Nach den durchwachten Nächten

Zwei Büchern über die Sozialproteste in Frankreich

Die Welt oder nichts

Vor zwei Jahren sorgten in Frankreich Massenproteste gegen das französische Arbeitsgesetz, das die prekären Arbeitsverhältnisse in dem Land vertiefen und zementieren sollte, für Schlagzeilen.

Vorbild für das „Loi Travail“ ist die Agenda 2010 in Deutschland. Der Protestzyklus begann am 9. März und hielt bis zum 5. Juli an. „120 Tage und 16 ‚genehmigte‘Demonstrationen, die uns die soziale Zusammensetzung der Bewegung und ihre in ständigem politischen Fluss begriffene politische Organisierung gut vor Augen führen“ (S. 52), schreibt Davide Gallo Lassere. Der junge, prekär beschäftigte Sozialwissenschaftler war selbst auch anden Protesten beteiligt. Nachdem sie abgeebbt waren, hat Lassere einen in der französischen Linken vieldiskutierten Text verfasst, der die Proteste von 2016 zum Ausgangspunkt für grundsätzlichere Fragestellungen nimmt. Wie ist es in einer Gesellschaft, in der Individualisierung zur ‚totalen Institution‘ geworden zu sein scheint, noch möglich, solche Sozialproteste erfolgreich zu führen? Welche Rolle können die Gewerkschaften in einer Gesellschaft spielen, in der vor allem viele junge Menschen keinerlei Beziehung zu ihnen haben? Ist es in einer solchermaßen differenzierten und individualisierten Gesellschaft möglich, emanzipatorische Forderungen zu formulieren und zu erkämpfen? Diese Fragen formuliert Lassere vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Aktivist in der Bewegung gegen die Arbeitsgesetze. Die Besetzung von Bahnhöfen, Häfen und Flughäfen, die Störung von Personen- und Gütertransport, die Beeinträchtigungen im Dienstleistungssektor, der Boykott von Einkaufszentren lassen für Lassere die Umrisse eines wirklichen „Gesellschaftsstreiks“ am Horizont aufscheinen. Er knüpft damit an Debatten um Streiks an, die nicht nur die klassischen Produktionsbereiche von Waren, sondern auch den Reproduktionsbereich und den Handel umfassen. Der Autor beschreibt den Moment der Befreiung, als die Menschen im März 2016 wieder auf die Straße gingen, nachdem der islamistische Terror über Monate auch die sozialen Aktivitäten in Frankreich gelähmt hatte. „Nicht von ungefähr erinnern wir an diese Kontinuität der Arbeitskonflikte und an die Dynamik auf dem besetzten Platz, die die Stimmung veränderte – von der erstickenden nationalen Einheit nach ‚Charlie Hebdo‘ und der vergleichsweise positiven Reaktion auf den Ausnahmezustand hin zu einer Desillusionierung über das politische System.“ (S. 13)Mit den sich im März 2016 ausbreitenden nächtlichen Platzbesetzungen, den Nuit debout, eroberten sich die Menschen den öffentlichen Raum wieder zurück. „Plötzlich hat man wiederLuft zum Atmen“ (S. 52), beschreibt der Autor das Gefühl vieler AktivistInnen. „Die Welt oder nichts“ lautete eine vielzitierte Parole, die dort getragen und vorgetragen wurde. Sie verdeutlichte, dass es um mehr als die Arbeitsgesetze ging.

Poesie der Revolte
„Die Welt oder nichts“ könnte auch die Parole jener politischen Gruppen und Individuen sein,deren Texte Sebastian Lotzer in seinem kleinen, ansprechend gestalteten Band „Winter is Coming“ veröffentlicht hat. Lotzer, der sich bereits mit seinem Buch „Begrabt mein Herz am Heinrichplatz“ als Poet der autonomen und antagonistischen Linken einen Namen gemacht hat, sympathisiert auch in Bezug auf Frankreich mit den politischen Kräften, die keine Forderungen an die Regierung stellen und sich klar von allen politischen Parteien und Gewerkschaften abgrenzen. Es sind vor allem junge Leute, SchülerInnen, StudentInnen, prekär Beschäftigte, die vom März bis Juli 2016 erstmals den politischen Widerstand ausprobierten. Junge Menschen, die in der wirtschaftsliberalen Konkurrenzgesellschaft aufgewachsen sind, für die die kapitalistischen Dogmen zum Alltagsbewusstsein gehören, werden plötzlich zum Subjekt von Kämpfen, die genau diese kapitalistische Gesellschaft in Frage stellen. In vielen Texten korrespondiert eine Rhetorik des radikalen Widerstands mit Gedanken, die durchaus kompatibel mit dem Funktionieren im wirtschaftsliberalen Alltag sind. So heißt es in einem von Lotzer dokumentierten „Aufruf aus dem antagonistischen Spektrum“(S. 49ff.) zum Aktionstag gegen das Arbeitsgesetz im März 2016: „Welchen Zusammenhang gibt es zwischen den Parolen der Gewerkschaften und der Schüler, welche ‚Die Welt oder gar nichts‘ sprühen, bevor sie planmäßig Banken angreifen? Überhaupt keinen. Oder höchstens den eines miserablen Vereinnahmungsversuchs, durchgeführt von Zombies“. Was vordergründig besonders radikal scheint, könnte auch dem Bemühung um Abgrenzung der eigenen bürgerkindlichen Existenz und Haltung von den organisierten ArbeiterInnen sein. Schließlich gibt es in Frankreich seit Jahren sehr aktive Basisgewerkschaften, die auch das Rückgrat der Proteste gegen das Arbeitsgesetz bildeten. Das sehen auch einige der Jugendlichen so, die sich mit ihren Klassen am Schulstreik beteiligten und die mit kurzen Interviews in dem Band zu Wort kommen. So kommt „Lucien“ vom Movement Inter Luttes Independant (MLI), einer autonomen Organisierung von OberschülerInnen, zu der folgenden, sehr differenzierten Einschätzung über die Rolle der Gewerkschaften (S. 102):„Auf der einen Seite stimmt es, dass die Gewerkschaften stark nachgelassen haben. Andererseits sind es diejenigen, die die Massen auf die Straße bringen. Und es gibt einige gute Leute bei den Gewerkschaften, wie etwa die SUD-RATP (Gewerkschaften der Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs in Paris), mit denen wir einige Übereinstimmung haben. Aber die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften ist immer kompliziert. Da kommt die CGT-Bürokratie dazwischen.“Im Nachwort wirft Lotzer einen kritischen Blick auf das Agieren der radikalen Linken bei den G20-Protesen im letzten Jahr in Hamburg. „‘Wie weiter nach Hamburg‘ fragten Autonome auf einem in verschiedenen Städten verklebten Plakat. Die Frage ist, ob diese Fragestellung überhaupt Sinn macht. (…) Vielleicht geht es nicht darum, wie es weitergeht, solange man nicht in der Lage ist, sich überhaupt eine Begrifflichkeit von dem zu schaffen, was eigentlich passiert ist“ (S. 133) – ohne diesem Anspruch allerdings selbst gerecht zu werden. Zu sehr verbleibt die Textsammlung hier in der Dokumentation von Haltungsfragen – zwischen Aktionsmüdigkeit und romantischer Heroik – befangen. Dennoch: Beide Bücher liefern nicht nur anregende Gedanken und Überlegungen zu einer breiteren Diskussion darüber, was in den Nuit debout passiert ist, sondern damit auch zur Frage, wie es nach den durchwachten Nächten nun tagsüber weiter geht: schlafwandelnd, tagträumerisch oder mit geschärftem Blick.

Peter Nowak
Davide Gallo Lassere: „Gegen das Arbeitsgesetz und seine Welt“, Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2018, ISBN: 978-3-9819243-1-2, 10 Euro, 111 Seiten

Lotzer Sebastian: „Winter is Coming. Soziale Kämpfe in Frankreich“, Bahoe Books, Wien 2018, ISBN: 978-3-9022-79-9 135 Seiten, 14 Euro

Peter Nowak

Erstveröffentlichungsort:
Dieser Artikel erschien zuerst in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 6/2018.