Anne Reiche hat ihre Autobiographie vorgelegt, die Geschichte einer radikalen Linken, in der Trauer und Niederlagen nicht verschwiegen werden.

Zeitungsartikel des Journalisten Peter Nowak
Anne Reiche hat ihre Autobiographie vorgelegt, die Geschichte einer radikalen Linken, in der Trauer und Niederlagen nicht verschwiegen werden.
Klaus Dallmer
über die Revolution in Deutschland
»Lasst Euch nicht verdrießen. Noske, der wird schießen.« Dieses Spottlied auf einen berüchtigten SPD-Politiker,…
„Gustav und Karl“ weiterlesen90 Prozent des wissenschaftlichen Personals der Universität Kassel sind befristet beschäftigt. Eine Initiative fordert, die Arbeitsverträge der Angestellten zu entfristen.
Ende vergangenen Jahres wurde es eng im größten Hörsaal der Universität Kassel. Knapp 500 Beschäftigte der Hochschule nahmen am 13. Dezember an einer außerordentlichen Personalversammlung teil. Sie forderten…
„Unbefristeter Stress“ weiterlesenKlaus Dallmer: Die Meuterei auf der «Deutschland» 1918/19 – Anpassung, Aufbäumen und Untergang der ersten deutschen Arbeiterbewegung. Berlin: Die Buchmacherei, 2018. 320 S., 12 Euro
«Lasst euch nicht verdrießen. Denn wir wissen absolut! Noske, der wird schießen.»
Dieses Spottlied auf einen berüchtigten SPD-Politiker, der für die Massaker an rebellischen Arbeitern nach der Novemberrevolution verantwortlich war, stammt bereits von 1907. Damals schon stand Gustav Noske auf dem rechten Flügel der SPD und war als Reichstagsabgeordneter Experte für Kolonialpolitik und Militärfragen. In dieser Funktion forderte er im Reichstag, Arbeitsplätze auf deutschen Schiffen sollten nur Deutschen vorbehalten sein, und erklärte, im Falle eines Angriffs würde die SPD Deutschland verteidigen. Zur gleichen Zeit, 1907,…
„Arbeitsbedingte Krankheiten nehmen zu. Dieser Entwicklung sollte Einhalt geboten werden. Dafür möchte ich meine arbeits- und gesundheitswissenschaftliche Kompetenz einsetzen.“
Mit diesen Sätzen beschreibt Wolfgang Hien sein langjähriges Engagement für den Gesundheitsschutz in der Arbeitswelt. Warum das Thema zu seiner Lebensaufgabe wurde, kann man in einem langen Gespräch erfahren, das Hien mit dem Historiker Peter Birke geführt hat. Im VSA-Verlag ist es unter dem Titel
„GEGEN DIE ZERSTÖRUNG VON HERZ UND HIRN“ weiterlesenRevolution in Bayern
Es gibt wohl nur wenige historische Großereignisse, die im Nachhinein von einer derartigen politischen Verzerrung und Entstellung gekennzeichnet sind wie die Bayerische Räterepublik, urteilt Rudolf Stumberger. Er konzentriert sich in seinem neuen Buch auf Akteure, die vor 100 Jahren auf unterschiedlichen Seiten der Barrikade standen.
Ausführlich schildert er die politische Vita des ersten Ministerpräsidenten der bayerischen Republik, Kurt Eisner. In seiner kurzen Regierungszeit versuchte Eisner die unterschiedlichen Parteiflügel zu versöhnen. Es war ihm nicht vergönnt. Von den Rechten von Anbeginn an mit antisemitischer Hetze verfolgt, wurde er am 21. Februar 1919 von einem Mitglied der völkischen Thule-Gesellschaft erschossen. Stumberger erwähnt, dass sich Eisners Frau Else 1940 in Frankreich das Leben nahm, als die deutsche Wehrmacht einmarschierte. Sein Sohn aus erster Ehe wurde 1942 im KZ Buchenwald ermordet. Auch an Eisners Privatsekretär Felix Fechenbach, der dessen Vermächtnis zu wahren suchte, rächten sich die Nazis: Er wurde 1933 von SA-Männern ermordet.
Stumberger stellt auch Eisners Freund, den Anarchisten Gustav Landauer, vor. Dabei spart er nicht mit Kritik am seiner Meinung nach »rückwärtsgewandten Anarchismus«. Er würdigt Landauer als Bildungsreformer und Erneuerer der Künste. Der Schriftsteller wurde nach der Zerschlagung der Bayerischen Räterepublik im Münchener Zuchthaus Stadelheim schwer misshandelt und am 2. Mai 1919 erschossen. Verantwortung dafür trug der rechte Sozialdemokrat Johannes Hoffmann, der als »Noske von Bayern« berüchtigt war. Nachdem er auch die Vollstreckung des Todesurteils gegen den Kommunisten Eugen Leviné am 5. Juni 1919 nicht verhinderte, hatte er selbst in seiner Partei kaum noch Freunde. Hoffmann zog sich aus der Politik zurück, ein Bürgerblock übernahm die Macht und baute Bayern zur rechten Ordnungszelle aus. Mit Oswald Spengler präsentiert Stumberger einen Exponenten der Rechten.
Das letzte Kapitel ist dem titelgebenden »roten Matrosen« Rudolf Egelhofer gewidmet. Der Kommandeur der bayerischen Roten Armee wurde nach Verhaftung und ebenfalls schweren Misshandlungen am 3. Mai 1919 erschossen. Der Sohn aus einer Arbeiterfamilie zählt zu den »Vergessenen der Geschichte«, zitiert der Autor Walter Benjamin. Über Egelhofer ist wenig bekannt, in Polizeiberichten und Artikeln der bourgeoisen Presse sind nur Verleumdungen zu lesen. »Er galt als Bestie in Menschengestalt.« In der DDR waren Straßen und ein Raketenschnellboot nach Egelhofer benannt. Doch auch dessen Name verschwand nach 1990. In der Bundesrepublik hatte man das von völkischen Kreisen und den Nazis geprägte Negativbild von ihm tradiert. Stumbergers Buch leistet hier einen Beitrag zur dringend notwendigen Korrektur.
Rudolf Stumberger: Das Raubtier und der rote Matrose. Fake News, Orte und Ideologien der Revolution und Räterepublik in München 1918/19. Alibri, 163 S., br., 15 €.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1106747.beiderseits-der-barrikade.html
Peter Nowak
Hans Deutsch kämpfte für die Wiedergutmachung von NS-Opfern. Ein Buch erinnert daran, wie ein Kartell von Altnazis den jüdischen Rechtsanwalt kriminalisierten. Die Spuren führen auch in die Schweiz.
Wenn sich Deutschland heute als Weltmeister bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen feiern lässt, wird häufig vergessen, dass in Westdeutschland bis in die 1980er Jahre die NS-Opfer und ihre UnterstützerInnen bekämpft und verleumdet wurden. Wie die wieder in Amt und Würden gelangte ehemalige NS-Beamtenschaft vorging, zeigt die Kampagne gegen den in Österreich geborenen Rechtsanwalt Hans Deutsch. Der Spiegel-Gerichtsreporter Gerhard Mauz nannte ihn «einen Vorkämpfer an der Front der Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung». Der 1906 in Wien Geborene schaffte es, nach dem Einmarsch der Wehrmacht, das Land zu verlassen. Seine jüdischen Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Hans Deutsch hatte in Israel eine Anwaltspraxis eröffnet. Doch er zog nach der Niederlage des NS nach Wien zurück. Dort machte er sich bald einen Namen als «Mister Wiedergutmachung», wie er in der Presse genannt wurde. Nun ist der Begriff Wiedergutmachung schon ein Euphemismus. Wie hätten die deutschen Verbrechen wiedergutgemacht werden können? Millionen Menschen waren ermordet worden, noch mehr waren traumatisiert und litten ihr gesamtes Leben an den Folgen der Verfolgung. Wiedergutgemacht werden sollte hingegen der Ruf Deutschlands, hier vor allem der BRD bei ihren Verbündeten und in der Welt.
Hans Deutsch hingegen hatte das Ziel, als Rechtsanwalt finanzielle Kompensationen für die von den Nazis beraubten JüdInnen juristisch zu erstreiten. Dabei ging es um wertvolle Möbel und Kunstwerke, um Teppiche und Porzellan, die aus den Häusern von wohlhabenden jüdischen Menschen zunächst in Deutschland und dann in sämtlichen von der Wehrmacht besetzten Ländern ausgeplündert wurden. Nach der NS-Niederlage wollten die dafür Verantwortlichen ihre Beute keineswegs verlieren. Diese Kreise sahen in Hans Deutsch, der mit der Vollmacht als israelischer Anwalt die ersten Sammelklagen der Opfer einreichte, einen Feind, der zur Strecke gebracht werden musste. Wie BürokratInnen, PolitikerInnen und auch manche Medien dabei vorgingen, ist das Thema eines im Verlag «Das Neue Berlin» herausgegebenen Buches. Es ist ein wahrer Politkrimi, den der Publizist Burkhart List unter dem Titel «Die Affäre Deutsch» auf fast 500 Seiten – manchmal etwas zu ausschweifend – vor den LeserInnen ausbreitet. Vor allem die zahlreichen bis heute offenen Fragen hätten besser gebündelt werden sollen. Denn die von List ausgebreiteten Fakten sind alarmierend genug.
«Deutsche Unverschämtheit»
1964 war Deutsch unter dem Vorwurf verhaftet worden, er habe Beweismaterial über die ungarische Kunstsammlung Hatvany gefälscht. Die Bilder seien nicht von der SS, sondern von der Roten Armee geraubt worden, so die Anklage. Deutsch wurde des Betrugs beschuldigt, weil er von der BRD dafür Entschädigung einklagte. List befasst sich akribisch mit den GegenspielerInnen von Deutsch, nennt deren NSDAP-Mitgliedsnummern und Nachkriegskarrieren. An erster Stelle seien hier der ehemalige SS-Untersturmbannführer und spätere Präsident des Bundeskriminalamt Paul Dickopf sowie der Beamte im Bundesfinanzministerium Ernst Féaux de la Croix genannt. Deutsch sass 18 Monaten in Untersuchungshaft, doch der Prozess führte erst nach neun Jahren zu seinem Freispruch. Deutsch stritt bis zum Lebensende um seine Rehabilitation. Unterstützt wurde er von einem kleinen FreundInnenkreis, der vor allem in Frankreich aktiv war. In Deutschland kannte kaum jemand den Mann, der bis zu seinem Tod im Jahr 2002 von der «deutschen Unverschämtheit, die Mörder meines Volkes gegen mich aufmarschieren zu lassen», sprach. Sein Sohn setzte den Kampf um Gerechtigkeit für seinen Vater fort. Mit dem 2005 erstellten Film «Deutsch gegen Deutschland» wurde ein Anfang gemacht. Mit seinem Buch setzt Burkhart List, der über viele Jahre die Affäre Deutsch publizistisch unter anderem für die «Süddeutsche Zeitung» begleitet hat, diesen Kampf fort.
Bis in die Schweiz
List beschreibt in seinem Politkrimi, wie die Nazis auch in der offiziell neutralen Schweiz JüdInnen beraubten. «Der einstige Industriemagnat Bloch-Bauer lebte seit 1939 in Zürich im Exil, doch die Nazis waren noch nicht fertig mit ihm. (…) Der geflüchtete Bloch-Bauer ahnte nicht, dass Dr. Führer vom SS-Geheimdienst nach Zürich entsandt worden war, um ihn auch noch seines letzten Hab und Guts zu berauben», beschreibt der Autor das Treiben der Nazis in der Schweiz im Jahr 1940. Er beschreibt das Ziel des Nazibesuchs in der Schweiz: «Obwohl Bloch-Bauer offiziell von Freunden lebte, die ihm eine halbe Million Schweizer Franken überlassen haben, vermutete die SS noch Konten in der Schweiz und ein Bankdepot. An dieses Restvermögen wollte die SS ran.» Daher wurde Bloch Unterschlagungen vorgeworfen und die Schweizer Institutionen spielten mit. «Die Bürokraten konstruierten Steuerschulden, Strafzuschläge und Geldstrafen nach obskuren Strafverfahren und erfanden neue Steuern, um mit astronomischen Forderungen ihre Opfer unter Druck setzen zu können. (…) Diese Geldforderungen wollte der SD auch in der Schweiz eintreiben, und die Schweizer Banken kamen diesen Ansinnen tatsächlich nach: etwa 200 Millionen Franken von jüdischen Konten an das Deutsche Reich. Die Kontoinhaber waren diesem Treiben hilflos ausgeliefert.» Der SS-Emissär, der diesen Auftrag erledigen sollte, hiess Erich Führer. 20 Jahre nach dem Ende des NS war er Teil der braunen Seilschaft, die Hans Deutsch kriminalisierte.
In Erklärungsnot
Auch in seiner unmittelbaren Umgebung in Lausanne lebte ein Altnazi. «Sein Name: Francis Genoud, der ehemalige SD-Agent aus Lausanne», schreibt List. Er konnte nachweisen, dass Genoud vom damaligen Vizepräsidenten des BKA Paul Dickopf in den 1960er Jahren auf Hans Deutsch angesetzt worden war. List setzt auch hinter den theatralisch inszenierten Selbstmord von Genoud im Mai 1996 ein Fragezeichen und geht auf Gerüchte ein, er habe sich mit 81 Jahren mit neuer Identität nach Lateinamerika abgesetzt, wie viele Ex-Nazis 40 Jahre vorher. «Aus einem einfachen Grund könnte das es durchaus so sein: Zu diesem Zeitpunkt war die Jagd nach dem Nazigold ausgebrochen und Genoud wegen seiner Rolle als Beuteschieber der SS in Bedrängnis geraten.» Damals war auch die Schweizer Politik in Erklärungsnot geraten. Der Konflikt um das Nazigold führte zu einer Auseinandersetzung zwischen den führenden PolitikerInnen der USA und der Schweiz. Von Seiten der rechten SVP wurde der Konflikt mit antisemitischen Tönen «gegen die Anwälte der US-Ostküste» befeuert. List streifte dieses Thema in einigen Kapiteln nur. Denn bei der Frage, ob Genoud wirklich Selbstmord beging oder nur sein Schweizer Leben beendete, ist er auf Mutmassungen angewiesen. Schnell wird dann einem Autoren unterstellt, er stützte sich auf Verschwörungstheorien, um das gesamte Buch zu diskreditieren. Das wäre im Fall von Burkhart List besonders bedauerlich. Hat er doch hier sein profundes Wissen zusammengetragen, dass er zur Affäre Deutsch gesammelt hat. Die war so gründlich in Vergessenheit geraten, dass nur zu hoffen ist, dass Buch auch einen Startschuss gibt, um an einen Mann zu erinnern, der von den Nazis bis in die 1960er Jahre verfolgt wurde.
List Burkhart: Die Affäre Deutsch. Verlag Das Neue Berlin, 29 Euro.
aus: Vorwärts/17.11.2018
Peter Nowak
Die Forscherin Lisa Yashodhara Haller über die Probleme junger Eltern bei der Arbeitsteilung
Lisa Yashodhara Haller arbeitet am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Stiftung Universität Hildesheim. Jüngst erschien ihr Buch »Elternschaft im Kapitalismus«. Mit der Familienforscherin sprach Peter Nowak
Für Ihr Buch leiteten Sie Diskussionen mit jungen Paaren. Nach welchen Kriterien wählten Sie diese aus?
Zunächst habe ich all diejenigen Gesetze gesichtet, die Eltern bei der Familiengründung darin unterstützen, die Kosten für Kinder zu bestreiten. Anschließend habe ich dann diejenigen einer genaueren Analyse unterzogen, in die entweder explizite oder aber implizite Steuerungsmechanismen eingeschrieben sind. Weil die sozial- und familienpolitische Steuerungsfunktion umso weniger greift, je geringer die von einer gewissen Einkommensstärke abhängige Partizipation ist, ist die Aushandlung um die verbleibenden Leistungsansprüche in einkommensschwachen Familien besonders aufschlussreich. Und da es mir um die Frage ging, wie die sozial- und familienpolitischen Leistungen die Arbeitsteilung der Eltern beeinflussen, lag es auf der Hand, die Paare entsprechend ihrer Leistungsberechtigung auszuwählen.
Wie ist die Situation junger Paare mit Kindern auf dem Arbeitsmarkt?
Ausgesprochen schwierig. Wir haben es hier mit einer Generation zu tun, die im Glauben aufgewachsen sind, in einer gleichberechtigten Gesellschaft zu leben. Tatsächlich hat sich aber die männliche Erwerbsbiografie auch für Frauen verallgemeinert. Darin kommen Kinder und all die Arbeit, die für diese aufgebracht wird, schlicht nicht vor. Viele junge Eltern realisieren erst nach der Geburt eines Kindes, was das bedeutet – nämlich eine Erwerbsunterbrechung. Obwohl die Fürsorge den Müttern zugeschrieben wird, müssen diese sich für die Fürsorge, die sie anstelle einer Erwerbsarbeit erbringen, rechtfertigen. Und das tun sie innerhalb der von mir angeleiteten Paardiskussionen vehement. Dabei rechtfertigen sie ihre Erwerbsunterbrechung nicht mit den Kindern, sondern damit, dass sie sich eine Erwerbsunterbrechung verdient haben. Kindesfürsorge und der Umstand, dass diese Zeit und sehr viel Energie erfordert, sind in unserer Gesellschaft irgendwie abhandengekommen.
Wird nicht verstärkt auch die Beteiligung der Väter an der Kindererziehung gefordert?
Die neue Familienpolitik forciert eine Gleichstellungspolitik, adressiert aber weiterhin den Vater als Familienernährer. Individuell ist es den Eltern nicht möglich, diese Widersprüche aufzulösen. Aus diesem Grund wird die Paarbeziehung mit der Familiengründung zu einer Arena von Umdeutungen. Für die Paare besteht die doppelte Herausforderung, die wirtschaftliche Notwendigkeit einer Arbeitsteilung, bei welcher der Vater die Familie finanziert, im Anschluss an die Familiengründung mit einer Gleichstellungsrhetorik zu rechtfertigen. Indem die Mütter den Bezug familienpolitischer Leistungen als selbstbestimmte Entscheidung interpretieren, kommen sie zumindest rhetorisch der staatlichen Aufforderung nach, in jeder Lebensphase selbstständig und autonom zu agieren.
Welche Folgen hat diese Situation für die Mütter?
Langfristig führt das männliche Familienernährermodell zu weiblicher Armut. Aber auch dazu, dass Kinder häufiger als bislang angenommen in relativer Armut aufwachsen. Die oben aufgeführte Studie schlägt ein Teilhabegeld für Kinder vor, eine Art Kindergrundsicherung, in dem bereits bestehenden monetären Leistungen gebündelt werden.
Wieso gibt es so wenig widerständiges Verhalten bei den betroffenen Paaren?
Tatsächlich können sich nur wenige Paare vorstellen, was auf sie im Zuge der Familiengründung zukommt. Das ist ja auch gut so, aber es führt dazu, dass man in der Situation dann alles richtig machen möchte, angesichts der Verantwortung für ein Kind sehr gefordert ist und die Handlungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt sind. Es ist immer leichter, sich individuell mit den Verhältnissen zu arrangieren, als sich zu organisieren. Das trifft auf Eltern in besonderem Maße zu, weil sie mit ihren Ressourcen und konkret mit der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit sehr gut haushalten müssen.
Also liegt die mangelnde Widerstandsbereitschaft an der mangelnden Zeit der Paare?
Ja. Erst mit der Familiengründung wird die Trennung von Lebensbereichen, die für unsere kapitalistische Wirtschaft so signifikant ist, für die Eltern erfahrbar. Die Probleme, die mit der Familiengründung einhergehen, werden aber nicht auf die Wirtschaft zurückgeführt, sondern individualisiert. Sie sprechen die Probleme nicht an, sondern vertuschen sie – oder deuten sie um. Durch diese Individualisierung machen sie das Problem unsichtbar. Das ist eine restriktive Bewältigungsstrategie, mit deren Hilfe Eltern die Widersprüche durch Umdeutungen aufzulösen versuchen. Diese Form der Widerspruchsbewältigung ist deshalb problematisch, weil sie die alltäglichen Konflikte nicht auf die Verhältnisse zurückführt, weshalb deren Veränderung ausgeschlossen bleibt.
Interview: Peter Nowak
Buenaventura Durutti ist vielen als spanischer Anarchist bekannt. Doch wer kennt Amparo Poch y Gascón? Über die Mitbegründerin der libertären Frauenorganisation Mujeres Libres hat Martin Baxmeyer jetzt eine Biografie herausgeben, die sich auch kritisch mit dem Umgang der spanischen Anarchist_innen mit selbstbewussten Frauen auseinandersetzt. Baxmeyer erwähnt den militanten Antifeminismus Proudhons, der auch unter spanischen Anarchist_innen Anhänger_innen fand. Doch er beschreibt auch Strömungen im Anarchismus, die sich für die Rechte der Frauen einsetzten. Den Feminismus lehnten allerdings auch sie ab, weil er im damaligen Spanien als Bewegung wohlhabender Frauen aus dem Bürgertum galt. Kritisch geht Baxmeyer mit dem anarchistischen Mythos der bewaffnet kämpfenden Frau um. Auf den während der Spanischen Revolution verbreiteten Fotos seien Models in Uniform abgebildet gewesen; mit der Realität innerhalb der libertären Milizen habe das nur wenig zu tun gehabt. Baxmeyer hat mit seinem Buch über Amparo von Poch y Gascón auch eine kritische Auseinandersetzung mit Mythos und Realität der libertären Bewegung in Spanien vorgelegt – ganz im Sinne von Poch y Gascón, die auch in den eigenen Reihen nicht mit Kritik und Spott sparte. Das belegen ihre am Schluss des Buches dokumentierten Artikel, in denen sie sich über bürokratischen Leerlauf und den Drang, Probleme in irgendwelche Komitees abzuschieben, lustig machte.
Peter Nowak
aus: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 643 / 13.11.2018
https://www.akweb.de/ak_s/ak643/03.htm
Martin Baxmeyer (Hg.): Amparo Poch y Gascón. Biographie und Erzählungen aus der spanischen Revolution. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2018. 152 Seiten, 13, 90 EUR.
Rezension von: Alina Bothe und Gertrud Pickhan (Hg.): »Ausgewiesen! Berlin, 28. 10. 1938. Die Geschichte der ´Polenaktion´«
»Polnische Juden unter Einsatz von Schusswaffen über die Grenze gezwungen«, lautete am 30. Oktober 1938 eine Schlagzeile in der britischen Presse. Es ging um
„Vor 80 Jahren“ weiterlesenIn diesen Tagen jährt sich zum 80ten Mal eine weitgehend vergessene Aktion, mit der NS-Deutschland die Grenzen des Unrechts austestete. Heute, wo der Faschismus für die Märkte wieder eine Option ist, ist es notwendig, sich zu erinnern.
»Die Aktion wurde von der Polizei mit großer Brutalität durchgeführt.
„Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938“ weiterlesenKarl Reitters »Heinz Steinert und die Widerständigkeit seines Denkens«
Der 2011 verstorbene Heinz Steinert war ein Universalgelehrter. Er studierte Philosophie, Psychologie, Germanistik und Literaturwissenschaft, absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung, wurde im Fach Psychologie promoviert und habilitierte sich in Soziologie. Er war Mitbegründer und bis 2000 wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien und von 1978 bis 2007 Professor für Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Nun ist eine Einführung in das Denken Steinerts, der mit seiner Arbeit immer auch die gesellschaftliche Emanzipation vorantreiben wollte, erschienen. Verfasst hat sie der Wiener Philosoph Karl Reitter.
Mit Adorno und der Frankfurter Schule hatte sich Steinert jahrelang beschäftigt. Während er trotz aller Kritik im Detail die Frankfurter Schule zum widerständigen Denken zählte, hielt er Max Webers zentrales Werk »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« für unwissenschaftlich. Reitter zeichnet in einem Kapitel die gravierenden Fehler nach, die Steinert Weber nachwies. Ein weiteres Kapitel widmet sich dem Kriminalsoziologen Steinert, der sich wissenschaftlich begründet für eine Gesellschaft ohne Gefängnisse einsetzte und die Sinnhaftigkeit von Haftstrafen hinterfragte.
Dabei formulierte er Thesen, die gerade in der derzeitigen Law-and-Order-Stimmung erstaunlich aktuell sind: »Zwischen der Strenge der Strafen, der Anzahl der Menschen in Gefängnissen und der Summe der verübten Strafen besteht ein erkennbarer Zusammenhang. Weder die Höhe der Strafen noch die Wahrscheinlichkeit, eingesperrt zu werden, selbst die Todesstrafe verhindern Verbrechen.« Reitter schließt das informative Buch mit der Hoffnung, dass es dazu beitrage, »widerständiges Denken bekannter zu machen«. Das ist ihm zu wünschen.
Karl Reitter: Heinz Steinert und die Widerständigkeit seines Denkens. Dampfboot-Verlag, Münster 2018, 213 Seiten
https://jungle.world/artikel/2018/43/moeglichkeiten-von-befreiung
Peter Nowak
Rainer Thomann und Anita Friedetzky über Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland
»Dadurch, dass sich die Arbeiter an der Selbstverwaltung in den einzelnen Unternehmen beteiligen, bereiten sie sich auf jene Zeit vor, wenn das Privateigentum an Fabriken und Werken abgeschafft sein wird und die Produktionsmittel zusammen mit den Gebäuden, die auch von Arbeiterhand geschaffen wurden, in die Hände der Arbeiterklasse übergehen.«
Dies ist ein Zitat aus den Protokollen der Fabrikkomitees der Putilow-Werke in Petersburg, dem späteren Leningrad. Die Beschäftigten des Maschinenbaukonzerns spielten 1917 eine wichtige Rolle beim Sturz des Zaren und in der Zeit der Doppelherrschaft, als den Arbeiterräten ein gewichtiges Wort in der gesellschaftlichen Umwandlung Russlands zukam.
Zeugnisse dieser Selbstorganisation russischer Arbeiter liegen jetzt erstmals auf Deutsch vor. Zu danken ist dies der Hamburger Russischlehrerin und Publizistin Anita Friedetzky, die sich der schwierigen Aufgabe gewidmet hat, Protokolle von Sitzungen der Fabrikräte im revolutionären Russland so zu übersetzen, dass sie heutigen Lesern verständlich sind und ihnen authentische Einblicke in eine stürmische, längst vergangene Zeit geben, als Arbeiter Geschichte schrieben. Grundlage ihrer Übersetzung ist ein schon 1979 in einem Moskauer Wissenschaftsverlag erschienener Sammelband: »Die Fabrik- und Werkkomitees Petrograds 1917.
Der Berliner Verlag Die Buchmacherei hat die Protokolle verdienstvollerweise noch mit einem ausführlichen Glossar versehen. Dort werden heute kaum noch bekannte Personen vorgestellt und Organisationen erklärt, die vor über 100 Jahren die Geschicke in Russland mitbestimmten. Das Protokoll selbst, einschließlich der dazugehörenden Anlagen und Erläuterungen, nimmt nur knapp ein Drittel des Buches ein, zwei Drittel sind der historischen Einführung aus der Feder des Schweizer Rätekommunisten Rainer Thomann vorbehalten. Er bietet einen sachkundigen Überblick nicht nur über die entscheidenden Monate des turbulenten Jahres 1917, sondern auch über die Geschichte der Industrialisierung und der Arbeiterbewegung im zaristischen Russland.
Thomann stützt sich dabei vor allem auf Nikolai Suchanow, dessen Tagebuch der Russischen Revolution in deutscher Sprache nur noch antiquarisch erhältlich ist. Suchanow war gelernter Eisenbahner, der ein Philosophiestudium aufnahm. Schon früh engagierte er sich in der russischen Arbeiterbewegung, blieb aber auf Distanz zu allen Parteien. Auch das Agieren der Bolschewiki 1917 bewertete er äußerst kritisch, warnte gar vor deren Machtanspruch. Trotzdem stellte er sich nach der Oktoberrevolution der neuen Macht als Wirtschaftsfachmann zur Verfügung. Seine Hoffnung, möglichst viel von den Räten und den Ideen und Praktiken der Selbstverwaltung zu erhalten, erfüllte sich nicht. Thomann stellt sich 100 Jahre später die Frage, warum das nicht gelungen ist. Wer die Protokolle der Beschäftigten der Putilow-Werkle liest, wird sich hüten, dafür allein die autoritären Ansprüche der Bolschewiki verantwortlich zu machen. Denn in den Berichten werden auch die immensen Probleme deutlich, mit denen damals Land und Leute, vor allem die arbeitenden Massen, konfrontiert waren.
In den Protokollen ist oft von Vertagungen der Diskussion um strittige Punkte und von der Überweisung wichtiger Fragen in ein anderes Komitee die Rede. Da drohte beispielsweise der Betriebsapotheke wegen 80 000 Rubel Schulden die Schließung, was sich für die Versorgung der Arbeiter fatal auswirken musste. Man erfährt, dass die Betriebskomitees auch Sanktionen aussprechen konnten, etwa gegen Personen, die sich den Anordnungen der Werkskomitees oder der Werkabteilungskomitees nicht unterordneten bzw. als Störer der Arbeiterorganisationen des Betriebes empfunden wurden. Protokolliert sind Aktivitäten der »Eiferer für Bildung und Kunst«, die in den Putilow-Werken Theaterstücke aufführten. Viel Raum widmeten die Komitees den Beziehungen zur Bevölkerung auf dem Land. So sollten im direkten Kontakt Produkte aus der Fabrik gegen Nahrungsmittel bei den Bauern eingetauscht werden.
Der ewige Konflikt zwischen Stadt und Land hat die frühen Jahre der Sowjetunion überschattet, die Großstädte waren vom Land abhängig wie auch umgekehrt. Vielfach wurden die falschen Maßnahmen ergriffen, beispielsweise Zwangseintreibungen und Requirierungen.
Es ist zu begrüßen, dass mit diesem Band ein Zeitdokument auf dem deutschen Buchmarkt erschienen ist, das die Schwierigkeiten einer Revolution aufzeigt.
• Rainer Thomann/Anita Friedetzky: Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland.
Die Buchmacherei, 682 S., kart. 24 €.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1102578.buchmesse-frankfurt-am-main-rote-fahnen-auf-palaesten.html
Peter Nowak