner/
[6] https://dejure.org/gesetze/StGB/113.html
[7] https://dejure.org/gesetze/StGB/114.html
[8] http://www.heise.de/tp/features/G-20-Der-Rechtsstaat-zeigt-was-er-kann-3816679.html
[9] http://www.zeit.de/2017/36/g20-prozesse-ausschreitungen-richter-urteil
[10] https://www.heise.de/tp/features/Wir-sind-alle-Indymedia-wir-sind-alle-linksunten-3813246.html
[11] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/linksextremismus-cdu-und-csu-wollen-gesetze-verschaerfen-a-1164656.html
[12] https://www.medienservice.sachsen.de/medien/news/213191
[13] https://www.heise.de/tp/features/Schwarz-Braun-macht-mobil-3814152.html

«Sie können sich selber organisieren»

Ercan Ayboga lebt in Deutschland und ist seit Jahren aktiv in der Solidarität mit der kurdischen Bewegung. Im Gespräch erzählt er von den Strukturen der Selbstorganisierung in Rojava, über die Erfolge der Frauen und, wie äussere Mächte das demokratische Projekt vernichten wollen.

Sie haben Ende April auf der von ausserparlamentarischen Linken organisierten Konferenz zur Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie in Berlin auf mehreren Podien über die aktuelle Situation in Rojava diskutiert. Wo sehen Sie da Zusammenhänge?

Ercan Ayboga: In Rojava organisiert sich die Gesellschaft weitgehend selber. Nach der Befreiung vom IS hätte sich die Partei PYD als zentrale Kraft beim Kampf gegen die IslamistInnen entschliessen können, ihre Parteistrukturen auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten. Doch sie hat sich zurückgezogen, damit sich die Gesellschaft in Räten, Kommunen und Kooperativen selber organisieren kann.

Können Sie ein konkretes Beispiel für diese Selbstverwaltungsstrukturen nennen?

Es wurden Räte für Gesundheit aufgebaut, an denen fast alle, die in diesem Sektor beteiligt sind, zusammenarbeiten. Das sind Ärztinnen und Ärzte, ApothekerInnen und Pflegekräfte. Da wird niemand instrumentalisiert. Ähnlich verlief es mit JuristInnen. Die Idee ist klar, alle gesellschaftlichen Akteur-Innen sollen kooperieren und eine neue Gesellschaft aufbauen.

Welche Rolle spielen die Frauen dabei?

Die Selbstorganisierung der Frauen ist ein zentraler Bestandteil des Selbstverwaltungsprojekts. Es existiert in jeder Kommune, Rat und Kooperative ein Frauenkomitee, das nur von Frauen gewählt wird. Sie alleine wählen die weibliche Co-Vorsitzende und dürfen den männlichen mitwählen. So bilden die Frauen eigene Strukturen und organisieren sich selbstständig. Auf dieser Grundlage können sie Einfluss auf die Räte nehmen, um eine Politik im Interesse der Frauen durchzusetzen.

Die PYD hat sich aber als Partei nicht aufgelöst. Welche Rolle spielt sie?

Sie hat keine avantgardistische Rolle, weil sie sich entschieden hat, die Gesellschaft soll sich durch Räte selber regieren. Sie versteht sich als eine ideologisch arbeitende Struktur im gesamten System.

Aber kann es nicht wie schon häufiger in der Geschichte zu Konflikten zwischen den Räten und der Partei kommen, wenn es politische Differenzen gibt?

Die Selbstverwaltung durch die Räte steht völlig im Einklang mit der Programmatik der PYD. Sie hat diese Selbstverwaltung durch ihren Kampf möglich gemacht und so für die Räte das Terrain eröffnet. Sie hat wegen ihrer historischen Rolle bei der Befreiung vom IS eine wichtige Rolle als Ideengeberin. Die PYD ist ein kleiner Teil des Rätesystems, welches viele weitere Dynamiken hat. Lokale Auseinandersetzungen kommen selten vor und sind insgesamt unbedeutend.

Gibt es neben PYD noch andere Parteien?

Es gibt fünf weitere Parteien im Rätesystem, die mitmachen. Dabei ist sowohl die kommunistische als auch die liberale Partei von Rojava. Alle Parteien sind gleichermassen ab den mittleren Stufen im Rätesystem vertreten. Doch diese fünf Parteien sind eher passiv, die Initiativen kommen meistens von der PYD.

Die Selbstverwaltung setzt ein hohes Mass an Engagement aller Menschen voraus. Gib es da nicht auch Probleme, dass manche Menschen dieses Engagement gar nicht immer aufbringen wollen?

Das ist in der Tat ein grosses Problem. Es gibt Kommunen und Räte, an denen beteiligen sich sehr viele Menschen, in anderen Sektoren gibt es Probleme, Leute zu finden, die sich engagieren. Sie wollen lieber, dass jemand verantwortlich ist. Die Partei oder der Rat sollen es regeln. Es liegt dann an den Aktiven in den Räten, Vorschläge zu machen und die Menschen immer wieder zu motivieren, sich zu engagieren. Dabei spielt die Bildungsarbeit eine zentrale Rolle. Die Menschen lernen so, dass das eigene Engagement wichtig ist, für die Veränderungen in ihrem Alltag.

Wie steht es mit der Selbstorganisierung der Menschen am Arbeitsplatz in Rojava?

Fabrikräte gibt es nicht, weil es keine grosse industrielle Produktion gibt. Es gibt aber immer mehr Komitees der arbeitenden Menschen bei TaxifahrerInnen, in Autowerkstätten und in der Verwaltung, die in einer übergeordneten Struktur zusammenkommen. Daneben gibt es immer mehr Kooperativen, wo die Mitglieder kommunal entscheiden.

Ist es nicht ein Widerspruch zu den Rätestrukturen, dass die Rolle des PKK-Vorsitzenden Öcalan sehr gross ist?

Tatsächlich ist Öcalan in Rojava überall präsent, was keine Verordnung ist, sondern von den Menschen selbst kommt. Das liegt auch daran, dass er bereits in den frühen 1980er Jahren, bevor die kurdische Arbeiterpartei PKK in Nordkurdistan ihren bewaffneten Kampf begann, in Rojava Versammlungen abgehalten und Tausende für den Kampf in Nordkurdistan gewonnen hat. Heute ist es das von Öcalan entwickelte Projekt des demokratischen Konföderalismus, das in Rojava umgesetzt wird.

Nun wird ja die Perspektive der Region auch von vielen anderen Mächten wie der Türkei, den USA und Syrien abhängen. Ist damit die Selbstverwaltung nicht massiv eingeschränkt?

In Rojava macht sich niemand Illusionen, dass alle diese Mächte das Projekt der Selbstverwaltung vernichten wollen. Die einzige Chance ist daher, die momentanen Widersprüche zwischen diesen Ländern zu nutzen und so stark zu werden, dass es schwer wird, Rojava anzugreifen. Im Idealfall gelingt es uns, dass sich das Modell der Selbstverwaltung ausbreitet. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit.

aus: Vorwärts/Schweiz

«Sie können sich selber organisieren»


Interview: Peter Nowak

Als Paul Nkamani Jakob die Show stahl

Der kürzlich angelaufene Film „Als Paul über das Meer kam“ thematisiert nicht nur das EU-Grenzregime, sondern auch die Selbsttäuschungen mancher wohlmeinender Helfer

„Wir schaffen das“, dieser kurze Satz von Bundeskanzlerin Merkel vom Herbst 2015 erregt noch immer die Gemüter. Ein Teil des grünen Milieus sah nun endgültig keinen Grund mehr, ihre Zuneigung zur CDU zu verbergen und outete sich nun offen als die Merkel-Fans, die sie auch vorher schon waren. Sie, die schon vorher vom zivilisierten Deutschland geschwärmt haben, bekennen nun ganz offen, nach diesen Satz stolz auf das Land zu sein.

Die Rechten hingegen, die beim Stolz auf Deutschland immer die Klassenstreber waren, steht dieser kurze Satz hingegen für Verrat am Vaterland. Sie halluzinieren in diesen Worten offene Grenzen herbei, die es weder im Herbst 2015 noch später gegeben hat. Derweil wird Deutschland noch mehr zur Festung ausgebaut und Merkel behält weiter ihre Ex-Grünen-Fans. Das zumindest hat sie geschafft. Paul Nkamani war mit diesen „Wir“ nie gemeint, dass sich ja immer nur an die deutschen Wähler richtet.

Dabei könnte der kurze Satz „Wir schaffen das“ das Leitmotto sein, von dem er sich vielen Jahren leiten ließ, als er den Entschluss fasste, für sich ein besseres Leben in Europa zu finden. In Kamerun gehörte er zum Mittelstand, studierte an der Universität Politik und bereitete sich auf eine Stellung als Diplomat vor. Als Oppositioneller sah er sich nicht, doch weil er an der Universität in Gremien aktiv war und auch Demonstrationen für die Verbesserung der studentischen Lebensbedingungen besuchte, wurde er von dem autoritären Regime von der Hochschule geschmissen. Das bedeutete nicht nur das Ende seiner Berufswünsche, sondern auch eine persönliche Schmach. Nun galt Nkamani in seiner Umgebung als Versager. Der Tod seines Vaters war dann der Punkt, wo er endgültig beschloss, den Sprung nach Europa zu wagen. Er starb an eigentlich therapierbaren Krankheiten, weil die Medikamente selbst für eine Mittelstandsfamilie unerschwinglich sind.

Auf seinem langen und schwierigen Weg von Kamerun nach Deutschland lief er dem Juristen und Dokumentarfilmer Jacob Preuss[1] über den Weg. Der wollte eigentlich einen Film über das Grenzregime der EU drehen. Auf der marokkanischen Seite der Grenze zur spanischen Kolonie auf afrikanischen Boden. In Melilla lernte er Nkamani kennen, den seine Diplomatenausbildung wahrscheinlich auch hier von Nutzen war. Er erkannte die Chance, mit dem Filmprojekt seine Chancen zu steigern, nach Europa zu kommen.

Nicht alle Migranten waren davon überzeugt. Im Film „Als Paul über das Meer kam“[2], der seit einigen Tagen in den Kinos angelaufen ist, sieht man, wie der Mann Überzeugungsarbeit leisten musste.

Eine Spur von Paternalismus

Nur kurz werden im Film weitere, sehr selbstbewusste Migranten auf den Weg nach Europa vorgestellt, die auch an ihren Warteplätzen ihre Würde nicht verloren haben. „Nein, ich bin nicht vergewaltigt wurden. Ich habe für die Reise bezahlt und hier bin ich nun“, erklärt eine Frau, die gerade Essen auf einer improvisierten Kochstelle Essen zu bereitet. Und sie ist sich sicher, dass sie Wege finden wird, nach Europa zu kommen. Sie werden im Laufe des Films nicht mehr auftauchen. Schließlich ist Nkamani nicht nur der Titelheld im Film.

Bald wird er nur noch Paul genannt, was auch Ausdruck jenes weißen Paternalismus ist, der auch der Szene der Flüchtlingshelfer nicht fremd ist. Dieser Eindruck verstärkt sich im Laufe des Films noch, wenn Preuss über Nkamani redet wie über sein Kind, das er nun wohl oder übel beschützen muss. Da ist wieder die Choreographie, wie wir sie aus vielen wohlmeinenden Filmen zur Migrationsthematik kennen. Ein weißer Man, der zögerlich zum Beschützer und Retter von Migranten wird, die dann auch nur mit ihren Vornamen genannt werden. Solche Filme mögen die Liberalen, weil sie sich doch nun mit dem edlen Helfer mitfühlen und sich in ihm wieder erkennen.

Doch im Film „Als Paul über das Meer kam“ geht das Kalkül nicht auf und das macht den Film sehenswert. Denn der weiße Helfer bleibt in der Nebenrolle, Paul Nkamani bleibt die Hauptfigur und das liegt vor allem an ihm und seiner Taktik, seine Einreise nach Europa möglichst unter Vermeidung von Risiken durchzuführen. Doch diese Taktik hat ihre Grenzen. Der undurchdringliche gefährliche Zaun, der die Kolonie Melilla von Marokko trennt, zwingt Nkamani, die Überfahrt mit einem nicht minder gefährlichen Boot zu wagen. Das kenterte tatsächlich und viele Stunden waren die Migranten der Sonne und dem Meerwasser ausgesetzt. Ein Teil der Besatzung stirbt, Nkamani gehört zu den wenigen Überlebenden.

Im Internet erfährt Preuss davon, als er Videos über die Rettung sieht. Er versucht so schnell wie möglich, Kontakt aufzunehmen, was aber zunächst durch das EU-Grenzregime verunmöglicht wird. Denn Nkamani wird mit den anderen Überlebenden sofort in Abschiebehaft genommen. Später leben sie in Südspanien in einer offenen Unterkunft, wo sie Preuss den Horror der Überfahrt schildern. In dem Augenblick ist Preuss dann nicht mehr nur der Regisseur, sondern er wird auch zum Helfer, der Kontakte beim Transit von Südspanien nach Europa vermittelt, beispielsweise Übernachtungsmöglichkeiten in Paris und Frankfurt/Main.

Am Ende wird Nkamani dann von den Eltern des Regisseurs aufgenommen und hier wird im Film eindeutig zu stark das Kapitel vom „edlen Helfer“ abgerufen. Wenn Preuss dann bekundet, wie froh er war, dass er nicht mit Nkamani im Auto einer Mitfahrgelegenheit von Paris nach Berlin fahren musste, sondern, weil dort kein Platz mehr war, sondern allein im Zug fahren konnte, betont er einmal mehr die feinen Unterschiede. Der liberale Bürger macht sich nicht mit „seinem Schützling“ gemein und kann so rausstellen, dass er sozial über ihm steht.

Manche Erzählung der Flüchtlingshelfer wird infrage gestellt

Doch der Film widerlegt auch manche Mythen der Flüchtlingshelfer, vor allem derer, die damit vor allem ihren Paternalismus ausleben wollen und die Migranten zu hilfsbedürftigen Wesen degradieren, die sie vor dem Hunger und dem sicheren Tod gerettet haben und die dann gefälligst dankbar sein sollen.

Wehe, diese Menschen haben eigene Wünsche und Vorstellungen von ihrem Leben in Deutschland, dann schützt sie nicht einmal ein Trauma vor der Abschiebung aus dem eigenen vier Wänden, wie es vor einigen Wochen ein taz-Autor in einer Reportage durchaus nicht ohne selbstkritische Gewissensprüfung schilderte[3]. Wie schnell aus dem Helfersyndrom dann der Wunsch wird, der junge Mann möge verschwinden, drückt sich in diesen Absatz der Reportage aus.

Wie lange tolerieren wir also sein Phlegma? Auf unsere Bitten reagiert er nicht. Traumatisiert? Ja, meinetwegen. Aber eben auch faul – und verwöhnt. Wahrscheinlich regelte Mama in Syrien alles. Und normalerweise hätten seine Eltern auch eine Ehefrau gesucht, die dann alles macht. Aber dieses Modell funktioniert bei uns nicht.

taz

Paul Nkamani ist nun gar nicht phlegmatisch. Auch in Deutschland verfolgt er weiter das Ziel, möglichst lange in Deutschland bleiben zu können. Dabei geht er sehr planmäßig vor, man kann sagen, er ist berechnend. Dass kann nur als Vorwurf verstehen, wer Migranten nicht als handelnde Subjekte, sondern nur als hilfsbedürftige Mündel wahrnimmt. Die Migration ist schließlich lebensgefährlich und eine Vorbereitung samt Abwägung aller Risiken ist doch eigentlich Zeichen von Verstand und Smartness und kann also Nkamani nicht zum Vorwurf gemacht werden.
So erfahren wir, dass viele Migranten aus Ländern des subsaharischen Afrika überlegen, ob und wo sie in Europa Asyl beantragen. Die Begründung ist sehr einfach. Die Anerkennungsquote für Menschen aus diesen Ländern ist gering, und wenn sie erst einmal den Antrag gestellt haben, sind ihre Daten bekannt und sie können einfacher abgeschoben werden, als wenn sie sich in Europa ohne einen Asylantrag durchzuschlagen versuchen. Das bedeutet natürlich, nur nicht auffallen, der Polizei aus dem Weg gehen und möglichst nicht krankwerden. Nicht das durchaus rationale Verhalten dieser Menschen, sondern die Verhältnisse, diese sie zu einem fast klandestinen Leben zwingen, müsste Gegenstand der Kritik sein.

Paul Nkamani kann und soll dort kritisiert werden, wo er in Erwägung zieht, für seine Pläne andere Menschen zu instrumentalisieren bzw. als Mittel zum Zweck zu benutzen. So gibt es im Film eine Szene, wo der Mann mit einem anderen Migranten über Wege und Strategien diskutiert, längerfristig in Europa bleiben zu können.

In Deutschland sind die Asylchancen für einen Kameruner aber nicht gerade rosig. Besser wäre eine Heirat. Vielleicht kann der Filmemacher Paul ja in Berlin eine deutsche Ehefrau vermitteln? Doch auch das sei nicht so einfach, schließlich müsse man sich mit der Frau dann auch öfter in der Öffentlichkeit sehen lassen.

Es ist ein Gewinn für dem Film, dass Preuss diese Passage ebenso drin gelassen hat, wie die Szene, als sich Nkamani sich selber für Kontrollen von Migranten ausgesprochen hat, die es noch nicht nach Europa geschafft haben. Menschen, die wie er viele Strapazen für ihren Traum, nach Europa zu kommen, auf sich genommen haben, hingegen sollen ein Bleiberecht bekommen, so Nkamanis Vorstellung. Von einem menschenrechtlichen Standpunkt hingegen, ist eine Flüchtlingspolitik, bei der nur die Smartesten, Gesündesten und die, die Glück hatten, abzulehnen.

Vielmehr kann nur die Forderung nach sicheren Transitrouten Menschen retten, dass wird in dem Film noch einmal deutlich. Denn selbst ein so rational agierender Mensch wie Paul Nkamani kann noch nicht sagen, dass er es wirklich geschafft hat, in Deutschland zu bleiben. Seine Abschiebung ist noch immer möglich. Vielleicht kann ihn seine Popularität durch den Film davor bewahren. Der Film wiederum sollte nicht nur als Selbstbestätigung einer mittelständischen Helferszene dienen, sondern auch die Diskussion darüber eröffnen, dass es bei den Migranten nicht um hilfebedürftige Mündel, sondern um Subjekte handeln, die ein Ziel im Leben haben und es umzusetzen versuchen, auch ohne und gegen die Interessen der Helfer.

https://www.heise.de/tp/features/Als-Paul-Nkamani-Jakob-die-Show-stahl-3820703.html

Peter Nowak

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[1] http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/34249.asp
[2] http://www.farbfilm-verleih.de/filme/als_paul_ueber_das_meer_kam/
[3] http://www.taz.de/!5409436/

Im Sinne Erdoğans


Im Münchner Prozess gegen zehn Deutsch-Türken handelt die Justiz im Sinne des Erdoğan-Regimes. Der Münchner Prozess gegen angebliche Unterstützer der türkischen TKP-ML basiert auch auf türkischen Geheimdienstberichten.

Mit einem Lächeln betritt Dilay Banu Büyükavci den Raum und winkt dem Besucher zu. Danach legen beide zur Begrüßung ihre Hände auf die Glasscheibe, die das Zimmer in zwei Bereiche trennt. Denn Büyükavci ist seit 28 Monaten in der Justizvollzugsanstalt München inhaftiert. Die promovierte Ärztin wird beschuldigt, die 1972 gegründete Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML) unterstützt zu haben. Außer ihr wurden neun Männer verhaftet. Alle zehn sitzen seit über zwei Jahren in Untersuchungshaft. Unter ihnen ist auch Büyükavcis Lebensgefährte Sinan Aydın, der ebenfalls Arzt ist. Den An­geklagten wird die Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129b des Strafgesetzbuchs vorgeworfen.

Büyükavci erinnert sich noch sehr gut an den 25. April 2015, als sie von einem Einsatzkommando der Polizei in einem Nürnberger Café verhaftet wurde. »Noch überraschter als ich waren meine Gesprächspartner. Es waren Wissenschaftler, mit denen ich schon lange zusammenarbeite«, erinnert sich die Medizinerin im Gespräch mit der Jungle World. Als Mitglied der Gesellschaft für türkischsprachige Psychotherapie und psychosoziale Betreuung nahm sie regelmäßig an Tagungen und Konferenzen in Deutschland und der Türkei teil. In Nürnberg hatte sie selbst einen Kongress unter dem Motto »Psychologische Aspekte zur Integration von Kulturen« organisiert und dafür viel Anerkennung erhalten. Als sie verhaftet wurde, plante sie mit Kollegen gerade einen Folgekongress, der wegen ihrer Inhaftierung nicht stattfinden konnte. »Ich war gut integriert und bekam viel Lob. Jetzt soll ich eine Terroristin sein«, sagt Büyükavci. Doch nicht alle haben sich von ihr distanziert. Im Gegenteil, einige ihrer Arbeitskolleginnen im Nürnberger Klinikum wurden nach der Verhaftung selbst tätig.

»Ich habe Banu als eine wunderbare Frau und sehr angenehme Kollegin kennengelernt« berichtet die Ärztin Susanne Kaiser der Jungle World. Als Büyükavci plötzlich verschwunden war, sei sie verwundert gewesen. Dann bekam sie von einem Kollegen den Tipp, den Namen ihrer Kollegin im Internet zu googeln. »Da habe ich dann gelesen, dass sie unter der Beschuldigung verhaftet wurde, Mitglied einer terroristischen Organisation zu sein. Ich habe sofort gesagt: Banu und Terrorismus, das passt nicht zusammen«, so schildert Kaiser ihre erste Reaktion.

Mit einem kleinen Kreis weiterer Kolleginnen begann Kaiser, sich für die Freilassung Büyükavcis einzusetzen. Sie schrieben an verschiedene Landes- und Bundespolitiker, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erhielt einen Brief. Die meisten Adressaten ­reagierten jedoch nicht. Lediglich der Bund der Steuerzahler habe mit einem freundlichen Brief geantwortet, erinnert sich eine weitere Kollegin, die mit Susanne Kaiser die Solidaritätsarbeit organisiert und ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Den Bund der Steuerzahler hatte die Gruppe angeschrieben, um auf die Kosten des Großprozesses hinzuweisen.

Büyükavcis Verteidiger Yunus Ziyal verweist darauf, dass seiner Mandantin nur legale Aktivitäten wie das Sammeln von Spenden zur Last gelegt werden. Doch im Rahmen des Verfahrens würden diese Hilfstätigkeiten als Unterstützung einer ausländischen terroristischen Organisation bewertet. Dass die TKP/ML in Deutschland legal ist, spielt dabei keine Rolle. Ziyal forderte vor einigen Wochen die Entlassung ­seiner Mandantin aus der Untersuchungshaft mit der Begründung, dass sie sofort wieder an ihre Arbeitsstelle zurückkehren könne und ein Haus besitze, also bestens in die Gesellschaft integriert sei.

Ziyal weist auch darauf hin, dass allen Verstimmungen in den deutsch-tür­kischen Beziehungen zum Trotz die Justizkooperation beider Länder in diesem Fall reibungslos funktioniere. »Die angeblichen Ermittlungsergebnisse der türkischen Behörden zu den Bezugstaten und zur Struktur der ­Organisation, die im Rahmen der polizeilich-justitiellen Zusammenarbeit an die Bundesanwaltschaft übermittelt wurden, sind eine der wichtigsten Grundlagen der Anklage«, sagt der Jurist der Jungle World. Dabei stützten sich die türkischen Behörden auch auf geheimdienstliche Quellen, beispielsweise auf V-Leute in linken migrantischen Organisationen in Deutschland. Spitzeleinsätze in der Gülen-Bewegung führten zu einem kurzzeitigen Medienaufschrei. In München landeten die Spitzelberichte in den Prozessakten.

JUNGLE.WORLD 2017/34 INLAND
https://jungle.world/artikel/2017/34/im-sinne-erdogans

Peter Nowak

Spuren des Kolonialismus auch in Deutschland

Ein Berliner Bündnis nimmt sie kritisch unter die Lupe

Am 23. August 2014, dem Internationalen Tag zur Erinnerung an den Handel mit Versklavten und an seine Abschaffung, veranstalteten antirassistische und antikoloniale Gruppen in Berlin-Mitte das 1. Fest zur Umbenennung der Berliner M.-Straße[1]. Sie heißt eigentlich Mohrenstraße, wird aber von den Veranstaltern nur mit den Angriffsbuchstaben genannt, um nicht kolonialistische Begriffe zu reproduzieren[2].


Warum ist das Wort Mohr rassistisch?

Auf ihrer Webseite begründet[3] das Bündnis mehrerer Gruppen[4], warum der Straßenname für sie nicht akzeptabel ist:

Vor allem weiße Menschen maßen sich an, die von ihnen verwendete Fremdbezeichnung M. für Schwarze Menschen als „harmlos“ zu bewerten. Seit der Antike schwang dabei jedoch auch das griechische Wort moros (μωρό[ς]) in der Bedeutung von „töricht“ und „dumm“ mit. Im europäischen Mittelalter kam dazu die Vorstellung vom schwarzen Teufel, der im Mittelhochdeutschen auch direkt als mōr bzw. hellemōr bezeichnet wurde.

In der Hochzeit des transatlantischen Versklavungshandels verfestigte sich in Deutschland das mit dem M-Wort verbundene Bild eines unzivilisierten, schmutzigen und zur Arbeit für die weiße (Kolonial-)Herrschaften bestimmten Menschen. Im 20. Jahrhundert schlug sich die Abwertung dann schließlich in der kolonialrassistischen Werbefigur des kindlichen und diensteifrigen „Sarotti-M.“ nieder, die vom verantwortlichen Konzern inzwischen (halbherzig) verfremdet und umbenannt wurde.
Decolonize Berlin[5]

Es gibt allerdings noch immer kein Signal von der zuständigen Bezirksregierung des Berliner Stadtteils Mitte, über die Umbenennung auch nur nachzudenken. Dabei gäbe es eine Alternative für die Straße. Sie soll nach Anton Wilhelm Amo[6] benannt worden. Er wäre eine sehr gute Alternative.

Er war der erste schwarze Philosoph in Deutschland, setzte sich bereits im 17. Jahrhundert für die Gleichheit der Menschen und gegen Rassismus ein und wurde schließlich in Deutschland selbst Opfer des Rassismus und musste das Land verlassen. Über sein weiteres Leben ist sehr wenig bekannt.

Amo ist ein Beispiel dafür, wie die Arbeit Schwarzer Menschen in Deutschland unsichtbar gemacht wurde. Es wäre also eine Geste der Wiedergutmachung, wenn die Straße in Berlin Mitte nach Amo benannt wird.

Dabei sollte auch keine Rolle spielen, ob der Name „Mohrenstraße“ tatsächlich von allen Menschen im rassistischen Sinne verwendet wurde und es ist auch nicht erforderlich, die Herkunft des Begriffs zu untersuchen. Schließlich ist es ein Fakt, dass das Wort Schwarze Menschen an die kolonialrassistische Vergangenheit erinnert und das müsste ein guter Grund für die Umbenennung sein.

Von den USA lernen?

Beim Umbenennungsfest am 23. August wurde das Straßenschild mit dem Namen „Anton Wilhelm Amo“ symbolisch angebracht und dann wieder entfernt. Sollte allerdings die Politik weiter nicht auf die Forderungen reagieren, wäre es schon angebracht, dass die Initiativen etwas energischer auftreten.

Sie können sich ein Vorbild an der antirassistischen Bewegung in den USA nehmen, die nach den rechten Aufmärschen der letzten Wochen und dem Nazi-Mord in Charlestown zahlreiche rassistische Denkmäler, die Sklavenhalter und ihre Befürworter zeigten, in Eigenregie demontierten.

Dafür bekamen sie auch in der hiesigen Presse viel Verständnis. Nur die FAZ hatte vor eine kleine Meldung die Überschrift gesetzt, dass Demonstranten in den USA Denkmäler „schändeten“. Hier wird schon deutlich, wie reagiert würde, wenn auch in Deutschland kolonialrassistische Spuren in Eigenregie entfernt würden. Das können Denkmäler ebenso sein wie die Namensschilder der M-Straße.

So zeigte sich wieder einmal, dass in den USA auch unter, bzw. gegen Trump eine sehr aktive Zivilgesellschaft existiert, die nicht auf Gesetze und Gerichtsbeschlüsse wartet, wenn sie etwas durchsetzen will. Eine solche Bewegung wäre in Deutschland wohl viel größerem Druck ausgesetzt als heute in den USA.

https://www.heise.de/tp/features/Spuren-des-Kolonialismus-auch-in-Deutschland-3813441.html

Peter Nowak
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[1] https://www.facebook.com/events/911908208826361/
[2] http://decolonize-mitte.de/?p=238
[3] http://decolonize-mitte.de/?p=238
[4] http://decolonize-mitte.de/?page_id=26
[5] http://decolonize-mitte.de/?page_id=26
[6] https://scilogs.spektrum.de/die-sankore-schriften/black-history-month-2011-anton-wilhelm-amo-der-erste-schwarze-philosoph-an-einer-deutschen-universit-t/

„Wir sind alle Indymedia – wir sind alle linksunten“

Das Verbot und das Vorgehen gegen die globalisierungskritische Internetplattform hat ihr zu neuer Popularität verholfen

„Rote Karte für den schwarzen Block! Linksterror stoppen“, steht auf einem Wahlplakat, mit dem sich die rechtspopulistische AfD als law- and-order-Partei profilieren will. Doch damit unterscheidet sie sich kaum von der großen Koalition aus CDU/CSU, FDP und SPD, die nach den militanten Auseinandersetzungen beim G20-Gipfel wieder einmal die letzten Reste von politischem Widerstand bekämpften.

Nicht nur linke Zentren wie die Rote Flora in Hamburg sollen kriminalisiert werden. Der Schlag gegen Indymedia (siehe „Linksunten.Indymedia“ verboten[1]) gehört dazu. Dabei musste erst ein Verein konstruiert werden, um dann gegen ihn vorzugehen.

Dass der Repressionsschlag mit den militanten Auseinandersetzungen in Hamburg begründet wird, zeigt einmal mehr, wie sehr es das politische Establishment geärgert hat, dass in Hamburg vor aller Welt deutlich geworden ist, dass Deutschland kein ruhiges Hinterland ist, wenn es die Mächtigen aus aller Welt empfängt.

Indymedia war keine Plattform der radikalen Linken

Doch die Vorbereitungen des Verbots gegen den konstruierten Indymedia-Verein begannen schon vor Hamburg. Es handelt sich auch um keinen Schlag gegen die radikale Linke, wie es jetzt viele Medienvertreter voneinander abschreiben.

Wer in der letzten Zeit einmal die Seite studiert hat, konnte feststellen, dass dort Berichte über eine ganze Palette von politischen Aktionen außerhalb der Parteien zu finden waren. Ob es Mieterdemos, Kundgebungen gegen Sozialabbau oder die Organisierung eines Infostands gegen die AfD war. All diese Aktionen kamen bei Indymedia-Linksunten vor.

Die Voraussetzung dazu war, dass die Berichte von den Aktivisten selber verfasst wurden. Manche schrieben anonym, doch zunehmend wurden auch Artikel mit Klarnamen verfasst und manchmal waren sogar E-Mail-Adressen und Telefonnummern unter den Beiträgen zu finden. Daraus wird deutlich, dass Indymedia eine Plattform für außerparlamentarische Politik in all ihren Formen war.

Den Schwerpunkt nahm dort die Berichterstattung über völlig gewaltfreien Protest der Nichtregierungsorganisationen ein und manchmal tauchten auch Berichte über militante Aktionen auf. Doch die waren so selten, wie sie es in der politischen Realität in Deutschland tatsächlich auch sind.

Wenn nun Indymedia-Linksunten unisono als Plattform der Linksextremisten adressiert wird, zeigt das nur, dass die Verfasser solcher Einschätzungen die Seite nicht kennen. Für die radikale Linke war die Plattform nicht besonders interessant, weil eben klar war, dass sie nicht nur von den Geheimdiensten eifrig mitgelesen wurden. Selbst unter den Verfassern von Beiträgen waren Geheimdienstmitarbeiter.

Zudem kamen noch die Internettrolle, die solch solche Seiten angezogen werden und dafür sorgten, dass Indymedia an Bedeutung verlor. Diese Trolle sorgten auch dafür, dass Diskussionen auf Indymedia linksunten über in der Linken strittige Themen wie die Haltung im Israel-Palästina-Konflikt auf der Seite nicht möglich waren, womit die Plattform als Medium der Diskussion ausschied. Sie war so nur noch eine reine Informationsplattform und da gibt es auch genügend andere Seiten.

Repression wird die Solidarität mit Indymedia erhöhen

Der Repressionsschlag hat manche erst wieder darauf hingewiesen, dass es Indymedia noch gibt. In der 18-jährigen Geschichte von Indymedia gab es in den verschiedenen Ländern immer wieder Repression, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme von Computern und Abschaltungen der Seiten. Berühmt-berüchtigt war der Angriff schwerbewaffneter Polizeieinheiten auf Indymedia-Vertreter und viele andere Globalisierungskritiker am 20.Juli 2001 in Genua.

Auch dieser Repression gingen Massenproteste gegen das dortige G8-Treffen voraus. Danach wurde unter anderem die Diaz-Schule am Rande von Genua von der Polizei angegriffen, in der Indymedia gearbeitet hat. Damals war die Plattform noch für diese Bewegung und ihre Organisierung wichtig.

Indymedia wurde 1999 von Globalisierungskritikern gegründet und verfügt weltweit über regionale Ableger. Die jetzt abgeschaltete Plattform gehört dazu. Wenn nun behauptet wird, sie habe nichts mit dem weltweiten Indymedia-Netzwerk zu tun, ist das falsch.

Jeder regionaler Indymedia-Ableger arbeitet selbständig. Es gibt keine zentrale Steuerung, aber es gibt Grundsätze wie die Konzentration auf den Kampf außerhalb der Parlamente, die die Leitschnur für die Arbeit der Plattform abgab. Der Angriff auf einen Indymedia-Ableger wird als Angriff auf die Indymedia-Strukturen in aller Welt begriffen, so dass der Repressionsschlag gegen das Projekt auch weltweit beachtet wird und zu Protest führen wird.

Die ersten Solidaritätsstatements[2] sind unter anderem vom Blockupy-Netzwerk[3], der Interventionistischen Linken[4] verfasst worden. „Wir sind alle linksunten“, lautet der Tenor der Erklärungen.

Andere meinen, dass die verbotene Plattform doppelt so interessant wird[5] und rufen zur Unterstützung auf. Angesichts des Verbots werden wieder Diskussionen über eine gemeinsame Plattform linksunten[6] geführt. Es wird sich zeigen, ob es sich dabei um mehr als um ein Strohfeuer handelt.

Verbot juristisch auf wackeliger Grundlage

Doch womöglich wird das Verbot sogar ganz rechtsstaatlich gekippt. Die Berliner Juristin Halina Wawzyniak[7] stellt die juristischen Grundlagen des Verbots infrage[8]:

Die im BGB für einen Verein vorgesehene Mindestanzahl von sieben Menschen soll für das Vereinsgesetz nicht relevant sein oder zumindest nicht, wenn es um Verbote geht. Mal sollen zwei Personen ausreichen, mal ist von drei Personen die Rede. Zumindest in der Kommentarliteratur ist die Frage der Mindestanzahl von Mitgliedern umstritten. Eine Rechtsprechung, nach der zwei Personen für einen Verein nach dem Vereinsgesetz ausreichen, habe ich in der kurzen Zeit nicht gefunden.

Halina Wawzyniak

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3813246

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Linksunten-Indymedia-verboten-3812671.html
[2] http://www.labournet.de/interventionen/solidaritaet/solidaritaet-gegen-das-verbot-von-linksunten-indymedia-widerstand-gegen-polizeistaat/
[3] https://twitter.com/Blockupy/status/900949808180977665?ref_src=twsrc%5Etfw&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.neues-deutschland.de%2Fartikel%2F1061690.innenministerium-verbietet-linksunten-indymedia.html)
[4] http://www.interventionistische-linke.org/beitrag/ein-angriff-auf-die-organisierte-linke
[5] http://theoriealspraxis.blogsport.de/2017/08/25/ak-analyse-kritik-linke-und-antifaschistische-arbeit-braucht-medien-und-plattformen-wie-linksunten
[6] http://plaene.blogsport.eu/2017/08/25/diskussionswuerdig-bedarf-fuer-ein-gemeinsames-diskussionsforum-linksunten/
[7] https://www.bundestag.de/abgeordnete18/biografien/W/wawzyniak_halina/259196
[8] http://blog.wawzyniak.de/plattform-und-vereinsverbot/

„Die Opposition will keinen Bürgerkrieg“

Der Regisseur Imre Azem gehört zur außerparlamentarischen Linken in der Türkei. Mit seinen Film „Ekumenopolis – City without Limits“ über die Umstrukturierung in Istanbul wurde er auch in Deutschland bekannt. In seinen neuesten Film „Türkei: Ringen um Demokratie“ begleitet er vier türkische Oppositionelle ein Jahr lang bei ihrer politischen Arbeit.

Auf dem Höhepunkt der Gezi-Proteste 2013 in Istanbul schrieben viele, eine Rückkehr zur autoritären Türkei sei jetzt nicht mehr möglich. Warum haben sie sich so vertan?

Imre Azem.: Diese Einschätzung wurde zu einer Zeit getroffen, als viele Menschen die Angst vor dem Staat und seiner Polizei verloren hatte. Sie machten sich in Liedern über die Polizei, die Wasserwerfer und das Tränengas lustig. Wenn Erdogan die Demonstranten als Randalierer und Chaoten bezeichnete, empfanden sie das nicht als Beschimpfung sondern als Ehrenbezeichnung. Die alten Methoden der Herrschaft haben da nicht mehr gezogen. Doch dann hat das Regime den Terror auf allen Ebenen verschärft. Es wurde nicht mehr nur mit Tränengas geschossen. Es gab Tote und Verletzte. Seit 2015 sind in der gesamten Türkei mehr als 2000 Menschen ermordet worden.

Haben die Gezi-Proteste nicht zu einer Annäherung zwischen türkischen und kurdischen Linken beigetragen?

Nein, das lag aber auch an der Art und Weise, wie die kurdische Bewegung mit den Friedensgesprächen umgegangen ist, die es damals zwischen der PKK und dem Regime gab .Die wurden über den türkischen Geheimdienst geführt. Die kurdische Bewegung hatte die Illusion, sie könne mit Erdogan einen Friedensvertrag schließen. Die Zivilgesellschaft und auch das Parlament wurden umgangen. Dadurch befand sich auch die HDP in einen Dilemma. Anfangs beteiligte sie sich nur zögerlich an den Geziprotesten, weil sie Erdogan nicht schwächen wollte, solange die kurdische Bewegung noch mit ihm verhandelte. Erst als sich abzeichnete, dass Erdogan die Gespräche scheitern lassen wird, wurde die HDP zu einem wichtigen Bestandteil der Gezi-Proteste. Da waren sie aber schon in der Endphase.

Was ist von den Gezi-Protesten geblieben?

Viele der Aktivisten von damals haben die Nein-Kampagne gegen das Referendum getragen, mit dem Erdogan den autoritären Staatsumbau vorantreibt. 2013 gab es Stadtteilversammlungen, an denen sich politische Aktivisten, aber auch viele Menschen beteiligt hatten, die nie zuvor politisch aktiv gewesen waren. Viele von ihnen haben sich in den Komitees gegen das Referendum engagiert. Nur deshalb war es möglich, im ganzen Land aktiv zu werden und der staatlichen Propaganda- und Repressionsmaschinerie zu trotzen.

Die Nein-Kampagne hat eine Niederlage erlebt.
Viele Aktivisten sehen aber Erdogan als eigentlichen Verlierer. Er hat Unmengen an Geld für die landesweite Kampagne ausgegeben. In allen Städten waren nur Banner und Losungen zu sehen, die für ein Ja beim Referendum warben. Die Gegner wurden mit allen Mitteln behindert und schikaniert. Ein Großteil der HDP-Abgeordneten, die eine zentrale Rolle bei der Nein-Kampagne spielten, wurde inhaftiert. In den kurdischen Provinzen wurden die Wahlurnen nur in größeren Städten, nicht aber in den Dörfern aufgestellt. Eine Gruppe von Aktivisten, die eine gemeinsame Fahrt aus den Dörfern zu den Wahlurnen organisieren wollte, um den Leuten eine Abstimmung zu ermöglichen, wurde in der Nacht zuvor,verhaftet. Wenn es dem Regime unter diesen Umständen trotzdem nur mit einem offensichtlichen Betrug gelungen ist, eine knappe Mehrheit zu erlangen, ist das kein Erfolg sondern eine Niederlage für Erdogan.


Warum führte das nicht zu einem Wiederaufleben der Massenproteste in der Türkei?

Der Betrug fand nicht an den Wahlurnen sondern bei der höchsten Wahlbehörde statt, als sie ungestempelte Abstimmungsscheine für gültig erklärte. Als dann in der Nacht des Referendums Menschen auf die Straße gingen, als sich der Betrug abzeichnete, gab die größte Oppositionspartei CHP die Losung aus, man werde das Ergebnis des Referendums vor Gericht anfechten. Es war aber klar, dass die Justiz im Sinne Erdogans entscheiden wird, weil die längst auf die Regierungsline gebracht worden ist. So sorgte das Verhalten der CHP für Demobilisierung. Sie wollte keine Straßenproteste, weil sie Unruhe und einen Bürgerkrieg fürchtet. So kam es zu keinen weiteren Protesten. Auch viele Gegner des Referendums nehmen es hin, dass ihre Stimmen gestohlen wurden.

Mittlerweile hat die CHP doch noch zu Protesten aufgerufen.
Der Anlass für die landesweiten Märsche, zu denen die CHP aufruft, war die Verurteilung eines ihrer Parlamentsmitglieder zu einer langjährigen Haftstrafe, weil er die türkischen Waffenlieferungen an islamistische Gruppen im syrischen Bürgerkrieg öffentlich gemacht hat. Viele Aktivisten kritisieren, dass die CHP erst zum Protest aufruft, nachdem ihr Parlamentsmitglied von Repression betroffen ist. Dabei sind Abgeordnete der HDP schon seit Monaten im Gefängnis, ohne dass es von der CHP eine Aktion gab. Trotz dieser Kritik beteiligen sich mittlerweile fast alle Spektren der außerparlamentarischen Linken in der Türkei an dem Marsch. Sie sehen hier eine Möglichkeit, sich besser zu organisieren. Was die Haltung de CHP betrifft, bin ich pessimistisch. Das ist eine typisch sozialdemokratische Staatspartei, die große Angst hat, ihre Privilegien zu verlieren, wenn sie sich zu stark in der außerparlamentarischen Bewegung engagiert. Daher befürchte ich, dass sie auch den Marsch bald beendend und es nicht zum Äußersten kommen lassen wird.

Sie sprechen von Erdogan Niederlage, aber seine Macht ist doch nicht ernsthaft gefährdet?

Ich befürchte, dass er sich vorerst einfach deshalb durchsetzen wird, weil er ganz offen einen Bürgerkrieg in der Türkei in Kauf nimmt. Das käme ihm beim autoritären Staatsumbau vielleicht sogar sehr gelegen. Doch in der Opposition will niemand einen solchen Bürgerkrieg, der mit noch mehr Gewalt und noch mehr Toten verbunden ist, in Kauf nehmen. Die CHP nicht, aber auch die Gruppen der außerparlamentarischen Linken sind organisatorisch nicht in der Situation, dass sie eine solche Auseinandersetzung gewinnen können. Das ist das Dilemma der Opposition in der Türkei.

Fürchten Sie, mit ihren kritischen Filmen selber ins Visier der Repressionsorgane zu geraten?
Es ist durchaus möglich, dass mein Film in den Kontext der Spionage gestellt wird. Damit würde die Grundlage für eine Haftstrafe gelegt. Doch ich werde in der Türkei mit meiner Kamera so lange es mir möglich ist, an der Seite der Aktivisten sein.
aus:
Konkret 8/2017
http://www.konkret-magazin.de/hefte/heftarchiv/id-2017/heft-82017.html
Interview: Peter Nowak

«Verschärfter Terror»

Von den Gezi-Protesten scheint in der Türkei nicht viel übrig zu sein. Die Opposition sieht Erdogans autoritären Staatsumbau machtlos zu. Ein Gespräch mit dem linken türkischen Regisseur Imre Azim.

Der Regisseur Imre Azem ist seit Jahren Teil der ausserparlamentarischen Linken in der Türkei. In seinen neuesten Film «Türkei: Ringen um Demokratie» begleitete er vier türkische Oppositionelle ein Jahr lang bei ihrer politischen Arbeit.

Eine der ProtagonistInnen im Film ist das Vorstandsmitglied der Istanbuler Architektenkammer Mücella Yapici, die etwas despektierlich «Mutter der Gezi-Proteste» genannt wird. Auf dem Höhepunkt der Proteste schrieben viele, eine Rückkehr zur autoritären Türkei sei jetzt nicht mehr möglich. Warum haben sie sich so geirrt?

Imre Azem: Diese Einschätzung haben sie in einer Zeit getroffen, als viele Menschen die Angst vor dem Staat und seiner Polizei verloren hatten. Sie machten sich in Liedern über die Polizei, die Wasserwerfer und das Tränengas lustig. Wenn Erdogan die DemonstrantInnen als RandaliererInnen und ChaotInnen bezeichnete, empfanden sie das nicht als Beschimpfung, sondern als Ehrenbezeichnung. Da gab es eine Situation, wo die alten Methoden der Herrschaft nicht mehr gezogen haben. Doch dann hat das Regime den Terror auf allen Ebenen verschärft. Es wurde nicht mehr nur mit Tränengas geschossen. Es gab Tote und Verletzte. Seit 2015 sind in der gesamten Türkei mehr als 2000 Menschen ermordet worden.

Die überwiegende Mehrheit der Toten gab es in Kurdistan. Haben die Gezi-Proteste nicht zu einer Annäherung zwischen türkischen und kurdischen Linken beigetragen?

Nein, das lag aber auch an der Art und Weise, wie die kurdische Bewegung mit den Friedensgesprächen umgegangen ist, die es damals zwischen der PKK und dem Regime gab. Die wurden über den türkischen Geheimdienst geführt. Die kurdische Bewegung hatte die Illusion, sie könne mit Erdogan einen Friedensvertrag schliessen. Die Zivilgesellschaft und auch das Parlament wurden umgangen. Dadurch befand sich auch die HDP in einen Dilemma. Anfangs beteiligte sie sich nur zögerlich an den Gezi-Protesten, weil sie Erdogan nicht schwächen wollte, solange die kurdische Bewegung noch mit ihm verhandelte. Erst als sich abzeichnete, dass Erdogan die Gespräche scheitern lassen wird, wurde die HDP zu einem wichtigen Bestandteil der Gezi-Proteste. Da waren sie aber schon in der Endphase. Viele AktivistInnen wünschen sich, dass die kurdische Bewegung hier auch ihre eigene Rolle kritisch betrachtet. Die Friedensgespräche müssen Teil eines gesellschaftlichen Prozesses sein. Geheimverhandlungen mit dem Regime darf es nicht mehr geben.

Ist von den Gezi-Protesten in der heutigen Gesellschaft überhaupt etwas übrig geblieben?

Viele der Gezi-AktivistInnen haben die Nein-Kampagne gegen das Referendum getragen, mit dem Erdogan den autoritären Staatsumbau vorantreibt. 2013 gab es Stadtteilversammlungen, an denen sich politische AktivistInnen, aber auch viele Menschen beteiligt hatten, die nie zuvor politisch aktiv gewesen waren. Viele von ihnen haben sich in den Komitees gegen das Referendum engagiert. Nur deshalb ist möglich gewesen, im ganzen Land aktiv zu werden und der staatlichen Propaganda- und Repressionsmaschinerie zu trotzen.

Aber endete nicht auch die Nein-Kampagne wieder in einer Niederlage? Hätte man nicht neue Proteste erwarten können, nachdem Erdogan nur durch offensichtlichen Betrug ganz knapp das Referendum gewonnen hat?

Viele AktivistInnen sehen Erdogan als eigentlichen Verlierer. Er hat Unmengen an Geld für die landesweite Kampagne ausgegeben. In allen Städten waren nur Banner und Losungen zu sehen, die für ein Ja beim Referendum warben. Die GegnerInnen wurden mit allen Mitteln behindert und schikaniert. Ein Grossteil der HDP-Abgeordneten, die eine zentrale Rolle bei der Nein-Kampagne spielten, wurde inhaftiert. In den kurdischen Provinzen wurden die Wahlurnen nur in grösseren Städten, nicht aber in den Dörfern aufgestellt. Eine Gruppe von Aktivist-Innen, die eine gemeinsame Fahrt aus den Dörfern zu den Wahlurnen organisieren wollte, um den Leuten eine Abstimmung zu ermöglichen, wurde in der Nacht zuvor verhaftet. Wenn es dem Regime unter diesen Umständen trotzdem nur mit einem offensichtlichen Betrug gelungen ist, eine knappe Mehrheit zu erlangen, ist das kein Erfolg, sondern eine Niederlage für Erdogan.

Warum wurde dieser Betrug dann nicht zu einem neuen Anlass für ein Wiederaufleben der Massenproteste in der Türkei?

Es gab in der Nein-Kampagne eine Arbeitsteilung. Die ausserparlamentarische Bewegung sorgte dafür, dass landesweit gegen das Referendum mobilisiert wurde. Die grösste Oppositionspartei CHP hatte es übernommen, für den Schutz der Wahlurnen zu sorgen. Sie ist die einzige politische Kraft, die wegen ihrer Grösse und landesweiten Verankerung dazu in der Lage ist. Doch der Betrug fand nicht an den Wahlurnen, sondern bei der höchsten Wahlbehörde statt, als sie ungestempelte Abstimmungsscheine für gültig erklärte. Darauf war die CHP nicht vorbereitet. Als sich der Betrug abzeichnete, gab die CHP die Losung aus, man werde das Ergebnis des Referendums vor Gericht anfechten. Es war aber klar, dass die Justiz im Sinne Erdogans entscheiden wird, weil die längst auf die Regierungslinie gebracht worden ist. So sorgte das Verhalten der CHP für Demobilisierung. Sie wollte keine Strassenproteste, weil sie Unruhe und einen Bürgerkrieg fürchtet. So kam es zu keinen weiteren Protesten. Auch viele GegnerInnen des Referendums nehmen es hin, dass ihre Stimmen gestohlen wurden. Aber die mehrheitliche Ablehnung ist geblieben. Es wird sich zeigen, wann die in Widerstand umschlägt.

Mittlerweile hat die CHP doch noch zu Protesten aufgerufen. Wie ernst ist es der Partei dieses Mal?

Der Anlass für die landesweiten Märsche, zu denen die CHP aufruft, war die Verurteilung eines Parlamentsmitglieds der CHP, weil er die Waffenlieferung von islamistischen Gruppen im syrischen Bürgerkrieg öffentlich gemacht hat. Viele AktivistInnen kritisieren, dass die CHP erst zum Protest aufruft, nachdem ein Parlamentsmitglied von Repression betroffen ist. Dabei sind Abgeordnete der HDP schon seit Monaten im Gefängnis, ohne dass es von der CHP eine Aktion gab. Trotz dieser Kritik beteiligen sich mittlerweile fast alle Spektren der ausserparlamentarischen Linken in der Türkei an dem Marsch. Sie sehen hier eine Möglichkeit, sich besser zu organisieren. Was die Haltung der CHP betrifft, bin ich pessimistisch. Das ist eine typisch sozialdemokratische Staatspartei, die grosse Angst hat, ihre Privilegien zu verlieren, wenn sie sich zu stark in der ausserparlamentarischen Bewegung engagiert. Daher befürchte ich, dass sie auch den Marsch bald beenden und es nicht zum Äussersten kommen lassen wird.

Dann ist Erdogans Macht also trotz seiner Niederlage beim Referendum nicht gefährdet?

Ich befürchte, dass er sich vorerst einfach deshalb durchsetzen wird, weil er ganz offen einen Bürgerkrieg in der Türkei in Kauf nimmt. Das käme ihm beim autoritären Staatsumbau vielleicht sogar sehr gelegen. Doch in der Opposition will niemand einen solchen Bürgerkrieg in Kauf nehmen, der mit noch mehr Gewalt und noch mehr Toten verbunden ist. Auch die Gruppen der ausserparlamentarischen Linken sind organisatorisch nicht in der Lage, dass sie eine solche Auseinandersetzung gewinnen können. Das ist das Dilemma der Opposition in der Türkei.

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«Verschärfter Terror»

Interview: Peter Nowak

Gerhard Schröder, Rosnef und seine Kritiker

Warum soll es verwerflicher sein, für Rosneft statt für VW zu arbeiten?

Gerhard Schröder und die SPD gehören zusammen wie Pech und Schwefel. Es spricht für sich, dass ein Politiker, der es als eine besondere Auszeichnung empfindet, Genosse der Bosse zu sein, der mit der Agenda 2010 den Boom im deutschen Niedriglohnsektor zu verantworten hat, und der angibt, mit „Bild und Glotze“ regiert zu haben, vom aktuellen Kanzlerkandidaten als Mutmacher und Stimmungskanone angefragt wurde. Doch aufregen darüber könnten sich eigentlich nur die unermüdlichen Protagonisten von Rosa-Rot-Grün, die noch immer von einer solchen Konstellation eine Hoffnung eines Politikwechsels erhoffen.

Dabei war nie zu erwarten, dass sich die SPD von Schröder distanziert. Schließlich gehört er zur SPD wie auch Gustav Noske, der sich selber 1918 als Bluthund gegen aufmüpfige Arbeiter von den Freikorps feiern ließ. Bei der SPD ist er trotzdem nie in Ungnade gefallen und gehört weiterhin zum Partei-Inventar. Dass ehemalige SPD-Politiker wie ihre Kollegen aus anderen bürgerlichen Parteien später in die Wirtschaft gehen und dort hochdotierte Posten einnehmen, gehört ebenfalls zum politischen Spiel im Kapitalismus.

Die Nichtregierungsorganisation LobbyControl[1] versucht seit Jahren, dort so etwas wie zivilisatorische Maßstäbe einzuziehen. Es soll eine gewisse Karenzzeit eingeführt werden, bis Politiker ihr Insiderwissen der Wirtschaft zur Verfügung stellen können. Doch solange wollen die meisten betroffenen Politiker nicht warten. Sie wissen natürlich, dass sie am meisten verdienen, wenn sie möglichst schnell von der Politik in die Wirtschaft wechseln.

Immer wenn sich die Drehtür zwischen Politik und Wirtschaft zu schnell dreht, gibt es mehr oder weniger heftige Debatten, die immer auch parteipolitisch geprägt sind. Doch sie werden schnell auch wieder beendet. Denn alle Parteien in Regierungsverantwortung sind grundsätzlich zum Wechsel in die Wirtschaft bereit und daher werden sie dann auch nur einige Details, nie aber das Prozedere als solches kritisieren.

Ideeller Gesamtkapitalist versus Interessen einzelner Kapitalfraktionen

Das ist auch nur konsequent. Schließlich ist es ja die vornehmste Aufgabe des Staates im bürgerlichen Verbund als ideeller Gesamtkapitalist dafür zu sorgen, dass das eigene Land die besten Verwertungsbedingungen für die Wirtschaft schafft. Dabei kann es schon mal zu Zerwürfnissen mit den Interessen von Einzelkapitalien kommen. Daher gibt es auch die Dauerstreitthemen über Korruption, korrektes und unkorrektes Lobbying, mit denen uns Medien und Politiker immer wieder unterhalten.

Dass es dabei nur darum geht, wie der Kapitalismus effektiver gemanagt werden kann, geht dann manchmal in der Debatte unter. So sind Organisationen wie LobbyControl für einen reibungslosen Kapitalismus genau so notwendig wie Greenpeace[2] oder der Chaos Computer Club[3].

Nun kommt bei Schröder aber hinzu, dass er nicht etwa bei Volkswagen oder einem anderen urdeutschen Konzern seine Millionen verdient, sondern bei dem russischen Ölkonzern Rosneft[4]. Deshalb ist dann die Debatte um sein Engagement dort nicht nur so redundant und langweilig wie die meisten Debatten über Korruption und Lobbying. Sie ist vielmehr noch nationalistisch aufgeladen.

Denn Schröder hat es doch tatsächlich gewagt, beim Feind anzudocken. So moniert Rudolf Hickel, der seit einiger Zeit vom keynsianischen Ökonomen zum Allzeitgesprächspartner im Deutschlandfunk mutiert ist. Es gibt kaum ein Thema, zu dem Hickel nicht seinen schwarzrotgoldenen Senf im Staatsrundfunk verbreitet und das immer mit einem Überschuss an Moral.

So nannte er Schröders Rosnef-Engagement eine „unglaubliche Provokation“[5]. Denn für Hickel ist klar, wer bei einem russischen Konzern anheuert, kollidiert mit den Interessen Deutschlands und der von ihr dominierten EU:

Hier, ist doch klar, hier ist ein strategisch wichtiges Unternehmen. Und ich zitiere mal Rosneft: Das Unternehmensmotto sagt, glaube ich, alles: Russland zum Vorteil! Das erinnert mich so ein bisschen an die Trump-Parole „America first“. Das heißt, Russland zum Vorteil, da ist er verpflichtet, auch nach dem Aktienrecht – das ist ja eine Aktiengesellschaft -, dem Wohle des Unternehmens zu dienen. Und das kann in schwersten Widerspruch und in Auseinandersetzung führen beispielsweise mit deutschen, aber auch mit EU-Interessen. Insoweit ist es schon eine sehr starke Provokation, die er sich da erlaubt.

Rudolf Hickel
Auch der grüne Spitzenpolitiker Cem Özdemir zeiht Schröder des nationalen Verrats: „Nicht die Privatwirtschaft ist das Problem der SPD, sondern die Verbindung zur russischen Staatswirtschaft“, stellt der grüne Realo klar. Dass er keine Probleme damit hat, dass viele Spitzenpolitiker seiner Partei, an vorderster Stelle Josef Fischer[6], nach ihren Abschieden aus der Politik bei Konzernen anheuerten, die von der eigenen Partei als unökologisch und umweltschädlich klassifiziert wurden, steht auf einem anderen Blatt.

Die Kritiker Schröder kritisieren genau das, was positiv an Schröders Engagement ist

Dabei kritisieren Hickel, Özdemir und Co. an dem Schröder-Engagement bei Rosneft genau das, was eigentlich als das einzig Positive gewertet werden könnte. Lange Zeit hielt sich die Vorstellung, dass die transnationale vernetzte Wirtschaft mit dem nationalbornierten Politiken in Widerspruch gerät. Schon in der Weimarer Zeit hielten politische Beobachter aus dem Bürgertum wegen der damals schon erfolgten Vernetzung der Wirtschaft einen Krieg in Europa für nicht mehr möglich.

Wir wissen heute, wie illusionär diese Vorstellungen waren. Nun, wo die Globalisierung wesentlich weiter vorangeschritten ist, wird das Argument von einer kapitalistischen Vergesellschaftung, die angeblich im Widerspruch zum Nationalismus steht, erneut vertreten. Nun müsste jemand wie Gerhard Schröder eigentlich der Prototyp eines ökonomischen Internationalisten gelten, der es sich nicht verbieten lässt, für einen Konzern zu arbeiten, der zu dem zum Feind erklärten Russland gehört.

Neue Hallstein-Doktrin an der Krim?

Dass dabei die Mantra von der „völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland“ verwendet wird, zeigt, dass den Kritikern nicht viel Neues einfällt. Denn es ist klar, dass die Krim in absehbarer Zeit zu Russland gehören wird und dass es auch die Mehrheit der dort lebenden Bevölkerung genau so will. Daher müsste eine Realpolitik, die diesen Namen verdient, genau das anerkennen und vielleicht eine erneute international anerkannte Abstimmung in die Diskussion bringen.

Darauf könnte sich die russische Seite mühelos einlassen, weil sie auch dann hohe Zustimmung erreichen würde. Wenn stattdessen weiterhin von Politikern der USA und der Deutsch-EU so getan wird, als könnte die Krim wieder zur Ukraine zurückkehren, dient es nur einen Zweck: Die Polarisierung des sogenannten Westens gegen Russland soll beibehalten und verstärkt werden.

Damit aber soll eine Militarisierung in diesen Ländern vorangetrieben werden, die durchaus nicht nur von den USA ausgeht. Diese Polarisierung soll den eigenen Standort sichern und jeglichen Widerspruch im Innern verhindern. Wer da nicht im nationalen Kollektiv mitzieht, muss notfalls auch mit Repressionen rechnen. Das bekommen auch Menschen mit, die ganz ohne politische Hintergründe in diesen Tagen die Ukraine besuchen wollen.

Das musste der gefallene Sozialdemokrat und Ex-Pirat Jörg Tauss[7] kürzlich erfahren[8] erfahren, als er nach einer Krimreise mit einer Hausdurchsuchung und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen[9] konfrontiert wurde. Selbst eine völlig unpolitische Band wie Scooter wird wegen ihres Krimauftritts angeprangert[10].

Das erinnert an die Hallstein-Doktrin der 1950 und 1960er Jahre, als in der BRD die Devise galt, wer die DDR anerkennt, sie besucht oder auch nur diese drei Buchstaben schreibt und spricht, sei schon ein Zonenagent. Tausende wurden damals kriminalisiert, weil sie in die DDR reisten oder Kinderfreizeiten in den Osten organisierten[11].

Schröder ist für fast alles, was er in seiner politischen Karriere zu verantworten hat, heftig zu kritisieren. Dass er allerdings in seiner Auszeit nicht beim von den Nazis gegründeten VW-Konzern dafür sorgt, dass dort die Abgaswerte weiterhin die Gesundheit vieler Menschen gefährden, sondern bei einen staatskapitalistischen russischen Konzern, der in seinen Machenschaften natürlich um nichts besser ist, angeheuert hat, gehört nicht zur Kritik.

https://www.heise.de/tp/features/Gerhard-Schroeder-Rosnef-und-seine-Kritiker-3807589.html

Peter Nowak
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http://www.heise.de/-3807589

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.lobbycontrol.de
[2] http://www.greenpeace.de/
[3] https://www.ccc.de/
[4] https://www.rosneft.com/
[5] http://www.deutschlandfunk.de/schroeders-umstrittener-rosneft-job-eine-unglaubliche.694.de.html?dram%3Aarticle_id=393713
[6] https://lobbypedia.de/wiki/Joschka_Fischer
[7] https://www.heise.de/tp/features/Ich-bin-nicht-paedophil-3364337.html
[8] http://www.tauss-gezwitscher.de
[9] http://www.russlandbruecke.de/
[10] http://www.focus.de/politik/videos/ermittlungen-gegen-technoband-scooter-drohen-nach-krim-auftritt-bis-zu-acht-jahre-haft_id_7438990.html
[11] http://www.nrw.vvn-bda.de/bilder/geschichte_vvn_nrw_50_jahre.pdf

Schweizer Querfront

Die kleine Kommunistische Partei der italienischen Schweiz hat sich als Bündnispartner die tranationalistische türkische Vatan Partisi auserkoren und betreibt auch sonst eine krude antiimperialistische Querfrontpolitik.

»Wir sind nicht sektiererisch«, betonte Massimiliano Ay Anfang Juli in einem Interview mit der linken Schweizer Zeitung Vorwärts. Der Generalsekretär der italienischsprachigen Kommunisten in der Schweiz und Tessiner Kantonsrat verteidigte damit die Bündnispolitik seiner orthodoxen Kleinstpartei, die bei vielen Schweizer Linken auf Kritik stößt. Denn die Kommunistische Partei der italienischen Schweiz hat die ultranationalistische türkische Vatan Partisi (Vaterlandspartei) im vergangenen Jahr zur befreundeten Schwester­organisation erklärt. Auf dem zehnten Parteitag der Vatan Partisi in Ankara im März dieses Jahres nahm Ay als einziger Gast aus Europa teil. In seiner Ansprache drückte er »seine tiefe Bewunderung für die Fähigkeit der Vatan Partisi aus, die Radikalität in den Ideen mit der konkreten Analyse der gege­benen Realität in der Türkei zu verbinden«.

Die Vatan Partisi hat ihre Wurzeln in der maoistischen Szene der sechziger und siebziger Jahre. Über mehrere Etappen und Namensänderungen wandelte sie sich zu einer ultranationalistischen Organisation. Bestimmend ist mittlerweile der türkische Patriotismus. Führende türkische Armeeangehörige gehören zu den aktiven Parteimitgliedern, darunter der ehemalige Oberst der Gendarmerie, Hasan Atilla Uğur, der stolz bekundet, an Massakern in den kurdischen Gebieten beteiligt ­gewesen zu sein. Auch der ehemalige türkische Verteidigungsminister Barlas Doğu ist Mitglied der Vatan Partisi. Der Parteivorsitzende Doğu Perinçek wurde 2007 wegen Leugnung des Völkermords an den Armeniern in der Schweiz zu einer Geldstrafe verurteilt, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte 2013 jedoch, ­Perinçeks Aussagen über den Genozid fielen unter das Recht auf Meinungsfreiheit und bestätigte dieses Urteil erneut 2015.

Im Gespräch mit der Zeitung Vorwärts verteidigte Ay die Kooperation mit den Ultranationalisten und bekannte sich zu einer starken, ungeteilten Türkei. »Die USA instrumentali­sieren einige ethnische Gruppen, um die Nationalstaaten zu destabilisieren und ihre Hegemonie aufzuzwingen«, meint Ay eine auch bei europäischen Rechtsextremen beliebte antiamerikanische Verschwörungstheorie.

Zu den Partnern der von Ay propagierten nichtsektiererischen Bündnispolitik gehören außerdem die libane­sische Hizbollah und die Syrische Kommunistische Partei, die dem Diktator Bashar al-Assad die Treue hält. Auch die Vatan Partisi steht zu Assad. Während der türkischen Parlamentswahlen 2015 statteten Vertreter der Partei dem Diktator einen »offiziellen Besuch der Solidarität und Freundschaft« ab. Die Jugendorganisation der Vatan Partisi, TGB, erklärte kürzlich: »Seit sechs Jahren kämpft die syrische Bevölkerung unter Führung von Bashar al-Assad gegen die imperialistischen Machenschaften der USA und des Westens.«

Wie ihre Bündnispartner haben auch die Tessiner Kommunisten mit Klassenkampf und Marxismus längst nichts mehr zu tun. Stattdessen propagieren sie nationalistische Ziele: »Unsere Partei glaubt an die friedliche Kooperation zwischen souveränen Nationen und dass sich die Schweiz den aufkommenden Staaten Asiens öffnen muss, um ihre Wirtschaft zu diversifizieren und so unabhängiger vom atlantischen Markt zu werden«, erklärte Ay im Vorwärts.

Die Bündnispolitik der Partei wird von vielen Schweizer Linken heftig ­angegriffen, etwa von der Bewegung für den Sozialismus (BfS). Die in trotzkistischer Tradition stehende Gruppe kritisiert die Querfrontpolitik und den verkürzten Antiimperialismus. »So ­unversöhnlich, wie es auf den ersten Blick aussieht, stehen sich rechteund wie linke Auffassungen in Fragen des Selbstverständnisses als aktivistische Avantgarde, des zu ›einenden Volks‹ und der Verteidigung der eigenen nationalen Souveränität allerdings gar nicht gegenüber«, so ein BfS-Mitglied zur Jungle World. Die Querfrontorien­tierung der Tessiner Kommunisten könnte in der Schweizer Linken Anlass zur Diskussion über Nationalismus und verkürzten Antiimperialismus geben.

https://jungle.world/artikel/2017/32/schweizer-querfront

Peter Nowak

Wie viel Verantwortung trägt die Trump-Administration an der rechten Gewalt in den USA?

Die Proteste von Neonazis in Charlottesville in dem Bundesstaat Virginia sorgen in der US-Politik für große Aufregung

Die US-Bundespolizei FBI hat die Ermittlungen zu der tödlichen Auto-Attacke in der Stadt Charlottesville übernommen (siehe Trumps rechter Anhang rastet aus[1]). Der Fall werde als möglicher Verstoß gegen die Bürgerrechtsgesetze behandelt, teilte das FBI am Samstagabend mit. Als Verdächtigen hat die Polizei den 20-jährigen James Alex Fields Junior in Gewahrsam genommen. Er soll sein Auto vorsätzlich in eine Gruppe von Menschen gesteuert haben, die gegen eine Kundgebung von rechtsextremen und teils rassistischen Gruppen in Charlottesville protestiert haben. Dabei wurde eine 32 Jahre alte Frau getötet.

Mittlerweile wächst die Kritik an US-Präsident Trump, der in einem Tweet die Gewalt von „verschiedenen Seiten“ verurteilt hat. Bemerkenswert ist dabei, dass sich Politiker der Demokraten und der Republikaner gegenüber Trump so kritisch äußern[2], wie es in Deutschland nur Antifa-Gruppen tun. So betont der ultrarechte Politiker Marco Rubio, dass es sich um einen „Terrorakt“ handele[3], einen Begriff, den er sonst immer im Zusammenhang mit islamistischer Gewalt verwendet.

Der dienstälteste republikanische Senator Orrin Hatch sagte:[4] „Wir müssen das Übel beim Namen nennen. Mein Bruder hat nicht sein Leben im Kampf gegen Hitler gegeben, damit Nazi-Gedankengut hier zu Hause ohne Widerstand akzeptiert wird.“

Doch nicht alle Konservativen haben bisher auf einer solchen Firewall zur offen neonazistischen Szene bestanden.


NRA ruft zum Bürgerkrieg auf

So sorgen Videos[5] der mächtigen Waffenlobbyorganisation NRA[6] in liberalen Medien[7] für starke Kritik. Sie werfen der NRA vor, damit auf ihren Bürgerkrieg gegen Trump-Gegner vorzubereiten. In den kurzen Videos ist die bekannte Radiomoderatorin Dana Loesch in ihrer Funktion als NRA-Sprecherin zu sehen. Sie spielt eine Fernsehansagerin, die die rechte Sicht auf die aktuellen Zustände in den USA wiedergibt. Ihre Stimme klingt dringlich und soll den Ernst der Situation verdeutlichen: Über die Trump-Gegner behauptet Loesch:

Sie nutzen ihre Medien, um die wahren Nachrichten abzutöten. Sie nutzen ihre Schulen dazu, den Kindern beizubringen, dass ihr Präsident ein neuer Hitler ist. Sie setzen ihre Filmschauspieler, ihre Sänger, ihre Comedy-Shows und Preisverleihungen dazu ein, um dieselbe Leier permanent zu wiederholen.

Dana Loesch
Dann werden Fotos und Filmaufnahmen von militanten Protesten eingeblendet, die wiederum von Loesch kommentiert werden: „Und dann lassen sie ihren Ex-Präsidenten den Widerstand gutheißen.“ „Diese Demonstranten“, so Loesch weiter, „schlagen Schaufensterscheiben ein, setzen Autos in Brand, blockieren Autobahnen und Flughäfen, mobben und terrorisieren gesetzestreue Bürger“.

Wenn dann die Polizei ihren Job macht und diesen Irrsinn stoppt, „benutzen sie das als Rechtfertigung für ihre Gewalttätigkeit“. Deshalb schlussfolgert Loesch, „sei der einzige Weg, dies zu stoppen und unser Land und unsere Freiheit zu retten, gegen diese Gewalt der Lügen mit der geballten Faust der Wahrheit zu kämpfen“. Die Videos enden mit der Aufforderung: „Schließen Sie sich uns an – klicken Sie auf den Link, um uns beizutreten“ und der Parole: „Ich bin die National Rifle Association von Amerika, und ich bin der sicherste Hort der Freiheit“.

Diese Videos werden nach wie vor von der NRA gegen liberale Kritik verteidigt. Bei der NRA handelt es sich um eine Massenorganisation, zu der alle konservativen Politiker in einem guten Verhältnis stehen wollen. Dazu gehören auch Rubio und Hatch, die sich jetzt stark vom ultrarechten Rand abgrenzen.

„Der rechtsextreme Wahn ist zu einer Massenbewegung geworden – und sein höchster Repräsentant sitzt im Weißen Haus“

Warum Trump Schwierigkeiten hat, sich zumindest verbal eindeutig von diesen Kreisen wird deutlich, ist klar. Ohne sie wäre er heute nicht Präsident. Er hat es schließlich immer wieder verstanden, rechtskonservative und offen extrem rechte Inhalte zusammenzubringen und zu vernetzen.

„Faschistische Gruppen und rechtsesoterische Sekten, die in einer solchen selbstgebastelten Parallelwelt leben, gibt es schon lange. Nun aber ist der rechtsextreme Wahn zu einer Massenbewegung geworden – und sein höchster Repräsentant sitzt im Weißen Haus“, schrieb[8] der Außenpolitik-Redakteur der Jungle World schon einige Wochen vor dem rechten Aufmarsch in Virginia.

Damit ist Trump in der Rolle, die in Deutschland die AfD spielt, deren Erfolg wesentlich auch darauf beruht, rechte Konservative, Neoliberale und offene Rechtsextreme, die sich bisher aus dem Weg gegangen sind, zu vereinen. Dass es dabei um ein widersprüchliches Verhältnis geht, zeigt der beständige Streit in der AfD.

Immer geht es um die Frage, welche Teile des ultrarechten Randes für die Partei noch oder nicht mehr akzeptabel sind. Genau diese Debatte wird nun auch in den USA nach Charlottesville an Intensität zunehmen. Da sich in den USA die Rechte aber nicht in einer Partei, sondern vor allem über soziale Netzwerke organisiert, bei denen es schwieriger ist, zu kontrollieren, wer dazu gehören soll und wer nicht, dürfte der Streit darum auch in Zukunft weitergehen.

Trump wird die Frage möglichst offenlassen. Schließlich baut auf dieses Bündnis, das von der NRA bis weit in die extreme Rechte reicht, sein Wahlerfolg auf.

Querfront-Buchladen in Neukölln hatte keinen Erfolg

Auch in Deutschland gibt es für die rechte Grasroots-Bewegung Interesse. In Berlin-Neukölln versuchte der Buchladen Topics[9] die rechte Szene auch aus den USA zu Diskussionen einzuladen. In der linksliberalen Umgebung stieß er dabei nicht auf Zustimmung und schließlich musste er wegen der Abwanderung der Kunden schließen[10].

Doch konservative[11] und liberale[12] Medien verbreiteten darauf die Fake News, von angeblich intoleranten Antifaschisten, die einen nonkonformistischen Laden in den Ruin getrieben hätten.

Der behauptete Boykott von Antifagruppen aber hat nie existiert. Es sind einfach die Kunden weggeblieben, die keinen Buchladen mit rechten Ambitionen unterstützen wollten. Da hätten doch alle zufrieden sein müssen, dass zumindest in Neukölln eine Querfrontbuchhandlung noch nicht überleben kann. Daran merkt man, dass man auch hierzulande keine funktionierende Firewall gegen Rechtsaußen gibt, mögen sich jetzt auch alle über Trump und seine Bündnispartnern aufregen.

https://www.heise.de/tp/features/Wie-viel-Verantwortung-traegt-die-Trump-Administration-an-der-rechten-Gewalt-in-den-USA-3798921.html

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Trumps-rechter-Anhang-rastet-aus-3798882.html
[2] https://www.nzz.ch/international/gewalt-bei-rassistenaufmarsch-in-charlotteville-ich-lege-die-verantwortung-fuer-vieles-was-sie-heute-in-amerika-sehen-direkt-vor-die-haustuer-des-weissen-hauses-ld.1310514
[3] http://www.spiegel.de/politik/ausland/charlottesville-ivanka-trump-verurteilt-rassisten-a-1162689.html
[4] https://twitter.com/senorrinhatch/status/896486793083842560?ref_src=twsrc%5Etfw&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.nzz.ch%2Finternational%2Fgewalt-bei-rassistenaufmarsch-in-charlotteville-ich-lege-die-verantwortung-fuer-vieles-was-sie-heute-in-amerika-sehen-direkt-vor-die-haustuer-des-weissen-hauses-ld.1310514
[5] https://www.facebook.com/NRA/videos/1605896562755373/?hc_ref=NEWSFEED
[6] https://home.nra.org
[7] http://www.huffingtonpost.com/entry/this-nra-recruitment-video-is-so-divisive-even-gun-owners-are-angry_us_5954e6c2e4b0da2c73217669
[8] https://jungle.world/artikel/2017/31/meine-welt-mein-praesident-meine-fakten
[9] http://www.topics-berlin.com
[10] https://jungle.world/artikel/2017/31/mit-nazis-reden
[11] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/vortrag-ueber-juliuas-evola-wenn-die-brave-hipness-gekapert-wird-15122062.html
[12] http://www.tagesspiegel.de/berlin/berlin-neukoelln-buchladen-schliesst-nach-attacken-von-links/20096078.html

Darf man noch mit der bolivarianischen Revolution solidarisch sein?

Der Druck auf die Linkspartei zeigt, wie eng die Grenzen derer sind, die immer eine offene Gesellschaft propagieren – Ein Kommentar

Die linksliberale Taz hat sich in den letzten Monaten besonders als Verteidigerin der Offenen Gesellschaft profiliert. Sie steht in Frontstellung einerseits zu den verschiedenen rechtspopulistischen Anwandlungen von Trump bis Erdogan. Aber genauso gegen alle Versuche, eine linke Alternative gegen die Rechten auch gegen den kapitalistischen Normalzustand zu finden.

Für einen solchen Ausweg stand seit 1998 Venezuela nach der Regierungsübernahme durch den Linksnationalisten Chavez. Nach einem Putschversuch und einem Unternehmerstreik radikalisierte sich ein Teil der bolivianischen Basis, aber auch deren Leitfigur Chavez. Er sprach sogar vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts, doch der Erfinder dieses Begriffes Heinz Dietrich will heute nicht mehr gerne an diese kurze Freundschaft mit der bolivarianschen Revolution erinnert[1] werden. Denn Venezuela hat heute nicht viele Freunde.

Die Linke will Helden ohne Fehl und Tadel

Die Zeit, als das Land als Wunschbild vieler Linker galt, sind lange vorbei. In den Zeiten, in denen das Land unter dem niedrigen Ölpreis leidet, die bolivarianische Bourgeoisie ihr hässliches Gesicht zeigt, das nicht zu dem Utopia linker Blütenträume passt, kurz: seit auch in Venezuela der linken Euphorie die Mühen der Ebene folgten, will man sich nicht mehr gerne als Freund der bolivarianischen Revolution outen.

Che Guevara wird ja auch nur deshalb so verehrt, weil er so jung starb wie angeblich einst Jesus und an Salvador Allende wird vor allem wegen seines Widerstands gegen die Putschisten erinnert. Über die linke Praxis schweigt man dann bei beiden eher, seien es die von Che Guevara verantworteten Hinrichtungen nach der kubanischen Revolution oder Allendes Schwanken zwischen einer reformistischen und einer revolutionären Politik. Die Linke will ihre Helden ohne Fehler und Widersprüche und ist da sehr christlich. Deswegen hat der Che -Guevara-Kult auch etwas sehr Religiöses. Da ist die Haltung der Linkspartei zu loben, die dem bolivarianischen Venezuela auch in schwierigen Zeiten die Solidarität nicht aufkündigt.

In ihrer auf dem letzten Parteitag verabschiedeten Resolution[2] wird an einige Aspekte erinnert, die heute in der Venezuela-Berichterstattung der meisten Medien kaum eine Rolle spielen. So heißt es dort:

Die gegenwärtige ökonomische und soziale Situation in Venezuela ist angespannt. Die Ursachen dafür liegen aber nicht vorrangig in Fehlern der Regierung Maduro, wie es viele Medien schreiben. Tatsache ist: Die venezolanischen Bourgeoise hat das chavistische Projekt nie akzeptiert, sie hat nie verwunden, dass Hugo Chávez ihr den Zugriff auf die Ölrente weggenommen hat, um mit ehrgeizigen Sozialprogrammen die Armut im Land zu bekämpfen. Ebenso hat sie es bis heute nicht geschafft, die Präsidenten Chávez und Maduro auf demokratischem Wege abzulösen. Der Putsch der Oligarchie von 2002 brach unter dem massiven Widerstand der ärmsten Teile der Bevölkerung und loyaler Militärs zusammen.

Die Linke

Kritische Fragen an die Freunde der bolivarianischen Revolution sind angebracht

Nun kann man sicher darüber streiten, ob in der Erklärung nicht die Verantwortung der venezolanischen Regierungen für die gegenwärtige Krise einen zu geringen Stellenwert einnimmt.

Warum ist Venezuela mehr als 15 Jahre nach Beginn der bolivarianischen Revolution noch immer so stark vom Erdöl abhängig? Warum gibt es keinen Kampf gegen die bolivarianische Bourgeoisie? Warum werden Kapitalisten noch immer in Venezuela hofiert? Warum wurden die ersten Ansätze von Rätestrukturen[3], wie sie der Publizist Dario Azzelini[4] sehr gut herausgearbeitet hat, nicht weiterentwickelt? Warum ist das Parlament, das sich zu einem Machtzentrum der Feinde der bolivarianischen Revolution geworden ist, nicht schon längst in die Schranken gewiesen worden? Und schließlich: Warum behandelt auch die gegenwärtige venezolanische Regierung, linke Kritiker der gegenwärtigen Entwicklung, die den bolivarianischen Prozess weiterentwickeln wollen genauso als Gegner wie die Rechten, die zurück zu den Zeiten vor Chavez wollen? Solche kritischen Frage wären an die zu stellen, die sich heute auf die Seite von Venezuelas Regierung stellen.

Dabei könnte an Gedanken des in der letzten Zeit leider verstummten exzellenten Kenners der bolivarianischen Revolution Azzelini angeknüpft werden, der bereits vor einigen Jahren die Probleme des Umgestaltungsprozesses benannt[5] hat:

In Venezuela wurde ein „Aufbau von zwei Seiten“ begonnen, der sowohl Strategien und Herangehensweisen „von unten“ wie „von oben“ umfasst. Also sowohl solche, die eher in der konstituierenden Macht, den Bewegungen, der organisierten Bevölkerung die zentrale Kraft der Veränderung sehen, als auch solche, die diese in der konstituierten Macht, im Staat und den Institutionen sehen.

Dario Azzelini
Daran anknüpfend wäre die Frage zu stellen, ob aktuell in Venezuela die Kräfte von unten noch korrigierend eingreifen und auch gegen die neue Bourgeoisie einen Kampf führen können.

In dieser Demokratie nicht angekommen?

Doch wenn der Inland-Redakteur der linksliberalen Taz Martin Reeh, der noch in den frühen 1990er Jahren selber noch auf der Suche nach Wegen jenseits der bürgerlichen Demokratie war, der Linkspartei wegen ihrer Venezuela-Resolution vorwirft, nicht im Club der Demokraten zu sein, sollte die Gescholtene das als Auszeichnung verstehen.

Reeh schreibt in dem Kommentar[6]: „Teile der Linkspartei sind immer noch nicht vollständig in der Demokratie angekommen. Und deshalb verteidigen sie Maduro, ihren Bruder im Geiste.“

Das ist die Sprache von einem, der seine eigenen Träume von der Gesellschaft jenseits der bürgerlichen Demokratie begraben hat und für den es nun keine Alternative mehr geben darf. Deshalb wird jeder gemaßregelt, der sich nicht mit in den Käfig der bürgerlichen Demokratie einsperren lassen will.

Reeh wird wissen, dass sich vor 100 Jahren hinter dem Banner der bürgerlichen Demokratie jene versammelt hatten, die die Revolution der Arbeiter und Soldaten im Blut ertränkt haben. Es waren die Eberts und Noskes, die Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und tausende Arbeiter ermorden ließen, weil sie noch nicht in der bürgerlichen Demokratie angekommen waren.

Es waren vor 100 Jahren die Bolschewiki, die die Sowjetmacht als Alternative zur bürgerlichen Demokratie errichteten. Damals gab es die Alternative Räte oder bürgerliches Parlament und hinter letzterem verbarg sich die Reaktion. Heute zeigt sich in Venezuela, dass die Frage nach einer Alternative zur bürgerlichen Revolution noch immer aktuell ist. Die in der letzten Woche gewählte verfassungsgebende Versammlung ist gegenüber dem venezolanischen Parlament die fortschrittlichere Variante, weil die bisher benachteiligten und diskriminierten Teile der Gesellschaft dort besonders berücksichtigt werden, darunter Arbeiter und Indigenas. Dagegen gehen die Privilegierten des Landes auf die Straße, weil sie um ihre Privilegien fürchten und alle, die sich über die Riots von Hamburg vor einigen Wochen aufgeregt haben, loben in Venezuela die Gewalt der Rechten auf der Straße, die für den größten Teil der Toten der letzten Wochen verantwortlich sind.

Für die Taz, die sich doch sonst immer so die Verteidigung von Minderheiten auf die Fahne schreibt, ist das keine Zeile wert. Doch es wäre eben nicht undemokratisch, sondern im Gegenteil ein gesellschaftlicher Fortschritt, wenn die Verfassungsgebende Versammlung in Venezuela das Parlament ersetzt. Die Frage, wie viele Menschen die jeweiligen Institutionen gewählt haben, ist insofern nebensächlich, weil gesellschaftlicher Fortschritt immer eine Sache von bewussten Minderheiten war, die eine klare Perspektive hatten. Das war 1789 bei der französischen Revolution ebenso wie 1917 in Russland. Die Frage, ob eine Institution den gesellschaftlichen Fortschritt repräsentiert, erweist sich eben nicht an der Zahl der abgegebenen Stimmen, sondern an den Inhalten, die dort vertreten werden.

Die blutigen Mumien der Vergangenheit stehen hinter dem venzolanischen Parlament

Aktuell gehört zu den vehementen Gegnern der bolivariansichen Revolution unter dem Banner der Verteidigung des Parlaments auch die Regierung von Brasilien, die im letzten Jahr mittels eines Parlamentsputsches und einer reaktionären Massenbewegung eine gewählte, gemäßigte sozialdemokratische Regierung aus dem Amt geputscht hat und nun versucht, mit Lula eine weitere bekannte Persönlichkeiten dieser sozialdemokratischen Ära zu kriminalisieren, um so seine Kandidatur für die nächsten Präsidentenwahlen zu verhindern. Denn, die alten Mächte in Brasilien fürchten, etwas von ihrer Macht und ihren Privilegien abgeben zu müssen, wenn Lula die nächsten Wahlen gewinnt, wie es alle Umfragen vorhersagen.

Auch die argentinische Regierung, die die soziale Bewegung im eigenen Land kriminalisiert, gehört zu des Verteidigern der venezolanischen Parlaments gegen die neue verfassungsgebende Versammlung. In Venezuela selber melden sich blutbesudelte Gestalten aus der Ära vor Chavez wieder zu Wort und wittern Morgenluft. Darunter sind Politiker, die für das Caracaszo[7] genannte Blutbad verantwortlich, bei dem während eines Aufstands der Armen in Caracas tausende Menschen im Jahr 1989 ermordet[8] wurden. Im Widerstand gegen dieses Massaker liegen auch die Wurzeln vieler linker Organisationen, die später die bolivarianische Revolution getragen haben.

Nun melden sich die Mumien aus der Vergangenheit wieder zurück, die für das Massaker verantwortlich waren und wollen wieder ihren in den letzten Jahren verlorenen Einfluss zurückgewinnen. Die LINKE sollte es daher als Auszeichnung verstehen, wenn ihr bescheinigt wird, dass sie in dieser Demokratie noch nicht angekommen ist und hoffentlich nie ankommt.

https://www.heise.de/tp/features/Darf-man-noch-mit-der-bolivarianischen-Revolution-solidarisch-sein-3793652.html

Peter Nowak
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http://www.heise.de/-3793652

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.marxist.com/heinz-dieterich-constitutional-referendum221107.htm
[2] https://www.die-linke.de/partei/parteistruktur/parteitag/hannoverscher-parteitag-2017/beschluesse-und-resolutionen/news/solidaritaet-mit-venezuela/
[3] http://www.azzellini.net/buchbeitraege/kommunale-raete-venezuela
[4] http://www.azzellini.net
[5] http://www.azzellini.net/akademische-veroeffentlichungen/venezuela-die-konstituierende-macht-bewegung
[6] http://www.taz.de/Kommentar-Linkspartei-und-Venezuela/!5432305/
[7] http://www.venelogia.com/archivos/9563/
[8] http://www.ipsnews.net/2009/02/venezuela-wound-still-gaping-20-years-after-lsquocaracazorsquo

»Vermittelbare Aktionsformen«


Die Umweltschützerin Hanna Poddig hat in einem offenen Brief die Verdener Kampagnenorganisation Campact für deren Einschätzung zum G20-Gipfel in Hamburg heftig kritisiert. Die Jungle World hat mit Felix Kolb, einem der beiden Vorsitzenden von Campact e. V., über gewaltfreie Aktionen und Militanz gesprochen.


Im Campact-Newsletter nach dem G20-Gipfel wurde die Frage gestellt, ob es angesichts der heftigen Gewalt noch richtig sei, Politik und Polizei dafür zu rügen, dass sie bereits vor den Demonstrationen das Versammlungsrecht stark einschränkten. Ist Campact für Einschränkungen des Demonstrationsrechts?

Natürlich sind wir gegen die Einschränkungen des Demonstrationsrechts. Das Versammlungsrecht ist einer der Grundpfeiler einer ­lebendigen und streitbaren Demokratie. In Hamburg wurde es massiv verletzt – etwa mit einer 38 Quadratkilometer großen Demo­verbotszone, der Untersagung der Camps und unverhältnismäßigen Polizeieinsätzen. Die Politik der G20-Staaten bietet jede Menge Gründe für Kritik – und diese Kritik darf in einem Rechtsstaat nicht ausgesperrt werden. Aber der Protest muss friedlich bleiben. Wie sehr militante Aktionsformen unserem Anliegen schaden, das haben die Tage in Hamburg noch einmal gezeigt.

Warum hat sich Campact überhaupt von Aktionen distanziert, mit denen der Verein nichts zu tun hatte?
Wir haben bewusst eine Demonstration in einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis vor dem Gipfel organisiert, um Öffentlichkeit und Medien mit unserer Kritik an der Politik der G20 zu erreichen. Wir befürchteten, dass dies während der Gipfeltage nicht gelingen würde. Nach Hamburg ist es jetzt wichtig, eine Debatte über legitime und vermittelbare Aktionsformen zu führen und ­inhaltlich Position zu beziehen. Denn der politische Schaden, den die Militanz anrichtete, betrifft auch unsere Arbeit negativ.

Von Campact hieß es, in einer parlamentarischen Demokratie gebe es keine sinnvolle Militanz. Was ist mit der Gewalt des Staates?
Das Gewaltmonopol des Staates ist und bleibt ein riesiger zivilisatorischer Fortschritt. Aber natürlich braucht dieses Gewaltmonopol Kontrolle, denn es wird gelegentlich missbraucht. Das ist während der G20-Tage wiederholt vorgekommen, wie viele Berichte über brutale Übergriffe durch Polizisten dokumentiert haben. Es ist gut und richtig, dass Ermittlungsverfahren gegen tatverdächtige Polizeibeamte eröffnet wurden.

Hanna Poddig erinnert in ihrem offenen Brief daran, dass Campact beispielsweise das Zerstören von genmanipulierten Pflanzen unterstützt hat. Distanziert sich Campact nun von der eigenen Bewegungsgeschichte?
Wir haben uns an keiner Stelle von Idee und Praxis des zivilen Ungehorsams distanziert, wie sie der politische Philosoph John Rawls skizziert hat. Für Rawls basiert ziviler Ungehorsam auf der Prämisse, dass eine Gesellschaft zunächst grundsätzlich gerecht und demokratisch strukturiert ist. Wenn trotzdem staatliche Verfahren zu illegitimen Entscheidungen führen, dann kann es moralisch richtig sein, Gesetze bewusst und öffentlich zu brechen. Ein Kernprinzip ist, dass ich mich dabei gewaltfrei verhalte und zu meinem Ungehorsam stehe. Nicht jede Aktion, die für sich das Label ziviler Ungehorsam reklamiert, steht in dieser demokratischen Tradition. Wenn sich aber in diesem Sinne Tausende auf Castor-Gleise setzen oder Kohlebagger blockieren, ist das legitim und wichtig.

Ist Militanz nicht für die Durchsetzung der Anliegen von Campact von Vorteil, weil man darauf verweisen kann, was passiert, wenn die Reformvorschläge nicht umgesetzt werden?
Die in dieser Frage implizierte Strategie halte ich für völlig falsch. Militanz in einem demokratischen Staat ist in meinen Augen nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch politisch äußerst schädlich für alle progressiven Anliegen. Zunächst verdrängt Militanz die Inhalte aus der öffentlichen Debatte. Sie verschreckt das bürgerliche Milieu, das für die Realisierung progressiver Forderungen unerlässlich ist. Sie lädt die Hardliner dazu ein, weitere Gesetzesverschärfungen zu fordern, und zwingt damit die progressive Bewegung in einen Verteidigungskampf um das Demonstrationsrecht.

https://jungle.world/artikel/2017/31/vermittelbare-aktionsformen
Interview: Peter Nowak

Klassenkampfkino – nicht von gestern

Finanzierung des Cinéma Klassenkampf nur bis Jahresende gesichert

Der Name der neuen Filmreihe im Berliner Kino Moviemento ist Programm: »Cinéma Klassenkampf«
widmet sich aktuellen Arbeitskämpfen in Berlin. Bei der Auftaktveranstaltung Anfang März stand die Aus- beutung an der Technischen Universität im Fokus. Demnächst werden im Rahmen von Cinéma Klassen- kampf Film- und Diskussionsveranstaltungen zu Organisierungsansätzen im Niedriglohnsektor Gastronomie und bei den Kurierdiensten folgen. Auch ein Rückblick auf die Bewegung »Nuit Debout«, die 2016 von Frankreich ausgehend für Aufsehen sorgte, ist in Vorbereitung. Der für manche etwas altmodisch klingende Titel wurde bewusst gewählt: »Wir hätten die Reihe auch augenzwinkernd ›Them Or Us‹ nennen können. Doch es ist an der Zeit, den Mut aufzubringen und umkämpfte Begriffe wieder zu verwenden, damit die Kids auch mal was anderes hören als den antikommunistischen Main- stream«, so Bärbel Schönafinger vom Kollektiv labournet.tv. Es sammelt seit 2011 Filme aus der Arbeiterbewegung und stellt sie auf seiner Seite kostenlos und mit Untertiteln zur Verfügung (http://de.labournet.tv/). Häufig drehen die Aktivisten gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen eigene Videos. Sie werden bei Veranstaltungen von »Cinema Klassenkampf« gezeigt. Im Anschluss kommen die an den Kämpfen Beteiligten zu Wort. Schönafinger wünscht sich, dass die Filmreihe Zuschauende ermutigt, sich an ihren Arbeitsplätzen nicht alles gefallen zu lassen. Sie spricht auch über die Perspektive ihres Projekts. »Mit der Veranstaltungsreihe hoffen wir, neue Fördermitglieder für labournet.tv zu gewinnen, da dessen Finanzierung nur noch bis zum Jahresende gesichert ist.«

aus: SPRACHROHR mitgliederzeitung des fachbereiches Medien, 27. jahrgang nr. 2, Kunst und Industrie berlin-brandenburg Juni 2017

https://medien-kunst-industrie-bb.verdi.de/service/sprachrohr
Peter Nowak

Erdogan-Bashing als Teil des deutschen Wahlkampfs


Nach den Wahlen wird es wieder um die ökonomischen und geopolitischen Interessen zwischen den Eliten beider Länder gehen

„Wir sind sicher, dass wir sie nicht verlieren werden“, beteuerte Bundesaußenminister Sigmar Gabriel[1] und meinte die in Deutschland lebenden Menschen mit biografischem Hintergrund in der Türkei. Ihnen hat er in einem Offenen Brief, in zweisprachiger Form von der Bild-Zeitung veröffentlicht, die neue harte Haltung der Bundesregierung zur Türkei zu erklären versucht. Die Angst, diese Menschen zu verlieren, ist durchaus mehrdeutig. Wie die Ergebnisse des Referendums zum autoritären Staatsumbau in der Türkei zeigen, findet der Erdogan-Kurs dort durchaus Zustimmung.

Das liegt auch daran, dass nicht zuletzt die NSU-Morde und die Reaktion von Justiz und Öffentlichkeit darauf zeigten, dass auch viele Menschen, die sich jetzt als in Deutschland angekommen wähnten, die Erfahrung machten, dass sie immer noch als Fremde behandelt wurden. Man braucht nur die beeindruckenden NSU-Monologe[2] anhören, in denen die Angehörigen von NSU-Opfern zu Wort kommen, um zu begreifen, dass für manche türkischen Migranten die Option für den aktuellen Kurs in ihrem Land auch etwas mit ihrer Behandlung in Deutschland zu tun hat.

So betonen die Angehörigen, dass sie froh waren, ihren vom NSU ermordeten Angehörigen in der Türkei beerdigen zu können, wo sie zumindest die Totenruhe gewahrt hoffen. Diese Menschen hat Deutschland schon längst verloren, denn sie haben eben festgestellt, dass die Deutschland-Marke „tolerantes, weltoffenes Land“ mit der Realität, die sie erlebten, wenig zu tun hatte. Sie werden auch nicht durch einen Brief vom Bundesaußenminister den Glauben an die Demokratie Marke Deutschland wieder gewinnen.


Die deutsche Selbstachtung und der Wahlkampf

Zudem ist den Empfängern des Briefes bewusst, dass der Bundestagswahlkampf in Deutschland begonnen hat und die harte Haltung gegen die Türkei ein Teil dieses Wahlkampfes ist. Der holländische Ministerpräsident Rutte hat es vor einigen Monaten vorgemacht. Mit Auftritten von türkischen Regierungsmitgliedern in der Endphase der holländischen Parlamentswahlen bekam er Zustimmung[3]. Wenn nun Gabriel die Menschen aus der Türkei nicht verlieren will, denkt er auch daran, dass genau unter ihnen viele die SPD gewählt haben.

Die Union war ihnen zu christlich, die Grünen zu westlich und modern und so blieb die SPD für sie als kleineres Übel. Nun versucht Gabriel zu verhindern, dass er auch diese Wähler noch verliert. Unterstützung bekommt er von seinen Vorgänger Steinmeier, der seine präsidiale Neutralität aufgab und Gabriels Kurs gegenüber der Türkei verteidigte[4]. Dabei ist Steinmeier sehr ehrlich, wenn er den harten Kurs gegen die Erdogan-Türkei als einen Akt „der deutschen Selbstachtung“ bezeichnet.

Damit bedient er ein nationalistisches Motiv und das dürfte sich in den nächsten Wochen bis zur Wahl fortsetzen. Denn jetzt wird es darum gehen, welche Partei von dem deutschen Erdogan-Bashing profitiert, an dem sich eine ganz große Koalition beteiligt. Die Linke moniert seit Monaten, Erdogan verletze die Souveränität Deutschlands. Nun erfüllt die Bundesregierung deren Forderungen und verschärft den Kurs gegen die Türkei und die Linke kann jetzt nur konstatieren, das käme zu spät und wäre nicht konsequent genug[5].

Verfolgung türkischer Oppositioneller in deutscher Souveränität

Immerhin erinnert die innenpolitische Sprecherin der Linken, Ulla Jelpke, an die türkischen Oppositionellen, die die deutsche Justiz und Politik in eigener Souveränität verfolgen lässt. Dazu gehören die Auftrittsverbote und Schikanen[6] gegen die linke türkische Band Grup Yorum in Deutschland. Die Antwort[7] der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Jelpke zu diesen Auftrittsverboten und Schikanen gegen die Band[8] zeigt sehr deutlich, wie gut hier auch die deutsch-türkische Kooperation weiterhin funktioniert.

So heißt es in der Vorbemerkung der Bundesregierung: „Neben regelmäßigen Konzerten haben Mitglieder von Grup Yorum sich immer wieder auch an Massenaktionen, Demonstrationen, Streiks, Fabrik- und Universitätsbesetzungen in der Türkei beteiligt und wurden wiederholt festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt“ – so dient die Tatsache, dass sich die Band seit vielen Jahren auch als an Protesten in der Türkei beteiligt, nicht als Ausweis demokratischer Gesinnung gegen ein autoritäres System, sondern wird als Beleg für ihre Verfolgung auch in Deutschland herangezogen.

Akribisch werden Textstellen aus dem großen Repertoire politischer Lieder analysiert, um die behauptete Nähe zur verbotenen linken Gruppe zu belegen. So sei die Zeile „Unsere Herzen schlagen für den gelben Stern, die Fahne der Hoffnung“ eine indirekte Solidaritätserklärung mit der linken Organisation DHKP-C, deren Organisationsemblem einen gelben Stern zeigt. Dass die CDs der Band in der Türkei frei verkäuflich sind und ihre Konzerte ein Treffpunkt für gesamte Linke des Landes sind, wird in der Antwort auf die Kleine Anfrage als Beleg für die erfolgreichen „propagandistischen Maßnahmen der DHKP-C“ bewertet.

Über die Verfolgungen, Inhaftierungen und auch Folterungen von Grup-Yorum-Mitgliedern, über die es im Internet zahlreiche Beispiele gibt, liegen der Bundesregierung hingegen keine Informationen vor. Auf die Frage, ob deutsche und türkische Behörden Informationen über die Band ausgetauscht hatten, bestätigt die Bundesregierung „anlassbezogene bilaterale Gespräche“. Es spricht dafür, dass diese auch weiter geführt werden, wenn die offiziellen Beziehungen zwischen den Regierungen beider Länder eingefroren werden.

Schon wird gegen die Band ermittelt, weil sie in Fulda einen Song gespielt haben soll, der die die DHKP-C feiert. Das Konzert konnte in Fulda konnte nur mit zivilgesellschaftlicher Aktivität als Kundgebung[9] durchgesetzt werden. Eintritt durfte nicht erhoben werden, auch Spendensammlungen für die Band und der Verkauf ihrer CD waren verboten[10].

Nun sitzen die Organisatoren auf einer Schuldenlast. Die Organisatoren des Rechtsrockkonzert vor einer Woche im thüringischen Themar nicht vor einer Woche dagegen nicht[11]. Ihnen war gerichtlich ausdrücklich bescheinigt wurden, dass sie Eintritt verlangen können und weiterhin unter dem Schutz der Grundrechte stehen.

Auch die Verfolgung von angeblichen Funktionären der Kurdischen Arbeiter-Partei (PKK) gehen in Deutschland unabhängig von der deutsch-türkischen Eiszeit weiter[12]. Eben so der Münchener Prozess gegen 10 türkische Kommunisten, die schon viele Jahre in Deutschland lebten[13]. Ohne die deutsch-türkische Justizkooperation wäre er nicht möglich, worauf die Verteidigung wiederholt hingewiesen hat[14].

Nach der Wahl wird Erdogan wieder Partner

Bis zur Bundestagswahl dürfte sich die Polemik zwischen der deutschen und der türkischen Regierung verschärfen. Danach wird wieder Normalität zelebriert. Schon gibt es erste Stimmen, die warnen, man dürfe die Türkei nicht in Richtung Putin drängen. In der Nato wird der momentane Konfrontationskurs Deutschlands gegen die Türkei sehr kritisch gesehen und innerhalb der EU ist neben Deutschland vor allem Österreich ein Verfechter einer harten Haltung gegen die Türkei[15].

Auch Außenminister Kurz, der eine härtere Haltung propagiert[16], befindet sich im Wahlkampf und will vor allem der rechtspopulistischen FPÖ Stimmen abnehmen. Der Mythos von den Türken, die vor Wien stehen, kann dort noch einfacher als in Deutschland bedient werden.

Natürlich wird die Perspektive der deutsch-türkischen Beziehungen auch davon abhängen, ob noch mehr deutsche Staatsbürger als Erdogan-Gegner verhaftet werden. Aber auch da gab es Präzedenzfälle in anderen EU-Ländern, ohne dass sich die Bundesregierung besonders für die Opfer der Repression eingesetzt hat. So gab es nach den G8-Protesten von Genua eine massive Verhaftungswelle.

Betroffen waren Vertreter der Zivilgesellschaft auch aus Deutschland und Österreich. Darunter waren Journalisten, Künstler, Gewerkschafter, Jugendliche. Sie wurden teilweise über Wochen in Haft gehalten und auch gefoltert[17].

Zu Konsequenzen im deutsch-italienischen Verhältnis führte das nicht. Und selbst eine mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei muss nicht das Ende der deutsch-türkischen Beziehungen bedeuten. Das zeigt sich am Umgang mit dem autoritären Lukaschenko-Regime in Belorussland innerhalb der EU.

Zeitweise war Belorussland der Inbegriff der Diktatur in Europa, nach der Ukrainekrise könnte sich das Regime als Vermittler zwischen Russland und der EU anbieten. Sanktionen wurden gelockert[18] und mittlerweile ist es wieder ein geopolitischer Player.

Die Todesstrafe wurde bisher ebenso wenig abgeschafft wie die Repression gegen Oppositionelle. Das macht nur einmal mehr deutlich, bei den Beziehungen zwischen den Ländern geht es nicht um Moral und die vielstrapazierten Werte sondern um ökonomische und geopolitische Interessen. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland.

https://www.heise.de/tp/features/Erdogan-Bashing-als-Teil-des-deutschen-Wahlkampfs-3780850.html

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Peter Nowak
Links in diesem Artikel:
[1] https://sigmar-gabriel.de
[2] https://heimathafen-neukoelln.de/spielplan?url=DieNSUMonologe
[3] http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-06/recep-tayyip-erdogan-auftrittsverbot-g20-gipfel-bundesregierung
[4] http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-07/bundespraesident-frank-walter-steinmeier-kritik-tuerkei-recep-tayyip-erdogan
[5] https://www.sevimdagdelen.de/theaterdonner-wird-erdogan-nicht-stoppen/
[6] http://www.ulla-jelpke.de/2017/07/auftrittsverbote-fuer-grup-yorum-als-geschenk-an-erdogan/
[7] http://www.ulla-jelpke.de/wp-content/uploads/2017/07/KA-18_12917_Grup_Yorum.pdf
[8] https://www.heise.de/tp/features/Grup-Yorum-Verbote-Schikanen-finanzielle-Verluste-3744759.html
[9] http://osthessen-news.de/n11562313/kundgebung-mit-grup-yorum-9-bands-und-kulturprogramm-keine-zwischenfalle.html
[10] https://www.juris.de/jportal/portal/page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA170604370&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp
[11] http://www.mdr.de/thueringen/sued-thueringen/themar-rechtsrock-konzert-100.html
[12] http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.oberlandesgericht-stuttgart-urteil-in-pkk-prozess-pkk-funktionaer-als-terrorist-verurteilt.e78c646c-9275-4a62-9dd3-9b37548c02f3.html
[13] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/
[14] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/23-01-2017-beweise-aus-folter-und-spionage/
[15] http://www.deutschlandfunk.de/streit-mit-der-tuerkei-swoboda-spoe-warnt-vor-streichung.1939.de.html?drn:news_id=771161
[16] http://derstandard.at/2000061663851/Kurz-fordert-von-EU-mehr-Entschlossenheit-bei-Tuerkei
[17] https://www.azzellini.net/artikel/massive-repression-entsprach-geplanter-politischer-strategie
[18] http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-02/sanktionen-gegen-alexander-lukaschenko-weissrussland-aufhebung-europaeische-union