Nie habe ich die moralische Atmosphäre giftiger und erstickender empfunden, als jetzt, nie unsere Einsamkeit hilfloser, unser Wort sinnloser.» Diese pessimistischen Zeilen schrieb Stefan Zweig am 8. Februar 1921 an seinen Freund und Schriftstellerkollegen Romain Rolland. Die beiden Pazifisten gehörten während des Ersten Weltkriegs zu den wenigen intellektuellen Stimmen, die sich gegen Nationalismus, Militarismus und Kriegsbegeisterung in Deutschland und Frankreich wandten. Nach dem Ende des Massenmordens, so hofften sie, …
„Nie war unsere Einsamkeit hilfloser“ weiterlesenKategorie: Buchrezensionen
Anarcho-Syndikalismus in Deutschland 1933 – 1945
„Von Schweden nach Spanien“, so der Titel eines im Dezember 2023 in der Graswurzelrevolution Nr. 484 erschienenen Artikels von Jürgen Mümken über Syndikalist*innen aus aller Welt, die gegen den Franco-Faschismus kämpften. Dort wird auch ein Emil Hessenthaler erwähnt, dessen Geburtsjahr mit 1914 angegeben wird. Das Todesjahr war ebenso wenig bekannt wie weitere Details aus dem Leben Hessenthalers. Lediglich eine Anmerkung gab es noch zu ihm. Er sei vorher Kommunist gewesen und erst kurz vor ihrem Einsatz in Spanien der Exilorganisation „Deutsche Anarcharchosyndikalisten“ (DAS) (1) beigetreten. Doch jetzt wissen wir mehr über die „Odyssee des Emil Hessenthaler“. So ist ein zweiseitiger Text in dem Buch …
„Anarcho-Syndikalismus in Deutschland 1933 – 1945“ weiterlesenEine quellenreiche Pionierarbeit
»Europa den Räten«, lautete der Titel einer Tagung, zu der die Rosa-Luxemburg-Stiftung Anfang November 2023 in die Berliner Volksbühne eingeladen hatte. Dort ging es allerdings um die Wahl zum Europarat. Mit der historischen Strömung des Rätekommunismus hatte die Veranstaltung wenig zu tun. Wer sich darüber genauer informieren will, sollte zum Biografischen Lexikon greifen, in dem über 600 Personen aufgeführt sind, die zumindest zeitweise mit der rätekommunistischen Bewegung in Kontakt standen.
Die Grundlage für das Buch bildete …
Eine Streitschrift gegen das mo(r)dernisierte Deutschland
Ein solches Statement hätte man vor einigen Jahren in Deutschland höchstens irgendwelchen Rechtsaussen-Figuren zugetraut, die noch immer nicht die deutsche Niederlage von Stalingrad überwunden haben. Doch es stammt aktuell vom gut vernetzten CDU-Politiker Roderich Kiesewetter. 80 Jahre nach der Niederlage von Stalingrad gehört es wieder zur deutschen Regierungspolitik, den Krieg …
„Eine Streitschrift gegen das mo(r)dernisierte Deutschland“ weiterlesenMarktwirtschaft ohne Kapitalismus?
Wenn ich in einem Vortrag ständig die Vorsilbe „post“ höre, rufe ich meinen Freund Hartmut an. Der ist Briefzusteller und kennt sich zumindest in einem wichtigen Teilbereich der Post aus. Natürlich weiß ich, dass der Kalauer schon abgegriffen ist. Trotzdem reagiere ich eher allergisch auf Wortzusammensetzungen, die mit dem Vorsatz „Post-“ beginnen. Deshalb habe ich auch das umfangreiche Kompendium erstmal ins Regal gestellt, das mir unter dem Titel „Das postkapitalistische Manifest“ zugesandt wurde. Zumal mich auch der Untertitel nicht zur schnellen Lektüre anspornte. Er lautet: …
„Marktwirtschaft ohne Kapitalismus?“ weiterlesenGänzlich ohne Trigger-Warnung
Eigentlich hat die Rote Armee Fraktion (RAF) in der letzten Zeit fast nur noch Historiker*innen interessiert. Doch jetzt zieht die Geschichte der Stadtguerilla, die sich 1998 auflöste, viele Menschen zu Lesungen in Buchläden oder Kunsteinrichtungen. Dafür sorgt der Roman »Erzählung zur Sache« von Stephanie Bart. Die 1965 in Esslingen am Neckar geborene und heute in Berlin lebende Schriftstellerin hatte mit ihrem zweiten Roman …
„Gänzlich ohne Trigger-Warnung“ weiterlesenKeine einfache, linke Zeitreise
«Natürlich hätte die Rote Armee Fraktion, anstatt. jedes Gespräch mit Gleich- und Ähnlichgesinnten im Keim zu ersticken, sprechen lernen, zusammenarbei-
ten und auch mal Erklärungen schreiben können, die man gerne las». Dieser Satz findet sich auf Seite 208 von Stephanie Barts Roman «Erzählung zur Sache». In dem Buch verarbeitet sie auf über 670 Seiten literarisch Erklärungen der …
Für eine medienkritische Linke
“Medienkritik ist links“ lautet die Überschrift eines von dem Soziologen Lukas Meisner im Eulenspiegel-Verlag veröffentlichten Buch. Allerdings befassen sich nur ca. 80 der 160 Seiten mit dem Thema Medienkritik. In der ersten Hälfe des Buches geht um die Frage, wie …
„Für eine medienkritische Linke“ weiterlesenHertha Gordon-Walcher: Reisende in Sachen Weltrevolution
Die 1933 verstorbene Sozialistin Clara Zetkin hat im vergangenen Jahr für Schlagzeilen gesorgt, weil Konservative versucht hatten, den Straßennamen, der in Tübingen an sie erinnert, mit einem brandmarkenden Knoten zu versehen. Für Zetkins Kritiker:innen war die Kommunistin und Freundin von Wladimir Iljitsch Lenin keine lupenreine Demokratin, eine Kennzeichnung sollte auf ihre vermeintlich problematischen Ansichten hinweisen (Kontext berichtete). Damit wäre Zetkin auf eine Stufe mit Nazis, Rassisten und Kolonialverbrechern gestellt worden, nach denen Tübinger Straßen benannt sind und deren Schilder nach den Vorschlägen einer Kommission mit Warnhinweisen versehen werden sollen. Doch nach monatelangen Debatten wurde der Angriff abgewehrt, das Straßenschild von Clara Zetkin bekam schließlich doch keinen Knoten. Auf SWR-Kultur widmete die Redakteurin Julia Haungs der Stuttgarter Sozialistin zum 90. Todestag ein Porträt, das ein anderes Bild von Zetkin zeichnet als die Tübinger Kommission: Hier wird Zetkin als Vorkämpferin für „Frieden und Frauenrechte“ gewürdigt. Auf einem der Fotos im SWR-Beitrag ist eine Frau …
„Hertha Gordon-Walcher: Reisende in Sachen Weltrevolution“ weiterlesenKirchen als Miethaie
Über die Profitinteressen der Wohnkonzerne ist viel geschrieben worden; so sorgen etwa die Immobilienhaie wie Deutsche Wohnen, Vonovia & Co. immer wieder für Kritik. Weniger bekannt ist das Agieren christlicher Unternehmen, die sich selbst gern als sozialer als andere bezeichnen. Doch ihrem Anspruch, christliche Ethik und wirtschaftliches Handeln im Immobilienbereich zu verbinden, werden die kirchlichen Unternehmen nicht gerecht. Das hat der Journalist und Soziologe Ralf Hutter in den letzten Jahren recherchiert und Beiträge für den Deutschlandfunk produziert. Nach diesen Sendungen meldeten sich Mieter*innen und schilderten, wie sie vom christlich-kapitalistischen Immobiliensektor betroffen sind. Auf diese Formel kann man deren Handeln bringen, wie Hutter nun in einem Buch sehr anschaulich beschreibt. Unter dem Titel …
„Kirchen als Miethaie“ weiterlesenRandgänger der Literatur
Bei der Trauerfeier für den Berliner Erwerbslosenaktivisten Gerd Thomas Gabler im Juli 2021 fiel eine Karaffe auf, aus der die Freund*innen auf den verstorbenen anarchistischen Genossen tranken. Einige wussten noch, dass sich Gabler diese Karaffe von dem Kupferstecher Georg K. Glaser persönlich hatte anfertigen lassen. Dieser lebte bis zu seinem Tod 1995 in den vom ihm gegründeten Kupfer- und Schmiedewerkstätten in Paris. Nach 1968 wurde er gelegentlich von undogmatischen Linken wie eben Gerd Thomas Gabler besucht, die von dem politischen und literarischen Leben des alten Kunsthandwerkers wussten. Es waren vor allem die wenigen Leser*innen von Glasers Buch „Geheimnis und Gewalt“, das erst …
„Randgänger der Literatur“ weiterlesenKirche und Kapital: Eine unheilige Allianz im Immobiliensektor
Wer kein Wohneigentum besitzt und nicht die Voraussetzungen erfüllt, um es zu erwerben, ist dem Mietmarkt ausgeliefert. Ein halbwegs sozial eingestellter Vermieter könnte dann einen großen Unterschied machen – beispielsweise, ob einkommensschwache Menschen immer tiefer in den Dispo rutschen, wenn sie sich am Ende des Monats noch ausgewogen ernähren wollen. So wäre schon etwas gewonnen, wenn christliche Wohnungsunternehmen nach den Grundsätzen der Nächstenliebe agieren würden. Aber weit gefehlt! Mitte Dezember hatte ein Gericht des …
„Kirche und Kapital: Eine unheilige Allianz im Immobiliensektor“ weiterlesenPlädoyer für eine medienkritische Linke
Lügenpresse, der Begriff ist eindeutig von rechts besetzt. Doch das war nicht immer so. Da muss man nur an die Kampagne „Bild lügt“ erinnern, die über viele Jahre gegen Bild und Springerkonzern agierte. Auch heute ist eine linke Medienkritik dringend nötig. Das merken alle, die regelmässig kritisch den Deutschlandfunk hören. Dort gibt es sicher manche linksliberale Inhalte, die die Rechten Sturm laufen lassen. Doch auch im Deutschlandfunk ist man völlig unkritisch auf Militarismuskurs, nennt noch mehr Waffen an Kiew Solidarität mit der Ukraine und wer die Abschottungspolitik der EU kritisiert gilt als antieuropäisch. Doch es gibt heute anders als noch vor einigen Jahrzehnten wenig linke Medienkritik. Da ist es erfreulich, dass der Soziologe Lukas Meisner im Eulenspiegel-Verlag in einem gut lesbaren Buch für eine neue …
„Plädoyer für eine medienkritische Linke“ weiterlesenLinke Medienkritik: Jenseits von Lügenpresse
Vielleicht finden sich im hinteren Winkel manches Kleiderregals in linken Hausprojekten noch T-Shirts mit der Parole »Taz lügt«. Vor 30 Jahren wollten sich Aktivist*innen der außerparlamentarischen Linken von den Grünen und den ihnen nahestehenden Medien abgrenzen. Ihre Parole war auch eine Antwort auf die Kampagne »Bild lügt«, die über Jahrzehnte von Linken und Linksliberalen unterstützt wurde. Indem auch die »Taz« mit dem unterkomplexen Vorwurf der Lüge belegt wurde, sollte deutlich gemacht werden, dass die wohlfeile Kritik am Springer-Konzern und seinen Zeitungen nicht ausreicht. Es brauchte, so viel schien der Linken klar zu sein, eine grundlegende Kritik der Medien in der kapitalistischen Gesellschaft. Es ist nicht verwunderlich, dass viele Linke an diese Parole heute nicht mehr erinnert werden wollen. Schließlich ähnelt sie dem auf rechtsoffenen Demonstrationen lauthals skandierten Vorwurf der Lügenpresse. Das Anliegen einer linken Medienkritik ist damit freilich nicht erledigt. Die Konsequenz kann nicht sein, die von rechts angegriffenen Medien umstandslos zu verteidigen. Daher ist es begrüßenswert, dass der Soziologe Lukas Meisner im Verlag Das Neue Berlin sein Buch …
„Linke Medienkritik: Jenseits von Lügenpresse“ weiterlesenErmutigende Notizen
So hat die Berliner Gustav Landauer Initiative vor einigen Wochen in zwei Broschüren die Notizbücher von Erich Mühsam veröffentlicht. Im erstem Band sind seine Notizen aus den Jahren 1926 – 1928 veröffentlicht. Der zweite Band
endet mit der kurzen Notiz am 7. September 1933: Besuch Enzian und
Josef.1 In den früheren Jahren erfährt man von Mühsams Krankheiten, vom
Streit mit seiner Frau und den Konflikten mit seinen Genoss*innen. Der Streit entzündete sich vor allem daran, dass Mühsam lange Zeit mit der Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe Deutschland kooperierte und für diese
Organisation auch als Redner auftrat. Dieser enge Kontakt wird bereits auf den ersten Seiten der Broschüre klar. Mühsam wurde wegen seiner aktiven Rolle in der Bayerischen Räterepublik zu einer mehrjährigen Festungshaft verurteilt. In dieser Zeit wurde er von der Roten Hilfe Deutschland …