Erich Mühsam: „Notizbücher 1926–1933“. Zwei Bände, je 62 Seiten. Gegen Spende bei der Gustav Landauer Initiative erhältlich: gustav-landauer.org

Ermutigende Notizen

Auch fast 90 Jahre nach der Ermordung von Erich Mühsam im Konzentrationslager Oranienburg werden noch neue Schriften von dem bekannten Anarchisten veröffentlicht.

So hat die Berliner Gustav Landauer Initiative vor einigen Wochen in zwei Broschüren die Notizbücher von Erich Mühsam veröffentlicht. Im erstem Band sind seine Notizen aus den Jahren 1926 – 1928 veröffentlicht. Der zweite Band
endet mit der kurzen Notiz am 7. September 1933: Besuch Enzian und
Josef.1 In den früheren Jahren erfährt man von Mühsams Krankheiten, vom
Streit mit seiner Frau und den Konflikten mit seinen Genoss*innen. Der Streit entzündete sich vor allem daran, dass Mühsam lange Zeit mit der Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe Deutschland kooperierte und für diese
Organisation auch als Redner auftrat. Dieser enge Kontakt wird bereits auf den ersten Seiten der Broschüre klar. Mühsam wurde wegen seiner aktiven Rolle in der Bayerischen Räterepublik zu einer mehrjährigen Festungshaft verurteilt. In dieser Zeit wurde er von der Roten Hilfe Deutschland …

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Stephanie Bart: Erzählung zur Sache. Roman. Secession Verlag, Berlin 2023. 680 Seiten, 28 EUR.

Schöner zu lesen als das Original

Stephanie Barts Roman »Erzählung zur Sache« ist konsequent aus der Perspektive der RAF-Gründerin Gudrun Ensslin geschrieben

Längst vergangen scheinen die Zeiten, als an jedem Bahnhof Fahndungsplakate mit den Konterfeis gesuchter RAFMitglieder hingen. Offiziell war natürlich von »Terroristen« die Rede. Auch viele Linke, die keinerlei Sympathien für die RAF und ihr Umfeld hegten, weigerten sich damals, diesen Begriff zu verwenden. 25 Jahre nach der Auflösung der RAF wird auch in linken Medien im
Zusammenhang mit der RAF fast nur noch von Terrorismus gesprochen. Ein Begriff, der in Stephanie Barts Roman »Erzählung zur Sache« nicht vorkommt.
Denn er ist konsequent aus der Perspektive ….

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Stephanie Bart: Erzählung zur Sache. Secession Verlag Berlin 2023. 550 Seiten. ca. SFr. 26.00. ISBN: 978-3966390781.

RAF-Erklärungen werden Literatur

Belletristik “Natürlich hätte die Rote Armee Fraktion, anstatt jedes Gespräch mit Gleich- und Ähnlich-gesinnten im Keim zu ersticken, sprechen lernen, zusammenarbeiten und auch mal Erklärungen schreiben können, die man gerne las“.

Dieser Satz findet sich auf Seite 208 von Stefanie Barts Roman „Erzählung zur Sache“. In dem Buch verarbeitet sie auf über 670 Seiten literarisch Erklärungen der RAF, Briefe der Gefangenen und Erklärungen, die sie vor Gericht gehalten haben oder halten wollten. Auf vielen Seiten lesen wir, wie Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof oder Andreas Baader mitten im Satz von Richter Prinzip im Stuttgarter Prozessbunker unterbrochen wurden. Wir lesen die Interventionen der unterschiedlichen Rechtsanwält*innen. Manche der Rededuelle endeten damit, dass der Richter Anwält*innen oder Angeklagten das Mikrofon abschaltete. Später wurden sowohl Gefangene aus auch einige ihrer Vertrauensanwält*innen vom Prozess ausgeschlossen. Das Verfahren konnte trotzdem fortgesetzt werden. Dafür sorgten …

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Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. dtv München 2023. 320 Seiten. ca. SFr. 28.00. ISBN: 9783423283694.

War Marx der erste Degrowth-Kommunist?

In Japan verkaufte sich ein Buch, das den Kommunismus als Zukunftsprojekt propagiert, über eine halbe Million mal.

Auch in den europäischen Städten sind die Versammlungsräume überfüllt, wenn der japanische Philosophieprofessor Kohei Saito seinen in vielen Sprachen übersetzten Bestseller „Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus.“ vorstellt.  Als der auch zeitweise an der Berliner Humboldtuniversität lehrende Saito Anfang September das Buch in Berlin vorstellte, waren die Plätze schnell ausgebucht. Tausende verfolgten die Ausführungen des japanischen Professors digital. Darunter sind auch viele Klima-Aktivist*innen, die bisher Marx und seine Theorien eher mit den umweltschädlichen Produktivismus als mit Umweltbelangen in Verbindung brachten.  Ganz falsch, sagt Kohei Saito. In Wirklichkeit sei Marx ein …

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Benedikt Sepp, Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der Westberliner Linken 1961-1972. Wallstein, Göttingen 2023, 353 Seiten, 42 Euro,

Theorie und Praxis der Westberliner Linken

Aufgeblättert: »Das Prinzip Bewegung« von Benedikt Sepp

Der Historiker Benedikt Sepp beschreibt, wie sich der seit 1961 von der SPD unabhängige SDS mit Verve auf das Studium der Theorie stürzte. Spätesten ab 1964 wurde dann im SDS wieder …

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Kohei Saito, Systemsturz,DER SiEG DER NATUR ÜBER DEN KAPiTALiSMUS, DTV, ISBN:978-3-423ä28369-4,25EURO,

Marx war ein Degrowth-Kommunist

in seinem neuen kapitalismuskritischen Buch «Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus» plädiert der japanische Philosophieprofessor Kohei Saito für einen Degrowth-Kommunismus. Wichtige Fragen bleiben jedoch unbeantwortet.

In Japan verkaufte sich ein Buch, das den Kommunismus als Zukunftsprojekt propagiert, über eine halbe Million mal. Auch in den europäischen Städten sind die Versammlungsräume überfüllt, wenn der japanische Philosophieprofessor Kohei Saito seinen in viele Sprachen übersetzten Bestseller «Systemsturz – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus» vorstellt. Als der auch zeitweise an der Berliner Humboldtuniversität lehrende Saito Anfang September das Buch in Berlin vorstellte, waren die Plätze schnell ausgebucht. Tausende verfolgten die Ausführungen des japanischen Professors digital. Darunter waren auch viele Klimaaktivist:innen, die bisher …

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Anne Seeck, Gerhard Hanloser, Peter Nowak, Harald Rein (Hg.): Klassenlos. Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten. Die Buchmacherei, Berlin 2023. 262 Seiten ca. 16.00 SFr. ISBN: 978-3-9825440-4-5.

Der Preis ist immer noch heiss

Am 16. Oktober fand im Stadtteil Laden Lunte in Berlin-Neukölln eine gut besagte Offene Versammlung statt. Eingeladen hatten Anne Seeck, Gerhard Hanloser und Peter Nowak.

Sie gehören zu den Herausgeber*innen des kürzlich im Verlag „Die Buchmacherei“ erschienen Sammelband „Klassenlos. Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten.”  Einige Autor*innen des Buches hielten …

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Kohei Saito: Systemsturz Der Sieg der Natur über den Kapitalismus Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig DTV, München 2023 320 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-423-28369-4

Bürgerräte reichen nicht

War Karl Marx ein verhinderter Ökologe? Ja, sagt Kohei Saito, aber so einfach ist es nicht

In Japan verkaufte sich ein Buch, das einen ökologischen Kommunismus als Zukunftsprojekt propagiert, über eine halbe Million Mal. Auch in den europäischen Städten sind die Versammlungsräume überfüllt, wenn der japanische Philosophieprofessor Kohei Saito seinen …

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Angela Y. Davis/Beth E. Richie/Erica R. Meiners/Gina Dent: Abolitionismus. Feminismus. Jetzt. Unrast, 201 S., br., 18 €.

Neues Buch von Angela Davis: Niemand ist alleine

Angela Davis und ihre Mitstreiterinnen fordern Abolitionismus und Feminismus jetzt

Der Titel klingt wie eine Protestparole. Tatsächlich kann man schon im Vorwort dieses nun auch auf Deutsch vorliegenden Buches der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis und ihrer Mitstreiterinnen viel über den mehrjährigen Prozess Schwarzer Feministinnen in den USA erfahren, die den Kampf für Frauenrechte mit dem Kampf gegen staatliche Gewaltapparate wie das rassistisch dominierte Gefängnissystem in ihrer Heimat verbinden, also Abolitionismus und Feminismus. Unter Abolitionismus, einer Bewegung mit langen Traditionen, wird nicht nur die Ablehnung der Gefängnisse, sondern auch …

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Georg K. Glaser 2022: Geheimnis und Gewalt. Ein Bericht. ça-ira-Verlag, Freiburg. ISBN: 978-3-86259-182-4. 592 Seiten. 25,00 Euro.

Randgänger der Literatur

Ein neuherausgegebener Geheimtipp macht den politischen Alltag zwischen den 1920er Jahren und dem NS zugänglich.

Bei der Trauerfeier für den Berliner Erwerbslosenaktivisten Gerd Thomas Gabler im Juli 2021 fiel eine Karaffe auf, aus der die Freund*innen auf den verstorbenen anarchistischen Genossen tranken. Einige wussten noch, dass sich Gabler diese Karaffe von dem Kupferstecher Georg K. Glaser persönlich hatte anfertigen lassen. Dieser lebte bis zu seinem Tod 1995 in den vom ihm gegründeten Kupfer- und Schmiedewerkstätten in Paris. Nach 1968 wurde er gelegentlich von undogmatischen Linken wie eben Gerd Thomas Gabler besucht, die von dem politischen und literarischen Leben des alten Kunsthandwerkers wussten. Es waren vor allem die wenigen Leser*innen von Glasers Buch …

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Nahost-Konflikt: Israel ist nicht allein schuld

Wer erwartet, dass in dem Buch auch die Fehler und Versäumnisse der israelischen Seite angesprochen werden, wird enttäuscht. Wer aber etwas von den Enttäuschungen liberaler und linker Israelis über Positionen der Palästinenser*innen erfahren will, sollte diese Publikation unbedingt lesen. Es hebt sich positiv von manchen linken Texten ab, für die Israel im Nahost-Konflikt der allein schuldige Part ist.

Anfang Juli gab es einen Einsatz der israelischen Armee gegen ein palästinensisches Flüchtlingscamp in Dschenin in der Westbank, das in der Vergangenheit immer wieder Ort von Auseinandersetzungen zwischen militanten Palästinenser*innen und der israelischen Armee war. Man mag sich fragen, warum es 2023 überhaupt noch immer palästinensische Flüchtlingscamps auf einem Territorium gibt, auf dem nach UN-Beschlüssen längst ein palästinensischer Staat an der Seite Israels entstanden sein sollte. Ein kürzlich erschienenes Buch versucht einige Antworten zu bieten. Der Untertitel »Wie die westliche Nachsicht für den palästinensischen Traum den Frieden behindert hat« lässt bereits vermuten, dass hier eine Position von …

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Die Geschichte der 68er Bewegung in Speyer

Gegen das bürgerliche Bildungsprivileg

Herbert Obenland, Wolfgang Hien, ­Peter Birke: Das andere 1968. Von der Lehrlingsbewegung zu den Auseinandersetzungen am Speyer-Kolleg 1969–72. Berlin: Die Buchmacherei, 2022. 260 S., 15 Euro

Berlin, Frankfurt, Tübingen – mit diesen Orten wird die 1968er Bewegung verbunden. Kaum jemand wird ausgerechnet Speyer mit den Aufbruch in Verbindung bringen. Dabei hatte der auch dort Spuren hinterlassen, wie in dem Buch Das andere 1968 beschrieben wird. Die Autoren Wolfgang Hien und Herbert Obenland beschreiben ein in mehrfacher Hinsicht anderes 1968: Statt um Theoriedebatten in einer Universitätsstadt ging es um den Kampf um Bildung auch für Kinder aus Arbeiterfamilien in einer Stadt, die von der Chemieindustrie geprägt war. Gleich zu Anfang bringt Herbert Obenland diese Unterschiede prägnant auf den Punkt: …

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"Systemsturz – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus" wurde zum Bestseller. Kohei Saito schlägt den Degrowth-Kommunismus vor. Was daran gewagt ist – und was fehlt.

Klima und Klassenkampf: War Karl Marx der erste Ökologe?

Es besteht eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der im ersten Teil mit Verve begründeten Option des Degrowth-Kommunismus und den reformerischen Vorschlägen im Anschluss. Ein Schwachpunkt ist auch, dass die Lohnabhängigen in diesem Buch nur eine untergeordnete Rolle spielen. Sicherlich finden sich in den von Saito vorgestellten fünf Säulen zum Degrowth-Kommunismus sinnvolle Forderungen, etwa nach Verkürzung der Arbeitszeit, demokratischer Kontrolle des Produktionsprozesses im Betrieb und einer Gebrauchswertwirtschaft, die sich an den Grundbedürfnissen der Menschen orientiert.

Als 2017 der Historienfilm „Der junge Marx“ in die Kinos kam, waren manche über den Beginn erstaunt. Die erste Szene zeigt nämlich keine Arbeiter im Streik oder auf den Barrikaden, sondern Landarbeiter, die Fallholz im Wald sammeln, was damals als Diebstahl galt. Die Feudalherren, die sich den Wald angeeignet haben, ließen ihre Privatarmee auf die Menschen los, die im Wald Holz sammelten. Viele wurden schwer verletzt oder ermordet. Diese Szene bezog sich auf die Texte von Karl Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung über das Holzdiebstahlgesetz, das den Terror gegen die Landlosen, die das Holz zum Feuer machen sammelten, legitimierte. Diese Szene ist auf zweifache Weise interessant. Erstens wird der Blick …

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Matthias Thaden: Migration und Inne- re Sicherheit. Kroatische Exilgruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980. De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2022, 365 Seiten, 24,95 Euro

Fast unbehelligt

Einst gab es noch eine deutschlandkritische Linke, die auf diese Kontinuitätslinien hinwies. Heute scheint sich die hingegen von vielen befürchtete Schlussstrichpolitik weitgehend durch- gesetzt zu haben. Daher ist das Buch von Thaden umso wichtiger, weil es auch ein Schlaglicht auf die Unterstützung von NS-Kollaborateur*innen in der BRD bis in die 1970er-Jahre wirft.

Sie warfen die Sprengsätze in die jugoslawische Handelsmission. Dann übergossen sie Möbel, Teppiche und Akten mit Benzin, so dass binnen weniger Minuten alles in Flammen stand. Der Hausmeister der Handelsmission wurde im Beisein seines 12jährigen Sohnes durch einen Lungenschuss getötet. Dieser Anschlag ereignete sich am 29. November 1962 in Mehlem bei Bonn und war der Höhepunkt der Terrorwelle von rechten exilkroatischen Gruppen in der Bundesrepublik. Sie konnten über Jahre in der BRD fast unbehelligt agieren und Terror nicht nur gegen jugoslawische Einrichtungen, sondern auch gegen Menschen aus Jugoslawien ausüben, die sich nicht vor dem Karren der Rechten spannen lassen wollten. Bisher ist über die rechten Strukturen der Exilkroat*innen wenig bekannt. Da hat der Historiker Matthias Thaden mit seinen Buch …

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Benedikt Sepp: Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der Westberliner Linken 1961–1972, Wallstein Verlag 2023, 353 S., geb., 42 €.

Geschichte der radikalen Linken: Theorie als Bewegung

Der Historiker Benedikt Sepp rekonstruiert die Neue Linke im Westberlin der 1960er und 70er Jahre am »Prinzip Bewegung«

Ein schon abgegriffenes Bonmot besagt, dass es – auch für viele Linke – heute einfacher sei, sich das Ende der Menschheit als ein Ende des Kapitalismus vorzustellen. Dabei ist es noch nicht einmal 50 Jahre her, dass Menschen überall auf der Welt der Überzeugung waren, eine nichtkapitalistische Gesellschaft innerhalb weniger Jahre erkämpfen zu können. In den 1960er und 70er Jahren herrschte in Teilen der Bevölkerung nahezu sozialrevolutionäre Stimmung. Lässt sich aus dieser Zeit etwas gegen die heutige Apathie der Linken lernen ? …

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