Rechte Politik macht immer noch die Mitte

Schäuble als „Reserve-Kanzler“? Die Lobeshymen auf Schäuble bis ins linksliberale Milieu zeigen, dass erfolgreiche rechte Politik ohne die AfD gemacht wird

Die vergangene Woche gab es eine „Premiere“, zumindest wenn man den Medien Glauben schenkt. Der Bundestag hat sich konstituiert, in dem bekanntlich mit der AfD eine Fraktion rechts von der CDU/CSU eingezogen ist. Nun machten sich alle Gedanken darüber, wie man jetzt mit den rechten Neuzugängen im Parlament umgehen soll. Eigentlich eine absurde Frage.

Schließlich wurde rechte Politik seit Gründung der BRD im Bundestag immer gemacht und dazu brauchte man in der Tat in den seltensten Fällen eine Fraktion rechts von der Union. Denn in der Regel hatten das Monopol für rechte Politik die Unionsparteien, die FDP und auch der Mehrheitsflügel der SPD. Das hatte sich auch bei der Konstituierung des neuen Bundestages gezeigt.

Am gleichen Tag wurden 14 Afghanen mit einem Sonderflug nach Kabul geflogen. Es ist die siebte Sammelabschiebung nach Afghanistan seit Dezember 2016 und dass sich das Datum dieses Mal mit der Bundestagseröffnung kreuzt, war sicher keine Verbeugung vor der AfD, wie die Innenpolitische Sprecherin der Linken, Ulla Jelpke, polemisch schrieb[1].


Normalzustand rechter Politik

Es war vielmehr der Normalzustand rechter Politik, den der sächsische Innenminister und Vorsitzende der Bundesinnenministerkonferenz Markus Ulbig so auf den Punkt brachte[2]: „Wer nach einem abgeschlossenen Asylverfahren und Inanspruchnahme aller rechtsstaatlichen Mittel bei uns kein Bleiberecht hat, muss unser Land verlassen.“

Konsequente Rückführungen seien notwendig „für die Akzeptanz unserer Asylpolitik bei den Bürgern“. Damit unterschlägt der konservative Politiker, dass es eine ganze Reihe von Migranten gibt, die trotz eines abgelehnten Asylverfahrens nicht abgeschoben werden können, beispielsweise weil ihre Herkunft unklar ist oder das Herkunftsland die Rücknahme verweigert. Nur unter Außerachtlassung dieser Fakten kann sich Ulbig als Vollstrecker des „Volkswillens“ inszenieren, der hier mit „möglichst viele Ausländer raus“ interpretiert wird.

Wechselwirkung des AfD-Wahlerfolgs mit dem Rechtskurs der etablierten Parteien

Hier zeigt sich die Wechselwirkung des AfD-Wahlerfolgs mit dem Rechtskurs in den etablierten Parteien. Profitieren können davon beide Seiten. Der rechte Flügel der etablierten Parteien kann sich nun mehr in der Mitte präsentieren und immer davor warnen, dass die AfD profitiert, wenn nun nicht schneller abgeschoben wird.

Die AfD hingegen kann darauf verweisen, dass knapp 12% Wahlstimmen schon Wirkung zeigen und dass die etablierten Politiker jetzt von ihr abschreiben. Dabei muss sie keine Angst davor haben, dass ihr die Themen ausgehen. Sie wird immer noch mehr Einschnitte bei den Flüchtlingsrechten fordern und kann die Etablierten so vor sich hertreiben.


Abschiebung zur „Chefsache machen“

Auch die Bild-Zeitung beteiligt sich wie üblich an dem Spiel, wer der Populistischere im ganzen Land ist, und startet eine Unterschriftenaktion mit dem Motto Abschiebung zur Chefsache machen[3]. Deutlich wird, wie gering die Trennschärfe zwischen den Etablierten und der AfD inhaltlich ist. Dabei zielt die Bildkampagne schon auf die mögliche Koalition von Union, FDP und Grünen.

Auf letztere soll damit Druck ausgeübt werden, bloß nicht etwa auf einer humanen Flüchtlingspolitik zu beharren. „Tausende Leser unterstützen den Bild-Appell“, lobt sich das Boulevardblatt selber und zitiert Politiker von SPD und Union, die nun ebenfalls auf Bild-Linie sind. In den Leser-Statements ist es noch fast eine gemäßigte Position, dass alle vom Gastrecht ausgehen, das verwirkt, wer sich hier nicht anpasst.

Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht wurde heftig kritisiert, weil sie nach der Silvesternacht von 2015 ebenfalls vom verwirkten Gastrecht redete. Allerdings wurde wohl auch von ihren Kritikern davon ausgegangen, dass sich alle, die sich in Köln danebenbenommen haben, Flüchtlinge waren. Doch das ist ja schon mal eine Zuschreibung. Warum geht man nicht erst einmal davon aus, dass es sich um Besucher handelt, die auch Gäste genannt werde?

Dann kann man durchaus darüber diskutieren, ob bei erwiesenen sexistischen Handlungen ein temporäres Einreiseverbot eine Sanktionsmaßnahme sein kann. Menschen, die aus asylrechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden können, wären davon ausgenommen.

Bei der Diskussion um das Wagenknecht-Zitat ließen auch ihre Kritiker diese Differenzierung vermissen und setzten die Köln-Besucher der Silvesternacht mit Flüchtlingen gleich, was ja schon eine Projektion ist. In den Statements der Bild-Leser gibt es größtenteils diese Differenzierung ebenfalls nicht.

Da gibt es nur ein Gastrecht und das hat schon verwirkt, wer sich nicht benimmt, wie eine Leserin erklärte. Das heißt, es braucht nicht einmal mehr ein justitiables Delikt für eine Abschiebung. Und wenn von manchen argumentiert wird, durch die Abschiebungen bekomme man Platz für die, die wirklich Asyl brauchen, wird unterstellt, dass wer in Deutschland kriminell wird, nicht in einem anderen Land verfolgt wurde und wird.

Klassiker des Rechtspopulismus

Daneben finden sich in den Statements sämtliche Klassiker des Rechtspopulismus, von der elitären Politikerkaste, die nicht auf das „Volk“ hört bis zur Behauptung, dass sich in Deutschland die Menschen nachts nicht mehr auf die Straße trauen. Die Bild-Kampagne sorgt dafür, dass die Themen, die die AfD groß gemacht hat, auch nach der Wahl kampagnenfähig bleiben.

Schon im Wahlkampf hatte man bei manchen Talk-Shows den Eindruck, als gelte die Devise, die AfD fragt und die Politiker antworten. Aber die Bild-Kampagne zeigt auch, dass die AfD nicht der einzige und nicht mal der entscheidende Akteur für die rechte Politik in Deutschland ist. Bild hat da ja schon lange Erfahrung, Manche werden sich noch an die Kampagne gegen die „Pleitegriechen“ erinnern. Auch damals ließen sich Leser mit dem Statement fotografieren, wonach der deutsche Steuerzahler keinen Pfennig an Griechenland geben soll.

AfD und Schäuble – einig in harter Haltung gegenüber Griechenland

Damit bediente Bild ein Thema, das bei der Gründung der AfD eine zentrale Rolle spielte. Die wirtschaftsliberale Professorenriege, die die Wahlalternative initiierte, störte sich in erster Linie daran, dass deutsche Steuerzahler für griechische Schulden aufkommen könnten. Das war von Anfang an falsch, aber wirkungsmächtig.

Denn um der griechischen Bevölkerung klare Kante zu zeigen, brauchte es keine neue Rechtspartei. Wolfgang Schäuble hatte als Bundesfinanzminister die nötigen Instrumente, um in Griechenland eine wirtschaftliche Entwicklung, die den deutschen Eliten nicht passt, zu verhindern. Das zeigte sich nach dem Wahlsieg von Syriza und dem kurzen griechischen Frühling, wo scheinbar tatsächlich ein anderes Europa möglich schien.

Es war vor allem Schäuble, der durchsetzte, dass es nur das deutsche Modell geben könne. Ein Bündnis aus Mob und Elite bescherte Schäuble dafür kontinuierlich hohe Zustimmungswerte und das hat sich auch nach seinem Wechsel zum Am des Bundestagspräsidenten nicht geändert.

Der Reservekanzler

Was sich geändert hat, dass es scheinbar kaum noch linke Kritik an ihm gibt. Selbst Medien wie die Taz schweigen zu seiner zentralen Rolle bei dem Abwürgen des griechischen Frühlings. Von seiner politischen Geschichte als Mann der Schwarzen Kassen in der Kohl-Ära[4] will schon gar niemand mehr was wissen.

Als Mann der Schwarzen Null wurde er zum beliebtesten Politiker. Manche sehen ihn noch immer als „Reservekanzler“, wenn Merkel scheitert wie z.B. der Cicero-Gründer Weimer. Diese konservative Stimme beschreibt[5] sehr gut den Hype um Schäuble:

Als neuer Bundestagspräsident erfährt der ehemalige Finanzminister schon jetzt ungewöhnlich viel Zuspruch. Aus dem Bundestag erreichen „den großen Demokraten“ Huldigungen aus mehreren Fraktionen, im Ausland wird er als „Gigant“ (so die IWF-Chefin Christine Lagarde) gewürdigt, Leitartikel loben ihn als lebende Legende der deutschen Politik, als graue Eminenz, zu Fleisch gewordene Bundesrepublik und der ARD-Deutschlandtrend zeigt ihn als beliebtesten Politiker Deutschlands. Schäuble ist eine Art Jupp Heynckes der deutschen Politik. Je älter desto besser.

The European[6]

Doch eher in den Bereich der Schäuble-Astrologie gehören wohl diese Hoffnungen des konservativen Blattes:

Denn Schäuble verkörpert auch als Bundestagspräsident eine sichere Alternative in unruhigen Zeiten, ein immer denkbarer Ersatz für Merkel, darum wird er in der Unionsfraktion zuweilen „Vati“ gerufen, der „Mutti“ jederzeit ablösen könne – vor allem wenn die Jamaika-Regierung platzen würde. Schon jetzt raunen CDU-Abgeordnete: Sollte in dieser Legislatur ein Krisenkanzler gebraucht werden, sollte die politische Architektur der Republik auf dem Spiel stehen, dann wäre er der natürliche Achsen-Schmied der Stabilität. „Wenn Jamaika platzt, dann kann Schäuble mit der SPD eine neue Regierung formieren. Ihn würden sie als Übergangskanzler akzeptieren“, heißt es aus der Fraktion.

The European[7]

Doch einen wahren Kern könnten diese Spekulationen haben. Bei einem Abgang Merkels könnte Schäuble für den Übergang die Union wieder ohne Schnörkel nach rechts führen. Dass es dann nicht unbedingt um eine Koalition mit der SPD gehen muss, ist auch klar. Denn spätestens wenn die AfD auch im nächsten Bundestag wieder vertreten sein wird, beginnt in der Union die Debatte um ihre Einbindung.

Schon deshalb, weil es ja um Machtoptionen geht. Eine wie auch immer geartete Kooperation mit der Linken war bei der SPD nicht undenkbar, bei der Union schon. Bei der AfD ist es für die Union leichter, sie in irgendeiner Weise und sei es auch in einem Bundesland wie Sachsen mit einzubeziehen. Schäuble wäre ein Mann, der einen solchen Kurs durchsetzen könnte.

Schäuble eine Art „moderner Hindenburg“?

Dann würde auch ein etwas unvermittelter und historisch fragwürdiger Hindenburg-Vergleich in der Taz noch Sinn machen. Jenseits der historischen Realität schrieb Ambros Waibel[8]:

Wie eine Art wiederauferstandener Paul von Hindenburg, als Sieger in zahlreichen -Schlachten gegen die nach deutschen Steuergeldern gierenden Südeuropäer, würde Schäuble auch die Rüpel von der Alternative für Deutschland im Zaum halten.

Taz[9]

Nun hatte Hindenburg die Nazis nie im Zaum gehalten. Im Gegenteil stand er für eine Faschisierung der Weimarer Republik, schon bevor die Nazis zum Faktor wurden. Er wurde als Kandidat der republikfeindlichen Rechten 1925 gewählt. 1932 unterstützte ihn dann die SPD und wollte ihn als Bollwerk gegen die Nazis anpreisen. Die KPD plakatierte damals „Wer Hindenburg wählt Hitler – wer Hitler wählt, wählt den Krieg“.

Dass es dabei nicht um Prophetie, sondern um die exakte Analyse der Hindenburg-Politik handelt, zeigte sich auch daran, dass zahlreiche parteiunabhängige Linksintellektuelle wie Carl von Ossietzky zu einer ähnlichen Einschätzung kamen. Trotzdem hält sich bis in die Taz-Kommentarseite der Mythos vom Hindenburg, der die Nazis im Zaum halten wollte.

Was bei aller Vorsicht – wir leben nicht in einem 1933-Revival -, interessant an dem Vergleich Schäuble-Hindenburg sein könnte, erwähnt Ambos nicht.

Schäuble war in seiner langen politischen Karriere immer ein Mann der Rechten, aber im Rahmen der etablierten Parteien. Deshalb hat er auch seine Vorbehalte gegen die neuen rechten Emporkömmlinge von der AfD geäußert, denen er mangelnde Professionalität vorwirft.

Da trifft er sich durchaus mit Hindenburg und seiner Umgebung, denen an den Nazis vor allem störte, dass sie nicht die aristokratische Etikette hatten. Das hinderte Hindenburg nicht, Hitler zum Kanzler zu ernennen.

So könnte auch Schäuble der Mann sein, der die Brücken zwischen Union und AfD baut, wenn sich zeigt, dass die Partei keine politische Eintagsfliege im Parlament bleibt. Zurzeit wird rechte Politik aber noch ohne die AfD gemacht und die Lobeshymen auf Schäuble bis ins linksliberale Milieu zeigen, dass es die erfolgreichere Variante ist.

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.ulla-jelpke.de/2017/10/flugshow-fuer-wutbuerger/
[2] http://www.tagesspiegel.de/politik/proteste-in-leipzig-14-afghanische-fluechtlinge-abgeschoben/20499096.html
[3] http://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/bild-petition-merkel-sollabschiebung-zur-chefsache-machen-53581188.bild.html
[4] http://www.focus.de/politik/deutschland/finanzminister-spricht-in-ard-es-gibt-keine-spender-ein-satz-mit-dem-schaeubles-trauma-wieder-aufbricht_id_4898881.html
[5] http://www.theeuropean.de/wolfram-weimer/13005-deutschlands-beliebtester-politiker
[6] http://www.theeuropean.de/wolfram-weimer/13005-deutschlands-beliebtester-politiker
[7] http://www.theeuropean.de/wolfram-weimer/13005-deutschlands-beliebtester-politiker
[8] http://www.taz.de/!5455962/
[9] http://www.taz.de/!5455962

Charta 2017 – Nach rechts weit offen

Die Unterschriftenaktion zugunsten rechter Verlage auf der Frankfurter Buchmesse benennt sich nicht zu Unrecht nach einer Aktion osteuropäischer Dissidenten. Für die war die Rechte schon immer zumindest ein Bündnispartner

Man muss den hilflosen Antifaschismus nun wahrlich nicht verteidigen, der sich auf der Frankfurter Buchmesse zeigte und den Gegenstand der Kritik, Götz Kubitschek und Ellen Kositza sowie eine kleinen Gruppe rechter Verlage, erst so richtig ins Rampenlicht setzte. Daher können ihre rechten Gesinnungsfreunde auch gar nicht genug Videos über die Protestkundgebungen posten.

Nun können sie noch einen Erfolg feiern. Eine Reihe rechter und konservativer Publizisten wollen mit einer Petition unter dem Titel Charta 2017 gegen eine angebliche Gesinnungsdiktatur in Deutschland protestieren. Dort heißt es: „Wehret den Anfängen – für gelebte Meinungsfreiheit, für ein demokratisches Miteinander, für respektvolle Auseinandersetzungen!“

Die gesampelten Worthülsen sind verschiedenen linken Kontexten entnommen. „Wehret den Anfängen“ war die Parole der Nazigegner, als sich in den 1950 Jahren wieder Rechte versammelten, und die anderen Worthülsen werden auch von der nichtrechten Zivilgesellschaft immer wieder benutzt. So haben Kositza und Friends, nachdem sie schon eine rechte APO ausgerufen haben, auch das Mittel der Unterschriftensteller von den Linken übernommen. Denn bisher kursierten zu unterschiedlichen Anlässen Unterschriftenlisten, die von mehr oder weniger bekannten Liberalen diesen oder jenen Sachverhalt anprangerten und skandalisierten.

Solche Appelle waren vor allem dazu da, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Genau dazu dient auch die Petition, die sich mit ihren Namen Charta 2017 ganz bewusst an die tschechische Charta 77 anlehnt, die als zentrales oppositionelles Dokument nach dem Ende des sogenannten Prager Frühlings und dem Beginn einer antikommunistischen Zivilgesellschaft in Osteuropa gilt. Besonders die damals gerade entstehende grüne Bewegung sah dort ein wichtiges Betätigungsfeld und so ist auch der Taz-Kommentator empört, dass die Charta 2017-Verfasser diesen Begriff übernehmen.

Die Krone des Ganzen aber: „Charta 2017“! Echt? Es ist mehr als Stilkritik, diesen Namen als abstoßend zu empfinden. Er zeigt etwas von der Hybris, die hinter dieser Petition steckt. Sich unterstützend hinter solche Verlage wie Antaios zu stellen, um den es auf der Buchmesse Auseinandersetzungen gab, ist fragwürdig genug. Sich damit auch noch in eine Reihe mit der Tradition der Dissidenten gegen die diktatorischen Systeme des Ostblocks stellen zu wollen ist die nackte Überheblichkeit. Und es ist geschichtsvergessen.

Taz

Doch der Kommentar vergisst, dass ein großer Teil der osteuropäischen Dissidentenszene von Anfang nach rechts weit offen war. Das begann mit den DDR-Aufstand von 1953, in denen auch Antifaschisten drangsaliert und NS-Täter bejubelt wurden und setzt sich in der tschechischen, russischen und polnischen Oppositionsbewegung fort. Ein Rechter hat dort schon mal den Bonus, schon immer gegen den Kommunismus oder das, was so dafürgehalten wurde, gewesen zu sein. Und die Meinungsfreiheit, die man für diese Rechten einfordert, würde man den Linken keinesfalls gewähren. Doch natürlich gab es in all diesen Ländern auch eine linke Opposition, die gegen die stalinistische und poststalinistische Nomenklatura nicht deshalb protestierte, weil diese Kommunisten oder Linke waren, sondern weil sie es real gerade nicht waren. Sie forderten einen wirklichen Sozialismus gegen die Parteibürokratie und nicht Betätigungsfreiheit für die Rechten.

Rechte Bürgerrechtler gegen linke DDR-Oppositionelle

Am Beispiel der Buchmesse zeigt sich diese Spaltung besonders. Als zivilgesellschaftliche Antwort auf die Rechten hatte die Buchmessenleitung einen Stand der Antonio-Amadeu-Stiftung ganz in deren Nähe genehmigt. Die Gründerin Annetta Kahane, die oft und gerne auf ihre kurze Stasimitarbeit festgelegt wird, war in der Wendezeit entschiedene Gegnerin des SED-Regimes und ist bis heute eine unversöhnliche Kritikerin geblieben. Doch gerade sie wird von den alten und neuen Rechten als Kinder einer jüdischen kommunistischen Familie, als entschiedene Verteidigerin Israels und dafür angegriffen, dass sie alle Spielarten des rechten Gedankenguts für bekämpfenswert hält. Ein Kommentar der DDR-Bürgerrechtlerin und nach 1989 rechten Bürgerin Vera Lengsfeld ist direkt gegen die Stiftung gerichtet:

Wenn extremistische Gruppierungen, noch dazu aus einem Regierungsprogramm finanzierte, bestimmen sollen, wer in unserem Land noch Bücher ausstellen darf und wer nicht, ist die Gesinnungsdiktatur schon unter uns. Wer etwas dagegen tun möchte, sollte diese Charta unterzeichnen.

Vera Lengsfeld

Bündnis von rechten Bürgern

Neben ihr haben die Charta 2017 weitere Personen unterschrieben, die man als rechte Bürger bezeichnen kann. Etwa Susanne Dagen, die in der „Zeit“ als Buchhändlerin des Dresdner Bürgertums bezeichnet wurde und Gegenwind bekam, als sie sich zu Pegida bekannte. In der Zeit heißt es über das Ambiente ihres Buchladens: „Die Turmgesellschaft, wie sie Uwe Tellkamp 2008 in seinem Roman Der Turm beschrieb – diese Gesellschaft kauft ihre Bücher hier, bei ihr. Susanne Dagens Großvater war Arzt, ihre Großmutter Sängerin. Der Vater war Chemiker, die Mutter Galeristin. In ihrer Kindheit war Dagen von Künstlern, von Kulturbürgertum umgeben.“

Der besagte Uwe Tellkamp hat die Charta 2017 ebenfalls unterschrieben. Sie stört es auch nicht, dass mit Michael Klonowsky ein AfD-Propagandist und mit Heimo Schwilk ein langjähriger Autor der Jungen Freiheit und Propagandist der selbstbewussten deutschen Nation zu den Mitunterzeichnern gehören. Auch schon lange nach rechts gewendete Ex-68er wie Cora Stephan gesellen sich dazu.

Hier haben wir eine Liste rechter Bürger, die aber ihr Rechtssein heute nicht mehr verstecken, sondern so bekennen, wie es lang vermeintliche Linke taten, wenn sie Unterschriftenlisten unterzeichneten. Als während der Buchmesse Kubitschek einen „Wegweiser für das rechtsintellektuelle Milieu“ mit Namen von Autoren nichtrechter Verlage verteilte, die der rechten Sache nutzten, gaben sich liberale Kommentatoren empört und wollten die Autoren vor angeblicher Vereinnahmung schützen. Von keinem der Genannten war eine Distanzierung zu hören gewesen. Doch einige von ihnen sind Mitunterzeichner der Charts 2017.

Auch DGB München wollte sich schon von Antifa distanzieren

So wird durch die Charta 2017 nur einmal mehr deutlich, dass die Rechte im Moment in der Offensive ist und sich nicht mehr versteckt. Diejenigen, die sich dagegen wehren wollen, werden erkennen müssen, dass ein hilfloser Antifaschismus den Rechten eher nutzt als schadet, wie sich am Beispiel der Buchmesse zeigt. Ein Ruf wie „Nazis raus“ war ja in Deutschland schon immer fragwürdig. 2017 ist er aber geradezu wie aus der Zeit gefallen.

Schon kuscht der Münchner DGB vor einer Kampagne von rechten Medien und Polizeigewerkschaft und kündigte einem Antifakongress erst einmal die Räume. Es beginnen Zeiten, wo man nicht mehr mit der Antifa in Verbindung gebracht werden will. Doch noch wirkt die linke und linksliberale Zivilgesellschaft. Der Kongress kann nach einer Übereinkunft zwischen Veranstaltern und DGB nun doch in den gewerkschaftlichen Räumen stattfinden.

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.openpetition.de/petition/online/charta-2017-zu-den-vorkommnissen-auf-der-frankfurter-buchmesse-2017
[2] http://www.pi-news.net/charta-2017-ein-appell-fuer-die-freiheit-von-meinung-und-kunst/
[3] http://www.bpb.de/apuz/28545/eliten-und-zivilgesellschaft-in-ostmitteleuropa
[4] http://www.taz.de/!5456188/
[5] http://www.amadeu-antonio-stiftung.de
[6] http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/aktuelles/2017/zur-buchmesse-warum-eine-diskussion-auf-augenhoehe-mit-den-neuen-rechten-nicht-funktioniert
[7] http://www.tagesspiegel.de/politik/amadeu-antonio-stiftung-streit-um-die-stasi-vergangenheit-von-anetta-kahane/14966422.html
[8] http://vera-lengsfeld.de/2017/10/17/charta-2017-gegen-willkuer-auf-der-frankfurter-buchmesse
[9] http://www.zeit.de/2017/13/susanne-dagen-dresden-pegida-buchhaendlerin-buergertum
[10] http://www.michael-klonovsky.de
[11] http://www.michael-klonovsky.de
[12] http://www.zvab.com/buch-suchen/titel/die-selbstbewusste-nation/
[13] http://www.tagesspiegel.de/kultur/frankfurt-wie-die-buchmesse-mit-rechtsextremen-verlagen-umgeht/20444084.html
[14] http://www.labournet.de/interventionen/antifa/antifa-ini/dgb-muenchen-verbietet-antifa-kongress-ihren-raeumen-nach-radikal-rechter-gegenkampagne-auch-der-gewerkschaft-der-polizei/
[15] http://antifakongress.blogsport.eu

Geht es um Rassismus oder um Regierungsfähigkeit?

vom 26. September 2023

Der Streit in der Linkspartei ist nicht monokausal zu erklären

Nun herrscht vorerst wieder Burgfrieden in der Linkspartei. Doch wie lange er hält, ist unklar. Jedenfalls ist dem Taz-Kommentator Pascal Peucker zuzustimmen[1]:

„Geht es um Rassismus oder um Regierungsfähigkeit?“ weiterlesen

DGB streitet um Positionierung zu Hartz IV

Bundesvorstand verhinderte Veröffentlichung eines Papiers der eigenen Rechtsabteilung, das die Sanktionspraxis deutlich kritisiert

„Der Deutsche Gewerkschaftsbund ist daher der Auffassung, dass das Sanktionsregime nicht nur das Grundgesetz verletzt, sondern auch aus sozialpolitischen Gründen verfehlt ist.« So deutlich wurde selten von Seiten des DGB die Sanktionspraxis gegen Hartz-IV-Empfänger_innen verurteilt. Doch obwohl die Stellungnahme der Rechtsabteilung des DGB bereits mehrere Monate alt ist, ist sie kaum bekannt. Schließlich hat der DGB-Bundesvorstand eine Veröffentlichung verhindert. Auch der Sozialhilfeverein Tacheles e.V. wurde gebeten, die Stellungnahme nicht zu veröffentlichen, wie deren Geschäftsführer Harald Thome gegenüber »nd« bestätigte. Mittlerweile ist die 23-seitige Stellungnahme allerdings auf der Onlineplattform LabourNet Germany zu finden. 

Dass es zu der Stellungnahme kam, ist einem Arbeitsrichter des Sozialgerichts Gera zu verdanken, der die Sanktionen für verfassungswidrig hält und das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingeschaltet hatte. Wie üblich hat diese Instanz Stellungnahmen von sachkundigen Organisationen eingeholt, darunter der DGB. In der Stellungnahme der Rechtsabteilung finden sich sämtliche Argumente der Hartz-IV-Kritiker_innen. Sehr detailliert stellten die Verfasser_innen der Erklärung klar, wie mit den Hartz-IV-Gesetzen ein politisch gewollter Niedriglohnsektor in Deutschland etabliert wurde, der die Rechte von Lohnabhängigen einschränkt. 

Es ist nicht verwunderlich, dass dem DGB-Bundesvorstand die Hartz-kritische Stellungnahme nicht gefällt. Schließlich saßen in der Kommission, die die Agenda 2010 einst vorbereitete, auch Vertreter von DGB-Gewerkschaften. Noch 2015 hatte der DGB-Vorstand die Sanktionen verteidigt. Dass er nun sogar eine juristisch fundierte Stellungnahme aus dem eigenen Haus verschweigen will, hat vor allem bei den gewerkschaftlichen Erwerbslosenausschüssen Protest ausgelöst. Der ver.di-Erwerbslosenausschuss hatte bereits 2015 vom DGB-Vorstand eine Erklärung verlangt, warum dieser immer noch die Agenda 2010 unterstützt. Darauf gab es die vage Antwort, man handele im »höheren Interesse«. 

Viele Kritiker_innen des DGB-Vorstandes sahen einen Zusammenhang zwischen der Zurückhaltung des Papiers der Rechtsabteilung und den Bundestagswahlen. Der Vorstand wolle, so der Verdacht, das Verhältnis des DGB zur SPD nicht stören und halte sich daher mit Kritik an der Agenda 2010 zurück. Vor allem die als SPD-Linke firmierende Andrea Nahles war in ihrer Position als Arbeitsministerin von führenden DGB-Gewerkschafter_innen oft gelobt worden, besonders nachdem sie den Mindestlohn mit auf den Weg gebracht hatte. Doch auch nach den Bundestagswahlen gab der DGB-Vorstand die Stellungnahme der Rechtsabteilung nicht frei.
Es gibt also offenbar auch innergewerkschaftliche Gründe. Die Mitwirkung der Gewerkschaften bei der Agenda 2010 wurde nie kritisch aufgearbeitet. Tatsächlich dürften die gewerkschaftlichen Interessenvertreter_innen der Beschäftigten in den Jobcentern einen großen Druck ausüben. Immer wenn in der Mitgliederzeitschrift der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ein kritischer Artikel oder eine Reportage zu dem Hartz-Sanktionsregime veröffentlicht wurde, meldeten sich Mitarbeiter_innen der Jobcenter zu Wort, die sich gegen Hetze gegen ihren Berufsstand wandten und ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft zur Disposition stellten.

Die Kritik an der Verschweigepraxis des sanktionskritischen Gutachtens sollte nicht nur den Erwerbslosenausschüssen überlassen werden. Schon vor einigen Jahren gehörten Gewerkschafter_innen wie der ver.di-Chef Frank Bsirske zu den Unterzeichner_innen eines Aufrufs für ein Sanktionsmoratorium. Es wäre doch eigentlich zu erwarten, dass von ihnen nun Widerspruch kommt, wenn eine sanktionskritische Expertise aus dem eigenen Haus unterdrückt wird,

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1067445.dgb-streitet-um-positionierung-zu-hartz-iv.html

Peter Nowak

»Diskussionen sind weiterhin wichtig«

Helge Lehmann, IT-Spezialist, über seine Recherchen zum Tod der RAF-Gefangenen in Stammheim 1977

Helge Lehmann ist IT-Spezialist und war Betriebsrat in einem transnationalen Unternehmen. 2011 gab er nach mehrjährigen Recherchen das Buch »Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung: Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren« heraus.

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Neue Rechte verteidigt NSU-Terroristen

»Compact«-Chef Jürgen Elsässer verleumdet Angehörige der Opfer und verbreitet Verschwörungstheorien über Mördertrio

Das Urteil im NSU-Prozess wurde noch nicht gesprochen, zahlreiche Unterstützer der Hauptangeklagten Beate Zschäpe meldeten sich jedoch bereits zu Wort.

Bisher waren es vor allem obskure NS-Nostalgiker, die in dem Verfahren die große Verschwörung witterten. So werden beispielsweise in dem offen NS-verherrlichenden Blog »Deutsche Lobby« die Angeklagten zu »Opfern des immer noch wütenden besatzungsrechtlichen Verfolgungssystem BRD«. Auch der NPD-Politiker Arne Schimmer, der als sächsischer Landtagsabgeordneter Mitglied des dortigen NSU-Untersuchungsausschusses war, gab eine Broschüre heraus, in der rhetorisch gefragt wurde, ob der NSU ein Staatskonstrukt sei.

Das neurechte Magazin »Compact«, das dem völkischen Flügel der AfD nahesteht, hat kürzlich ebenso ein Sonderheft mit dem Titel »NSU – Die Geheimakten« herausgegeben und dabei sogar die Freilassung von Zschäpe gefordert. »Compact«-Chefredakteur Jürgen Elsässer gesteht im Editorial linken Politikern und Journalisten einige Verdienste zu, »was die Aufdeckung der Hilfestellung des Staatsschutzes für das Zwickauer Trio angeht«. Doch anschließend stellt er entgegen aller Beweise den neonazistischen Hintergrund des NSU in Zweifel. »Jedenfalls haben die Antifa-Jakobiner alle Spuren, die auf ausländische Täter hindeuten, notorisch unterdrückt. Der Mörder ist immer der Deutsche – nach dieser Devise schreiben sie ihre Artikel, und wer anderes behauptet, kann nur ein Rassist sein«, bedient sich Elsässer der in rechten Kreisen zirkulierenden Verschwörungstheorien. Dort werden noch immer die NSU-Opfer und ihre Angehörigen verleumdet, in dem sie mit der Drogenmafia in Verbindung gebracht werden.

Genau das war jahrelang auch die offizielle Version der Ermittlungsbehörden, die die Opfer zu potenziellen Kriminellen erklärten und deswegen ihre Angehörigen verhörten und überwachten. Mehrere der Betroffenen haben später von den traumatisierenden Erfahrungen berichtet, nach dem Mord an ihren Ehemännern, Vätern oder Geschwistern wie Schuldige behandelt zu werden.

In dem »Compact«-Sonderheft wird diese Linie fortgesetzt. Lob dafür spendet auch der langjährige Herausgeber der rechtsradikalen Publikation »Sleipnir« Peter Töpfer. »Es geht ganz sicher um das Schicksal der armen Frau Zschäpe, aber es geht auch um mehr, nämlich politisch darum, […] genau diesen oppressiven und volksfeindlichen Staat mit all seinen Lügengebilden einen Schlag zu versetzen«, schreibt er in einem auf der »Compact«-Homepage veröffentlichten Kommentar.

Obwohl sich Herausgeber Elsässer verbal von den offenen Neonazis abgrenzt, hatte er Beate Zschäpe schon im Mai 2013 einen offenen Brief geschrieben. »Ich habe Angst, dass Sie das Gefängnis nicht mehr lebend verlassen werden. Ihre Münchner Zelle könnte ihre Todeszelle werden, auch wenn die Todesstrafe bei uns abgeschafft ist«, schrieb er ihr. Elsässer verharmloste in dem Brief Zschäpes Neonazikarriere als Jugendsünden. »Nicht sympathisch ist mir der Neonazismus, mit dem Sie in ihrer Jugend halb Jena erschreckt haben. Aber, selbst wenn man alles Schlimme zusammenrechnet, was Sie bis zu Ihrem Abtauchen Anfang 1998 verbrochen haben, so waren das weitaus weniger Gewaltdelikte als beim jungen Joschka Fischer«.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1067374.nsu-mordserie-neue-rechte-verteidigt-nsu-terroristen.html

Peter Nowak

Stammheimer Todesnacht: Es bleiben zahlreiche Widersprüche

Kann der Tatort "Der rote Schatten" die Diskussion um die Todesumstände der RAF-Gefangenen neu beleben?

Der Tatort-Krimi Der rote Schatten[1], der am letzten Sonntag ausgestrahlt wurde, hat ein Verdienst. Er lenkt noch einmal die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass zahlreiche Widersprüche zur offiziellen Version der Todesumstände der RAF-Gefangenen am 18.Oktober 1977 in dem Isolationstrakt von Stammheim unaufgeklärt sind.

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Immer noch nicht alle Unklarheiten beseitigt

Helge Lehmann zu seiner Untersuchung, die die offizielle Todesversion der RAF-Gefangenen Baader, Ensslin und Raspe infrage stellt

Warum bezweifeln Sie noch immer, dass die RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe Selbstmord verübt haben?

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Versand im Getriebe

Beschäftigte von Amazon kämpfen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen

Der Weltkonzern Amazon weigert sich, seine Angestellten dem Tarif für den Einzel- und Versandhandel entsprechend zu entlohnen. Dagegen regt sich Widerstand.

Ende September sollte das neue Computerspiel »Fifa 18« erscheinen und viele Gamer sorgten sich, ob Amazon es ihnen pünktlich liefern werde. »So wie viele Spielerinnen und Spieler auf die Auslieferung des neuen Fifa-Spiels warten, warten die Beschäftigten auf faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen«, sagte Silke Zimmer von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi aus diesem Anlass. Pünktlich zum Erscheinen des Spiels waren Beschäftigte bei dem Versandhändler in Streik getreten. Sie forderten die Anwendung des Tarifvertrags des Einzel- und Versandhandels. Nach Angaben von Verdi kam es in den Versandzentren Graben, Leipzig, Bad Hersfeld, Werne und Koblenz zu Arbeitsniederlegungen. In dem Tarifkonflikt ist es bereits seit dem Frühjahr 2013 immer wieder zu Streiks gekommen, doch der Konzern weigert sich weiterhin, über die Gewerkschaftsforderungen zu verhandeln.

Der Arbeitskampf bei Amazon hat eine besondere Bedeutung über die unmittelbar Beteiligten hinaus. Zumindest in Ansätzen ist eine transnationale Organisierung entstanden. So gab es mehrere Treffen von Amazon-Beschäftigten aus Polen und Deutschland. Besonders die in der anarcho-syndikalistischen Basisgewerkschaft »Arbeiterinitiative« (IP) organisierten Kollegen in Poznań solidarisierten sich mit dem Arbeitskampf in Deutschland. Solche länderübergreifenden Solidarisierungen sind eher selten. Verdi kooperiert zudem in Polen mit der eher konservativen Gewerkschaft Solidarność, nicht aber mit der kämpferischen IP. Dass es trotzdem zu einer Kooperation der Beschäftigten kam, ist auch der Arbeit eines außergewerkschaftlichen Solidaritätsbündnisses zu verdanken. Besonders in Leipzig hat es engen Kontakt mit dem Teil der Belegschaft ent­wickelt, der sich regelmäßig an Streiks beteiligt. Es gab mittlerweile drei bundesweite Treffen.

Höhepunkt der Solidaritätswoche soll die Blockade des Amazon-Verteilzentrums in Berlin werden.

Für Ende November plant ein außerbetriebliches Bündnis eine Solidaritätswoche unter dem Motto »Make Amazon Pay«. Höhepunkt soll die Blockade des Amazon-Verteilzentrums in Berlin am 24. November werden. Der Termin ist mit Bedacht gewählt. Seit Wochen bewirbt das Versandunternehmen den 24. November als »Black ­Friday«. An diesem Tag will Amazon mit besonders günstigen Angeboten ­locken, so dass das Bestellaufkommen entsprechend hoch sein dürfte. Das Bündnis rechnet sich deshalb besonders gute Chancen aus, dem Konzern Einnahmeausfälle zu bescheren. Ein solcher Erfolg im Sinne der Initiatoren wird aber nur eintreten, wenn die Aktion nicht auf einen Standort beschränkt bleibt. Jonathan Schneider vom Vorbereitungskreis äußerte sich im Gespräch mit der Jungle World optimistisch. Er geht davon aus, dass das Vor­haben in mehreren europäischen Ländern unterstützt wird.


Aktionstag zum »Black Friday« Ende November

Auf einem bundesweiten Vorbereitungstreffen Mitte September in Berlin waren auch eine Gruppe von Beschäftigten aus Poznań und ein Betriebsratsmitglied vom Standort Brieselang anwesend. Für kritische Nachfragen sorgte allerdings die Abwesenheit von Beschäftigten aus streikerfahrenen Unternehmensstandorten wie Bad Hersfeld und Leipzig. Das Bündnis wolle in den kommenden Wochen diesen Kontakt verstärken, sagten die Organisatoren, bei denen das kommunistische Bündnis »Ums Ganze« federführend ist. Vertreten sind auch Mitglieder des Redaktionskollektivs Capulcu. Sie verstehen sich als »technologiekritische Aktivisten und Hacktivisten« und bringen dieser Tage unter dem Titel »Disrupt! Widerstand gegen den technologischen Angriff« ein Buch heraus, in dem sie den Angriff »auf die Lenkungslogik einer Big-Data-animierten Selbstoptimierung« propagieren.

Der Amazon-Konzern ist für Capulcu die Speerspitze einer solchen Entwicklung. Daher betont der Vorbereitungskreis für den Aktionstag zum »Black Friday«, dass es ihm nicht nur um die Forderungen der Beschäftigten nach einem besseren Tarifvertrag und mehr Lohn gehe. »Amazon ist stilprägend für ein neues Produktionsmodell, in dem intelligente Informationstechnologie zur effektiveren Unterwerfung menschlicher Arbeit genutzt wird«, sagte ein Capulcu-Vertreter auf dem Berliner Treffen. Amazon binde die Nutzer nicht nur beim Online-Shopping in den Prozess permanenter Bemessung und Bewertung ein. Ein Beispiel dafür sei die Auswertung sämtlicher verfügbarer Nutzerdaten. Die Amazon-Beschäftigten seien bereits vom Einsatz intelligenter Informationstechnologie betroffen. So gebe bei dem Konzern eine lernende Lagersoftware das Tempo und die Abfolge der Arbeitsschritte vor.

Ob die jüngsten Streiks tatsächlich die Auslieferung von »Fifa 18« verzögert ­haben, ist umstritten. »Das Unternehmen musste Kunden Briefe schicken, dass das Fifa-Spiel nicht rechtzeitig geliefert werden kann und stattdessen ein Fünf-Euro-Gutschein zur Verfügung gestellt wird«, sagte Verdi-Sprecherin Zimmer. Ein Amazon-Sprecher  ehauptete hingegen, das Lieferversprechen des Unternehmens sei eingehalten worden.

https://jungle.world/artikel/2017/41/versand-im-getriebe

Peter Nowak

Nach der Wahl in Österreich: Das „Modell Orban“ auf Erfolgskurs

Die Anbahnung neuer Bündnisse mit den Rechten und der Trump-Faktor

Aus der Landtagswahl in Niedersachsen kann jeder heraus lesen, was er will. Merkel sieht das Ziel eines grünschwarzgelben Bündnisses damit nicht erschwert. Die SPD ist zufrieden, dass sie auch unter Schulz nicht immer Wahlen verlieren kann. Und schon wird von davon geredet, dass die AfD mit knapp 6 Prozent ihren Zenit überschritten hat.

Dass die extrem zerstrittene niedersächsische AfD, in der sich noch kurz vor den Landtagswahlen Spitzenpolitiker gegenseitig verklagt und aus der Partei ausgeschlossen haben, überhaupt über die 5-Prozenthürde kam, zeigt, dass die AfD heute wirklich einen Besenstil aufstellen kann und trotzdem ins Parlament kommt. Die niedersächsischen Linken, die vor der Wahl jeden Streit aufgeschoben haben, hingegen haben es wieder nicht geschafft, was deutlich macht, dass es eine strukturell rechte Mehrheit auch in Deutschland gibt.

FPÖ hat Vorbildfunktion für Rechte in Deutschland

Doch interessanter als das niedersächsische Wahlergebnis ist das Ergebnis der Wahl in Österreich, die allgemein als Rechtsruck wahrgenommen wird. Zu den Wahlgewinnern gehört mit der konservativen ÖVP, die Schwesternpartei der Unionsparteien, und mit der FPÖ ein Vorbild der AfD und anderer Rechtspopulisten. Diese Vorbildfunktion ist weit älter als die AfD.

So wurde vor mehr als 20 Jahren der damalige FPÖ-Politiker Jörg Haider in rechten Kreisen zum Role-Modell eines Politikers, der den klassischen Rechtsextremismus mit dem Rechtspopulismus vereinigte[1]. Als Haider zu Diskussionsveranstaltungen in deutsche Fernsehstudios eingeladen wurde, träumte die damals noch zersplitterte deutsche Rechte jenseits der Union vom Modell FPÖ.

Die Parole „Mein Freund ist Ausländer“ trugen Rechte vor sich her, um ihr Idol zu verteidigen. Inzwischen ist Haider 8 Jahre tot, davor hat er die FPÖ in die Regierung geführt, dann gespalten und noch immer hat die Partei ihre Vorbildfunktion für die deutsche Rechte nicht verloren. Und noch immer funktioniert die Melange aus Rechtsextremismus und Rechtspopulismus hervorragend.

Die Neonazivergangenheit des FPÖ-Vorsitzenden ist unter dem Titel Die Akte Strache[2]/ gut aufgearbeitet, auch seine Kontakte zur später in Deutschland verbotenen Wikingjugend gehören dazu[3]. Doch der hat es längst nicht mal mehr nötig, etwas zu dementierten.

Die Entnazifizierung der FPO-Politiker funktioniert heute so wie damals bei ihren Großeltern. Die NS-Vergangenheit war – anders als ein Engagement im Widerstand gegen den NS – damals nicht karriereschädigend und eine Liaison mit der Wikingjugend hindert Strache nicht daran, sich heute seinen Koalitionspartner aussuchen zu können.

Denn neben der ÖVP haben auch die österreichischen Sozialdemokraten von der SPÖ längst klargemacht, dass sie sich eine Kooperation mit der FPÖ durchaus vorstellen können. In einigen Bundesländern klappt die Zusammenarbeit geräuschlos. Die Grünen blieben unter der in Österreich geltenden 4-Prozent-Hürde, auch weil der österreichische Boris Palmer namens Peter Pilz[4] eine eigene Liste aufgemacht hat. Die Liste KPÖ-Plus, auf der einige ehemals linke Grüne kandierten, konnte keine Wahlerfolge erzielen, will aber außerparlamentarisch weiterarbeiten[5].

Orban und Seehofer jubeln über das Wahlergebnis

Wenn also auch eine Querfront zwischen der SPÖ und der FPÖ nicht gänzlich ausgeschlossen ist, so ist doch ein Bündnis zwischen der ÖVP und der FPÖ wahrscheinlicher. Das gab es bereits 2000 schon einmal. In der EU wurde damals über Sanktionen für Österreich diskutiert. Am Ende zerlegte es sich durch interne Konflikte und vor allem Haiders Machtallüren. Doch heute hätte ein solches Bündnis im europa- und weltpolitischen Kontext einen besonderen Stellenwert. Denn mit einer solchen Koalition würden innerhalb Europas die Staaten gestärkt, die sich offen für eine stärkere Abriegelung Europas gegenüber den Migranten aussprechen[6].

Zu einen der Anführer dieser Staaten gehört rechtskonservative ungarische Regierungschef Orban, den die beiden österreichischen Wahlgewinner Strache und Kurz zum Vorbild erklärt haben[7]. Auch in den regierungsnahen ungarischen Medien war das Lob für das Wahlergebnis im Nachbarland groß.

Auch der Noch-CSU-Vorsitzende Seehofer hat immer wieder Orbans Politik gelobt[8] und ihm im letzten Jahr auch nach Deutschland eingeladen[9]. Deshalb verwundert es auch wenig, dass die Christsozialen längst ihre eigene Interpretation des österreichischen Wahlergebnisses verbreitet haben und damit sicher auch in der CDU auf Zustimmung stoßen.

Kurz stehe für Klartext in der Flüchtlings- und Europafrage und zeigt, dass die Konservativen damit Wahlen gewinnen können, heißt es aus München[10]. Dass zielt auf die Nachfolger von Merkel, wo immer seltener von Ursula von der Leyen und immer mehr von Jungkonservativen wie Spahn die Rede ist.

Implizit wird damit gesagt, dass die Union in der Flüchtlingsfrage so ungeniert von der AFD abschreiben sollte, wie es die ÖVP unter Kurz von der FPÖ getan hat. Dass es in Österreich nicht darum ging, die Rechtspopulisten klein zu halten, was als Strategie gegen die AfD in Deutschland noch ausgegeben wird, ist klar. Man will ja gemeinsam regieren. Und auch in Ungarn sorgt die rechte Fidesz-Partei mit ihren rassistischen und antisemitischen Kampagnen, dass es links von ihr kaum eine Opposition gibt. Die offen nazistische Jobbikpartei hat oft Schwierigkeiten, sich von der Regierungspartei abzugrenzen, weil die so weit nach rechts gerückt ist.

Die Rechten in der Union, die sich jetzt an Orban und Kurz orientieren, sind keine wirklichen Antipoden zur Merkel-Linie. Es geht nur um taktische Nuancen. Denn Merkel und ihre Anhänger wussten sehr wohl zu schätzen, dass die Orbanisten in verschiedenen Ländern mit der Schließung der Balkanroute zum massiven Rückgang der Migranten beigetragen hat. Nur offen sagen wollte man das nicht. Deshalb gehört Orbans Fidesz im Europäischen Parlament auch zur Europäischen Volkspartei[11], in der auch federführend die Unionsparteien sitzen.

Als Fidesz die antisemitische Kampagne gegen Soros initiierte, schienen manche in der EVP über eine Trennung von den ungarischen Rechten nachzudenken[12], die aber bis heute nicht vollzogen wurde.

Trumpfaktor nicht unwesentlich

Das könnte sich bei der Anbahnung neuer Bündnisse als nützlich erweisen. Denn es ist auch für die Union in der Nach-Merkel-Ära eine taktische Frage, wann sie mit einer AfD, die sich in den Parlamenten festgesetzt hat, Bündnisse eingeht. Doch neben der europäischen Dimension kommt noch ein weiterer Aspekt dazu, der Trump-Faktor.

Dass er bei seinen Europabesuch vor einigen Monaten Polen einen besonderen Besuch abstattete, wurde als Affront gegen Deutschland und die Merkel-Politik[13] interpretiert. Die rechtskonservative polnische Regierung lobt den US-Präsidenten dafür, dass er sich, anders als die EU und Deutschland, nicht ständig in die polnische Innenpolitik einmischt.

Tatsächlich wird mit dem Argument der Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit immer wieder versucht, eine Politik im ganzen EU-Raum durchzusetzen, die den deutschen Kapitalinteressen besonders passen. Wie wenig es dabei um die Rechtsstaatlichkeit geht, zeigt das Schweigen derselben EU, wenn es um die Verletzung der Menschenrechte durch die spanische Regierung gegen die katalonische Unabhängigkeitsbewegung geht.

Dort werden schon Menschen und Funktionsträger bestraft, weil sie nicht gegen eine friedliche Abstimmung und gegen friedliche Demonstranten vorgegangen sind, die für das Recht auf eine Abstimmung auf die Straße gegangen sind. Würde die Opposition in Russland oder Weißrussland so unterdrückt, wäre die Empörung in der EU groß. In Spanien sind die gewendeten Francofaschisten[14] als Partido Popular ebenfalls Teil der Europäischen Volkspartei.

Doch die Zusammenarbeit reicht bis viel weiter zurück. Franco-Spanien war ein Ort, in dem es sich ehemalige Nazis und Rechte aller Couleur wohlfühlten und auch führende Politiker der CDU/CSU lobten die klerikale Diktatur. Das ist nun etwa kein Grund für einen grünen Spitzenpolitiker wie Reinhard Bütikofer[15] von den Postfaschisten und ihren neuen Bündnispartnern die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern.

Nein, den katalonischen Regierungschef greift er[16] als „Schwindler“ an . Es sind nicht nur die von den Liberalen bekämpften Orban oder Kurz – die Rechte in Europa ist schon längst in wichtigen Positionen wie in Spanien.

Ob sie nun bekämpft oder gehätschelt wird, liegt vor allem an ökonomischen und geopolitischen Interessen und weniger an Begriffen wie Rechtsstaatlichkeit. Das wird aktuell durch die EU-konformen Menschenrechtsverletzungen der spanischen Regierung überdeutlich.

Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Nach-der-Wahl-in-Oesterreich-Das-Modell-Orban-auf-Erfolgskurs-3863300.html

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/rassismus_deutschland/rechtspopulismus-europa-100.html#Oesterreich
[2] http://gfx.sueddeutsche.de/apps/e563408/www
[3] http://diepresse.com/home/innenpolitik/324919/Affaere_HC-Strache-und-die-WikingJugend
[4] http://www.oe24.at/oesterreich/politik/wahl2017/pilz/Liste-Pilz-will-ihren-Namen-aendern/304236659
[5] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20171014_OTS0016/kpoe-plus-auftakt-zu-neuen-kaempfen-statt-wahlkampfabtakt-bild
[6] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/fpoe-will-oesterreich-in-die-visegrad-gruppe-bringen-15245016.html
[7] http://www.heute.at/politik/wahl17/story/Nationalratswahl-Politologe-analysiert-Ergebnis-Kurz-Strache-41344718
[8] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/horst-seehofer-kann-grenzzaun-rechnung-von-viktor-orban-nachvollziehen-a-1165924.html
[9] http://www.faz.net/aktuell/politik/orban-bei-seehofer-ungarischer-festakt-in-bayern-sorgt-fuer-empoerung-14470626.html
[10] http://www.tagesspiegel.de/politik/csu-zur-wahl-in-oesterreich-kurz-steht-fuer-klartext/20461282.html
[11] http://www.eppgroup.eu/de
[12] http://www.spiegel.de/politik/ausland/viktor-orban-seine-fidesz-partei-bringt-cdu-und-csu-in-verlegenheit-a-1142184.html
[13] http://www.handelsblatt.com/politik/international/trump-in-polen-dreifacher-angriff-auf-deutschland/20028084.html
[14] https://www.quora.com/What-is-the-history-of-Partido-Popular-in-Spain-as-it-relates-to-Franco
[15] http://reinhardbuetikofer.eu
[16] http://www.deutschlandfunk.de/katalonien-gruenen-europachef-buetikofer-wirft-puigdemont.1939.de.html?drn:news_id=802163
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Der ostdeutsche Patient und seine Gesundbeter

Nach dem AfD-Erfolg wächst die Schar der Ossi-Versteher

Die Wahlerfolge der AfD haben vielerlei Diskussionen ausgelöst. In der Jungle World wird diskutiert, ob das Mehrheits- oder das Verhältniswahlrecht die Rechten kleinhält. Andere bekennen sich umso inniger zur bürgerlichen Demokratie als der besten aller Welten. Und auch eine Ossi-Debatte haben uns die Rechten eingebrockt.

Ist die AfD in der ehemaligen DDR deshalb besonders erfolgreich, weil die Ossis späte Rache an der westlichen Arroganz nehmen wollen. Das zumindest behauptete[1] die Inlandredakteurin der Taz Simone Schmollack.

Sie hatten auch gehofft, irgendwann bekommen sie ihr Land wieder – nachdem die Treuhand die sogenannte dritte Garde aus Westmanagern nach Delitzsch, Wittenberge und Chemnitz geschickt hatte, um Betriebe abzuwickeln. Irgendwann brummen ostdeutsche Wirtschaft und Wissenschaft schon wieder – hatten sie geglaubt. Und die Politik in Neubrandenburg, Zwickau und Erfurt werde von Ostdeutschen gemacht. So wie auch Zeitungen, Radio und Fernsehen. Irgendwann haben wir unser Land wieder. Dafür nehmen wir auch mal diese westdeutsche Arroganz in Kauf. Im Verdrängen sind wir ja gut.

Heute, fast 30 Jahre nach dem Ende der DDR, haben die Ostdeutschen ihr Land aber nicht wieder. Es ist nach wie vor in Wessihand. Nicht in den verödeten ostdeutschen Dörfern in der Prignitz, im Muldentallandkreis, im Ueckerrandowkreis. Dort herrscht ostdeutsche Lethargie vom Feinsten: Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Alter.

Simone Schmollack

DDR-Bevölkerung hat den Kapitalismus bekommen, den sie mehrheitlich gewählt hat

Schmollack beschreibt recht präzise den Elitenwechsel nach 1989, vergisst aber das Wesentliche. Es geschah eine kapitalistische Landnahme, gegen die sich die Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht gewehrt hat. Sie hat vielmehr genau der Allianz für Deutschland um Helmut Kohl die Mehrheiten gegeben, die die besonders schnelle Durchsetzung des westdeutschen Kapitalismus versprochen hat.

Hätte die DDR-Bevölkerung im politischen Unterricht besser aufgepasst, hätte ihnen schon auffallen müssen, dass der Mehrheit der Bevölkerung im Kapitalismus nicht das Land, nicht die Fabriken und nicht die Häuser gehören. Vor 1989 gehörte es im Wesentlichen einer aus Kernen der alten Arbeiterbewegung entsprungenen Nomenklatura. Dagegen hat die Mehrheit der DDR-Bevölkerung auf den ganz normalen Kapitalismus gesetzt und den hat sie bekommen.

Auch Katharina Rohnstock ist Ossi-Versteherin. Sie hat das sogar zu ihrem Beruf gemacht. Ihre Firma[2] hat sich auf das Schreiben von vor allem ostdeutschen Biographien spezialisiert. In der Wochenzeitung Freitag hat sie zumindest anerkannt, dass der Kapitalismus nicht einfach über die DDR-Bevölkerung übergestülpt wurde.

Nach der Wende haben viele Menschen zwischen Rostock und Zwickau mit großem Enthusiasmus die CDU gewählt und wurden enttäuscht: Blühende Landschaften fanden sie vorzugsweise dort, wo Unkraut in abgewrackten Fabriken spross. Dann wandten sich viele der SPD zu, in der Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit – und wieder hatten sie sich getäuscht.

Und die Linken, organisiert in der PDS? Sie hätte am ehesten die Stimme des Ostens sein können, kämpfte aber jahrelang um ihre Existenz, gegen Rote-Socken-Kampagnen und Stasi-Vorwürfe. Die Linken versäumten es, gemeinsam mit den Menschen in den neuen Ländern an einer Geschichte zu schreiben, die Lebensleistungen reflektierte und ein selbstbestimmter Gegenentwurf zum herrschenden Geschichtsbild war.

Katharina Rohnstock

Keine Rache an den Wessis, sondern Kampfansage an Minderheiten und Schwächere

Wenn den Ostdeutschen ihre kollektive Erziehung vorgeworfen wurde, hätten sie genau diese Kollektivität verteidigen können und sich so gegen das kapitalistische Modell der Individualisierung wehren können. Wer sich stattdessen beklagt, dass er sich als Deutscher zweiter Klasse fühlt, geht ganz bewusst den Weg der ethnischen Ausgrenzung und des Sozialrassismus.

Die Wahl der AfD ist dann keine Rache an „arroganten Wessis“, sondern die bewusste Einordnung in das kapitalistische Konkurrenzsystem mit seinen Ausgrenzungsmechanismen. Mit der Wahl setzt dieser Teil der DDR-Bevölkerung ihre Zustimmung zum kapitalistischen System fort, die sie seit 1989 praktiziert haben. Auch Rohnstock hat kein Interesse, ein solches System zu hinterfragen. So wendet sie sich an die großen Ossi-Versteher aller Parteien:

Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) schon. Sie wird, seit sie das tut, mit verzweifelten, traurigen, ängstlichen Geschichten überschwemmt. Sie erkennt an, das die Vita eines Menschen gewürdigt sein will. Es bräuchte tausend solcher Ohren, um Ostdeutsche erzählen zu lassen. Erzählen befreit und ist eine gesellschaftliche Ressource, die weitgehend unentdeckt ist. Anstatt in die Infrastruktur sollte in eine Sozialstruktur investiert werden, die gemeinschaftsbildende Prozesse ermöglicht. Sie sollte Fördermittel bereitstellen, damit Kommunikationsräume wie der Dorfkonsum und die Dorfkneipe in strukturschwachen Regionen neu entstehen können.

Katharina Rohnstock

Auch der Sportredakteur der Taz, Markus Völker, hat ein Herz für Ossis. Er kritisiert[5], dass den Ossis nach der Wahl der Aluhut aufgesetzt worden sei:

Im sozialen Gefüge ist etwas nicht in Ordnung, aber der Ossi als Symptomträger muss es ausbaden. Er wird in der Öffentlichkeit als komisches Wesen, als Homo zoniensis vorgeführt.

Markus Völker

Alternative Recherchekreise mit alternativen Wahrheiten

Am Ende landet Völker bei der Totalitarismustheorie und Relativierung:

Der Osten wählt nur ein bisschen anders als der Westen, er schaut mehr auf die Ränder, zu den Linken und zur AfD, aber das sind ja nun auch Parteien, die sich zum Grundgesetz bekennen und nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden.

Markus Völker

Auch sonst sind die von Völker imaginierten Ossis ganz harmlos.

Die Politik verkaufte Losungen, aber erst mal keine Lösungen. Das hat den Osten skeptisch gemacht und erneut politisiert. Man bildete wieder private Recherchekreise, suchte selbst nach Wahrheiten und stellte „die da oben“ in Frage – das typische Nischenverhalten, wie man es vor 1989 gelernt hat.

Markus Völker
Dass es „den Osten“ ebenso wenig gibt wie den Westen, scheint Völker gar nicht aufgefallen zu sein. Seine alternativen Netzwerke verbreiten dann eben ihre alternativen Wahrheiten zur Flüchtlingspolitik, dem Klimawandel und manche sind dann sogar der Meinung, dass das Deutsche Reich von 1939 weiterbesteht und die NSU eine Geheimdienstoperation gegen Deutschland war. Zumindest haben manche Taz-Leser gegen diese Relativierung rechter Politik Einspruch erhoben und gefragt, warum jeder Journalist, der in der DDR geboren wurde, als Ossi-Experte durchgehen kann.

Kein Sommer für Bornstedt

Die neue Ossi-Debatte bestätigt einmal mehr, dass sich Geschichte oft als Farce wiederholt. Denn schon Ende der 1990er Jahre gab es in der Linken eine ähnliche Diskussion, aber auf höherem Niveau. Auch damals entschuldigten einige Traditionslinke die rassistischen Einstellungen mancher Ostdeutscher als Rache der Entmündigten.

Damals prägten schlauere Linke den Begriff Gollwitz-Linke[6] nach dem Ort in Brandenburg, an dem sich die Debatte zuspitzte. Dort wollte eine Mehrheit verhindern[7], dass jüdische Migranten in einem leerstehenden Gebäude untergebracht werden. Die Diskussion führte wesentlich zur Herausbildung einer antideutschen Strömung in Teilen der ostdeutschen Antifa, die nicht in das Lied von den so entrechteten Ostdeutschen einstimmen wollte und sich mit den Opfern ihrer Rache solidarisierte.

Mit teils martialischen[8], teils spielerischen[9] Parolen ärgerten sie die Traditionslinke, trugen aber auch zu emanzipatorischen Debatten bei.

30 Jahre später wäre es auch eine Farce, wenn sich als Antwort auf die Versteher der Rache der Entmündigten erneut eine solche antideutsche Strömung bilden würde. Das war der Tenor einer kürzlich in Berlin durchgeführten Veranstaltung[10] über die antideutsche Antifa in Ostdeutschland.

Es gab 1989 eine Alternative, die die Mehrheit der Ossis ausschlug

Sinnvoller ist es, sich die tatsächliche Geschichte der DDR-Opposition gegen den autoritären Staat genauer anzuschauen. So wissen viele nicht, dass auch die Unabhängige Antifa in der DDR bereits 1987 entstanden ist, worüber ein kürzlich im Dampfbootverlag erschienenes Buch[11] informiert. Sie war Teil einer linken DDR-Opposition, die sich gegen die autoritäre SED-Herrschaft ebenso wendete wie gegen die kapitalistische Annexion.

Einen solchen 3. Weg gab es auch in den DDR-Betrieben[12]. Hier wird deutlich, dass es Ende der 1989 Alternativen gab, die die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung ausgeschlagen hat. Die, die jetzt von den Ossi-Verstehern als Opfer der Verhältnisse dargestellt werden, haben oft im DDR-Staat als Blockwarte mitgetan, um im Herbst 1989 mit Deutschlandfahnen und Kohl-Elogen die neuen Machtverhältnisse abzufeiern. Die linke DDR-Opposition wurde bereits seit Oktober 1989 als Wandlitzkinder beschimpft und bedroht.

Es ist nicht erstaunlich, dass die neuen Ossi-Versteher auf diese Opposition gar nicht eingehen. Dann müssten sie zumindest konstatieren, dass der Kapitalismus nicht einfach über den Osten gestülpt wurde, sondern von einem großen Teil der Bevölkerung begrüßt wurde und wird. Wenn ein Teil davon jetzt AfD wählt, setzen sie nur auf einen weiteren Akteur, der ihnen die Zumutungen des Kapitalismus mit Hetze gegen Schwächere und Minderheiten versüßt.

https://www.heise.de/tp/features/Der-ostdeutsche-Patient-und-seine-Gesundbeter-3862080.html

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.taz.de/!5447829/
[2] http://www.rohnstock-biografien.de
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Bl%C3%BChende_Landschaften#/media/File:KAS-Sympathiewerbung-Bild-2893-1.jpg
[4] https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en
[5] http://www.taz.de/!5451143/
[6] https://jungle.world/artikel/2007/26/globale-gollwitz-linke
[7] https://www.jungle.world/artikel/1997/44/sympathie-fuer-die-gollwitzer
[8] http://de.indymedia.org/2002/07/25412.shtml
[9] http://www.neues-deutschland.de/artikel/651187.geist-ergib-dich-oder-was.html
[10] http://berlin.carpediem.cd/events/4817064-antideutsch-in-ostdeutschland-versuch-einer-rekonstruktion-at-baiz/
[11] http://www.dampfboot-verlag.de/shop/artikel/30-jahre-antifa-in-ostdeutschland
[12] http://www.dr-huertgen.de/publics/aufbruch.htm

Satire oder Volksverhetzung?

Redaktion eines Münsteraner Stadtmagazins entschuldigt sich und übt Selbstkritik

»Von der Maas bis an die Memel mit ruhig festem Schritt, schleift die langen Messer, wir werden sie jagen, bis das Judenblut vom Messer spritzt.« Solche Verse fanden sich kürzlich nicht etwa in einer rechtsextremen Zeitung, sondern in dem Münsteraner Kulturmagazin »Ultimo« unter der Rubrik »Setzers Abende«. »Das ist der Platz für Satire«, betont Rainer Liedmeyer gegenüber dem »nd«. Der Ultimo-Geschäftsführer erklärt, dass es dem Verfasser dieser Zeilen darum gegangen sei, die Geistesverwandtschaft zwischen Nazis und AfD zu zeigen. Daher habe er Zitate von AfD-Politikern mit Blut-und-Boden-Versen aus NS-Liedgut gemischt.

Doch nicht alle haben die antifaschistische Intention der Satire verstanden. Zwei LeserInnen erstatteten Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft Münster bestätigte gegenüber der Lokalzeitung »Westfälischen Nachrichten«, dass sie Ermittlungen eingeleitet habe. Es bestehe ein Anfangsverdacht der Volksverhetzung.

Auch die Stadt Münster distanzierte sich von den Versen. »Soweit mir bekannt, gab es einen vergleichbaren Beitrag in dem Magazin noch niemals. Deshalb gehe ich davon aus, dass es sich um eine einmalige Entgleisung handelt«, erklärte der Pressesprecher der Bezirksregierung Münster, Joachim Schiek. Die Stadtwerke Münster stornierten vorerst die Anzeigen in »Ultimo«. »Ob Satire oder nicht – das ist ganz eindeutig kein Umfeld, in dem wir Werbung schalten wollen«, begründete Unternehmenssprecher Martin Schuster gegenüber den »Westfälischen Nachrichten« diese Entscheidung.

In der aktuellen »Ultimo«-Ausgabe entschuldigte sich die Redaktion bei den Lesern und übte Selbstkritik: »Vielleicht hätten wir zum Gedicht eine kleine Erklärung hinzufügen sollen, um Irritationen zu vermeiden und darauf hinzuweisen, dass es sich um eine satirische Montage handelt.« Man habe geglaubt, »dass alle, die ›Ultimo‹ kennen, gar nicht auf die Idee kommen, dort würde braune Propaganda verbreitet«, betonte Liedmeyer gegenüber dem »nd«. Die Zeitung habe in ihrer 30-jährigen Geschichte immer eher links gestanden und bereite in der nächsten Zeitung ein Konzert mit der antifaschistischen Band Antilopengang vor.

Linus Becker von der Antifaschistischen Aktion Münster findet es nicht so unverständlich, dass die satirischen Zeilen von manchen Lesern missverstanden wurden. Bereits seit mehreren Jahren stehe ein Mitarbeiter der »Ultimo« wegen rechtslastiger Texte in der Kritik. Die hat er zumindest zeitweise in der rechtskonservativen Wochenzeitung »Junge Freiheit«, aber auch in der Zeitschrift »Westfalium« veröffentlicht.

»Politisch korrekte Sittenwächter in Münster wollen den Hindenburgplatz der Domstadt umbenennen, weil der greise Generalfeldmarschall der Machtübernahme Hitlers nicht entgegenwirkte«, kommentierte der Autor die Initiative eines Münsteraner Bündnisses. »Seit einigen Jahren widmen sich hundertfünfzigprozentige Ideologen eifrig der Säuberung von Straßennamen. In vielen Städten werden Ostpreußen-Viertel getilgt, Staatsdiener des Kaiserreichs entfernt und die politische Gesinnung von Künstlern durchleuchtet«, moniert der Autor.

In einer kurzen Stellungnahme erklärte der Autor, die Zusammenarbeit mit der Wochenzeitung »Junge Freiheit« habe er schnell beendet. Vorwürfe der Antifaschistischen Aktion Münster, er habe danach unter Pseudonym weiter Artikel verfasst, bestreitet er.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066949.satire-oder-volksverhetzung.html

Peter Nowak

Berlin: Werbung verbieten!?

Romantische Kulturkritik und „Sexismus shouldn’t sell“ – Generalverbote sind der falsche Ansatz

Im Berliner Mittelstandskiez Schöneberg gibt es viele Initiativen, die sich gegen die Abholzung von Bäumen, für Baumscheiben und Urbangardening und auch für die stadtteilgerechte Nutzung des Baudenkmals Gasometer[1] engagieren. Ein Kritikpunkt der Anwohner ist die Leuchtwerbung[2] an der Außenwand des Gasometers. Hier geht es nicht um die Kritik an der Werbung im Allgemeinen, sondern um konkrete Inhalte. Welche Beweggründe die Kritiker der Werbung haben, kann man nur zwischen den Zeilen lesen. Dort heißt es etwa:

Außenwerbung an einem Industriedenkmal wie dem Schöneberger Gasometer ist durchaus nicht selbstverständlich. Da der Gesamteindruck des Bauwerks durch das Geflimmer der Leuchtwerbung erheblich beeinträchtigt wird, müssen aus Sicht der Genehmigungsbehörde besondere Gründe erkennbar sein, die das rechtfertigen. Ein solcher Grund war in diesem Fall, die Zusage des Eigentümers, den Gasometer zu sanieren.

Bi-Gasometer.de[3]

Nun könnte man denken, dass man schon wohlhabend genug ist, um sich Gedanken zu machen, ob eine Außenwerbung die Außenwirkung des Berliner Gasometers beeinträchtigt. Viele würden sagen, die Lichtwerbung bringt sie überhaupt dazu, mal dort hinzugucken. Dass es sich nicht um grundsätzliche Werbekritik geht, zeigt sich schon daran, dass Bi-Gasometer lediglich kritisiert, dass die Werbeeinnahmen nicht für die Sanierung des Gasometers verwendet werden. Hier geht es wohl eher um unterschiedliche Konzepte der Aufwertung eines Stadtteils.

Zwischen Recht auf Stadt und romantischer Kulturkritik

Dagegen hat die Initiative Berlin Werbefrei[4] eine grundsätzliche Kritik. Sie bereitet einVolksbegehren[5] vor, um die Außenwerbung in Berlin stark einzuschränken. Dabei vermischen sich bei ihr Kritik an der kapitalistischen Zurichtung öffentlicher Räume mit konservativer Kulturkritik. So lautet ein Kritikpunkt:

Die massive Zunahme und neue Formen von Werbung wirken sich negativ auf das Stadtbild aus. Das individuelle Gesicht der Stadt verschwindet. Stadt- und Landschaftsräume werden durch Werbung verunstaltet. Die Stadt wird von immer mehr Plakat-, Licht- und Display-Werbung überflutet. Der öffentliche Raum wird banalisiert.

Volksentscheid Berlin Werbefrei[6]

Hier klingt unverkennbar die Kulturkritik der Romantik durch. Bereits im 19 Jahrhundert wurde beklagt, wie die Landschaft und die historischen Bauten von Fabrikschloten und Eisenbahnen banalisiert und abgewertet werden. Ansonsten betonen die Initiatoren des geplanten Volksbegehrens, dass es ihnen nicht darum gehe, Werbung generell aus der Stadt zu verbannen.

Sie wollen einen „verträglichen Umgang mit Werbeflächen im Öffentlichen Raum“ durchsetzen. Nur ist es fraglich, ob es eine Einigung darüber geben wird, wie der „verträgliche Umgang“ denn aussieht. Auffallend ist, dass bei den Werbekritikern der Zusammenhang zwischen Reklame und Kapitalismus gänzlich ausgespart wird. Dem belesenen Taz-Kolumnist Helmut Höge ist dieser Zusammenhang natürlich nicht entgangen.

Er verweist in seiner Kolumne[7] auf die Gedanken des marxistischen Wirtschaftstheoretikers Alfred Sohn-Rethel[8], wonach es in der kapitalistischen Produktion von Anfang an eine Überproduktion gab, die ständigen Absatzdruck hervorruft. Dabei wird die Werbung immer wichtiger.

Hierin liegt auch der Grund, warum es in den nominalsozialistischen Gesellschaften kaum Produktwerbung, dafür aber Parolen gab, um die Menschen zu guter Arbeit anzustupsen. Die Werbekritiker, die den Zusammenhang zwischen den Objekten ihrer Kritik und dem Kapitalismus nicht erwähnen, geraten so schnell in die Gefilde romantischer Kulturkritik und die Beschwörung von unverfälschter Natur -und Stadtbilder.

„Sexismus shouldn’t sell“

Eine große Diskussion hat auch die Initiative des Bezirksamt des Berliner Stadtteils Kreuzberg-Friedrichshain[9] zur Eindämmung und möglichen Verbannung als sexistisch eingeschätzte Werbung[10] in dem Stadtteil ausgelöst.

Hier geht es nicht um eine generelle Kritik an der Werbung, sondern an den Inhalten. Auch da wird es natürlich schwer sein, eine gesellschaftliche Übereinkunft darüber zu finden, wann Werbung diskriminierend und sexistisch ist. In einem Taz-Interview[11]erklärte die Gleichstellungsbeauftrage von Friedrichshain-Kreuzberg, Petra Koch-Knöbel[12], dass für sie Bordellwerbung dazu gehören würde .

Taz: Bordellwerbung halten Sie für diskriminierend?
Petra Koch-Knöbel: Auf jeden Fall, ja. Frauen werden hier als käufliche Sexualobjekte dargestellt. Damit sollte man Jugendliche nicht pausenlos konfrontieren.
Taz: Die Grünen wollten doch bisher die Stigmatisierung der Sexarbeiterinnen beenden und ihren Beruf normalisieren. Und denen sagen Sie jetzt, dass sie für ihren Beruf nicht werben dürfen?
Petra Koch-Knöbel: Nicht auf großen Plakaten im öffentlichen Raum. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich bin für die Rechte der Prostituierten. Aber es ist nicht wegzudiskutieren, dass das ein Beruf mit einem problematischen Frauenbild ist, für den man nicht öffentlich mit Großplakaten werben sollte.

Interview Taz: „Sie werden Frischfleisch genannt“[13]

Hier wird der Widerspruch deutlich, dass einerseits Sexarbeiterinnen nicht mehr diskriminiert werden sollen und anderseits durch das Werbetabu doch wieder eine neue Schranke eingebaut wird. Auch die Frage, ob Werbung mit rosa T-Shirts diskriminierend ist, dürfte die Gemüter erhitzen.

Taz: Rollenstereotype lehnen Sie auch ab und wollen sie nicht mehr auf Plakaten reproduziert sehen. Heißt das: Kein rosa T-Shirt mehr für Mädchen?
Petra Koch-Knöbel: Genau. Die Eltern können ruhig auch mal nachdenken darüber, wie sie ihre Kinder einengen, wenn sie sie nur in Klischeeklamotten stecken.

Interview Taz: „Sie werden Frischfleisch genannt“[14]

In den USA gab es heftige Diskussionen über den möglicherweise rassistischen Anteilen in einem kurzen Werbeclip der Kosmetikfirma Dove[15]. Hierbei wird aber auch die Problematik deutlich, wenn man die Klassenverhältnisse vergisst. Wo der akademische Mittelstand darüber diskutiert, ob diese oder jede Werbung diskriminierend ist, fragen sich einkommensarme Menschen, ob sie sich die beworbenen Produkte leisten können.

Es ist auch bezeichnend, dass bei der Werbekritik selten thematisiert wird, dass und wie durch Werbung das Begehren nach oft besonders teuren Modeprodukten gefördert werden. Es werden Jugendliche gemoppt, wenn sie sich die angesagten Klamotten bestimmter Sportfirmen nicht leisten können. Ist dieses Problem heute nicht in den Schulen relevanter als das vielzitierte rosa T-Shirt?

Zudem finden sich in Berlin an einigen exponierten Stellen Werbung für die Polizei und Sicherheitsdienste. Auf einem Poster ist ein Mann zu sehen, der von der Polizei in einer U-Bahnstation in Polizeibegleitung abgeführt wird. Sofort werden Assoziationen zu einkommensarmen Menschen wach? Ist eine solche Werbung nicht auch diskriminierend?

Adbusting statt Werbeverbote

Solche Fragen stellen sich eher Gruppen, die nicht unbedingt für ein Verbot, sondern für einen kreativen Umgang mit der Werbung eintreten. Längst gibt es Adbusting-Workshops[16], wo diese Art der Werbekritik auch praktisch eingeübt werden kann. Eine solche Herangehensweise ist staatlichen oder kommunalen Verboten eindeutig vorzuziehen.

Sie führt dazu, dass sich Menschen selber Gedanken über die Werbung machen, die sie aushalten wollen oder nicht. Wenn Menschen eine Werbung als sexistisch empfinden, ist es alle Mal besser, sie drücken diese Kritik am konkreten Produkt aus, als dass sie einen Antrag ausfüllen, der zu einem Verbot führen soll.

Bei einer solchen kreativen Werbekritik geht es dann tatsächlich um die Inhalte der Werbung und nicht um ein Beklagen von angeblich geschädigter Natur oder Landschaft.

Ein Generalverdikt gegen die Werbung an sich verbietet sich schon deshalb, weil mittlerweile auch die Kunst in die Branche eingezogen ist. Ästhetisch sind solche Produkte gegenüber den grauen Betonwänden auf jeden Fall ein Gewinn.

https://www.heise.de/tp/features/Berlin-Werbung-verbieten-3858720.html

Peter Nowak
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[4] https://berlin-werbefrei.de/
[5] https://berlin-werbefrei.de/gesetzestext_und_begruendung.html
[6] https://berlin-werbefrei.de/aussenwerbung.html
[7] http://www.taz.de/Archiv-Suche/!5450748&s=&SuchRahmen=Print
[8] https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=118615246
[9] https://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg
[10] https://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg/politik-und-verwaltung/beauftragte/gleichstellung/frauenfeindliche-werbung/
[11] http://www.taz.de/!5450696/
[12] https://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg/politik-und-verwaltung/beauftragte/gleichstellung/
[13] http://www.taz.de/!5450696/
[14] http://www.taz.de/!5450696/
[15] https://www.nytimes.com/2017/10/08/business/dove-ad-racist.html
[16] http://www.adbusters.org/

Justizposse um Furz gegen Polizei

Exakt 17 Stunden und 13 Minuten brauchten MitarbeiterInnen der Polizei und der Justiz, um eine ungewöhnliche Strafanzeige zu bearbeiten. Ein Mann soll eine Polizistin beleidigt haben, weil er bei einer Personenkontrolle in ihrer Nähe gefurzt habe. Der Mann bekam einen Strafbefehl über 900 Euro. Nachdem er Widerspruch einlegte, stellte das Amtsgericht Tiergarten das Gerichtsverfahren umgehend ein. Die Kosten für den Prozess und den Anwalt des Angeklagten übernahm die Staatskasse.
»Wir haben wirklich andere Probleme in Berlin und hätten das Geld besser für die Prävention und die strafrechtliche Verfolgung von islamistischen Straftaten verwenden können«, kritisiert Sebastian Schlüsselburg, Rechtsexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, den Verfolgungseifer wegen etwas heißer Luft.
Schlüsselburg hatte eine Schriftliche Anfrage nach dem Zeitaufwand der Ermittlungen gestellt. Er zeigte sich im nd-Gespräch »verwundert, dass die Staatsanwaltschaft nicht frühzeitig von ihrer Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens Gebrauch gemacht hat«. Unverständlich findet es der Politiker auch, dass nicht die Polizistin, die den Furz wahrgenommen hatte, sondern ihr Einsatzleiter die Anzeige stellte.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066673.polizei-berlin-justizposse-um-furz-gegen-polizei.html
Peter Nowak

Justizposse kostet 87 Euro

Ein Furz bei einer Personenkontrolle in der Rigaer Straße sorgt für Nachwehen. Abgeordneter Sebastian Schlüssenburg (Linke) ließ die Kosten errechnen

Viel Spott zogen sich die Justiz­behörden zu, nachdem bekannt geworden war, dass Christopher S. einen Strafbefehl von 900 Euro erhalten hatte, weil er bei einer Personenkontrolle in der Rigaer Straße in der Nähe einer Polizistin einen Furz gelassen hatte. Nicht die Beamtin, son­ dern der Einsatzleiter stellte eine Anzeige. Für Christopher S. ging die Angelegenheit glimpf­lich aus. Das Berliner Amtsgericht stellte das Verfahren ein. Viel Wind um nichts, lautete der kurze Kommentar einer Pro­zessbesucherin. Doch umsonst war die Justizposse keineswegs.
Sebastian Schlüsselburg, Mit­glied der Linken im Abgeordne­tenhaus wollte vom Senat wis­ sen, wie hoch der Zeitaufwand und die Kosten für die Ermitt­lungen im Furz­-Verfahren war.
In ihrer Antwort listete Martina Gerlach, Staatssekretärin für Justiz und Verbraucherschutz, auf, dass 23 Dienstkräfte mit ei­nem Zeitaufwand von 17 Stun­ den und 13 Minuten mit der Be­arbeitung des Falls beschäftigt waren. Die Zeit setze sich „zu­sammen aus den polizeilichen Maßnahmen vor Ort, der späte­ren Sachbearbeitung und dem zeitlichen Aufwand für die rich­terliche Vorladung“.
Die MitarbeiterInnen von Schlüsselburg errechneten aus diesen Angaben Kosten in Höhe von lediglich 87,25 Euro. „In die­ ser Rechnung werden die Ar­beitsaufwendungen der Mitar­ beiterInnen von Gericht und Staatsanwaltschaft nicht mit einbezogen“, erklärte Schlüs­selburg gegenüber der taz. Auch die Kosten des nach 20 Minuten mit einer Einstellung beendeten Gerichtsprozesses Anfang Sep­tember und des Leipziger An­walts von Christopher S., die die Staatskasse trägt, konnten nicht berücksichtigt werden.
„Wir haben wirklich andere Probleme in Berlin und könn­ten das Geld für den Ausbau von Prävention und juristischer Verfolgung von Islamismus ver­ wenden“, kritisierte Schlüssel­burg den Verfolgungseifer.
Derweil gehen im Gefahren­ gebiet der Rigaer Straße die um­ strittenen und kostenintensi­ven Polizeimaßnahmen weiter. So rückte vor weniger Tagen die Polizei mit Feuerwehr und Be­weissicherungstrupp an, um ein Transparent von der Fassade der Rigaer Straße 94 zu entfernen, weil es das Logo der linken On­ lineplattform indymedia zeigte. Doch auch nach dem Verbot von indymedia­linksunten ist das Zeigen des Symbols bisher nicht strafbar.

aus Taz: 13.10.2017
Peter Nowak