Parteien sondieren – Bevölkerung lässt es in Vollnarkose über sich ergehen

Doch das Desinteresse an den Verhandlungen sollte nicht als unpolitisch missverstanden werden

„Vorsicht, lassen Sie sich nicht breitschlagen.“ Dieser Appell der Politsatiregruppe Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen an die SPD-Sondierungsgruppe, die Regierungsmöglichkeiten mit der Union erkunden soll, fand in den Medien keine Resonanz. Dabei erinnerte der Brief die SPD-Politiker an ihre Wahlversprechungen, die Mietsteigerungen zu bremsen:

Laut einer Umfrage befürchten 47% der Berlinerinnen wegen Mietsteigerungen ihre Wohnung zu verlieren – ähnlich wie in den meisten Städten. Katastrophale Spekulanten-freundliche Gesetze führen immer massenhafter zu willkürlichen Luxus-Modernisierungen, völlig legalen Wuchermieten, Verarmung, Entmietung und faktische Vertreibung der Menschen aus Ihrer Heimat. Solche Gesetze wie z.B. der Umlage-§ 559 müssen abgeschafft oder grundlegend novelliert werden, damit die Menschen nicht in permanenter Angst leben müssen! Die Härtefall-Klausel ist nur ein Deckmäntelchen – aber faktisch völlig unzureichend. Das schafft gerade in Deutschland eine Situation, die schlimmer ist als im Mittelalter! Dort wurden die Menschen nur mit einem „Zehnten“ Teil ausgeplündert – heute darf es hierzulande schon ein Vielfaches sein.“

Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen

Nun kann man es für naiv halten, die Parteien an ihre Wahlversprechen und die SPD an die Bedeutung ihres Anfangsbuchstabens zu erinnern. Unbestreitbar ist aber die Angst vor hohen Mieten ein Thema, das viele Menschen bis in die Mittelschichten umtreibt.

In dem genannten Brief werden mit der Abschaffung des Modernisierungs-Umlage-Gesetzes nach § 559 BGB Maßnahmen genannt, die bei einem vorhandenen politischen Willen umgesetzt werden könnten. Kurt Jotter vom Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen empfiehlt der SPD, solche Themen in den Vordergrund zu stellen.

Sollte die Realisierung an der Union scheitern und es zu Neuwahlen kommen, könnte sie mit solchen sozialen Wegmarken vielleicht sogar wieder Stimmen gewinnen bzw. für Parlamentsmehrheiten sorgen, die eine Koalition links von der Union möglich machen würden.

Nur allein die Tatsache, dass diese Mehrheiten nie genutzt wurden, als es sie bis zu den letzten Wahlen noch gab, zeigt, wie illusionär heute die Hoffnung auf eine sozialdemokratische Reformpolitik ist.


Bevölkerung im Winterschlaf

Nun könnten solche Initiativen, wie die vom Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen auch dazu dienen, diesen Tatbestand einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen und damit außerparlamentarische Aktivitäten zu entfachen. Das weitgehende Desinteresse großer Teile der Bevölkerung an Sondierungen der unterschiedlichen Regierungsvarianten legt eine solche Lesart nahe.

Große Teile der Bevölkerung erwarten von den Parteien keine Verbesserungen ihrer Lebenssituation mehr. Wenn sie das Wort Reform hören, wissen sie, dass neue Zumutungen auf sie zukommen. Wie der Begriff „Reform“ von der Hoffnung auf ein besseres Leben im Kapitalismus zum Schrecken wurde, hat Rainer Balcerowiak in seiner Streitschrift „Die Heuchelei von der Reform“ gut analysiert.

Der Soziologe Ulf Kadritzke hat in dem ebenso kundig, wie leicht verständlich geschriebenen Buch „Mythos Mitte oder die Entsorgung der Klassenfrage“ den Mythos zerlegt, dass Wahlen nur in der Mitte gewonnen werden können. Diese Mitte gibt es gar nicht als fixen Punkt. Sie ist jeweils der Ort, wo dem Kapital die besten Verwertungsinteressen garantiert werden.

Wenn also immer wieder gewarnt wird, dass ein Politiker, der Erfolg haben will, in der Mitte bleiben soll, wird ihm damit nur bedeutet, er soll sich bloß nicht einbilden, Kapitalinteressen regulieren zu wollen. Das ist auch der Grund, warum selbst solche nun wirklich nicht systemsprengenden Maßnahmen wie eine mieterfreundliche Reform des § 559 von den Parteien nicht propagiert werden. Da müsste man sich mit Kapitalinteressen anlegen und das ist nicht karrierefördernd.

Aufregung um Klimaziel, das niemand für realistisch hielt

Die weitgehende Apathie, mit der große Teile der Medien und noch mehr die Bevölkerung die Sondierungen für eine neue Regierung über sich ergehen lassen, wurde vor einigen Tagen unterbrochen, als durchsickerte, dass womöglich im Kapitel „Klima und Energie“ der Satz stehen sollte: „Das kurzfristige Ziel für 2020 wird aus heutiger Sicht nicht erreicht werden.“

Am faktischen Wahrheitsgehalt dieser Aussage zweifelt kaum jemand. „Das mag halbwegs realistisch sein. Klimapolitisch ist die Aussage ein schwerer Fehler“, kommentiert der Taz-Umweltredakteur Bernd Pötter. Wie er argumentieren viele Kritiker, die kritisieren, dass hier ein Fakt benannt wird.

„Die große Koalition resigniert schon vor dem Start. Sie widerspricht nicht nur dem Versprechen von Angela Merkel und Martin Schulz. Sie entwertet durch die faktische Aufgabe des 2020er Ziels auch das gesamte restliche Konzept“, argumentiert Pötter.

Nun würde das Versprechen aber doch dadurch gebrochen, dass das Ziel nicht erreicht wird, wovon auch Pötter ausgeht, und nicht dadurch, dass der Misserfolg auch formuliert wird. Im Gegenteil, könnte dadurch doch darüber diskutiert werden, ob das Ziel von Anfang an unrealistisch, also das Versprechen hohl war. Oder war das Versprechen realisierbar, aber man hat keine Schritte unternommen, es umzusetzen.

In beiden Fällen wären die Politiker zu kritisieren. Doch die Tatsache, dass das Ziel nicht erreicht wird, erst gar nicht zu benennen, verhindert eine solche rationale Kritik. Nun ist das eine gängige Methode einer ökologistischen Betrachtungsweise, wo es mehr um Gefühle, Mutmaßungen und Placebos geht. Da könnte dann schon das Versprechen „Wir schaffen das Klimaziel“ für gute Gefühle sorgen.

Klimaziele und Renditeerwartungen

Damit würde sich nichts an den von vielen prognostizierten Umweltbedingungen ändern, aber die Aktien der wachsenden industriellen Branche, die sich auf den ganzen Komplex ökologischer Umstrukturierung des Kapitalismus konzentriert, würden steigen. Darum geht es schließlich auch bei dieser Debatte.

Wenn so viel von den deutschen Energiezielen geredet wird, geht es um den weltweiten Konkurrenzkampf der Industrien. Da könnte eine ehrliche Mitteilung, dass die Klimaziele nicht erreicht werden, einen Vertrauensverlust und vielleicht sinkende Renditeerwartungen bedeuten. Daher kam auch die harsche Kritik von der Lobby der Industriebranche der Erneuerbaren Energien.

Zu diesen Lobbygruppen gehören auch die meisten großen Umweltorganisationen. Sie verkleiden ihr Eintreten für die Interessen der nichtfossilen Industrie mit dem scheinbar positiv besetzten Begriff der Klimaziele. Ehrlicher ist da schon Claudia Kempfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, die in ihrer Kritik am realen Stand der Klimaziele die Interessen der nichtfossilen Industrie nicht verschweigt.

Ein Großteil der einkommensärmeren Bevölkerung erkennt, dass sie für Wirtschaftsinteressen eingespannt werden soll, wenn von Klimazielen und sozial-ökologischen Umbau die Rede ist. Jüngere Menschen versprechen sich von einer postfossilen Regulationsphase des Kapitalismus bessere Lebensbedingungen und auch Jobmöglichkeiten und engagieren sich eher für ökologische Belange.

Das „Rote Berlin“ – oder Versuche der Politisierung des gesellschaftlichen Unmuts

Wie es gelingen kann, die Interessen für eine lebenswerte Umfeld mit sozialen Forderungen zusammen zu bringen, ist eine Frage, die sich nicht an die Parteien, sondern an die sozialen Bewegungen richten sollte.

Denn die fast durchgängige Apathie, mit der große Teile der Bevölkerung die verschiedenen Regierungssondierungen über sich ergehen lassen, sollte nicht als Desinteresse an Politik und an der Bereitschaft, für die eigenen Interessen einzutreten, missverstanden werden.

Nur so ist es zu erklären, dass der Film Mietrebellen, der ohne finanzielle Förderung gedreht und ohne Verleih beworben wird, seit mehreren Jahren in vielen Städten noch immer vor einem interessierten Publikum läuft. Dort bekommen die Menschen etwas zu sehen, was selten geworden ist in dem wirtschaftsliberalen Kapitalismus unserer Tage: Menschen jeden Alters, die sich wehren, wenn sie ihre Wohnungen verlassen sollen.

Diese Bereitschaft, sich zu wehren, wenn es um konkrete Lebenszusammenhänge wie die eigene Wohnung geht, ist die Grundlage einer Veranstaltungsreihe der außerparlamentarischen Gruppe Interventionistische Linke. Unter dem Titel „Das Rote Berlin“ sollen Strategien für eine sozialistische Stadt diskutiert werden.

Der Titel rekurriert auf das Rote Wien der 1920er Jahre, das heute ein Synonym für eine mieterfreundliche Wohnungspolitik im Kapitalismus geworden ist. Träger war eine österreichische Sozialdemokratie, die mit dem Austromarxismus einen 3. Weg zwischen Kapitalismus und Sowjetmarxismus beanspruchte.

https://www.heise.de/tp/features/Parteien-sondieren-Bevoelkerung-laesst-es-in-Vollnarkose-ueber-sich-ergehen-3939524.html
Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bizim-kiez.de/initativen/buero-fuer-ungewoehnliche-massnahmen-kurt-jotter/
[2] https://dejure.org/gesetze/BGB/559.html
[3] https://www.amazon.de/Die-Heuchelei-von-Reform-desinformiert/dp/3958410596
[4] http://www.bertz-fischer.de/mythosmitte.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Mass-und-Mitte-3758545.html
[6] https://dejure.org/gesetze/BGB/559.html
[7] http://www.taz.de/Archiv-Suche/!5472414&s=&SuchRahmen=Print/
[8] http://www.diw.de/deutsch
[9] https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/diw-kritik-an-union-sondierung-abschied-von-klimazielen-100.html
[10] http://mietrebellen.de/
[11] http://interventionistische-linke.org/
[12] http://interventionistische-linke.org/termin/das-rote-berlin-strategien-fuer-eine-sozialistische-stadt-teil-iii-demokratisierung-und-neue
[13] http://www.dasrotewien.at/seite/kommunaler-wohnbau

Nicht zu bremsen


Im Wahlkampf waren die steigenden Mieten kaum ein Thema, mit AfD und FDP im Bundestag droht noch mehr Ungemach

Die sogenannte Mietpreisbremse wirkt kaum, zudem stufte ein Gericht sie kürzlich als verfassungswidrig ein. Nun ziehen mit der FDP und der AfD weitere vermieterfreundliche Parteien in den Bundestag ein.

Es war eine Hamburger Rentnerin, die Mitte September dafür sorgte, dass im Wahlkampf doch noch über die immer weiter steigenden Mieten gesprochen wurde – zumindest ein bisschen. In der ZDF-Sendung »Klartext« hatte die Frau den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz mit der Situation vieler Mieter konfrontiert. Die Rentnerin berichtete, dass sie und ihr Mann bald aus ihrer Wohnung ausziehen müssten, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten könnten. Das Gebäude werde grundsaniert, danach solle die Miete auf knapp das Vierfache steigen: von 230 Euro im Monat auf 850 Euro. Während Schulz sich ahnungslos zeigte und bezweifelte, dass eine solche Steigerung gesetzeskonform sei, musste er sich vom Moderator daran erinnern lassen, dass es sich um die normale Praxis einer öffentlichen Wohnungsbaugesellschaft in einer SPD-regierten Stadt handele. »Die ›Mietpreisbremse‹ funktioniert nicht«, klagte die Rentnerin und brachte damit auf den Punkt, was viele Betroffene am Wohnungsmarkt täglich erleben. Dazu beigetragen haben die vielen Schlupflöcher, mit denen Haus- und Wohnungseigentümer die Deckelung der Mieten umgehen können.

»Man gewinnt den Eindruck, das Landgericht möchte sich wieder als Gönner der Vermieter profilieren.« Kurt Jotter, Berliner Mieteraktivist

Das war allerdings nicht der Grund dafür, dass kurz darauf das Berliner Landgericht die sogenannte Mietpreisbremse als verfassungswidrig einstufte. Die Richter argumentierten, es liege eine ungleiche Behandlung von Vermietern in unterschiedlichen Städten vor, weil die zulässige Miethöhe von der ortsüblichen Vergleichsmiete abhängt. Diese variiere aber je nach Stadt erheblich. Das widerspreche Artikel 3 des Grundgesetzes, der die Gleichbehandlung vor dem Gesetz vorschreibt. Als Beispiel erwähnte das Gericht, in München liege die Vergleichsmiete bis zu 70 Prozent über der in Berlin. Im konkreten Fall spielte die Frage der Verfassungsmäßigkeit am Ende keine Rolle mehr, so dass sie auch nicht zur Klärung an das Bundesverfassungsgericht weitergegeben wurde.

»Man gewinnt den Eindruck, das Landgericht möchte sich wieder als Gönner der Vermieter profilieren«, kommentierte der Berliner Mieteraktivist Kurt Jotter im Gespräch mit der Jungle World das Urteil. Jotter regte im Gegenzug an, den Paragraphen 559 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) einer rechtlichen Prüfung zu unterziehen. Dieser regelt Mieterhöhungen bei Modernisierungen und setzt nach Ansicht der Kritiker die Mieterrechte außer Kraft. Unter dem Motto »Rettet die Mieterrechte – streicht endlich den Paragraphen 559 BGB« haben Mieterinitiativen eine Petition an den Bundestag eingereicht. Die Abschaffung des Paragraphen gehört auch zu den Forderungen des bundesweiten Bündnisses »Mietenwahnsinn stoppen«, zu dem sich mehrere stadtpolitische Gruppen und Mieterinitiativen zusammengeschlossen haben. Am zweiten Septemberwochenende hatte das Bündnis bundesweite Aktionstage veranstaltet. Die Palette reichte von einer Plakataktion in Köln bis zu einer Demonstration in Berlin mit über 2 000 Teilnehmern.

Florian Kasiske, ein Sprecher des Hamburger Netzwerks »Recht auf Stadt« und Mitbegründer der bundesweiten Kooperation, benannte im Gespräch mit der Jungle World die Probleme einer Organisierung der Mieter über die eigene Stadt hinaus. »Bewegungen gegen steigende Mieten und Gentrifizierung sind sehr ortsbezogen. Um einen Konflikt zu gewinnen, muss man in einem sehr spezifischen lokalen Setting agieren.« Doch dabei stoße man immer mehr an Grenzen. »Zentrale Forderungen der Mieterinitiativen lassen sich nur bundesweit durchsetzen – wie beispielsweise die nach einer neuen Wohngemeinnützigkeit, nach Abschaffung der Modernisierungspauschale Paragraph 559 oder nach einer wirksamem Mietpreisbremse«, so Kasiske.

Die Notwendigkeit einer außerparlamentarischen Organisierung der Mieter wird angesichts der Zusammensetzung des neuen Bundestags wohl noch dringlicher. Mit der FDP und der AfD sind zwei Parteien in den Bundestag eingezogen, die Mieterrechte weiter einschränken wollen. Auch die CDU-FDP-Koalition, die in Nordrhein-Westfalen die Landesregierung stellt, will die wenigen Schritte der rot-grünen Vorgängerregierung zugunsten der Mieterseite zurücknehmen. Die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel bezeichnete das Zweckentfremdungsgesetz, mit dem die Umwandlung von Miet- in Ferienwohnungen gebremst werden soll, als Enteignung von Wohnungseigentümern.

https://jungle.world/artikel/2017/39/nicht-zu-bremsen

Peter Nowak

Was hilft bloß gegen den »Mietenwahnsinn«?


Florian Kasiske über ein noch frisches Bündnis rebellischer Recht-auf Stadt-Initiativen und das Thema »bezahlbares Wohnen« im Wahlkampf


Seit Jahren kämpfen sie gegen »Zwangsräumungen« von Hartz IV-Empfänger_innen, rufen nach einer »echten Mietpreisbremse« und erarbeiten Konzepte für eine neue Bodenpolitik. Doch erst im Frühsommer entstand das bundesweite Bündnis »Mietenwahnsinn stoppen!«. Mitbegründer ist Florian Kasiske von Recht-auf-Stadt Hamburg, mit ihm sprach Peter Nowak.

In vielen Städten wie Berlin und Hamburg kämpfen Mietrebellen durchaus erfolgreich gegen Verdrängung. Warum ist eine überregionale Organisierung von Mieter_innen so schwer?
Bewegungen gegen steigende Mieten und Gentrifizierung sind sehr ortsbezogen. Um einen Konflikt zu gewinnen, muss man in einem sehr spezifischen lokalen Setting agieren. Der Bezug auf lokale Identitäten spielt in Mobilisierungen für das Recht auf Stadt oft eine große Rolle. Dazu kommt, dass die Bewegungszyklen lokal sehr unterschiedlich verlaufen.

Trotzdem haben Sie jüngst ein bundesweites Bündnis für Kämpfe von Mieter_innen mitgegründet? Warum?
Es ist notwendig, über die lokalen Konflikte hinaus auf der bundesweiten Ebene handlungsfähig zu sein und Einfluss auszuüben, weil Bundesgesetze einen enormen Einfluss auf die Mietentwicklung haben. Einige zentrale Forderungen aus Mieter_inneninitiativen lassen sich nur bundesweit durchsetzen – wie beispielsweise die nach einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit, nach Abschaffung der Modernisierungspauschale § 559 oder nach einer wirksamem Mietpreisbremse. Langfristig geht es uns darum, einen Paradigmenwechsel in der Wohnungspolitik durchzusetzen – diese muss sich an den Bedürfnissen von Bewohner_innen und nicht an Gewinninteressen orientieren.


Wie ist Ihr Bündnis entstanden, und wer beteiligt sich daran?

Die Idee, bundesweite Forderung aufzustellen, ist in Recht-auf-Stadt-Gruppen und im Netzwerk Mieten & Wohnen diskutiert worden. Schließlich gab es einen gemeinsamen Workshop auf dem Recht-auf-Stadt-Forum im April in Frankfurt. Dort kam die Idee auf, in Hinblick auf die Bundestagswahl und darüber hinaus mit einer gemeinsamen Klammer und einem gemeinsamen Aufruf aufzutreten.

Wieso kam das brisante Thema »Mieten« im Wahlkampf kaum vor?
Das ist nicht einfach zu beantworten. Wir haben den Eindruck, dass die Parteien – jenseits löblicher Ausnahmen – sich trotz bekannter Problemlagen immer noch sehr wenig um Lösungen bemühen. Die soziale Frage hat es in all ihren Ausprägungen derzeit überhaupt schwer, auf die politische Agenda zu kommen. Fakt ist auch, dass es bisher rechten Kräfte gelungen ist, von realen sozialen Probleme abzulenken und rassistische Ressentiments zu mobilisieren. Und darüber hinaus fehlte eben bisher auch noch eine bundesweite soziale Bewegungen zum Thema steigende Mieten, was wir mit »Mietenwahnsinn stoppen!« ja nun ändern wollen.

In Hamburg hat die Klage einer Rentnerin, deren Miete sich mehr als verdreifachen soll, auf einer SPD-Wahlveranstaltung für Furore gesorgt. Könnte das Thema Mieten in der Schlussphase des Wahlkampfs doch noch wichtig werden?
Die Aufmerksamkeit, die diese Geschichte erzeugt hat, zeigt, dass hier ein wunder Punkt getroffen wurde. Viel wurde in der letzten Woche auch über eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung berichtet, die belegt, dass steigende Mieten immer mehr Menschen in die Armut treiben. Ob in der Schlussphase des Wahlkampfes Mieten noch zu einem wichtigen Thema werden, hängt davon ab, ob endlich über Konzepte gesprochen wird, die dem Mietenanstieg effektiv entgegenwirken können.

Die neue schwarz-gelben Landesregierung in NRW will die zaghaften Reformen zur Stabilisierung der Miethöhen wieder abschaffen. Könnte dieses drohende Rollback die bundesweite Mobilisierung von Mieter_innen anfachen?
Schwer zu sagen, vielleicht. Die Politik der nordrhein-westfälischen Landesregierung zielt darauf ab, die Mietpreisbremse wieder zurückzunehmen und weitere Mieterschutzregelungen auszuhöhlen, um angeblich Anreize für private Investitionen zu schaffen. Diese Ausrichtung der Wohnungspolitik wird die Dynamik von steigenden Mieten und Verdrängung aus den Stadtzentren weiter verschärfen. Insofern kann es ein weiterer Antrieb für eine notwendige Bewegung sein.

Wie werden Sie im Bündnis weiter vorgehen?
Wir werden nach der Bundestagswahl darüber sprechen, wie wir unsere Arbeit fortsetzen. Meiner Meinung nach sollten wir das, was bis jetzt passiert ist als Startschuss begreifen für eine stärkere bundesweite Vernetzung zwischen alternativen Mietervereinen, Recht-auf-Stadt-Netzwerken und Mieterinitiativen. Diese kann zukünftig eine bessere Mobilisierung zum Thema Mieten ermöglichen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1064236.was-hilft-bloss-gegen-den-mietenwahnsinn.html

Interview: Peter Nowak

Energetische Sanierung zunehmend in der Kritik

Eine empirische Kurzstudie des Berliner Mietervereins bestätigt Sorgen von Mietern

Wacht auf Verdammte dieser Erde“, lautete die Parole einer Protestaktion von Mieterinitiativen und der Politsatiregruppe Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen[1] vor einigen Monaten. Damals wurde in einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen, dass immer mehr Mieter in der „energetischen Sanierung“ in erster Linie ein Instrument der Hauseigentümer sehen, die Miete zu erhöhen und Mieter zu vertreiben. Nun haben sie die Bestätigung durch eine Studie[2] des Berliner Mietervereins[3] erhalten.

Anhand von knapp 200 Modernisierungsankündigungen hat der Berliner Mieterverein in den Zeiträumen 2012 bis 2013 und 2015 bis 2016 die aufgewendeten Baukosten nach Art der Maßnahme sowie die Mietentwicklung nach der Modernisierung untersucht. Der durchschnittliche Mietenanstieg um 2,44 €/qm bzw. 186,37 € absolut im Monat bedeutet – gemessen an der durchschnittlichen ortsüblichen Vergleichsmiete im Mietspiegel 2015 – einen Anstieg von fast 42 %.

Die Nettokaltmiete steigt im Schnitt nach den Ergebnissen der Kurzstudie von 4,73 €/qm im Monat auf 7,14 €/qm im Monat. „Die Modernisierung ist aus dem Ruder gelaufen“, kritisiert der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins Reiner Wild.

Energetische Sanierung gut für die Eigentümer – nicht für die Umwelt

Die Studie bestätigt, was viele Mieter nicht nur in Berlin[4] seit Jahren beklagen. Die energetische Sanierung ist das Einfallstor für Mieterhöhungen und für die „Schleifung des Mietrechts“. Doch die Studie gibt den Kritikern noch in einem weiteren Punkt Recht.

In den untersuchten Fällen haben sich trotz energetischer Maßnahmen im Jahr nach der Modernisierung die Heizkosten nicht verringert. Die Vermieter verlangen weiterhin die alten Vorauszahlungen, offenkundig weil sie der vermuteten Energieeinsparung und damit auch der Heizkostenersparnis nicht trauen. Nur bei einer sehr kleinen Fallzahl konnte anhand von Heizkostenabrechnungen vor und nach der Modernisierung die tatsächliche Reduktion des Energieverbrauchs ermittelt werden.

Für Kurt Jotter vom Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen sind die Befunde der Studie nicht überraschend. Er hat seit Jahren seine oft satirische Kritik an der energetischen Sanierung geäußert, die durchaus nicht immer auf Zustimmung stieß. Schließlich wird eine Maßnahme, die vorgeblich im Namen der Umwelt geschieht, gerne von Umweltverbänden und den Grünen verteidigt – auch wenn sie letztlich der Umwelt gar nicht nützt. So wirbt der BUND noch immer mit dem Slogan „Je besser die Dämmung, desto besser der Klimaschutz“[5].


Die Mieter sollen die Energiewende bezahlen

„!ch habe ja diesen ganzen neoliberalen Irrsinn mit der energetischen Sanierung schon bei seiner Entstehung miterlebt – als ich zwischenzeitlich für die Energiewende und Solar in Brandenburg Freiflächen akquiriert habe“, begründet Jotter gegenüber Telepolis seine besondere Sensibilität diesem Thema gegenüber. Das Duo Merkel/Rösler habe Agrarflächen für Solar gesperrt, die Förderungen radikal gekürzt und schließlich fast die gesamte Solarindustrie zerschlagen[6], moniert Jotter, der damals erarbeitete Provisionen in beträchtlicher Höhe verloren hat.

„Die ‚Volksenergie‘ Solar war den vier herrschenden Energie-Konzernen ein Dorn im Auge – ebenso wie ihrem neoliberalen Regierungs-Duo“, ist Jotter heute überzeugt und sieht einen Zusammenhang zu den nun in der Kritik stehenden energetischen Sanierung: „Als die Verdrängung von Solar aus dem Erneuerbaren Energie-Mix offensichtlich war, fragten Journalisten sichtlich erregt auf der Bundespressekonferenz Merkel und Rösler: Wie bitte sollt denn nun ohne Solar die Energiewende noch gelingen? Die beiden wie aus der Pistole geschossen: Das kompensieren wir mit energetischer Sanierung und dämmen in ganz Deutschland die Wände. Die Gesetze wurden dann so umgestaltet, dass dies letztlich nicht die Hausbesitzer traf, sondern nur die Mieter, die – durch diese Zwangsgesetzgebung völlig entrechtet – ganz allein die Zeche zahlen müssen. Es wurde auch noch ausgebaut zum Vielfach-Renditebringer und zur Melkkuh für die internationalen Investoren.“

Dabei sind die Mieter nach einer Kasseler Untersuchung deutschlandweit nur zu 7% an dem Co2-Ausstoß beteiligt! Wann kommen solche „Zwangsgesetze“ für die restlichen 93 % der Umweltverschmutzer? Das fragen sich auch immer mehr Mieter und auch bei Gericht gibt es erste Erfolge.

Pankower Urteil ermutigt Mieter

Sie stützen sich dabei auf eine Gerichtsentscheid, das als Pankower Urteil[7] bei kritischen Mieterinitiativen Beachtung gefunden hat. Anfang 2015 sprach eine Amtsrichterin in Deutschland einer Mietpartei erstmals gleiches Recht zu, wie es auch für Hauseigentümer gilt: das Recht auf Wirtschaftlichkeit bei energetischen Modernisierungsmaßnahmen[8].

Die Beklagten haben […] nicht die Dämmung der Fassade zu dulden … Erst nach ca. zwanzig Jahren würde erstmals die Umlage niedriger sein als die eingesparte Heizenergie. Da kann von einer modernisierenden Instandsetzung aber nicht mehr die Rede sein […].

Pankower Urteil
Nach Auffassung des Gerichts können die Beklagten die Unwirtschaftlichkeit der Maßnahme „bereits im hiesigen Duldungsverfahren einwenden“, so der Tenor des Pankower Urteils. .

Abschaffung des § 559 gefordert

In der Kritik von Mieterorganisationen steht der mit dem Mietrechtsänderungsgesetz 2013 eingeführten Modernisierungs-Paragraph § 559 BGB[9], der die Mieterhöhungen bei energetischen Sanierungen und die Einschränkung der Mieterrechte legitimiert. Mieteraktivisten fordern die Abschaffung dieses Paragraphen und haben im Internet eine Petition[10] dazu gestartet.

Sie verweisen darauf, dass der Paragraph gegen Urteile des Bundesverfassungsgerichts verstößt, wonach Vermieter und Gesetzgeber keine „Regelungen“ treffen dürfen, die das Bestandsinteresse des Mieters gänzlich missachten oder unverhältnismäßig beschränken.

Es wäre wünschenswert, wenn das Thema einen solchen gesellschaftlichen Stellenwert bekäme, dass sich auch die Parteien im Bundestagswahlkampf dazu positionieren müssten. Schließlich sind ja Mieter ein stark umworbenes Klientel. Beim Paragraphen § 559 BGB müssten die Parteien nun zeigen, was die schöne Rhetorik wert ist.

https://www.heise.de/tp/features/Energetische-Sanierung-zunehmend-in-der-Kritik-3798624.html

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.bizim-kiez.de/blog/initiativenthemen/buero-fuer-ungewoehnliche-massnahmen/
[2] http://www.berliner-mieterverein.de/downloads/pm-1725-modernisierung-bmv-kurzstudie.pdf
[3] http://www.berliner-mieterverein.de/presse/pressearchiv/pm1725.htm
[4] http://www.taz.de/!t5424124/
[5] https://www.bund-naturschutz.de/oekologisch-leben/energie-sparen/energetische-sanierung.html
[6] http://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/zerschlagung-solar-millennium-verkauft-flagsol-anteile/6850544.html
[7] https://pankowermieterprotest.jimdo.com/2017/03/28/pankower-urteil-es-geht-weiter
[8] https://pankowermieterprotest.jimdo.com/2015/02/23/urteil-des-amtsgerichts-pankow-wei%C3%9Fensee-fassadend%C3%A4mmung-ist-unwirtschaftlich/
[9] https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__559.html
[10] https://www.change.org/p/bundestag-abschaffung-der-bgb-vorschriften-%C3%BCber-mieterh%C3%B6hungen-nach-modernisierungen-2c1505f0-9859-43cc-9ab8-e5ef3c363e10#share