Kritischer Einsatz


Vorlesung eines Investors in der Architekturfakultät der TU unter Polizeischutz

„Wie gelingt bezahlbares Wohnen trotz hoher Kosten?“ Diese Frage interessiert in Berlin viele MieterInnen. Doch eine Ringvorlesung mit dieser Fragestellung in der Architekturfakultät der Technischen Universität (TU) lockte am Mittwochabend neben Studierenden vor allem ProjekteentwicklerInnen an.

Schließlich war mit Christoph Gröner der Vorsitzende der CG-Gruppe als Redner eingeladen, der als Immobilienin- vestor nicht gerade als Vorkämpfer für Sozialmieten gilt. Kritische Studierende vom Forum for Urban Research and Intervention wiesen in einem Faltblatt darauf hin, dass auf der Webseite der für den Vertrieb zuständigen Tochtergesellschaft der CG-Gruppe keine Mietwohnung unter einer Nettokalt- miete von 1.000 Euro angeboten werde und sich unter den Berliner Bauprojekten des Unternehmens lediglich 180 preis- und belegungsgebundene Sozialwohnungen befinden.

Doch zu Wort kamen sie mit ihrer Kritik nicht. Christoph Gröner erklärte, er wolle gerne selbst mit bezahlbarem Wohnraum „ein Schweinegeld“ verdienen. Eine Mietpreisbremse lehnt er vehement ab. Dafür sprach er sich für die Besteuerung der Bodenspekulation aus. Doch die zentrale Botschaft von Gröner war, dass eine Senkung der Baukosten nur durch technische Innovationen zu erreichen sei. Vorbild ist für ihn die deutsche Automobilindustrie, die sich nach Zeiten der Krise neu aufgestellt habe.

Im Publikum stieß Gröner damit auf viel Zustimmung. Die Zahl der KritikerInnen war klein. Eine Frau warf Gröner in einem längeren Redebeitrag vor, das die CG Gruppe im Friedrichshainer Nordkiez mit dem Bau des Carré Sama- Riga zur Verdrängung einkommensschwacher MieterInnen beitrage. Nach wenigen Minuten wurde sie von den bereits anwesenden Polizeikräften und dem Sicherheitsdienst aus dem Saal geschleppt und bekam eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch. Ein Großteil des Publikums quittierte die Maßnahme mit Applaus. Nach der Veranstaltung äußerten sich einige Studierende allerdings kritisch zum Polizeieinsatz.

Ein Vertreter des Hochschulpoltischen Referats des Asta der TU sagte der taz, man wolle sich auf der nächsten Asta-Sitzung mit dem in jüngster Zeit häufigen Einsatz von Polizei und Sicherheitsdiensten auf dem Campus befassen. Man lehne das Vorgehen ab und fordere die Rücknahme der Anzeige.

taz, freitag, 1. juni 2018

Peter Nowak

Große Bühne für Investor Christoph Gröner an der Technischen Universität

„Wie gelingt bezahlbares Wohnen trotz hoher Kosten?“ Diese Frage interessiert in Berlin viele Mieter/innen. Doch eine Ringverlesung mit dieser Fragestellung in der Architekturfakultät der TU-Berlin lockte am Mittwoch Abend neben Studierenden vor allem Menschen aus dem Investorensektor an. Schließlich war Christoph Gröner der Vorsitzende der CG-Gruppe als alleiniger Redner eingeladen, der als Immobilieninvestor nicht gerade als Vorkämpfer für Sozialmieten gilt. Schließlich war Gröner Hauptfigur in dem kürzlich ausgestrahlten ARD-Film „Ungleichland“, der sich mit der Macht von Kapitalist/innen befasste. Dort erklärte Gröner unter Anderem: „Wenn Sie 215 Millionen haben und schmeißen das Geld zum Fenster raus, dann kommt es zur Tür wieder rein. Sie kriegen es nicht kaputt“. In dem Film hat Gröner auch sein Verhältnis zum Staat so definiert: „Wir, die Leute, die Gas geben, die Geld haben, müssen uns einbringen, wir sind der Staat.“ An der TU schlug Gröner andere Töne an. Seine zentrale Botschaft lautete, dass eine Senkung der Baukosten nur durch technische Innovationen zu erreichen sei. Die CG-Gruppe stellte er als Pionier des digitalen Bauens vor. Vorbild ist für ihn die deutsche Automobilindustrie, die sich nach den Zeiten der Krise weltweit neuaufgestellt habe. Im Publikum stieß Gröner damit auf viel Zustimmung. In der anschließenden Diskussion outeten sich einige als überzeugte Wirtschaftsliberale, für die jeder Eingriff des Staates in die Wirtschaft tabu ist. Daher blieb auch Gröners Verteidigung des Diesel unwidersprochen, der angeblich durch eine ideologische Politik kaputt gemacht werde. Gröner bekräftigte seine Ablehnung der Mietpreisbremse. Doch einen Staatseingriff befürwortete er aus Eigeninteresse – die Besteuerung von Boden, der zur Spekulationszwecken genutzt wird. Gröner beklagte, dass er im Mieterverfahren gegenüber Konkurrent/innen unterliege, die dann das Areal nicht sofort bebauen.

Keine Wohnungen unter 1000 Euro
Er hätte nichts dagegen, selbst „mit bezahlbaren Wohnraum ein Schweinegeld zu verdienen“, bekundete Gröner. Für wen die Wohnungen bezahlbar sein sollen, sagte er nicht. Kritische Studierende vom Forum for Urban Research and Intervention (FURI) wiesen in einem Faltblatt darauf hin, dass auf der Webseite der für den Vertrieb zuständigen Tochtergesellschaft der CG-Gruppe keine Mietwohnung unter einer Nettokaltmiete von 1000 Euro angeboten wird und sich unter den Berliner Bauobjekten des Unternehmens lediglich 18 preis- und belegungsgebundene Sozialwohnungen befinden. Doch zu Wort kamen sie mit ihrer Kritik nicht. Eine Frau von der Friedrichshainer Stadtteilinitiative „Nordkiez lebt“ warf Gröner in einem längeren Redebeitrag vor, in der Rigaer Straße mit dem Bau des Carree Sama-Riga zur Verdrängung einkommensschwacher Mieter/innen beizutragen. Nach wenigen Minuten wurde sie von Polizei und Sicherheitsdienst aus dem Saal geschleppt und bekam eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch. Ein Großteil der Teilnehmer/innen quittierte die Polizeimaßnahme mit Applaus. Nach der Veranstaltung äußerten sich einige Studierende allerdings kritisch zum Polizeieinsatz. Auch ein Vertreter des Hochschulpoltischen Referats des Asta der TU-Berlin erklärt gegenüber MieterEcho online, man wolle sich auf der nächsten Asta-Sitzung mit dem in jüngster Zeit häufigen problematischen Einsatz von Polizei und von Sicherheitsdiensten auf dem Campus befassen. Man lehne das Vorgehen ab und fordere die sofortige Rücknahme der Anzeige. Die Veranstaltung fand im Rahmen der Ringvorlesung Real Estate Management in der Architekturfakultät der TU statt. „Die REM-Lecture ist eine für alle offene Ringvorlesung, die sich seit 2012 etabliert hat und aktuelle Themen der Stadtentwicklung und Stadtpolitik im Kontext der Immobilienwirtschaft diskutiert“, heißt es auf der Homepage. Mieter/innen und ihre Organisationen sind dort als Referent/innen nicht vorgesehen und, wenn sie nicht applaudieren, auch nicht als Zuhörer/innen.

MieterEcho online 31.5.2018

https://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/groener-an-der-tu.html
Peter Nowak

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Offener Brief von FURI zum Vortrag von Christoph Gröner im Rahmen der immobilienwirtschaftlichen Ringvorlesung „REM-Lecture“

Bereits im Vorfeld des vom Studiengang Real Estate Management organisierten Talks des Projektentwicklers Christoph Gröner zum Thema „Baupreise und Bodenpreise – wie gelingt bezahlbares Wohnen trotz hoher Kosten?“ am Institut für Architektur (IfA) der TU Berlin am vergangenen Mittwoch, den 30.05.2018, reagierte die Veranstalterin auf den Aufruf zur Teilnahme durch FURI und äußerte den Wunsch nach einem „anregenden Dialog“. Dieser solle sich durch Fairness und „einer universitär akademischen, wissenschaftlichen Grundsätzen folgenden und damit meinungsoffenen Diskussion“ auszeichnen. Die vielversprechende Ankündigung dieser offenen Diskussion an unserer Universität wurde durch Tatsachen kontrastiert, die aus unserer Sicht an einer öffentlichen Bildungseinrichtung nicht akzeptabel sind.

Dazu zählte am offenkundigsten die Anwesenheit zahlreicher Sicherheitskräfte (Security der TU Berlin, ca. 15 Polizisten einschl. Zivilpolizisten sowie vier private Personenschützer von Christoph Gröner), die der Veranstaltung einen völlig unangemessenen Rahmen setzten, der aus unserer Perspektive nicht unwesentlich zur kurzzeitigen Eskalation der Veranstaltung beigetragen hat. Diese Eskalation bestand darin, dass eine Person aus dem Publikum, die ihren Ärger über die Inhalte der Veranstaltung nicht zügeln konnte, in der Folge von der Polizei des Hauses verwiesen wurde. Unsere Kritik endet aber nicht schon hier…

Zu den einzelnen Kritikpunkten

Eingeschränkter Zugang zur Veranstaltung: Trotz schriftlich eingegangener Anmeldungen wurden angemeldete Personen zunächst nicht in den Raum gelassen. Angesichts der bereits zahlreichen Anmeldungen hätte das veranstaltende Fachgebiet davon ausgehen müssen, dass der Raum A060 mit seinen Kapazitäten nicht ausreichen würde, um allen Interessierten Zugang zur Veranstaltung zu ermöglichen. Zugleich erschienen die eigentlich obligatorischen Anmeldungen als nur bedingt bindend. So ergab sich vor Ort das Bild, dass eine Anmeldung z.T. eher zweitrangig war, sondern stattdessen zunächst Personengruppen eingelassen wurden, die in persönlicher Verbindung mit den OrganisatorInnen standen und auch nicht zwangsläufig eine Anmeldung vorzeigen mussten. Insgesamt fanden ca. 100 Personen Platz. Weitere Stehplätze für ca. zehn Personen wären vorhanden gewesen; dennoch entschieden sich die VeranstalterInnen, den Personen den Einlass zu verwehren und den Eingang zum Raum bewacht (inklusive zwei Personenschützern) zu halten.

Mangel an Moderation und Kuratorium: Da eine Moderation durch das organisierende Fachgebiet weitestgehend ausblieb, blieb eine Einordnung der inhaltlichen Positionen Gröners innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses oder einer öffentlichen Debatte aus. Nach Rücksprache mit FachgebietsmitarbeiterInnen im Anschluss der Veranstaltung wurde darüber hinaus deutlich, dass Herr Gröner frei über das Thema entschied, wobei die Themenwahl auch im zuständigen Fachgebiet auf einige Verwunderung stieß. Entsprechend fragen wir uns, wieso – angesichts der politischen Aktualität der Wohnungsfrage – nicht spätestens zu diesem Zeitpunkt auf eine umfassendere inhaltliche Vorbereitung bzw. Begleitung des Vortrages Wert gelegt wurde. Eine Umstrukturierung der Veranstaltung zu einem Panel mit unterschiedlichen Akteuren hätte nach unserer Meinung nicht nur das Potential gehabt, besser der politischen Brisanz dieses Themas gerecht zu werden, sondern auch, der Frustration einiger TeilnehmerInnen, wie sie im Zuge der Veranstaltung lautstark geäußert wurde, schon vorab offen und konstruktiv zu begegnen. Anders als im letztendlich realisierten Vortragsmodell hätten mit diesem Ansatz verschiedene Positionen bzgl. der Schaffung und Verwaltung bezahlbaren Wohnraums eine Stimme erhalten und ein konstruktives Streitgespräch hätte sich entwickeln können.

Eindimensionalität der Debatte: Herr Gröner machte in seinem Vortrag verschiedene Argumente, die nach unserer Meinung in einer universitären Veranstaltung nicht unkommentiert bleiben sollten. So wurde sich zeitweise für eine Entpolitisierung von Wohnen und Bauen ausgesprochen und Fragen nach der Weitergabe der von ihm angepriesenen Kosteneinsparungen an die MieterInnen ausgewichen. Andere Statements, wie die Thematisierung der Verdrängung von sozialen Gruppen mit niedrigem Einkommen von der Innenstadt an die Peripherie, wurden trotz diesbezüglicher Wortmeldungen unkommentiert gelassen. In zweierlei Hinsicht bot die Veranstaltung und ihre Einbettung keine Möglichkeit, angemessen auf diese Aussagen zu reagieren. Zum einen gab es für einen Dialog, wie er noch in einer Email des veranstaltenden Fachgebietes beworben und von Herrn Gröner nach dem Störfall eingefordert wurde, keinen Raum. Es dominierte ein Frage-Antwort-Verhältnis, das die Rednerposition Herr Gröners strukturell stärkte. Einzig hier machte sich auch die Moderation bemerkbar, die stur an der Einhaltung dieses Redemodells interessiert war. Zum anderen wird seitens des veranstaltenden Fachgebietes die Option ausgelassen, in weiteren Ringvorlesungen erschöpfend andere ExpertInnen zu Fragen des Bauens und der Verwaltung bezahlbaren Wohnraums zu Wort kommen zu lassen. So scheint die diesbezügliche Pluralität an Perspektiven und Lösungen kaum wahrgenommen zu werden. Vielmehr ergibt sich in Reflektion der Veranstaltung der Eindruck, dass im Fachgebiet für Planungs- und Bauökonomie/Immobilienwirtschaft Fragen nach bezahlbarem Wohnraum im besten Fall als entpolitisierte Nebenaspekte im Zuge einer renditegetriebenen Unternehmensführung diskutiert werden, während sie im schlechtesten Fall als philanthropisches Marketingpotential dienen. Es ist zu betonen, dass wir nicht der Überzeugung sind, dass Akteure wie die CG-Group – oder Herr Gröner im spezifischen – in einer Diskussion zu bezahlbaren Wohnraum grundlegend kein Rederecht haben. Wenn besagte Akteure der Überzeugung sind, dass sie zu diesbezüglichen Debatten etwas beizutragen haben, scheint es vorerst legitim, sie anzuhören. Es ist nach unserer Meinung aber nicht tragbar, ihnen z.T. unkommentiert und ohne Dialog auf Augenhöhe eine Plattform zu bieten. Wir blicken interessiert auf die kommende Veranstaltung der REM-Lecture am 4. Juli 2018 zum Thema Wie gelingt nachhaltiges und planerisch anspruchsvolles Wohnen trotz hoher Kosten zu bezahlbaren Mieten: Strategien für Planer durch Christian Roth und Sascha Zander von zanderrotharchitekten, können aber nicht abstreiten, dass bei uns eine große Skepsis besteht, ob Positionen außerhalb eines marktliberalen und technologischen Solutionismus in die Veranstaltung Einzug finden werden.

Rolle der Universität und des IfAs als zuständiges Institut für das FG Planungs- und Bauökonomie/Immobilienwirtschaft: Die Rolle des Instituts für Architektur, in dessen Zuständigkeit das veranstaltende Fachgebiet Planungs- und Bauökonomie/Immobilienwirtschaft fällt, steht noch komplett im Dunkeln und Bedarf der Aufklärung. Demgegenüber war das Präsidium der TU Berlin mit Sicherheit über die scheinbar gefährdete Veranstaltung informiert, sodass es in der Folge auch verstärktes TU-eigenes Sicherheitspersonal vor Ort positionieren ließ. Eigene Präsenz vor Ort zu zeigen, einen dem universitären Rahmen würdigen Ablauf zu ermöglichen sowie ggf. aufkommenden Streit zu schlichten, scheint dem Präsidium jedoch nicht relevant gewesen zu sein.

Rolle der Studierenden: Wir bedauern, dass das anwesende Publikum die Eskalation der Veranstaltung mit dem Eingreifen der Polizei nicht verhindert hat. Wir sehen uns als Studierende besonders in der Verantwortung, den universitären Raum vor unwissenschaftlichem und diskriminierendem Verhalten sowie dem Eingreifen der Polizei zu schützen und andere Wege zu finden, meinungsoffene Debatten zu gewährleisten.

Die im Vorhinein der Veranstaltung von FURI getätigte Vermutung, dass sich keine anderen Fachgebiete sowohl des IfAs als auch des Instituts für Stadt- und Regionalplanung am Talk mit Christoph Gröner beteiligen würden, bewahrheitete sich. Dies scheint weiterhin darauf hinzudeuten, dass es außerhalb des Fachgebiets für Planungs- und Bauökonomie/Immobilienwirtschaft sowohl am ISR als auch am IfA kaum systematische und dauerhafte Bemühungen in Forschung und Lehre gibt, die Themenfelder Immobilienökonomie, Soziale Wohnraumversorgung und städtebauliche und architektonische Ausprägung integriert zu betrachten. FURI fordert deshalb, sich auch im Sinne einer Aufarbeitung des Talks mit Christoph Gröner mit dieser Leerstelle auseinanderzusetzen, ihre geschichtliche Gewordenheit zu reflektieren und die Diskussion darüber offen und transparent zu führen.

Presse:

„Große Bühne für Investor Christoph Gröner an der Technischen Universität“, MieterEcho online am 31.5.2018: http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/groener-an-der-tu.html

„Kritischer Einsatz“, taz vom 01.06.2018: http://www.taz.de/!5506895/

https://furi.berlin/aktuelles/offenerbrief_cg-gruppe_an_der_tu-berlin/

Rechtswidrige Zwangsräumung in Lichtenberg

Am 22.5. konnten solidarische Nachbar/innen die Zwangsräumung einer Familie in der Kernhofer Straße 11 in Lichtenberg noch verhindern. Knapp 60 Menschen hatten sich vor dem Eingang postiert, sodass der Gerichtsvollzieher gar nicht erst aus dem Auto ausstieg. Er war nicht bereit, mit den Unterstützer/innen der Familie überhaupt nur zu reden. Dafür telefonierte er im Auto hektisch mit der Polizei und verschwand schließlich. Am 28.5. kam der Gerichtsvollzieher erneut, gemeinsam mit 20 Polizist/innen und Mitarbeiter/innen der Angela Herden Hausverwaltung. Sie gaben der Familie 15 Minuten Zeit, ihre Sachen zu packen und die Wohnung zu verlassen. Dann wurde das Schloss ausgetauscht. In der Eile konnte die vierköpfige Familie nur wenige Dinge mitnehmen. Selbst die Schulsachen der Söhne der Familie blieben in der Wohnung. Allerdings könnte die Familie unter Umständen mit Hilfe der Gerichte wieder in die Wohnung zurück.

Die Räumung war eindeutig rechtswidrig, erklärte David Schuster vom Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ gegenüber MieterEcho online. Das Bündnis hatte letzte Woche mit zum Protest aufgerufen. Schuster verweist auf die Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher (GVGA). Die sind demnach verpflichtet, eine Zwangsräumung 3 Wochen vorher anzukündigen. Diese Frist soll den Betroffenen Zeit geben, mit den Eigentümer/innen in Kontakt zu treten und eine Räumung vielleicht doch noch zu verhindern oder sich auf die Räumung vorzubereiten. Schon beim ersten Räumungsversuch letzte Woche hatte der Gerichtsvollzieher die Frist nicht eingehalten. Die Wohnungshilfe Lichtenberg hatte die betroffene Familie erst fünf Tage vor der Räumung in einem Schreiben informiert. Dass nun kein Termin kommt, ist nach für den Rechtsanwalt Hannes Poggemann, der auf Mietrecht spezialisiert ist, eindeutig rechtswidrig. „Die 3-Wochen-Frist ist für Gerichtsvollzieher/innen verbindlich“, bestätigte Poggemann. Auch Angst vor möglichen Protesten, die die Räumung verhindern sollen, können nicht als Begründung dafür herangezogen werden, dass die Räumung nicht fristgemäß angekündigt ist, betont der Jurist. „Dann muss der Gerichtsvollzieher die Polizei zur Hilfe rufen, um die Räumung durchzuführen, kann aber nicht die Frist verkürzen oder unangekündigt räumen“, betont Poggemann. Der Fall zeigt auch wieder einmal, wie wichtig es ist, sich in Mietstreitigkeiten rechtzeitig um juristische Vertretung zu kümmern.

Schlamperei des Jobcenter führte zu Mietschulden
Die Nachbar/innen würden es begrüßen, wenn die Familie wieder in die Wohnung zurückkäme. „Sie sind 2001 mit ihren beiden Söhnen hier eingezogen. Es gab nie Probleme und es kann nicht sein, dass die Familie wegen der Schlamperei des Jobcenters jetzt ihre Wohnung verliert“, meinte eine Frau, die im Nachbarhaus wohnt. Das Jobcenter hatte die Miete für die Familie direkt an den Eigentümer überwiesen. Der Antrag zur Kostenübernahme musste in regelmäßigen Abständen erneuert wurde. Wegen einer schweren Krankheit hatte die Familie eine Frist verpasst. Es kam zu Mietrückständen, die mittlerweile komplett beglichen wurden. Doch sie führten zu einem Räumungstitel, der nun rechtswidrig vollstreckt wurde.

https://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/zwangsraeumung-in-lichtenberg.html

MieterEcho online 31.05.2018
Peter Nowak

„Eindeutig rechtswidrig“

Lichtenberger Familie wird ohne vorherige Ankündigung geräumt. Das sei unzulässig, sagen Experten

Am 22. Mai konnten solidarische NachbarInnen die Zwangsräumung einer Familie in der Kernhofer Straße 11 in Lichte berg noch verhindern. Knapp 60 Menschen hatten sich vor dem Eingang postiert, sodass der Gerichtsvollzieher gar nicht erst aus dem Auto ausstieg (taz berichtete). Ein Gespräch mit den UnterstützerInnen gab es nicht. Stattdessen kam am 28. Mai der Gerichtsvollzieher erneut, gemeinsam mit 20 PolizistInnen und MitarbeiterInnen der Angela Herden Hausverwaltung. Sie gaben der Familie 15 Minuten Zeit, ihre Sachen zu packen und die Wohnung zu verlassen. Dann wurde das Schloss ausgetauscht. In der Eile konnte die vierköpfige Familie nur wenige Sachen mitnehmen. Selbst die Schulsachen der Söhne der Familie blieben in der Wohnung.
Die Räumung war eindeu- tig rechtswidrig, erklärt David Schuster vom Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ gegenüber der taz. Es hatte letzte Woche mit zum Protest aufgerufen. Schuster verweist auf die Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher (GVGA), laut der diese verpflichtet sind, eine Zwangsräumung 3 Wochen vorher anzukündigen. Dies gibt den Betroffenen Zeit, mit den EigentümerInnen in Kontakt zu treten und eine Räumung vielleicht doch noch zu verhindern oder sich darauf vorzubereiten.
Schon beim ersten Räumungsversuch letzte Woche hatte der Gerichtsvollzieher die Frist nicht eingehalten. Die Wohnungshilfe Lichtenberg hatte die betroffene Familie fünf Tage vor der Räumung in einem Schreiben informiert. Dass nun kein Termin angekündigt wurde, ist auch für Rechtsanwalt Hannes Poggemann, der auf Mietrecht spezialisiert ist, eindeutig rechtswidrig. „Die 3-Wochen-Frist ist für GerichtvollzieherInnen verbindlich“, bestätigte Poggemann gegenüber der taz. Auch mögliche Proteste, die die Räumung verhindern sollen, können nicht als Begründung dafür herangezogen werden, dass die Räumung nicht fristgemäß angekündigt wurde, betont der Jurist. Die geräumte Familie habe jetzt die Möglichkeit, sich per Gericht wieder in die Wohnung einzuklagen, und könnte bis Ende Juli dort wohnen, so Poggemann. Die NachbarInnen würden das begrüßen. Sie unterstützen die Familie, die seit 2001 dort wohnt. Aus Krankheitsgründen wurden Termine im Jobcenter versäumt, die zu den Miet- schulden führten, die der Grund der Räumung waren.


donnerstag, 31. mai 2018 taz

Peter Nowak

Italien: Eine Regierung der Herrschaft der Märkte oder des demokratischen Willens?

Bei den nächsten italienischen Wahlen muss sich zeigen, ob es noch eine Linke jenseits von EU und nationalem Kapitalismus gibt

Im letzten Herbst ist in Deutschland eine Regierung aus Union, FDP und Grünen gescheitert, weil zumindest die beiden liberalen Parteien noch nicht gemeinsam bundesweit regieren können. Das braucht wohl noch etwas Zeit. In Italien allerdings haben sich die beiden größten Gewinner der letzten Wahlen nach einigen Wochen auf ein gemeinsames Regierungsprogramm einigen können.

Es handelt sich um unterschiedlichen Varianten rechten Populismus. Sie hatten sich auch nicht über das Personal zerstritten und auch ihre Mehrheit stand nicht infrage, nachdem in einer Online-Befragung eine große Mehrheit der Fünf-Sterne-Bewegung für diese Koalition votierte.

Dass die Regierung nicht ihr Amt antreten kann, liegt daran, dass der Präsident als Interessenvertreter des deutsch-europäischen Blocks agierte und dem von den beiden Parteien vorgesehen Finanzminister Paolo Savona die Zustimmung verweigerte. Der hatte es tatsächlich gewagt, die Konstruktion des Euro zu kritisieren und über Alternativen zumindest nachzudenken.

Deshalb ist es eine begriffliche Lüge, wenn überall behauptet wird, dass die Regierungsbildung in Italien gescheitert ist. Nein, sie ist von einem Präsidenten verhindert worden, der sich zum Interessenvertreter der Sparer erklärte und der sich im Zweifel eher auf die Unruhe an den Märkten als am Mehrheitswillen ausrichtet.

Dass Mattarella nun einen ehemaligen IWF-Direktor zum Ministerpräsidenten ernannte[1], zeigt noch einmal, wo das Interesse des Präsidenten liegt. Denn Carlo Cottarelli stellt die Märkte zufrieden und EU-Vertreter hoffen, dass nun eine EU-freundliche Regierung in Italien gebildet werden kann. Allein, Cottarelli hat die Unterstützung vom Präsidenten, von der EU und von den Märkten, aber nicht vom italienischen Parlament.

Daher müsste es wohl spätestens im September zu Neuwahlen kommen, falls da nicht doch noch Mittel und Wege gefunden werden, die Regierung ohne Mehrheit länger im Amt zu halten.

„Die Märkte werden die Italiener lehren, richtig zu wählen“

Nun scheinen die beiden Rechtsparteien gar nicht so traurig zu sein, vorerst die Regierung nicht bilden zu können. Das zeigt sich daran, dass sie nicht bereit waren, den vom Präsidenten inkriminierten Finanzminister zu ersetzen. So kann man die kommende Wahl zur Abstimmung darüber machen, ob die Bevölkerung oder die Märkte, bzw. der deutsche EU-Block, die italienische Politik bestimmen.

Vor allem die Lega Nord kann nach Prognosen Stimmen zulegen und so sogar vor der Fünf-Sterne-Bewegung stärkste Partei werden. Mag sein, dass der Wahlkampf das fragile Verhältnis der beiden Rechtsparteien wieder zerrüttet. Doch vielleicht kann die alte Rechte, dass Bündnis aus Lega Nord und Berlusconi, der nun auch wieder offiziell in der Politik mitmischen kann, sogar alleine regieren?

Wenn nun der EU-Haushaltskommissar Oettinger ganz offen seine Überzeugung verbreitet, dass die Märkte den italienischen Wählern zeigen werden, wie man richtig wählt und dafür von Spiegel-Online Zustimmung erfährt[2], ist das natürlich eine perfekte Wahlkampfhilfe für die italienische Rechte aller Couleur. Deswegen hat er sich nachher auch halbherzig entschuldigt. Schließlich muss ein deutscher Kommissar nicht so offen sagen, wer die Macht in Europa hat.

Was dann der Spiegel-Online Redakteur aber selbst zur Debatte beisteuert, liest sich wie eine Neuauflage der Kampagne gegen die „Pleitegriechen“:

Es ist die Taktik, die Populisten gern benutzen: die Verdrehung der Wahrheit in ihr Gegenteil. Lega und 5 Sterne wollen Italien eine stark verrückt wirkende Finanzpolitik verordnen, fordern dazu von der EU schamlos den Erlass von Hunderten Milliarden Euro an Schulden und versprechen ihren Wählern ebenso schamlos, Italien in eine Art Ferienkolonie zu verwandeln, für deren Bewohner Milch und Honig fließen. So zumindest lesen – oder besser, lasen – sich Teile des Regierungsprogramms beider Parteien.

Markus Becker, Spiegel-Online

Wie im Falle Griechenlands haben sich vor einigen Tagen auch schon einige wirtschaftsliberale Ökonomen zur Verteidigung der Deutsch-EU gemeldet[3].

Macht sich die italienische Linke zum Interessenvertreter der Märkte?

Doch, ob die Rechte in Italien bei der nächsten Wahl noch zulegt, ist noch nicht ausgemacht. Das wird auch davon abhängen, wie sich die italienische Linke positioniert. Wenn sie sich weiter als Sprachrohr der Märkte und der Deutsch-EU versteht, ist das die beste Wahlkampfhilfe für Rechts.

Von der Formation um Mario Renzi, der ja eigentlich als guter italienischer Partner der Deutsch-EU vorgesehen war, ist gar nichts zu erwarten. Seine Partei ist heute nicht mal mehr als sozialdemokratisch zu verorten, sondern gleicht den Clinton-Demokraten in den USA.
Doch es gibt jenseits der großen Parteien in Italien aktive Basisgewerkschaften und Stadtteilgruppen wie das Kollektiv Malaboca[4] im Westen Mailands[5], die sich vor Ort für die Verbesserung der Lebenslage vieler einkommensschwacher Menschen einsetzen.

Für sie gibt es kaum einen Unterschied zwischen den linken Parteien, die sich auch mal spalten, um dann doch wieder gemeinsam zu koalieren, wenn es um Macht und Pfründe geht. Sie wissen aber auch, dass die Fünf-Sterne-Bewegung und mehr noch die Lega Nord, wenn sie sich gegen den deutschen Einfluss auf Italien wenden, nur einen autoritären nationalen Kapitalismus propagieren.

Schließlich hat die Lega Nord, da wo sie regierte, vor allem in Norditalien, Logistikfirmen den roten Teppich ausgelegt und mit niedrigen Steuern und schlechten Arbeitsverhältnissen eine Politik betrieben, die von vielen internationalen Unternehmen als vorbildlich gepriesen wird.

Was diese Bedingungen für die Beschäftigten bedeuten, zeigt der Film „Die Angst wegschmeißen“[6], in dem die Regisseurinnen Johanna Schellhagen und Rosa Cannone den jahrelangen Arbeitskampf meist migrantischer italienischer Logistikarbeiter im Norden Italiens dokumentieren.

Die Kampfbereitschaft ist bisher die Ausnahme, nicht aber die dort dokumentierten Zustände. Sklavenähnliche Verhältnisse in Süditalien zeigt der preisgekrönte Film „Eldorado“[7] von Markus Imhoof[8], der kürzlich in die Kinos kam. Wer in der Dokumentation sieht, welche Strapazen die Migranten bei ihrer Überfahrt nach Europa auf sich nehmen, kann nur der Überzeugung sein, dass keinem Menschen eine solche Behandlung zumutbar ist.

Doch Imhoof zeigt, dass die Hölle für viele Migranten in ihrem Sehnsuchtsort Europa nicht vorüber ist. Gemeinsam mit einem Gewerkschafter besucht er Flüchtlinge in einem Barackendorf in Süditalien, in dem sklavenähnliche Zustände herrschen. Es gibt in dem Film aber auch Zeichen der Ermutigung, wenn einige der Beschäftigten in den Streik treten wollten, weil sie nicht bezahlt wurden.

Hier könnten die Grundlagen einer linken Bewegung wieder neu entstehen, die nichts zu tun hat mit den Wahlparteien, die sich links nannten und wirtschaftsliberale Politik gemacht haben.

Wahlprojekt „Diem 25“: Neuer Wein in alten Schläuchen?

Dass das Wahlprojekt Diem 25[9] daran anknüpft, ist wahrscheinlich. Das von dem ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis gegründete Projekt überlegt, an den nächsten Wahlen in Italien teilzunehmen. Es soll den italienischen Wählern eine Alternative zum Status Quo und europakritischen Nationalisten geboten werden, so die Begründung.

Was sich zunächst sympathisch anhört, scheint aber wie die x-te Variante von linkssozialdemokratischen Parteiengründungen ohne soziale Basis, die immer mit viel Mediengedöns gegründet werden, um dann sang- und klanglos wieder zu verschwinden. Die Liste Tsipras[10] war ein solches Wahlprojekt bei den Wahlen in Griechenland im Jahr 2014.

Damals war der amtierende griechische Ministerpräsident noch populär, da hoffte die italienische Linke von seinem Namen zu profitieren. Nun also soll Varoufakis der ja seit seinem Rücktritt an Ansehen gewonnen hat, Stimmen bringen. Wenn er nun aber aus seinen Erfahrungen mit der Deutsch-EU nur den einen Schluss zieht, dass nämlich die Linke jetzt proeuropäischer werden muss, ist das auch nur eine Art der Unterwerfung.

„Wir sind die Schrecken der Märkte“

„We are the Crisis“, lautete die Parole von Initiativen in den USA vor einigen Jahren. „Wir sind der Schrecken der Märkte“, könnte die Parole einer Linken in Italien und in anderen europäischen Ländern sein, die sich gegen die Zumutungen der EU und des nationalen Kapitals wendet.

Das wäre eine Antwort auf die Oettingers und Mattarellas und ihrer Vorstellung einer marktkonformen Herrschaft. Eine solche Bewegung müsste transnational sein, also nicht nur den EU-Raum umfassen. Schließlich werden die Lohnabhängigen in allen Ländern mit dieser angeblichen Herrschaft der Märkte, die nur die aktuelle Form der Kapitalherrschaft ist, konfrontiert.

Während der Zeit der Pariser Commune schossen die Revolutionäre auf die Uhren, weil sie die als Herrschafts- und Kontrollinstanz erkannten. Heute müssen sollen wir uns auf die Märkte einschießen, die immer mehr in das Leben von Millionen Menschen eingreifen, die sogar über das Sterben von Millionen Menschen im globalen Süden entscheiden.

Es wäre längst an der Zeit, die Herrschaft dieser Märkte und der Politiker, die sich dahinter verstecken, nicht mehr als Naturereignis, sondern als Angriff zu erkennen. Aber nicht, um wie die italienische Rechte, einen marktkonformen nationalen Kapitalismus zu kreieren, sondern um darüber hinauszugehen.

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4060782

https://www.heise.de/tp/features/Italien-Eine-Regierung-der-Herrschaft-der-Maerkte-oder-des-demokratischen-Willens-4060782.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Italien-Sozialdemokratischer-Staatspraesident-setzt-ehemaligen-IWF-Direktor-als-Regierungschef-ein-4060244.html
[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/populisten-in-italien-kommentar-zu-oettingers-interview-a-1210209.html
[3] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/oekonomen-aufruf-euro-darf-nicht-in-haftungsunion-fuehren-15600325.html
[4] https://malaboca.noblogs.org/files/2015/12/cambiamos_dt_final.pdf
[5] https://revoltmag.org/articles/der-wilde-westen-mailands/
[6] https://de.labournet.tv/die-angst-wegschmeissen
[7] http://www.eldoradoderfilm.de/
[8] https://markus-imhoof.ch/
[9] https://diem25.org/tag/italia/
[10] http://www.repubblica.it/static/speciale/2014/elezioni/europee/liste/tsipras_italia.html?refresh_ce

Hoffen auf eine humanitäre Lösung

Gülaferit Ünsal saß in der Türkei im Gefängnis. Nun lebt sie in Berlin und fordert Asylrecht

„Mein Name ist Gülaferit Ün­sal. Ich forderte Asylrecht und soziale Hilfe“ – mehrmals wie­derholt die Frau mit den dunk­ len Haaren diese Ansprache vor dem Bundesamt für Mig­ration und Flüchtlinge in Ber­lin. Noch bis Donnerstag will die 48­Jährige diese Protestak­tion täglich zwischen 13 und 14 Uhr wiederholen. In der letz­ten Woche hat sie bereits vor dem Amtssitz von Innensena­tor Geisel eine Erklärung verle­sen. „Ich werde behandelt wie eine Terroristin. Daher komme ich zu Ihnen, um Ihnen zu sa­gen, ich bin ein Mensch, der Rechte hat“, erklärte sie dort.

Ünsal arbeitete als Stadt­ planerin in Istanbul und en­ gagiert sich in der linken DHKP­C, die auch militant in der Türkei agiert, aber auch in Deutschland als terroris­tisch eingestuft wird. Obwohl Ünsal keine Beteiligung an be­ waffneten Aktionen vorgewor­fen wurde, verurteilte sie das Berliner Kammergericht im Jahr 2013 wegen Unterstützung einer ausländischen ter­ roristischen Vereinigung nach § 129 b zu sechseinhalb Jahren Haft.

Anfang Januar 2018 wurde Ünsal aus dem Gefängnis ent­lassen. „Es war nur der Wech­sel aus einem geschlossenen in ein offenes Gefängnis“, so ihr bitteres Resümee gegen­ über der taz. Eigentlich wollte sie zurück nach Griechenland, wo sie lebte, bis sie auf Antrag der Justiz ausgeliefert wurde. Doch Ünsal durfte Deutsch­land nicht verlassen. Darauf­ hin stellte sie einen Asylan­trag in Deutschland – doch das Berliner Ausländeramt erklärt sich für nicht zuständig.

Gülaferit Ünsal steht weiter unter Führungsaufsicht und darf keinen Kontakt zu Orga­nisationen aufnehmen, die der Verfassungsschutz zum Umfeld der DHKP­C rechnet „Ich lebe in einem rechtlosen Zustand, habe keine gültigen Dokumente, bin ohne finanzielle Unterstützung und auch nicht krankenversichert“, klagt Ünsal.

Die Juristin und Bundes­tagsabgeordnete Canan Bay­ram hofft auf eine humanitäre Lösung für Ünsal und setzt sich dafür ein, dass die Frau eine Therapie im Berliner Zen­trum für Folteropfer beginnen kann. Schließlich sei Ünsal in türkischen Gefängnissen Fol­ter ausgesetzt gewesen und in ihrer Berliner Haftzeit mehr­mals mit rassistischen Angriffen und Mobbing von Mitge­fangenen konfrontiert gewe­sen, sagte Bayram der taz.

taz
mittwoch, 30. mai 2018

Peter Nowak

»Alles andere als Wehrkraft­zersetzung«

Malte Meyer, Autor, im Gespräch über das Verhältnis von Gewerkschaften zum Militär in Deutschland

In seinem Buch »Lieber tot als rot« dekonstruiert Malte Mayer den Mythos, Gewerkschaften seien Teil der Friedensbewegung gewesen. Ein Gespräch

Malte Meyer studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Marburg und stieg über die dortige „Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen“ in die Bildungsarbeit ein. Im Verlag Edition Assemblage veröffentlichte er kürzlich sein Buch „Lieber tot als rot. Gewerkschaften und Militär in Deutschland seit 1914“ „»Alles andere als Wehrkraft­zersetzung«“ weiterlesen

AfD – kein Selbstläufer in Berlin

Sie kann sehr viel weniger mobilisieren als die Gegendemonstrationen. Aber auch die „bunte“ Protestbewegung bleibt diffus

Rechte haben es schwer mit Straßenaktionen in Berlin, solange sie dort nicht an der Macht sind. Das hat schon Joseph Goebbels erfahren, der in den 1920er Jahren mehrmals starke Rückschläge beim Kampf um das „Rote Berlin“[1] verzeichnen musste. Vor allem in Arbeiterquartieren[2], aber auch in Kiezen, in denen viele Intellektuelle[3] lebten, musste die NSDAP herbe Niederlagen einstecken, wenn sie sich auf der Straße zeigte.

Nun kann man die AfD nicht mit der NSDAP vergleichen. Aber auch sie müsste am vergangenen Sonntag die Erfahrung machen, dass Demonstrationen in Berlin für sie kein Selbstläufer sind. Schon im Vorfeld war die Mobilisierung von Pannen begleitet, die für ihre Gegner folglich Anlass zu Häme und Spott boten.

Da wurde aus AfD-Kreisen zunächst die Zahl von 10.000 Demonstranten in Umlauf gesetzt. Wenn die Messlatte so hoch gesetzt wird, wird es dann zwangsläufig als Schwäche interpretiert[4], wenn gerade mal die Hälfte kommt.

Wenn dann noch bekannt wird, dass im Landesverband Rheinland-Pfalz Menschen mit Geldzahlungen zur Teilnahme an der Demonstration motiviert [5]wurden, dann wird das einer Partei besonders angekreidet, die schließlich seit Monaten oft ohne Beweise behauptet, bei Antifa-Demonstrationen würde den Mitgliedern Geld bezahlt.

Ist Gegnerschaft gegen die AfD schon eine politische Botschaft?

Dass am gestrigen Sonntag in Berlin wesentlich mehr AfD-Gegner als -Befürworter auf der Straße waren, lag jedenfalls nicht am Geld. Die AfD hat es geschafft, alle, die irgendetwas gegen die Partei haben, auf die Straße zu bringen. Die Inhalte blieben dabei auf der Strecke. „Bunt gegen die AfD“ lautete denn eine häufig benutzte Charakterisierung der Proteste[6]. Nun ist aber diese Charakterisierung geschmäcklerisch und völlig unpolitisch. Auch Deutschlandfahnen sind bunt.

Wenn man sie kritisieren will, müsste schon davon sprechen, dass Nationalismus keine Alternative ist[7] und warum das in Deutschland besonders gilt. Doch in der Mobilisierung war nur die Parole „Stoppt den Hass“[8] zu hören, eine ebenso inhaltsleere Parole, die auch in linken Bündnissen zunehmend verwendet wird. Damit wird eine weitere Moralisierung der Protestbewegung befördert.

Vor zwei oder drei Jahrzehnten war es noch das Kennzeichen auch von linken Gegenkulturen, besonders des Punk, Hass gegen die herrschenden Verhältnisse auszudrücken und nicht nur gegen die verschiedenen Spielarten der Rechten. Wenn man die Parole „Stoppt den Hass“ ernst nimmt, dürfte man selbst Faschisten nicht mehr hassen. Neben dem Hass will man auch die Hetze bekämpfen, ein ebenso unklarer Begriff, in den jegliche grundsätzliche Ablehnung von gesellschaftlichen Verhältnissen hineingepackt werden kann.

Mit dem Verdikt gegen Hass und Hetze kann auch jeder linker Protest, der mehr ist als nur das Drehen an den berühmten Stellschrauben, die den Kapitalismus in Schwung halten, diskreditiert und letztlich kriminalisiert werden. Wenn gleich noch von Linken behauptet wird, dass die AfD nicht zur Bundesrepublik gehört[9], wird natürlich ausgeblendet, dass aktive Nazis nicht nur zur BRD gehörten, sondern diese auch bis in die 1970er Jahre wesentlich mitbestimmt haben.

Kommunisten hingegen gehörten spätestens ab Mitte der 1950er Jahre nicht zur BRD, waren verboten und wurden auch konsequenterweise oft von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern erneut zu Haftstrafen verteilt.

Es ist unwahrscheinlich, dass diese historischen Fakten den Erfindern solcher Slogans unbekannt sind. Vielmehr scheint hier das Bestreben zu dominieren, doch endlich in den herrschenden Verhältnissen anzukommen und sich sogar noch eine Geschichte der BRD ohne Rechte zu erfinden. Es ist noch nicht sehr lange her, da war in Antifa-Kreisen ein Songtext der Band „Die Goldenen Zitronen“ sehr beliebt, der ein wesentlich realistischeres Geschichtsbild vermittelte[10]:

Was solln die Nazis raus aus Dütschland?
Was hätte das für ein Sinn?
Die Nazis können doch net naus, denn hier jehörn se hin.


„Flimmern“, Die Goldenen Zitronen

Wenn Lehrer die BRD nicht als bestes Staatssystem ansehen

Nun könnte man argumentieren, wenn man eine Massenbewegung auf die Straße bringen soll, muss man eben Kompromisse machen? Aber heißt das, alles Wissen von Antifaschisten über Bord zu werfen und kontrafaktisch zu behaupten, Rechte gehören nicht zur BRD?

Dann kann man auch wie der Taz-Kolumnist Ralf Pauli zur Einschätzung kommen, dass es gefährlich ist, überhaupt noch grundsätzliche Kritik an der BRD zu äußern. In einem Kommentar zum in Sachsen geplanten Werteunterricht schreibt[11] Pauli:

Fakt ist: Von den 33.000 Lehrer*innen in Sachsen ist ein Großteil in der DDR sozialisiert. Ein Teil unterrichtet mit DDR-Abschlüssen. Es gehört eben auch zur Wahrheit, dass unter ihnen auch solche sind, die in der BRD nicht das beste Staatssystem sehen.

Ralf Pauli, Taz

Auf Nachfrage, ob Paulis Argumente vielleicht verkürzt wiedergegeben wurden, kam keine Rückmeldung vom Autor. Denn es gehört doch eigentlich zum Bestreben der Staatsapparate, Lehrer so konditionieren, dass sie in der BRD das beste Staatssystem sehen. Gab es daran Zweifel, wurde ihnen vorgeworfen, nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung (fdGO) zu stehen.

Zigtausende angehende Lehrer wurden mit dem sogenannten Radikalenerlass[12] diszipliniert, für nicht wenige gab es Berufsverbote[13] für den staatlichen Schuldienst. Ihnen allen wurde vorgeworfen, die BRD nicht als das beste Staatssystem gesehen zu haben. Wäre es nicht eine Bedingung für eine emanzipatorische Erziehung, wenn es heute mehr Lehrende gäbe, die die BRD nicht als das beste Staatssystem sehen würden?

Wäre es nicht wünschenswert, wenn fast 100 Jahre nach der Novemberrevolution darüber diskutiert werden könnte, ob eine Rätedemokratie nicht eine viel emanzipatorischere Staatsform wäre?

Warum haben sich denn vor 100 Jahren die alten reaktionären Kräfte in Deutschland und in anderen europäischen Staaten hinter der Losung „bürgerliche Demokratie“ versammelt, um die Anhänger der Rätebewegung blutig zu bekämpfen? Und sind Lehrer, die einen Staat für den besten halten, nicht immer in Gefahr, zur Erziehung von Untertanen beizutragen? Das sind doch Fragen, die nicht deshalb an Bedeutung verloren haben, weil heute alle an einem Strang gegen die AfD ziehen sollen.

„Merkel muss weg“ – keine linke Parole mehr?

Wenn in der Mobilisierung gegen rechts Begriffe wie Nationalismus und Kapitalismus kaum vorkommen, werden nur die herrschenden Verhältnisse gestärkt, die immer wieder rechte Gruppen wie aktuell die AfD entstehen lassen. Ein Taz-Kommentator will sogar die Parole „Merkel muss weg“ den Rechten überlassen. Er schreibt[14] über die AfD-Kundgebung und die Gegenproteste.

Eine Demonstration misst sich an den Bildern, die davon bleiben. Und da sieht man einerseits: einige Tausend verbissene Menschen, überwiegend männlich, häufig älteren Jahrgangs, die der Überzeugung sind, dass Kanzlerin Merkel „weg“-muss. Und andererseits eine riesengroße Party zu Land und zu Wasser, mit vergnügten Menschen bei lauter Musik, mal verkleidet, mal nicht, inländisch, ausländisch, migrantisch, tanzend und protestierend.

Klaus Hillenbrand, Taz

Nun wäre es wirklich emanzipatorisch, wenn diese so unterschiedlichen Menschen in sehr unterschiedlichen Sprachen die Parole „Alle müssen weg“ angestimmt hätten.

Schließlich war das vor einigen Jahren von Argentinien bis Spanien die Parole einer sozialen Bewegung, die nicht nur gegen die Rechte, sondern gegen den kapitalistischen Normalzustand auf die Straße gegangen ist. Natürlich haben sich solche Kräfte auch an der Mobilisierung gegen die AfD am Sonntag beteiligt.

So schreibt[15] das Bündnis: „Neue Rechte versenken“ in wenigen Sätzen, warum Antifaschismus mehr sein muss, als eine Party gegen die AfD:

„Die bürgerliche Mitte flüchtet sich in den Nationalismus, während die liberale Linke weiter daran glaubt, dass der Rechtsstaat die Demokratie erhalten kann und nicht in der Lage ist, sich gegen den aufkeimenden Faschismus in der Gesellschaft und für ihre Klasse zu positionieren. Das zeigt, die Antwort auf die Neuen Rechten muss radikal links sein – es gilt ihre Strukturen zu zerschlagen, ihre Räume zu nehmen und den politischen Diskurs wieder nach links zu verschieben.“

Nun müsste man darüber reden, was denn mit „radikal links“ gemeint ist und wie man politische Diskurse „verschiebt“. Anders als bei den geschmäcklerische Parolen à la „Bunt statt AfD“ oder „Stoppt den Hass“ kann man aber darüber wenigstens diskutieren.

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/88536783
[2] http://www.taz.de/!399580/
[3] https://gleisdreieck-blog.de/events/stadtspaziergang-auf-der-spur-der-menschenrechte-die-rote-insel-in-berlin-schoeneberg/
[4] https://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/afd-schw-chelt-auf-der-stra-e
[5] https://www.heise.de/tp/features/Nationalismus-muss-sich-wieder-lohnen-4057191.html
[6] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-05/afd-demonstration-berlin-rassismus-gewerkschaften-clubkultur-gegendemo-fs
[7] https://nationalismusistkeinealternative.net/
[8] https://www.stopptdenhass.org/
[9] https://linkespankow.wordpress.com/2016/05/02/die-afd-gehoert-nicht-zur-bundesrepublik/
[10] http://www.songtexte.com/songtext/die-goldenen-zitronen/flimmern-4bd1b756.html
[11] http://www.taz.de/!5504100
[12] http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/recht-a-z/22734/radikalenerlass
[13] http://www.berufsverbote.de/
[14] http://www.taz.de/!5505727
[15] https://versenken.arrested.me/aufruf/

Schöner besetzen, wo Grüne und Linke regieren?

Wenn Betroffene die Eigentumsfrage an Wohnungen ganz praktisch stellen

Die Musikanten kamen sicher nicht, um Olaf Hupp ein Geburtsständchen zu bringen. Es war eher ein musikalischer Protest, mit dem sie den in der wendländischen Protestszene nicht gerade beliebten Polizeibeamten und Chef der Staatsschutzabteilung Lüchow-Dannenberg am 18.5. vor seinem Haus beglückten. Doch dass daraus medial eine gewalttätige Aktion wurde, die tagelange die Politik und die Medien beschäftigt,[1] hätten sie nicht erwartet (siehe dazu: „Es wirkte wie blinde Raserei“[2]).

Die Polizei meint in ihrer Presseerklärung sogar, dass in der Lärmkundgebung eine neue Form von Gewalt[3] zu erkennen sei. Dabei wurde die Verwerflichkeit der Aktion vor allem damit begründet, dass die Protestmusiker vor das Wohnhaus des Beamten zogen und damit auch seine Frau und Tochter mit einbezogen. Doch die Aufregung, welche die Verletzung der Privatsphäre eines Polizisten und seiner Familie verursachte, gilt nicht universell.

Zählt die Privatsphäre von Geflüchteten nicht genau so wie von Polizisten und ihrer Familie?

Kaum bekannt ist, wie am 9. Mai 2018 die Privatsphäre von Bewohnern einer Jugendwohngruppe für minderjährige Geflüchtete von der Polizei verletzt wurde. In einer Stellungnahme[4] schrieb der Kinder- und Jugendhilfe-Verbund Berlin-Brandenburg:

Am frühen Morgen des 09. Mai 2018 verschaffte sich die Sicherungseinheit der Berliner Polizei auf Basis eines Durchsuchungsbeschlusses (angeordnet am 20.12.2017 zum Auffinden von Beweismitteln, insbesondere einer Geldbörse und eines Personalausweises) gewaltsam Zugang zu unserer sozialpädagogischen Jugendwohngruppe für unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Dabei kam es zu unverhältnismäßigen und rechtswidrigen Handlungen, sowie zu Misshandlungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

In Folge der Misshandlungen mussten zwei der Jugendlichen, zu deren Zimmern sich die Sicherungseinheit rechtswidrig Zutritt verschaffte, im Krankenhaus behandelt und einer von ihnen operiert und drei Nächte stationär aufgenommen werden. Außerdem kam es zu erheblichen Sachbeschädigungen in deren Folge die Jugendwohngruppe kurzzeitig unbewohnbar war.

Stellungnahme des Kinder- und Jugendhilfe-Verbundes Berlin / Brandenburg[5]

Dabei war es den Verfassern der Erklärung wichtig zu betonen[6], dass es ihnen keineswegs um eine generelle Polizeischelte, sondern um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Polizei geht.

Doch da würde sich schon die Frage stellen, warum die Politiker und Medien, die sich so sehr über die Protestmusik vor dem Haus eines Polizeibeamten empörten, schwiegen, als die Polizei nicht gerade mit Musik in den geschützten Raum von minderjährigen Jugendlichen eingedrungen ist? Und warum gibt es keinen vergleichbaren Aufschrei, wenn tagtäglich Menschen zwangsgeräumt werden?

Vielleicht wurde die Miete gemindert oder – wie in drei Fällen – einige Tage zu spät überwiesen. Oder das Jobcenter hatte die Personen sanktioniert und damit die Mietzahlung blockiert. Dass Menschen ihre Wohnung verlieren, ist doch wohl die größte Verletzung ihrer Privatsphäre. Auf Kinder wird damit auch keine Rücksicht genommen.

Bisher ist selbst in dem von der SPD, den Grünen und der Linkspartei verwalteten Berlin nicht davon die Rede, dass zumindest Menschen über 60 und Menschen mit Kindern unter 6 Jahren durch ein Moratorium von Zwangsräumungen verschont bleiben.

Nachbarn helfen Nachbarn

Um eine Exmittierung zu verhindern, bedarf es schon das Engagements von Menschen, die sich Zwangsräumungen[7] widersetzen, und dabei auch letzte Woche wieder erfolgreich waren[8].

Mittlerweile gibt es Stadtteilinitiativen wie die Solidarische Aktion Neukölln[9] oder Hamburg Wilhelmsburg[10], die nach dem Prinzip arbeiten, „Nachbarn helfen Nachbarn“:

„Wir beraten uns gegenseitig und planen Aktionen zu den Themen Wohnen/Sozialleistungen/Arbeit“, heißt es auf der Homepage der Solidarischen Aktion Neukölln.

Diese Basisarbeit kann im Zweifel eher eine Zwangsräumung verhindern als die Regierungsbeteiligung von linksreformerischen Parteien wie aktuell in Berlin. Das zeigte sich auch wieder einmal bei den Hausbesetzungen am Pfingstwochenende in Berlin[11].

Es spielten sich am Ende die üblichen Räumungsszenen[12] ab. Der Chef der städtischen Wohnungsbaugesellschaft „Stadt und Land“ beharrt zudem weiterhin auf den Anzeigen gegen die Besetzer und wird dabei von der SPD, FDP, CDU und AfD unterstützt, die sich mit Law and Order-Parolen profilieren wollen.

Grüne und Linke haben in der letzten Zeit immer mal wieder Verständnis für Hausbesetzungen geäußert[13]. „Die Häuser denen, die drin wohnen“, lautete ein Wahlslogan[14] der grünen Direktkandidatin Canan Bayram[15], die mit dieser linken Agenda ihr Direktmandat in Kreuzberg-Friedrichshain gewonnen hat. Doch in der Partei stieß sie damit nicht nur auf Sympathie.

Habeck und die Populismuskeule

Der neue Parteivorsitzende Robert Habeck nennt in der CDU-nahen Zeitung Die Welt Hausbesetzungen einen Rechtsbruch[16] und hält auch nichts von der Enteignung von Immobilienbesitzern.

Im Interview macht der Anhänger von Schwarz-Grün auch klar, dass ihn die Angst der Menschen, die ihre Wohnung verlieren könnten, nicht besonders interessiert. Und eine kapitalistische Eigentumsordnung in Frage zu stellen, die dafür verantwortlich ist, kommt einem Habeck natürlich auch nicht in den Sinn. Dagegen treibt ihn eine ganz andere Furcht an:

WELT: Auch als die Bundestagsabgeordnete Canan Bayram mit der Forderung nach Enteignung von Immobilienbesitzern in den Wahlkampf zog, war die Bundesspitze ruhig …

Habeck: Eine Forderung, die nicht unser Programm ist. Aber lassen Sie uns über das Wesentliche sprechen, und das ist jetzt ja mal nicht unsere Partei, sondern die Gesellschaft: Die grassierende Angst ist brandgefährlich: Sie ist der Rohstoff für die Populisten, aus ihr schmieden sie Hass und Illiberalität. Deshalb: Weder sollten sich die einen jetzt als Law and Order aufplustern, noch die anderen sich in einem angeblichen Wir-sind-Widerstand-Modus profilieren. Diese alten Muster aus den 80er-Jahren helfen nämlich nicht. Es sollten sich alle schütteln und dann das Problem lösen.

Robert Habeck, Die Welt[17]

Statt über die Angst der Mieter, ihre Wohnung zu verlieren, zu sprechen, kommt Habeck mit den „grünen Allzweckgegnern“ Populismus, Hass, Illiberalität. Dagegen ruft er eine antipopulistische Volksgemeinschaft aus. Die Botschaft ist klar: Bloß nicht die Eigentumsfrage stellen.

Wenn ein grüner Parteichef dann von Rechtsbruch spricht, wenn leerstehende Wohnungen von denen besetzt werden, die sie brauchen, und nicht dann, wenn Wohnungen aus Profitgründen leer gelassen werden, dann hat er endgültig klargemacht, dass Mieter und viele andere, die nicht zu den Profiteuren der Eigentumsordnung gehören, nicht viel zu erwarten haben von dieser Partei.

Da mögen sich in Berlin neben Canan Bayram auch noch einige andere Linksgrüne für die Besetzer einsetzen. Die Linkspartei hat noch keinen Robert Habeck, vielleicht auch deshalb, weil sich Gregor Gysi zu den Hausbesetzungen nicht geäußert hat.

Hausbesetzungen – Amtshilfe für die Berliner Landesregierung

Der der Linken nahestehende mietenpolitische Berater der Partei, Andrej Holm, hat in einem Interview[18] konstatiert, dass die Besetzer eigentlich „Amtshilfe für die Landesregierung leisten“:

Die rot-rot-grüne Landesregierung hat bei ihrem Start vor anderthalb Jahren im Wahlkampf versprochen, die Wohnungskrise in den Griff zu bekommen. Viele Menschen sind nun enttäuscht, sie meinen, es sei zu wenig passiert. Und das machen sie mit Nachdruck klar. Ich vermute, die Aktion sollte ganz bewusst den Finger in die Wunde legen – und zeigen, dass es sogar bei der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Defizite gibt. Im Grunde genommen waren die Besetzungen eine Art Amtshilfe für die rot-rot-grüne Regierung. Wir setzen das um, was ihr versprochen habt.

Andrej Holm, Der Spiegel[19]

Nun wird ein großer Teil der Besetzer sich dagegen verwahren, Amtshilfe für eine Regierung unternommen zu haben, die für die Räumung verantwortlich ist. Doch sie verfallen auch nicht in den Fehler, jetzt die Regierung tragenden Parteien des Verrats zu zeihen. Man hatte sowieso keine Illusionen und beginnt nun selber die Frage nach der Verfügung über Wohnraum zu stellen.

Es wird sich in den nächsten Wochen zeigen, ob die Besetzungen eine einmalige Aktion waren oder ob es nach dem Vorbild von Spanien eine Serie von Besetzungen gibt. In der Berliner Bevölkerung zumindest ist Sympathie dafür da. Bei der Blockade gegen die Zwangsräumung in der Woche hat ein Mann die simple Frage auf sein Schild geschrieben: „Alle Menschen haben ein Recht auf Wohnraum oder nicht?“

Das könne das Motto einer größeren Bewegung werden, die sich nicht nur empört, wenn Polizeibeamte mit Musik vor ihrem Haus belästigt werden, sondern Zwangsräumungen und Wohnungsnot zu einer Menschenrechtsverletzung erklärt, die ohne Verzug behoben werden muss.

Peter Nowak
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Peter Nowak
Links in diesem Artikel:
[1] http://rak-treffen.de/
[2] https://www.heise.de/tp/features/Es-wirkte-wie-blinde-Raserei-4059242.html
[3] https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/59488/3947776
[4] https://www.paritaet-berlin.de/mitglieder/nachrichten/nachrichten-detailansicht/article/uebergriff-der-berliner-kriminalpolizei-auf-jugendwohngruppe-fuer-unbegleitete-minderjaehrige-gefluechtete.html
[5] https://www.paritaet-berlin.de/mitglieder/nachrichten/nachrichten-detailansicht/article/uebergriff-der-berliner-kriminalpolizei-auf-jugendwohngruppe-fuer-unbegleitete-minderjaehrige-gefluechtete.html
[6] https://www.paritaet-berlin.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/2018/Mai/2018_05_25_KJHV_Update.pdf
[7] http://berlin.zwangsraeumungverhindern.org/
[8] http://berlin.zwangsraeumungverhindern.org/2018/05/22/dienstag-22-5-zwangsraeumung-einer-familie-vorerst-verhindert/
[9] http://solidarischeaktion.blogsport.eu/
[10] http://solidarisch.org/
[11] https://www.heise.de/tp/features/Wessen-Haus-ist-das-4056097.html
[12] https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2018/05/berlin-hausbesetzung-neukoelln-kreuzberg-kritik.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/Streit-bei-den-Gruenen-um-Stroebele-Nachfolgerin-Canan-Bayram-3824032.html
[14] https://www.facebook.com/GrueneXhain/posts/1435680813182284
[15] http://bayram-gruene.de/
[16] https://www.welt.de/politik/deutschland/article176606425/Robert-Habeck-Hausbesetzungen-in-Berlin-sind-Rechtsbruch.html
[17] https://www.welt.de/politik/deutschland/article176606425/Robert-Habeck-Hausbesetzungen-in-Berlin-sind-Rechtsbruch.html
[18] http://www.spiegel.de/wirtschaft/berlin-hausbesetzer-wollen-auf-problem-im-mietmarkt-aufmerksam-machen-sagt-andrej-holm-a-1208994.html
[19] http://www.spiegel.de/wirtschaft/berlin-hausbesetzer-wollen-auf-problem-im-mietmarkt-aufmerksam-machen-sagt-andrej-holm-a-1208994.html

Verkleinerung der Komfortzone

Ein Personalratsmitglied der Charité organisiert in Cottbus flüchtlingsfeindliche Demonstrationen
Vergangene Woche demonstrierte in Berlin das Bündnis »Zukunft für alle« gegen ein Personalratsmitglied der Charité, das in Cottbus flüchtlingsfeindliche Kundgebungen organisiert.

»Auch in diesem Jahr laden wir am Mühlentag zum Backfest nach Sagritz ein«, heißt es auf der Website des Vereins »Zukunft Heimat«, der in Cottbus und Umgebung tätig ist. Bekannt geworden ist die Organisation vor allem mit Propaganda gegen Flüchtlinge ­und Migranten. »Die Stadt Cottbus wird immer wieder als Bühne für Angst- und Hasspropaganda genutzt – seit dem Frühsommer 2017 maßgeblich gesteuert vom Verein ›Zukunft Heimat‹ aus der Spreewald-Stadt Goißen«, heißt es in einer Kleinen Anfrage der Grünen im Brandenburger Landtag. Darin wird beschrieben, dass auf den von »Zukunft Heimat« organisierten Kundgebungen Redner der AfD, der AfD-Jugendorganisation »Junge Alterna­tive«, der rechtsextremen »Identitären Bewegung«, des extrem rechten Netzwerks »Ein Prozent« und von Pegida aufgetreten sind.

Die Grünen wollten von der brandenburgischen Landesregierung wissen, ob »Zukunft Heimat« vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Die innenpolitische Sprecherin der brandenburger Grünen warf der von SPD und Linkspartei gestellten Landesregierung Verharmlosung des flüchtlingsfeindlichen Vereins vor und nannte ihn »einen klassischen Verdachtsfall für den Verfassungsschutz«.

Viele Antifaschisten kritisieren allerdings auch die Grünen. Sie fordern die Abschaffung des Verfassungsschutzes und nicht dessen Legitimierung. Den Kampf gegen die extreme Rechte sehen sie bei zivilgesellschaftlichen Initia­tiven am besten aufgehoben. Wie das aussehen kann, zeigten sie am Dienstag vergangener Woche auf einer Kundgebung vor dem Campus-Virchow-Klinikum der Berliner Charité. Dort arbeitet der Vereinsvorsitzende von »Zukunft Heimat«, Hans-Christoph Berndt, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und ist Mitglied des Fakultätspersonal- und Gesamtpersonalrats der Charité.

»Christoph B., das tut weh, kein Rassismus an der Charité« – diese etwas bemühte Parole erschallte am Nachmittag der Kundgebung in Berlin-Wedding, wo sich der Arbeitsort Berndts befindet. Die Polizei hatte zur Auflage gemacht, dass der vollständige Name des »Zukunft Heimat«-Leiters während der Kundgebung weder in den Redebeiträgen noch den Parolen genannt werden dürfe.

Knapp 50 Teilnehmer hatten sich zu der knapp zweistündigen Kundgebung eingefunden, darunter Mitglieder der Initiative »Cottbus nazifrei«, des feministisch-antifaschistischen Arbeitskreises, der »Interventionistischen Linken« (IL) und der Studierendengruppe Huuls von der Berliner Humboldt-Universität. Mitarbeiter der Klinik beteiligten sich nicht an den Protesten.

Claudia Brünner vom Bündnis »Zukunft für alle« bedauerte, dass es bisher nicht gelungen ist, Kontakte zur Belegschaft herzustellen. Daher sei auch nicht bekannt, wie dort Berndts politische Betätigung bewertet wird. Es ist nicht das erste Mal, dass Antifaschisten die Charité-Mitarbeiter mit den flüchtlingsfeindlichen Bestrebungen ihres Kollegen konfrontieren. Bereits 2016 verteilten Antifaschisten Flugblätter, in denen sie darüber informierten. Daraufhin wurde Berndt aus der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ausgeschlossen und der Klinikpersonalrat distanzierte sich von ihm, ebenso wie die Ärztevereinigung Marburger Bund.

Der Fakultätspersonalrat und der Gesamtpersonalrat der Charité hingegen stehen weiter zu Berndt. Sie verweisen darauf, dass er weder in seiner Funktion als Klinikmitarbeiter noch als Personalrat rassistisch auftrete. Brünner findet es trotzdem angemessen, an Berndts Arbeitsplatz gegen seine außerberufliche politische Betätigung zu demonstrieren, schließlich sei Rassismus kein Hobby. »Wir finden, dass eine Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht von einem Rassisten gemacht werden kann. Solidarität und Rassismus sind unvereinbar.« Außerdem seien Menschen als Patienten besonders verwundbar, umso mehr gelte das für Flüchtlinge und andere Menschen mit Migrationsbiographien. »Sich einem rassistischen Arzt anzuvertrauen, ist unzumutbar«, sagte Brünner der Jungle World. Während sich die Situation der Flüchtlinge in Cottbus zuspitze, habe Berndt an der Charité eine Komfortzone. Seine dortige Tätigkeit ermögliche es ihm, seine rassistische Hetze zu finanzieren und seine Netzwerke zu knüpfen, so Brünner. Sie sieht nicht nur in Berndts politischem Einsatz, sondern auch in der Haltung des Fakultätspersonalrats und des Gesamtpersonalrats ein Problem. »Wir sehen die gewerkschaftlichen Vertretungen in der Pflicht, sich konsequent und inhaltlich mit Rassismus auseinanderzusetzen.

Gerade auch, da es Versuche, zum Beispiel durch AfD-nahe Vereinigungen, gibt, die Interessensvertretung der Beschäf­tigten zu unterwandern.« Auffällig sei, dass diese Gremien Berndt auch noch verteidigten, nachdem er durch die flüchtlingsfeindlichen Demonstrationen in Cottbus bundesweit bekannt geworden war. Cottbus sei durch das Auftreten von »Zukunft Heimat« ­bundesweit zu einem Vorbild für die extrem rechte Szene geworden.

https://jungle.world/artikel/2018/21/verkleinerung-der-komfortzone

Peter Nowak

»Globales Festgelage des monetären Kapitals«

Achim Szepanski im Gespräch über die Zukunft der Kapitalakkumulation

Der Labelbetreiber, Musiker und Theoretiker Achim Szepanski sieht in die Zukunft der Maschinisierung: Die planetarische Arbeiterklasse habe den Tisch gedeckt, der übermorgen von Robotern abgeräumt werde.

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Revolutionärer Wille

 Wie standen AnarchistInnen zur Oktoberrevolution in Russland vor hundert Jahren? Einen guten Überblick über die Debatte liefert der von Philippe Kellermann herausgegebene Sammelband «Anarchismus und Russische Revolution».

AnarchistInnen und Bolschewiki sind feindliche Brüder. Diese Vorstellung ist in allen Teilen der Linken weit verbreitet. Daher war es für viele überraschend, dass bekannte AnarchistInnen aus aller Welt die Oktoberrevolution begrüssten und sich am Aufbau der neuen Gesellschaft in der Sowjetunion beteiligten.
In 11 Aufsätzen werden im Sammelband «Anarchismus und Russische Revolution» die Reaktionen von AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen verschiedener Länder auf die Oktoberrevolution nachgezeichnet. Die Differenzierung, der im Titel des Buches nicht Rechnung getragen wird, ist wichtig. Denn die syndikalistische Bewegung stand in vielen Ländern schon vor 1917 der marxistischen Theorie näher als der anarchistischen. Innerhalb der anarchistischen Bewegung gab es unterschiedlichen Strömungen. Kellermann weist darauf hin, dass viele AnarchistInnen positiv überrascht waren, dass die Bolschewiki 1917 den revolutionären Umsturz auf die Tagesordnung setzten und mit den Etatismus der Zweiten Internationale brachen. Zudem gehörten die Bolschewiki zu den Kräften, die den Ersten Weltkrieg von Anfang ablehnten. Dagegen haben nicht nur fast alle SozialdemokratInnen, sondern auch führende AnarchistInnen darunter Kropotkin den Krieg auf der Seite «ihrer» Bourgeoisie begrüsst. Auch in Frankreich hatten sich erklärte AnarchistInnen 1914 zu nationalistischen KriegsbefürworterInnen gemausert. Da ging für viele AnarchistInnen mit der Oktoberrevolution die Sonne im Osten auf, wie Franco Bertulocci seinen Aufsatz über die italienischen AnarchistInnen betitelt. Dabei muss natürlich auch berücksichtigt werden, dass die Nachrichten über das, was sich im nachrevolutionären Russland konkret abspielte, vor 100 Jahren nur sehr spärlich eintrafen.
Mit diesen Argument begründen mehrere Buchautoren, es sind ausschliesslich Männer, dass viele AnarchistInnen mit den Umbrüchen in Russland sympathisierten. Als Beleg für diese mangelnden Informationen wird angeführt, dass viele AnarchistInnen annahmen, die Bolschewiki hätten ihr Programm übernommen. Umgekehrt haben 1917 die Menschewiki und andere GegnerInnen der Oktoberrevolution Lenin des Anarchismus bezichtigt. Bei manchen der AnarchistInnen, wie Rudolf Rocker oder Enrico Malatesta, die nur kurze Zeit hofften, die Bolschewiki wären zu AnarchistInnen geworden, lag es an mangelnden Informationen. Sie wurden auch sehr schnell zu deren vehementen KritikerInnen. Bei anderen hingegen, überwog die Hoffnung, dass mit der Oktoberrevolution ein neues Kapitel in der revolutionären Bewegung aufgeschlagen würde und die alten Gräben von vor 1914 überwunden werden müssten.
Diese Hoffnung wird am Beispiel von Victor Serge gut geschildert. Der US-Historiker Mitchell Abidor beginnt seinen informativen Aufsatz mit dem Satz: «Victor Serge hat immer darauf hingewiesen, dass er 1919 als Anarchist nach Sowjetrussland gegangen und als Anarchist den Bolschewiki beigetreten ist.» In dem Aufsatz wird deutlich, dass Serge schon früh Kritik an bestimmten autoritären Entwicklungen in der Sowjetunion hatte, aber aus Gründen der Solidarität die Sowjetunion verteidigte. So geriet er auch nicht als Anarchist, sondern als vermeintlicher Anhänger Trotzkis ins Visier der sowjetischen Staatsorgane. Nachdem er schliesslich ausreisen konnte, wurde er in seinem anarchistischen Milieu als Verräter betrachtet. Dass er auch nach seinem Bruch mit der KPdSU zu Kronstadt differenzierte Ansichten äusserte, war für viele AnarchistInnen untragbar. Abidor urteilt differenzierter, in dem er über Serge schreibt: «Dabei machte er deutlich, dass es verschiedenste Interpretationen zum Kronstadtaufstand geben würde.» Serge hatte auch als klarerer Gegner der Bolschewiki seit Ende der 1920er Jahre nicht vergessen, dass an den Häuserwänden des damaligen Petersburg «Tötet die Juden» stand, um gegen die Bolschewiki zu mobilisieren. Mit solchen AntibolschewistInnen wollte sich Serge nie gemein machen und das spricht für ihn.

Keine Vereinnahmung
In den Buch wird deutlich, dass viele überzeugte KommunistInnen der ersten Stunde vorher Teil der syndikalistischen und anarchistischen Bewegung waren. Das wird am Beispiel von Spanien, den USA, Frankreich, aber auch der Schweiz im Detail nachgezeichnet. So beschreibt Werner Portmann die für vorwärts-LeserInnen sicher interessanten Anfänge der kommunistischen Bewegung in der Schweiz und zitiert dabei aus den Erinnerungen des Zürcher Arztes Fritz Brupbacher, der sich dort selbst als Sozialist mit anarchistischen Adern beschreibt. «Man merkte sehr gut, dass das meiste, was unter dem Titel Anarchismus gegangen, einfach revolutionärer Wille war, und als im Bolschewismus eine Lehre auftauchte, die das revolutionäre Element enthielt, dass in der Sozialdemokratie nicht enthalten war, so wurden die scheinbaren Anarchisten und Syndikalisten mit Leib und Seele Bolschewisten.» Das schreib der Mitbegründer und langjährige Aktivist der Kommunistischen Partei der Schweiz noch nach dem Bruch mit der Sowjetunion Anfang der 1930er Jahre. Anders als der Schweizer Anarchist Werner Portmann spricht Brupbacher auch 1935 nicht davon, dass sich die AnarchistInnen haben «vom Bolschewismus vereinnahmen lassen».
Das ist nicht das einzige Beispiel, wo in dem Buch die überwiegend anarchistischen Autoren einen Ton in den Text bringen, der den AnarchistInnen und SyndikalistInnen von vor 100 Jahren nicht gerecht wird. Sie hätten sich wegen falscher Informationen oder aus fehlgeleiteten Idealismus für ein politisches Projekt vereinnahmt lassen, das ihren ursprünglichen Intentionen von Anfang an entgegengestanden habe. Der Zeitzeuge Brupbacher schreibt demgegenüber noch seinen Bruch mit den Bolschewiki über die Monate nach der Oktoberrevolution in der Schweiz: «Es war die Zeit, wo sogar die paar Anarchisten, die der Krieg noch übrig gelassen hatte, sich dem totalen Bolschewismus zuwandten.» Es war auch die Zeit, als der Anarchokommunist Erich Mühsam seine Aktivitäten in der Bayerischen Räterepublik als Rechenschaftsbericht an den Genossen Lenin adressierte. Er war damals in Bayern selber am Aufbau einer nichtkapitalistischen Gesellschaft beteiligt und stand wie viele Linke, seien es KommunistInnen, AnarchistInnen oder SyndikalistInnen vor ähnlichen Problemen.

Neue Gesellschaft
In dem leider nur noch antiquarisch erhältlichen Standardwerk «Aufstand der Räte» beschreibt der Historiker Michael Seligmann wie die Anhänger-Innen der bayerischen Räterepublik mit dem Hass der alten Mächte konfrontiert waren, die mit Mordhetze und Antisemitismus den Verlust ihrer Privilegien verhindern wollten. In dieser Situation sprach sich sogar der Libertäre Gustav Landauer, zeitlebens ein scharfer Kritiker des Marxismus, für eine Zensur der konterrevolutionäre Presse aus. Der strikte Gegner von Gewalt wurde nach der Zerschlagung der bayerischen Räterepublik von einer entfesselten Soldateska ebenso erschlagen, wie viele andere VerteidigerInnen der neuen Gesellschaft, egal ob sie sich AnarchistInnen, KommunistInnen oder einfach ArbeiterInnen nannten, die nicht länger schlimmer als Tiere behandelt werden wollten. Ist es da verständlich, dass viele AnarchistInnen und SyndikalistInnen die Räterepublik verteidigten, die den Kräften der Reaktion stand gehalten haben?

Philippe Kellermann (Hrsg.): Anarchismus und Russische Revolution. Dietz-Verlag, Berlin 2017, 416 Seiten, 29.90 Euro.

aus: Vorwärts, 18.5.2018

Revolutionärer Wille


Peter Nowak


Artikel dokumentiert in Schattenblick:


http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1379.html

Kein dauerhafter Gedenkort

Die Fontanepromenade 15 sollte an jüdische Zwangsarbeiter erinnern. Verhandlungen sind nun gescheitert

Die Fontanepromenade 15 in Kreuzberg wird doch kein dauerhafter Gedenkort. In dem Gebäude war zwischen 1938 und 1945 die „Zen- trale Dienststelle für Juden“ des Berliner Arbeitsamts untergebracht. Von dort aus wurden etwa 26.000 Berliner Jüdinnen und Juden in Zwangsarbeit in unterschiedliche Betrieben genötigt. Die deutsch-israelische Journalistin und Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron gehört zu den Opfern. In einem offenen Brief an den Berliner Kultursenat im Jahr 2016 bezeichnete sie die Fontanepromenade 15 als Ort, der zum „Ausgangspunkt unsäglichen Leidens geworden ist“, und forderte, dass das Gebäude eine Nutzung erfährt, „die seiner historischen Bedeutung gerecht wird“. Diese Hoffnung dürfte sich nicht erfüllen.

Verhandlungen über eine Anmietung von Räumen für einen dauerhaften Gedenkort waren nicht erfolgreich, heißt es in einer Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Kultur von Anfang Mai. Die Flächen seien nicht barrierefrei und es fehle an sanitären Anlagen. Doch auch wirtschaftliche Gründe werden genannt: „Der Eigentümer ist nach seiner Bauinvestition gebunden, die Flächen an einen um- satzsteuerpflichtigen Mieter zu vergeben, damit scheidet die Topographie des Terrors aus.“

Der Bremer Architekt Marc Brune, der das Gebäude 2015 erwarb, hat sich nun bereit erklärt, die Eingangshalle des Hauses an zwei Tagen im Jahr für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das ist nicht einmal genug Zeit, um eine Ausstellung aufzubauen, kritisiert Anne Allex, die im Verein Gedenkort Fontanepromenade 15 aktiv ist. Sie hatte seit Juni 2017 ein Gedenkkonzept entwickelt und stand mit der Senatsverwaltung und dem Hauseigentümer im Kontakt. Der Einrichtung als Gedenkort schien nichts mehr im Wege zu stehen. Im Berliner Doppelhaushalt 2018/19 waren 50.000 Euro für die Entwicklung des Gedenkortes vorgesehen. „Unser Verein kämpft weiter für die Durchführung der Bildungsarbeit am authentischen Ort. Doch von der Senatsverwaltung fühlen wir uns dabei im Stich gelassen“, betont Allex.

donnerstag, 24. mai 2018 taz 

Peter Nowak

Eine Frage der Klasse

Von der Alltagsarbeit einer Basisgewerkschaft

Die FAU-Berlin feiert im April 2018 ein besonderes Jubiläum. 10 Jahre sind seit dem Neustart vergangen, der die Grundlage dafür bot, dass sie von einer Ideenorganisation zu einer Basisgewerkschaft mit knapp 500 Mitgliedern geworden ist. Damit hat sie die Stärke erreicht, die die historische FAUD am Ende der Weimarer Republik hatte. Doch wichtiger als die Mitgliederzahl ist die Verankerung an den Arbeitsplätzen. Aktuell führt die FAU in sieben Fällen Arbeitskämpfe. Da gab es in den letzten Monaten sehr unterschiedliche Konflikte.

Nehmen wir den bei vielen Linken beliebten Club S036. Dort haben sich einige Mitarbeiter*innen in der FAU-Betriebsgruppe organisiert und forderten mehr Mitbestimmung bei der Arbeit. Doch mittlerweile sind die Mitglieder der Betriebsgruppe gekündigt oder haben das S036 selber verlassen. Der Konflikt macht deutlich, dass auch in linken Clubs gewerkschaftliche Organisierung nicht immer willkommen ist, die FAU aber auch dort den Konflikt nicht scheut. Das ist ein Bruch mit den Szene-Gewohnheiten, wo oft zu Ausbeutung und Niedriglöhnen in „Szeneeinrichtungen“ geschwiegen wird. Die FAU lässt sich hingegen von dem Grundsatz leiten, dass miese Arbeitsbedingungen und Ausbeutung an jedem Arbeitsplatz angegriffen werden müssen.

Riders Unite!
Kämpferische Beschäftigte gibt es mittlerweile auch in Branchen, die lange Zeit als schwer organisierbar galten. Dazu gehören KurierfahrerInnen von Deliveroo und Foodora, die sich in der Deliverunion-Kampagne zusammengeschlossen haben, die nicht nur ein große Medienecho ausgelöst hat. Auch in Teilen der DGB-Gewerkschaften gab es Solidarität. So übermittelte die Taxi-AG der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi während einer Protestaktion der Deliverunion eine Grußadresse. Dort betonte sie, dass sie den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen über alle Gewerkschaftsgrenzen solidarisch unterstützten. Zudem machte der Kollege der Taxi-AG darauf aufmerksam, dass sowohl Kurier- wie auch TaxifahrerInnen über die Apps einer besonderen Kontrolle und Überwachung am Arbeitsplatz ausgesetzt sind. Hier bieten sich sicher Möglichkeiten eines Agierens über Gewerkschaftsgrenzen hinweg an. Dass Deliveroo bei der von der Initiative Arbeitsunrecht ausgelobten Aktion „Freitag, der 13.“ die Abstimmung deutlich gewonnen hat, ist auch ein Verdienst der FAU-Berlin. Kämpferische KollegInnen haben mit dafür gesorgt, das Deliveroo deutlicher als erwartet, für den Negativpreis als das Unternehmen ausgewählt wurde, welches federführend bei Union Busting und Ausbeutung ist. „Shame on you, Deliveroo“ heißt die klare und einfache Parole, die in der nächsten Zeit sicherlich noch häufiger zu hören sein wird. Die Deliverunion-Kampagne hat einen besonderen Stellenwert, weil sich hier mobile junge Beschäftigte organisieren, die lange Zeit als unorganisierbar galten. Die FAU scheint hier mit ihren basisdemokratischen Strukturen der richtige Ansprechpartner zu sein. Mittlerweile sieht man häufiger FAU-Aufkleber auf den charakteristischen Taschen mit den Namen der Lieferdienste. Das ist ein wichtiges Zeichen dafür, dass die FAU in der Branche als Gewerkschaft anerkannt ist. Dass mittlerweile in verschiedenen Berliner Medien die FAU mit ihrem Selbstverständnis als Basisgewerkschaft benannt wird, ist ebenfalls ein gutes Zeichen dafür, dass der Kampf der FAU auch auf schwierigem Terrain der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit nicht erfolglos ist.
Natürlich gab es in den letzten Monaten für die FAU auch Niederlagen bei Arbeitskämpfen.

Gegenangriff vom Boss
Beispielsweise beim Bildungswerk des Schwulen- und Lesbenverbands Berlin (BSLV). Obwohl die Beschäftigten hochmotiviert in den Kampf gingen, konnten sie nicht gewinnen, weil der Chef einen Großteil der KritikerInnen entließ. In einem Abschiedsbrief zogen sie dieses bittere Resümee:

„Der Feldzug des LSVD gegen die eigenen Mitarbeiter*innen und damit gegen jahrelange Erfahrung, Expertise und Netzwerkzugehörigkeiten endet in einem Trümmerfeld. Um unsere gute Arbeit für sinnvolle und wichtige Projekte zu sichern, forderten wir einen Tarifvertrag mit minimalen Standards, die in der restlichen Arbeitswelt selbstverständlich sind. Als Antwort darauf, erfolgte ein breit angelegter Kahlschlag bei der Belegschaft, an dessen Ende manche Projekte (Regenbogenfamilienzentrum, Respekt Gaymes, Community Games) gänzlich ohne Mitarbeiter*innen dastanden. Der Preis, der damit für eine weitgehend neue und damit gefügigere Belegschaft bezahlt wird, lässt ahnen, dass es der Führung des LSVD mehr um sich selbst, als um die Projektarbeit geht.“

Doch in der Bilanz machen die nun ehemaligen BSLV-MitarbeiterInnen deutlich, dass sie trotz der Niederlage in der Auseinandersetzung wichtige Erfahrungen gemacht haben. „Der Konflikt ist als Klassenkonflikt zu begreifen, in dem die Arbeitgeber bewusst die Belegschaft in prekärer Beschäftigung ohne jegliche Chance zur Mitbestimmung halten, um so eine größtmögliche Machtposition zu behalten. Aber auch beim Umgang miteinander geht es um Klasse.“

Wenn KollegInnen nach einem Arbeitskampf in einer Branche, in der so viel von Toleranz und Respekt geredet wird, diese Werte aber am Arbeitsplatz täglich missachtet werden, diese Erkenntnis mitnehmen, hat sich der Kampf gelohnt.
Diese Erfahrung mussten auch die rumänischen Bauarbeiter machen, die auf dem Berliner Nobelprojekt Mall of Berlin um ihren Lohn betrogen wurden. Gemeinsam mit der FAU gingen sie an die Öffentlichkeit und sorgten dafür, dass das Projekt als „Mall of Shame“ bekannt wurde. Obwohl die Beschäftigten auch mehrere juristische Klagen gewonnen haben, bekamen die Bauarbeiter ihr Geld noch immer nicht. Dafür sorgte das Firmengeflecht mit Sub– und Subsubunternehmen, die insolvent waren, wenn sie zur Zahlung der ausstehenden Löhne verurteilt wurden. Doch die Klagen gehen weiter, nun gegen den Generalunternehmen der Mall of Berlin. Der juristische Kampf geht weiter und es wird auch immer wieder Gelegenheit geben, auf der Straße die Parole zu skandieren „Mall of Shame – Pay your Workers“.

DIREKTE AKTION
Anarcho­syndika­listische Zeitung
>, Sonderausgabe Mai 2018

Peter Nowak

Das APO-Lexikon: Bündnistreffen


Lexikon der Bewegungssprache

Fast jede außerparlamentarische Gruppe kennt das Prozedere. Eine größere Aktion steht bevor, etwa eine überregionale Antifademo oder eine bundesweite Aktion von »Ende Gelände«. Welche Gruppe darf Redebeiträge halten? Welches Motto hat das Leittransparent? Und wer gestaltet Flyer und Plakate? Darüber wird auf Bündnistreffen diskutiert, und das ist harte Arbeit. Schließlich versucht dort jede Gruppe – verbindlich im Ton, aber hart in der Sache – die besten Bedingungen aushandeln. So sind Bündnistreffen gute Schulen für angehende Moderator_innen. Die radikale Linke übt sich dort auch in der hohen Kunst der Diplomatie. Die ist besonders dann gefragt, wenn auf solchen Treffen Parteienvertreter_innen und Anarchist_innen aufeinandertreffen. Doch manchmal versagt alles diplomatische Geschick. Die Frage »Wie hältst Du es mit Israel?« hat schon manches Bündnistreffen gesprengt. Dass sich Linke immer wieder den Stress machen und zu Bündnistreffen einladen, ist auch ein Zeichen ihrer Schwäche. Ohne Bündnisse könnten größere Aktionen oft nicht vorbereitet werden. Doch es gibt vor allen in der radikalen Linken entschiedene Gegner_innen der Bündnistreffen und ihrer Diplomatie. Sie sind der Auffassung, dass damit eine Bewegung verwaltet werden könnte. Revolten hingegen bräuchten praktische Bündnisse auf der Straße und keine Plena.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1088866.buendnistreffen.html

Peter Nowak