Klug & heiter

Als Grande Dame der Rosa-Luxemburg-Forschung wird Annelies Laschitza gern bezeichnet. Schließlich war die Erforschung von Leben und Werk der vor fast 100 Jahren ermordeten Jüdin und Sozialistin ihr Lebenswerk. Im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung stellte sie jetzt ihr Erinnerungsbuch vor, das sie ausdrücklich nicht als Biografie verstanden wissen will. Der Titel des in der Reihe Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte erschienenen Buches »Sich treu bleiben und heiter sein« fasste gut die Stimmung an diesem Abend zusammen.

Es ging heiter zu, es wurde viel gelacht. Schließlich waren viele Freunde und Freundinnen von Annelies Laschitza gekommen. Bereits als 15-jährige Auszubildende hatte sie beim Rat der Stadt Leipzig auf einer FDJ-Gruppenversammlung Rosa Luxemburg für sich entdeckt. Ein sehr persönlicher, warmherziger Brief hatte es ihr angetan, verfasst von der polnisch-deutschen Theoretikerin und Revolutionärin im Gefängnis, gerichtet an ihre Mitstreiterin Sophie Liebknecht, die sie mit ihrem Kosenamen »Sonitjschka« anredete. Unvergessen ist ihr auch ihr Lehrer an der Universität, Josef Schleifstein, der in der NS-Zeit in Haft war und später nach Prag und dann nach London emigrierte.

Der Ruf der Luxemburg-Expertin par excellence bescherte Annelies Laschitza die Freundschaft mit der westdeutschen Filmemacherin Margarethe von Trotta. Sie hatte während der Vorarbeiten an ihrem Film »Rosa Luxemburg« den legendären linken Verleger Theo Pinkus in Zürich nach weiteren Materialien gefragt. »Da müssen Sie die Laschitza fragen«, lautete dessen Antwort. Margarethe von Trotta befolgte dessen Rat, ihre Bitte um Einsicht in die noch nicht veröffentlichten Forschungsergebnisse direkt an das ZK der SED zu richten, der dann bei Annelies Laschitza landete. Viele Stunden verbrachen beide Frauen in den Archiven beim Studium der Dokumente. Für Annelies Laschitza war der Blick einer Künstlerin auf die Protagonistin ihrer Forschungen eine wichtige Bereicherung. Dass Rosa Luxemburg in Margarethe von Trottas Film von 1986 nicht als naive Kriegsgegnerin, sondern als erfahrene Sozialistin und Revolutionärin gezeigt wurde, war das Ergebnis der Kooperation zwischen den beiden Frauen aus Ost und West. Aus der wissenschaftlichen Zusammenarbeit ist eine Freundschaft geworden, die bis heute andauert.

Das Erscheinen von Margarethe von Trotta auf der Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung war dann auch eine explizite Würdigung, über die sich Annelies Laschitza natürlich sehr gefreut hat.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1082830.klug-heiter.html

Peter Nowak

Konfrontation zwischen Russland und Großbritannien ohne endgültige Beweise

Die jüngste Eskalation zwischen beiden Ländern zeigt nur, wie schnell man Ressentiments schüren und aus Indizien Beweise macht

Nun hat auch Russland mit der Ausweisung von 23 britischen Diplomanten seinen Teil zur Eskalation im Verhältnis zwischen Großbritannien beigetragen. Doch die Eskalation geht von Großbritannien aus, das die Sanktionsmaschine gegen Russland in Gang setzte, ohne dass es Beweise dafür hat, dass die russische Regierung oder ihr unterstehende Instanzen für den Giftanschlag auf einen Ex-Agenten und seine Tochter verantwortlich ist (Fall Skripal: Westliche Regierungen machen sich kollektiv lächerlich). Vereinzelt wird daran noch in manchen Zeitungen erinnert.

Indizien sind keine Beweise

So erinnerte Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung daran, dass es einen Unterschied zwischen starken Indizien und Beweise gibt.

Der Rechtsstaat verlangt nach einer klaren Zuordnung von Opfer und Täter. Großbritannien verfügt über Indizien, starke Indizien – aber nicht über den letzten Beweis.

Stefan Kornelius, Süddeutsche Zeitung

Verwunderlich ist aber, dass Kornelius zu der Einschätzung kommt, dass Großbritannien auf den Giftgasanschlag verhalten reagiert, weil der endgültige Beweis fehlt. Ist es nicht vielmehr so, dass Großbritannien mit den Sanktionen reagiert, als hätte die Regierung den Beweis und als würde für sie der Unterschied zwischen Indizien, auch starken Indizien und Beweisen keine Rolle mehr spielen? Wenn Kornelius die Reaktion aus Großbritannien verhalten nennt, was würde er dann als Überreaktion bezeichnen? Die Kriegserklärung Londons an Russland, die Bombardierung des Kremls? Auch für die Taz-Kommentatorin Bettina Gaus gibt es starke Indizien dafür, dass die Spur des Giftanschlags nach Russland führt. Doch auch sie stellt klar:

Im Ernst: Es gibt starke Indizien, die darauf hinweisen, dass tatsächlich die russische Regierung oder, mindestens ebenso alarmierend, der russische Geheimdienst ohne Wissen der Regierung hinter dem Mordanschlag steckt. Aber Indizien sind eben nicht dasselbe wie unwiderlegbare Beweise.

Bettina Gaus, Taz

Russland hat Zusammenarbeit bei der Aufklärung angeboten

Bettina Gaus hat auch eine weitere Behauptung widerlegt, die die britische Regierung als Begründung für ihre Sanktionspolitik angeführt hat und die ohne nähere Prüfung von vielen Medien übernommen wurde. Die russische Regierung hätte sich geweigert, mit der britischen Regierung bei der Aufklärung der Giftattacke zu kooperieren. Demgegenüber stellt Gaus klar:

Moskau hat öffentlich jede Beteiligung an dem Giftgasangriff bestritten, Zugang zu den Ermittlungen gefordert und sich bereit erklärt, mit internationalen Organisationen zu kooperieren. Das alles ist nicht unbillig, sondern vernünftig. Wie hätte die russische Regierung denn sonst reagieren sollen? „Sorry, Theresa, ja, wir waren es. Tut uns echt leid.“ Die Reaktion darauf hätte man sehen sollen.

Bettina Gaus, Taz

Gaus geht auch kritisch mit einer anderen Frage um, die in den letzten Tagen viele Medien allzu schnell beantwortet haben. Wer hat Interesse bzw. wem nützt der Giftanschlag? Da ist es doch etwas dünn, wenn unisono auf die heutigen Präsidentenwahlen in Russland hingewiesen wird, wo sich Putin nun besser als Opfer des „Westens“ inszenieren kann.

Haben nicht schon seit Wochen die meisten Kommentatoren behauptet, die Wahlen seien längst für Putin entschieden? Warum sollte dann noch im Ausland eine solche Aktion inszeniert werden, nur um die russischen Wähler für Putin zu beeinflussen? Ist das nicht ein arg konstruiertes Motiv, das eine solche aufwendige Aktion nicht wirklich erklärt?

Unmittelbar nach dem Anschlag konnte man im Deutschlandfunk noch die Meinung eines Kommentators hören, der eine Beteiligung der russischen Regierung für sehr unwahrscheinlich hielt. Eine Verschlechterung der Beziehungen mit den westlichen Ländern sei nicht im Interesse der russischen Regierung, so die Begründung.


Nutzen ziehen viele aus dem Anschlag und der Reaktion darauf

Es wäre doch interessant zu fragen, ob diese Einschätzung auch jetzt noch seine Gültigkeit hat. Es bleiben da zumindest sehr viele offene Fragen. Warum sollte Russland Interesse haben, ausgerechnet Großbritannien, das kurz vor dem komplizierten Austritt aus der EU steht, gegen sich aufzubringen?

Wird da nicht sogar Großbritannien wieder näher an die EU gerückt? Ist das nicht eine Steilvorlage für die Kräfte in Großbritannien, die ein neues Referendum über den EU-Austritt fordern? Bisher fehlte dieser Kampagne die Schlagkraft, weil die Umfragen kein Ergebnis brachten, dass nun eine Mehrheit der Briten doch in der EU bleiben will. Unter solchen Umständen könnte ein zweites Referendum für die Remainer ein Eigentor sein.

Wenn erst einmal eine Stimmung erzeugt wird, die wirklich stabile Mehrheiten für ein Verbleiben in der EU sieht, könnte die Kampagne für ein zweites Referendum wieder an Fahrt gewinnen. Liegt das aber im Interesse Russlands? Ich weiß die Antwort nicht.

Aber solche Fragen sollte man sich stellen, bevor man sich einseitig und ohne überzeugende Plausibilität darauf festlegt, dass nur die russische Regierung ein Interesse an diesen Anschlag gehabt haben kann. Es könnten eine Fülle weiterer Fragen nach dem Interesse gestellt werden.

Das wäre die Aufgabe einer öffentlichen Diskussion, die sich eben nicht vorschnell auf einen Verantwortlichen festlegt und die Indizien eben nicht für Beweise hält. Und die auch den Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ nicht für völlig weltfremd bei Konflikten zwischen zwei Staaten hält.

https://www.heise.de/tp/features/Konfrontation-zwischen-Russland-und-Grossbritannien-ohne-endgueltige-Beweise-3997818.html

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-3997818

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Fall-Skripal-Westliche-Regierungen-machen-sich-kollektiv-laecherlich-3997443.html
[2] http://www.sueddeutsche.de/politik/giftanschlag-auf-ex-spion-skripal-laengst-mehr-als-ein-agententhriller-1.3905300
[3] https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5489206
[4] https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5489206

Geschichte im Schulbuch

Tagungsnotizen

Die Hand zum Hitlergruß erhoben, empfangen deutsche Frauen 1938 die deutsche Wehrmacht im Sudentenland. Dieses Foto begrüßte die Besucher einer Diskussionsveranstaltung im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst. Sie fand in dem Saal statt, wo die Wehrmacht am 8. Mai 1945 kapitulierte. »Wie kommt die Geschichte ins Schulbuch?«, lautete die Frage, die Wissenschaftler aus Deutschland, Russland und Tschechien erörtern wollten.

Den Ausführungen von Jaroslav Najber, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Studien zu totalitären Regimen in Prag, war zu entnehmen, wie die Totalitarismustheorie, die Kommunismus und Nationalsozialismus gleichsetzt, sich im öffentlichen Geschichtsbild niedergeschlagen hat. Das Interesse an den Sudentendeutschen als Opfer von Vertreibung nach 1945 sei unter Schülern gewachsen. Über Forschungen zu den Naziverstrickungen und den Antisemitismus vieler Organisationen der Sudetendeutschen wusste Najber nichts zu berichten. Auch zum geringen antifaschistischen Widerstand unter Sudentendeutschen werde in Tschechien nicht geforscht. »Es geht in der Forschung immer auch um die Relevanz«, sagte er. Wer in Tschechien an einem solchen Geschichtsverständnis Kritik übt, werde als »Ewiggestriger« gebrandmarkt.

In Russland ist der Terror der deutschen Wehrmacht und ihrer Sondereinheiten nicht vergessen. Entsprechend gab es vor einigen Monaten heftige Empörung, als der russische Schüler Nikolai Desjatnitschenko in einer Rede im Deutschen Bundestag Wehrmachtsoldaten als Opfer bezeichnete; seine Reise in die Bundesrepublik war übrigens von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung finanziert worden. Die Moskauer Geschichtslehrerin Tamara Eydelman berichtete, dass sich einige Politiker und Schuldirektoren in ihrer Heimat in der Auseinandersetzung hinter den Schüler und dessen Lehrerin stellten. Sie selbst teile auch nicht die geballte Kritik an den beiden in Russland. Deren Initiatoren würden nationalistisch argumentieren. Keiner der mit knapp 20 Teilnehmern schlecht besuchten Veranstaltung widersprach ihr.

Der Inhaber des Lehrstuhls für Geschichtsdidaktik an der Berliner Humboldt-Universität, Thomas Sandkühler, sieht in absehbarer Zeit keine Chance für eine gemeinsame europäische Geschichtspolitik. Es habe in den letzten Jahren Geschichtsbücher gegeben, die einen solchen Ansatz verfolgt hätten, sie würden im Schulunterricht jedoch kaum verwendet. Eydelmann und Najbert erklärten, in ihren Ländern würden solche Bücher nicht auf Interesse stoßen. Ein Zuhörer machte dann darauf aufmerksam, dass die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in Russland und die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen im deutschen Geschichtsnarrativ noch längst nicht fest verankert sind.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1082652.geschichte-im-schulbuch.html

Peter Nowak

Sie nannten ihn Kazik

Die Erinnerungen des polnisch-jüdischen Ghettokämpfers Rotem Simha

Die polnische Rechtsregierung hat kürzlich ein Gesetz erlassen, das bei der israelischen Regierung auf heftige Kritik stieß. Bestraft werden soll, wer Polen beschuldigt, zwischen 1939 und 1945 mit der deutschen Besatzung zusammengearbeitet und bei der Verfolgung der Juden geholfen zu haben. Da ist es ein Glücksfall, dass jetzt die Erinnerungen eines der letzten Überlebenden des Aufstands im Warschauer Ghetto neu aufgelegt worden sind.

Am 10. Februar beging der in Israel lebende Simha Rotem seinen 94. Geburtstag. »Als Kazik hatte ihn ein Kamerad aus der Kampfbewegung, gerufen«, schreibt Agnieszka Hreczuk in der Einleitung. Kazik ist ein in Polen gängiger Name, Rotem bekam ihn damals verpasst, damit er nicht als Jude erkannt wird – nicht nur von den Nazis nicht, sondern auch von Polen mit antijüdischen Ressentiments nicht. Im Buch werden viele Beispiele für den Antisemitismus in der polnischen Bevölkerung aufgeführt. Kurios allerdings, was in der Passage über seine Geldbeschaffungsaktionen für den Untergrund mitteilt. Sie mussten oft trickreich sein. Selbst Juden waren eher bereit, Wertsachen oder einen Geldbetrag zu geben, wenn sie einen nichtjüdischen Mann des polnischen Widerstands vor sich glaubten.

Die Verfolgung der polnischen Juden begann unmittelbar nach dem deutschen Überfall in aller Öffentlichkeit: »Einen Tag nach dem Einmarsch der Deutschen wurde ich Zeuge, wie Juden auf der Straße aufgegriffen und zur Zwangsarbeit abgeführt wurden … Die Deutschen verhöhnten die Juden, rissen ihnen ihre Hüte vom Kopf, stießen, schlugen und misshandelten sie«, schreibt Rotem. Auch Reaktionen in der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung notiert er. Er vermerkt »Kollaboration« und »Denunziation von Juden und ihre Auslieferung an die Deutschen«

Gespenstisch erscheinen Rotems Schilderungen, wie die letzten Überlebenden des Warschauer Ghettoaufstands von 1943 in unterirdischen Kanälen auf ihre Rettung harrten, während über ihnen das ganze Stadtviertel von den Nazi-Okkupanten dem Erdboden gleichgemacht wurde. Noch wochenlang qualmten die Ruinen mitten in der Warschauer Innenstadt, während das Alltagsleben weiterging als sei nichts geschehen. Rotem beteiligte sich mit den wenigen Überlebenden des Ghettoaufstandes im Jahr darauf auch am Warschauer Aufstand polnischer Patrioten. Im Vorfeld hatte seine Gruppe Kontakte zur nationalkonservativen Opposition aufgenommen, sich dann aber entschieden, sich der kleineren sozialistischen Widerstandsbewegung Armia Ludowa anzuschließen, die jüdische Kämpfer in ihre Reihen aufnahm. Abenteuerlich mutet die Rettung wichtiger Dokumente des Widerstands an, geborgen aus einem brennenden Gebäude und buchstäblich in letzter Minute vor dem Zugriff der Deutschen beiseite geschafft. Über zwei Wochen musste sich Rotem mit seinen Kampfgefährten in einem Keller verstecken. Sie drohten zu verdursten. Mit den Händen und primitivsten Werkzeugen buddelten sie einen tiefen Schacht, um an Trinkwasser zu gelangen.

Nach dem Ende des Krieges musste Rotem wie die meisten seiner Kampfgenossen feststellen, dass fast alle Freunde und Verwandten ermordet waren. Im Nachwort schreibt Jörg Paulsen: »Wenn wir das Zeugnis eines der wenigen Geretteten hier veröffentlichen, so mit der dringenden Bitte, ihm mit der Achtung zu begegnen, die ihm seitens der deutschen Leserschaft gebührt … Es bewahrt das Gedächtnis der Ermordeten«.

• Simha Rotem: Kazik. Erinnerungen eines Ghettokämpfers.
Verlag Assoziation A, 202 S., br., 18 €.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1082238.buchmesse-leipzig-sie-nannten-ihn-kazik.html

Peter Nowak

Spontis, Maoisten, Feministen


Gerhard Hanloser und Ulrike Heider erinnern an den 68er-Aufbruch

»Alle diese Texte wirken völlig tot und uninteressant. Da finden sie nicht einen einzigen Artikel, den sie heute noch mit Gewinn lesen können.« So urteilte vor zehn Jahren der weit nach rechts gerückte ehemalige Aktivist der Außerparlamentarischen Opposition (Apo) Götz Aly im »Börsenblatt« über die theoretischen Texte der Neuen Linken. Der Publizist Gerhard Hanloser nahm dieses Statement zum Anlass, um an die linke Fundamentalopposition in der Bundesrepublik vor 50 Jahren und deren keinesfalls belanglos gewordene Texte und Ideen zu erinnern

In 25 Kapiteln stellt Hanloser vor, was und wer damals diskutiert wurde, darunter Mao, Marx, Lenin, Che Guevara. Die linke Literaturliste war damals jedenfalls viel umfangreicher als sie heute ist. Ernst Bloch stand ebenso darauf wie der linke Psychoanalytiker Wilhelm Reich und der Kolonialismuskritiker Franz Fanon. Einen wichtigen Stellenwert nahmen natürlich die Theoretiker der Frankfurter Schule ein, durch deren Brille junge Linke Mitte der 1960er-Jahre Marx entdeckten und studierten. Hanloser lässt nicht unerwähnt, wie enttäuscht viele waren, als sich Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gegen die Revolte wandten. Herbert Marcuse hingegen, der innerhalb der Frankfurter Schule eine Sonderstellung einnahm, unterstützte die Neue Linke vorbehaltslos. Erfreulich ist, dass Hanloser auch auf heute weniger bekannte Theoretiker wie Karl Korsch und Johannes Agnoli eingeht, die zeitweise ebenfalls viel gelesen wurden.

Der Feminismus wurde damals geboren, Simone de Beauvoir und Alexandra Kollontai standen hoch im Kurs, allerdings auch die politisch fragwürdige Valerie Solanas, die in einem Manifest zur Vernichtung aller Männer aufrief und diesen Vorsatz mit einem Attentat auf Andy Warhol gar in die Tat umsetzen wollte. Die spätere Wende des Feminismus zur Genderkritik bewertet Hanloser kritisch: »Dieser Feminismus scheint triebbiologie- und naturvergessen zu sein und trachtet, alles in Diskurse aufzulösen.«

Ein Kapitel widmet sich der Rezeption des Maoismus in der Neuen Linken. Heute werden zumeist die damals entstandenen kommunistischen Kleingruppen als abschreckende Beispiele angeführt. Der von Hanloser beleuchtete Anarchomaoismus ist hingegen kaum mehr bekannt. Er bezog sich auf das herrschaftskritische Potenzial, das in den kulturrevolutionären Elementen des Maoismus und der Parole »Bombardiert das Hauptquartier« enthalten war. Der Autor ist ein scharfer Kritiker der autoritären Linken, zu der sich einige der 68er-Aktivisten entwickelt haben. Genau so scharf kritisiert er die Spontibewegung mit ihrem Unmittelbarkeitskult und ihrem Antiintellektualismus. Viele von ihnen gehörten später zu den führenden Realos bei den Grünen.

In ihrer Kritik an Stalinisten und Spontis sind sich Hanloser und Ulrike Heider einig. Letztere war Hausbesetzerin in Frankfurt am Main, wo sie 1968 ihr Germanistikstudium begonnen hat. In einem kurzen Interview mit Hanloser betont sie die wichtige Rolle, die Lesen und die Beschäftigung mit Theorie in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis spielte. Raubdrucke waren damals eine beliebte Möglichkeit, kostengünstig an gefragte Autoren zu gelangen. Erst viel später wurden linke Autoren auch in großen Verlagen aufgelegt.

Ulrike Heider hat selbst einen Erlebnisbericht vorgelegt, in dem sie ihre Politisierung in der APO beschreibt, die für sie Aufbruch und Befreiung bedeutete. Sie lehnt es vehement ab, die damaligen Kämpfe als eine Kette von Fehlern, Irrtümern, Illusionen zu charakterisieren. Dabei verklärt die Autorin jene Zeit keineswegs. Sie selbst saß oft zwischen allen Stühlen, kritisierte den Konformismus der einen und den Gruppenzwang der anderen. Auch die Gurus der selbst ernannten Antiautoritären, deren Toleranz auf Grenzen stieß, wenn es um die Verteidigung der eigenen Machtpositionen ging, werden von Ulrike Heider witzig und treffend demaskiert. Einer von ihnen wurde später Außenminister und war für den NATO-Krieg gegen Jugoslawien mitverantwortlich: Joseph »Joschka« Fischer.

Ulrike Heider erlaubte sich, auch mal Urlaub vom linken Frankfurter Milieu zu machen und unternahm längere Reisen in die USA. Auch die dortige anarchistische Linke wird von ihr der Kritik unterzogen. Der Schluss ist märchenhaft. Ulrike Heider versteckt einen Laptop in ihrer Wohnung vor möglichen Einbrechern, als es diese Geräte noch nicht gegeben hat. Egal, die Bücher von Hanloser und Heider ergänzen sich famos.

• Gerhard Hanloser: Lektüre und Revolte. Eine Textsammlung der 68er Fundamentalopposition.
Unrast, 165 S., br., 9,80 €
• Ulrike Heider: Keine Ruhe nach dem Sturm.
Bertz + Fischer, 305 S., geb., 18 €

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1082247.buchmesse-leipzig-spontis-maoisten-feministen.html

Peter Nowak

Nulltarif ist keine Utopie

In Tübingen hat eine außerparlamentarische Initiative schon vor einem Jahrzehnt ein konkretes Konzept zum gebührenfreien Nahverkehr ausgearbeitet. Und in Gießen nutzen VorreiterInnen den Nulltarif bereits, bevor er eingeführt wurde.

War es ein erstgemeinter Vorschlag oder nur ein Bluff? Mitte Februar 2018 schlug die Bundesregierung in einem Schreiben an die EU-Kommission vor, in Essen, Bonn, Herrenberg, Reutlingen und Mannheim exemplarisch einen Nahverkehr zum Nulltarif einzuführen. Mit dem Schreiben, das von den geschäftsführend amtierenden Bundesministern für Umwelt (SPD), Verkehr und Finanzen (beide Union) unterzeichnet wurde, sollte die EU-Kommission davon überzeugt werden, dass die Bundesregierung nun ernsthaft die EU-Richtlinien für die Luftreinhaltung umsetzen will. Schließlich hatte die EU-Kommission nach jahrelanger Überschreitung der Grenzwerte mit einer Klage gedroht, die für die Regierung teuer werden könnte (Kontext berichtete).

Der für die NutzerInnen unentgeltliche Nahverkehr in den fünf Städten gehörte zu den Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung die schädlichen Abgase minimieren könnte. Doch nicht nur Siegfried Gack und Michael Hahn haben Zweifel, ob die Vorschläge ernst gemeint waren. Die beiden Tübinger sind in der außerparlamentarischen linken Initiative ZAK³ (gegen Kapitalismus, Krieg und Kohlendioxid) aktiv. Die lancierte bereits 2008 in der Universitätsstadt eine lokale Kampagne für einen Nulltarif im Straßenverkehr. „Entstanden ist der Kampf für einen kostenfreien öffentlichen Nahverkehr aus unserer Beschäftigung mit zwei zunächst unterschiedlichen Themen: der Einführung einer sozialen Infrastruktur und dem Klimawandel“, skizziert der Tübinger Aktivist Michael Hahn die Vorgeschichte.

Damals haben außerparlamentarische Initiativen intensiv über Möglichkeiten diskutiert, ökologische und soziale Fragen zusammenzubringen. Gack, Hahn und ihre MitstreiterInnen präsentierten dazu schon vor zehn Jahren einen konkreten Vorschlag. „TüBus umsonst – Nulltarif im öffentlichen Straßenverkehr“ lautete das Motto der Kampagne, an der umwelt- und verkehrspolitische Gruppen, soziale Initiativen, linke Gruppen und Einzelpersonen in Tübingen beteiligt waren. „Ein Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr hätte einen überdurchschnittlichen Nutzen für Arme, für Familien mit Kindern, für Geflüchtete. So könnten wir zeigen, dass Klimaschutz eben nicht Verzicht bedeuten muss“, betont Gack.

Gemeinderatsgrüne schonen Landesgrüne
Dass nun zehn Jahre nach Beginn ihrer Kampagne die Bundesregierung den Nulltarif im Öffentlichen Nahverkehr ebenfalls als sinnvolle Maßnahme bezeichnet, ist für die Tübinger AktivistInnen eine Bestätigung. Doch auch auf regionaler Ebene konnten sie einen ersten Erfolg feiern. Seit Februar 2018 informiert ein kleiner Aufkleber am Kassenautomaten: „Samstags kostenlos busfahren im Stadtgebiet Tübingen“. Doch nicht der Druck der EU-Kommission, sondern hausgemachte Gründe sorgten dafür. Ein zentrales Parkhaus in der Altstadt muss saniert werden, insgesamt soll die Maßnahme etwa ein Jahr dauern. Der an Samstagen kostenlose Bus soll das kompensieren, dafür hat der Tübinger Gemeinderat 200 000 Euro eingeplant.

Seit das Busfahren an einen Tag für NutzerInnen gratis ist, ist nach Angaben der Regionalpresse die Zahl der NutzerInnen nur leicht gestiegen. Die Mehrheit der Fahrgäste kann von der neuen Regelung nicht profitieren. Viele SchülerInnen, Studierende und SeniorInnen sind bereits im Besitz von Monats- oder Jahreskarten. Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) wirbt nach dem Brief der Bundesregierung an die EU-Kommission dafür, Tübingen ebenfalls in den Kreis der Modellstädte aufzunehmen, in denen der Nulltarif im Straßenverkehr getestet werden soll. „Wir sind bundesweit die einzige Stadt, die ein fertiges, vom Gemeinderat intensiv diskutiertes Konzept zum kostenlosen Nahverkehr vorliegen hat“, stellt Palmer die besondere Potenzial von Tübingen heraus. Dass diese gute Vorbereitung eine Folge der jahrelangen Basisarbeit von AktivistInnen wie Gack und Hahn ist, lässt er unerwähnt.

Überholtes Konzept: Fahrscheine kaufen
Vergangenes Jahr, betonen die AktivistInnen, sei man schon mal weiter gewesen. Ende April hatte Palmer die Ergebnisse einer Diskussion zwischen Stadtverwaltung und einer Arbeitsgruppe der Stadtwerke Tübingen vorgestellt. Die Einführung eines gebührenfreien Öffentlichen Nahverkehrs würde ca. 14,5 Millionen Euro pro Jahr kosten. Die Verwaltung ging bei ihren Planungen davon aus, dass die Nachfrage im Öffentlichen Nahverkehr etwa um ein Drittel steigen würde, wenn die Tickets ganz wegfallen. Um diese Zunahme bewältigen zu können, müssten nach den vorläufigen Schätzungen der Verwaltung 14 neue Busse im Stadtgebiet eingesetzt werden. Das von der Verwaltung favorisierte Nulltarifs-Modell würde für jedeN TübingerIn eine monatliche Umlage von 13,50 Euro bedeuten.

Doch dazu wäre eine Gesetzesänderung auf Landesebene nötig. Dort regieren die Grünen mit der CDU, die bisher nicht als Anhänger des Nulltarifs aufgefallen ist, auch wenn jetzt die Namen von zwei CDU-Ministern unter den Brief mit den Vorschlägen an die EU-Kommission stehen. Zu einer Diskussion im Stuttgarter Landtag über die Tübinger Vorschläge ist es gar nicht gekommen. „Die Grünen im Tübinger Gemeinderat haben Rücksicht auf die Landesregierung genommen, die in dieser Legislaturperiode kein Gesetz erlassen will, das den Nulltarif ermöglicht“, kritisieren die Tübinger AktivistInnen. Sie fordern weiterhin, einen kostenfreien TüBus rund um die Uhr als Modellprojekt bei der Landesregierung zu beantragen und danach durch eine BürgerInnenbefragung entscheiden zu lassen.

Günstiger als Autoverkehr
Durch das Schreiben der Bundesregierung an die EU-Kommission mit dem Nulltarifvorschlag, der vielleicht gar nicht ernst gemeint war, spüren nicht nur die TübingerInnen Rückenwind. „In den letzten Wochen gab es einen ungeheuren Aufbruch. In vielen Städten bilden sich Initiativen, die sich für den Nulltarif einsetzen“, sagt Karin Masche. Die Mitarbeiterin der linken Bundestagsabgeordneten Sabine Leidig war an der Erstellung eines Newsletters für Nulltarif-AktivistInnen beteiligt. In fünf Jahren soll es bundesweit einen kostenlosen und ticketfreien Öffentlichen Nahverkehr geben, lautet das ehrgeizige Ziel.
Argumente dafür liefert eine kürzlich von VerkehrswissenschaftlerInnen der Universität Kassel erstellten Studie. Die kommt zu dem Schluss, dass der Autoverkehr die Kommunen dreimal so teuer kommt wie Bus und Bahn. Bei ihren Berechnungen haben die WissenschaftlerInnen auch die Umweltschäden, die Investitionen in die Infrastruktur wie Straßen, Schienen, Ampeln und die Folgekosten von Unfällen in ihre Berechnungen einbezogen. Diese Studie wird sicher auch bei dem am 2. Juni 2018 in Kassel geplanten bundesweiten Ratschlag eine Rolle spielen, auf dem sich die unterschiedlichen Null-Tarif-Initiativen koordinieren wollen.

Aus Baden-Württemberg werden neben den TübingerInnen auch Mitglieder der Initiative „Freifahren Stuttgart“ kommen. Sie hat sich erst kürzlich gegründet und ist noch im Aufbau. Anregungen kann sie sich dabei von den AktivistInnen aus Gießen holen. Die haben kürzlich in der gesamten Stadt Flugblätter mit der Schlagzeile verteilt „Gießen testet den Nulltarif – machen Sie mit“ verteilt. Auch nachdem die Stadtverwaltung bekannt gab, dass es sich um Fake-Flugblätter handele, hatten die MacherInnen die Sympathien auf ihrer Seite.

Zumal die GießenerInnen nicht warten, bis der Nulltarif offiziell eingeführt wird. Einige AktivistInnen tragen Schilder oder Buttons, auf denen sie bekannt geben, ohne Ticket zu fahren. In der Vergangenheit mussten mehrere Verfahren wegen Erschleichung von Leistungen eingestellt werden („Der Begriff des Erschleichens setzt gewisse Heimlichkeit voraus“, BayObLG; „Der objektive Tatbestand der Leistungserschleichung ist nämlich nicht schon dann erfüllt, wenn der Angeklagte das Verkehrsmittel unberechtigt nutzte. Er muss darüber hinaus für einen objektiven Beobachter den Anschein ordnungsgemäßer Erfüllung der Geschäftsbedingungen erregt haben“, OLG Frankfurt). Jörg Bergstedt von der Projektwerkstatt Saasen bei Gießen entwickelt ein optimistisches Szenario in Sachen Nulltarif: „Wenn der Druck da ist und das Thema im Gespräch bleibt, steigen auch die Nichtregierungsorganisationen ein und am Ende macht auch die Politik mit.“

aus Kontext-Wochenzeitung: Ausgabe 363
https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/363/nulltarif-ist-keine-utopie-4970.html#tx-tc-ct-19479

Peter Nowak

Null-Toleranz als Regierungsziel

Rechtsruck mit Seehofer und Spahn: Unter Druck geraten nicht nur Migranten, sondern auch Menschen mit abweichendem Verhalten und Einkommensarme

Der parlamentarische Rechtsruck, der sich bei den letzten Bundestagswahlen zeigte, wird nun auch in der Regierung deutlich. Es ist natürlich die gleiche Parteienkonstellation aus SPD und Union. Doch die Kräfteverhältnisse haben sich nach rechts verschoben.

Das wird deutlich mit dem Einzug des Orban-Spezis Seehofer ins nun um den schillernden Begriff Heimat aufgewertete Innenministerium. Auch auf anderer Ebene markiert Seehofer als Minister eigentlich eine politische Zäsur. Man sollte sich nur noch einmal erinnern, dass Seehofer vor knapp 2 Jahren Merkels Flüchtlingspolitik als Herrschaft des Unrechts bezeichnete.

Friendly Fire von rechts

Wortwörtlich sagte Seehofer der Passauer Neuen Presse: „Wir haben im Moment keinen Zustand von Recht und Ordnung. Es ist eine Herrschaft des Unrechts.“

Nun ist es sicher richtig, dass Politiker ihre Rolle als aggressive Opposition spielen und danach geht man gemeinsam ins Restaurant. Auch die Attacke von Seehofer auf Merkel soll nicht unter dem in der politischen Berichterstattung häufigen Modus untersucht werden, dass hier der damalige bayerische Ministerpräsident gegen die angeblich liberale Merkel kämpft. Es geht hier nicht in erster Linie um Befindlichkeiten von Personen.

Es gab durchaus eine faktische Arbeitsteilung in einer Partei, die das Interesse großer Teile der deutschen Industrie nach Arbeitskräften mit dem Abgrenzungsbedürfnis großer Teile ihrer Basis im Einklang bringen muss. Merkel steht für die Interessen der Industrie und setzte in ihrer Amtszeit auch zahlreiche Verschärfungen im Flüchtlingsrecht durch.

Seehofer machte sich zum Sprachrohr all derer in der Union, die vor einem Ausverkauf des konservativen Markenkerns der Partei warnten. Er stellte sich an die Spitze dieser rechten Opposition und machte vor den letzten Bundestagswahlen den Eindruck, als wolle er die Rolle des rechten Oppositionsführers übernehmen, obwohl er Teil der Regierung war.

Das Ziel, damit die AfD klein zu halten misslang. Seehofer hat nun seine Rolle als rechter Oppositionsführer an Gauland, Weidel und Co. abgeben müssen. Dadurch geriet er auch in der CSU unter Druck. Nun muss sich Seehofer als Innenminister ans Werk machen, die „Herrschaft des Rechts“ respektive das, was er dafür hält, wieder herzustellen. Seine Berufung als Innenminister ist ein klares Signal, auch an den rechten Flügel der Union und potentielle AfD-Wähler.

Erste Duftmarken setzte Seehofer bereits vor seinen offiziellen Amtsantritt. Mit seinem Grundsatz „Null-Toleranz“ und seiner Ankündigung für schnelle Asylverfahren und konsequente Abschiebungen will er nun die Pläne des rechten Flügels umsetzen.

Deutschland solle ein weltoffenes und liberales Land bleiben. „Aber wenn es um den Schutz der Bürger geht, brauchen wir einen starken Staat“, betonte Seehofer. Das würde sicherlich auch sein Freund Orban sagen. Denn Bürger sind in dieser Lesart die Menschen, die täglich ihrer Lohnarbeit nachgehen, Regierung und Staat nicht hinterfragen und höchstens auf die Straße gehen, wenn sie über die Menschen besorgt sind, die als Nichtbürger gelten.

Druck auf Hartz IV-Empfänger

Auch einkommensarme Menschen kommen nach einer solchen Lesart schnell unter Druck und werden beschuldigt, selbst an ihrer Situation Schuld zu sein. Schließlich müsse niemand hungern, schließlich leben wir im besten Sozialsystem der Welt. Diese Position bekräftigte Spahn auch nach der Kritik an ihm von verschiedenen Seiten.

Selbst bei der Union monieren manche, es sei unklug, wenn hochdotierte Politiker den Hartz IV-Empfängern sagen, was sie zu denken und zu fühlen haben. Dafür sind schließlich die Jobcenter und Arbeitsagenturen zuständig. Die sind durch das Hartz IV-Gesetz damit beauftragt, den Beziehern dieser Gelder vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, wenn sie Leistungen beziehen.

Das geht bis zum Einsatz von Sozialdetektiven. In den letzten Jahren ist zu Hartz IV viel geschrieben und auch von Betroffenen geäußert worden. Sie betonten immer, dass es dabei nicht nur um die Verarmung geht, sondern dass auch die Demütigung und Gängelung durch die Ämter das große Problem sind.

Die meisten, die Spahn jetzt wegen seiner Äußerungen zu Hartz IV kritisieren, stellen das System Hartz IV keineswegs in Frage, sondern monieren nur, dass man es doch einfach durch die Ämter verwalten lassen und nicht selber eingreifen soll. Mittlerweile bekommt Spahn für seine Äußerungen auch Zustimmung, unter anderem vom CSU-Politiker Dobrindt.

Regierung der besorgten Bürger

Seehofer und Spahn werden sicherlich noch eine tragende Rolle in der neuen Regierung spielen. Sie stehen für einen Rechtsruck im Establishment. Das Wort Null-Toleranz bringt auf den Punkt, was der Kern dieser Politik ist. Unter Druck geraten nicht nur Migranten, sondern auch Menschen mit abweichendem Verhalten und einkommensarme Menschen.

So hofft die Regierung, die besorgten Bürger wieder auf ihre Seite zu ziehen. Von der SPD werden die neuen Konservativen kaum Gegenwind bekommen. Die Partei hat schließlich kaum Möglichkeiten, mit einen Austritt aus der Regierung zu drohen, wo sie doch gerade mit viel internen Streit die Entscheidung für die Fortsetzung der Koalition getroffen hat.

Schon mahnen SPD-Politiker mehr Realismus bei der Migrationsdebatte an. Schließlich weiß man, dass die SPD mit besonders flüchtlingsfreundlichen Positionen kaum neue Wähler gewinnt.

In einer weiteren Frage hat die SPD auch schon mal Konfliktstoff beseitigt. Sie wird keine Initiative für die Streichung des Paragrafen stellen, der Werbung für Abtreibungen unter Strafe stellt. In den letzten Monaten hatte ein großes Bündnis genau das gefordert.

Noch vor wenigen Stunden stand die SPD hinter dieser Initiative. Nun hat die SPD ihren Antrag zurückgezogen. So wird deutlich, wie schnell die Sozialdemokraten Positionen räumen, um an der Macht zu partizipieren.

Weitere Rückzüge werden folgen. Derweil machen die Kräfte rechts von der Union Druck und fordern, Seehofer solle nicht nur Ankündigungen machen, sondern diese auch umsetzen. Ob er damit nicht die AfD eher stärkt als überflüssig macht, werden die nächsten Landtagswahlen zeigen.
https://www.heise.de/tp/features/Null-Toleranz-als-Regierungsziel-3993923.html

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesschau.de/inland/orban-csu-105.html
[2] http://www.clemensheni.net/tag/heimat/
[3] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-02/csu-horst-seehofer-bahnunglueck-fluechtlingspolitik
[4] http://www.pnp.de
[5] http://www.sueddeutsche.de/politik/innenpolitik-seehofer-kuendigt-null-toleranz-gegenueber-straftaetern-an-1.3900772
[6] http://www.jens-spahn.de/
[7] https://www.welt.de/politik/deutschland/article174410375/Erfolgreiche-Integration-Franziska-Giffey-SPD-offenbart-ihr-Rezept.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Gesicht-zeigen-fuer-das-Recht-auf-Abtreibung-3902895.html?seite=all
[9] http://www.fr.de/politik/groko-spd-will-werbeverbot-bei-abtreibung-streichen-a-1466373
[10] https://www.welt.de/politik/article174507544/Werbeverbot-fuer-Abtreibungen-GroKo-vertagt-Streit-um-Paragraf-219a-SPD-zieht-Antrag-zurueck.html

Paralyse der Kritik: Gesellschaft ohne Opposition?

Ein Kongress in Berlin zeigt, wie ein Teil der ehemaligen 68er-Bewegung mit dazu beigetragen hat, dass sich die Verhältnisse, gegen die man einst kämpfte, noch mehr stabilisierten

Studierende opponieren gegen den in Berlin lehrenden Historiker Jörg Baberowski, dem nicht nur von ihnen, sondern auch in einem Gastbeitrag in der linksliberalen Frankfurter Rundschau rechtslastiges Gedankengut vorgeworfen wird.

Eigentlich ist es doch sehr erfreulich, dass 50 Jahre nach 1968, zumindest einige Studierende nicht nur über diese Ereignisse resümieren, sondern die damalige Parole „Unter den Talaren der Muff von Tausend Jahren“ heute zu aktualisieren versuchen. Dass die kritischen Studierenden von den konservativen Medien, FAZ und Welt verurteilt werden, ist nicht verwunderlich.

Diese Zeitungen haben auch vor 50 Jahren wütend auf diejenigen reagiert, die damals die Parole propagierten. Verwunderlicher ist dann schon, dass die grünennahen Taz, die ja immer ihre Nähe zur 1968er-Bewegung herausstellt, ganz klar Front gegen die Kritiker Baberowski macht und ihn in einen langem Artikel als Opfer linker Ideologen hinstellt. Das ist ein gutes Beispiel für die „Paralyse der Opposition“.

So beschrieb Herbert Marcuse 1968 die Gesellschaft in der BRD. Die Neue Gesellschaft für Psychologie, ein Kreis von Sozialwissenschaftlern, die sich selbst in der Tradition von 1968 sehen, hat auf ihrem diesjährigen Kongress, der am vergangenen Wochenende in Berlin zu Ende gegangen ist, Marcuses Verdikt auf die heutige Zeit übertragen. Auch seine Aufforderung „Weitermachen“ wollen sie in die heutige Zeit übernehmen.

Entkollektivierung und Prekarisierung und welchen Anteil die 68er daran hatten

Dabei übersehen sie die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens nicht, wie das Programm ausweist:

Gleichzeitig müssen wir berücksichtigen, dass und wie sich die Welt (der Kapitalismus) seit der Verweigerungsrevolte von ’68 verändert hat – Stichwörter: Entkollektivierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in ihrer gesamten sozialen Bandbreite, Unterwerfung von Wissenschaft, Bildung und Gesundheitswesen unter das direkte Diktat der Kapitalakkumulation, zerstörerische Aspekte der forcierten internationalen Arbeitsteilung und der globalen Zyklen seit 1971/73.

Aus dem Vorwort zum Konferenzprogramm

Die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Individuen wurden in verschiedenen Arbeitsgruppen veranschaulicht. So stellte die Erziehungswissenschaftlerin Andrea Kleeberg-Niepage Texte vor, in denen sich Jugendliche, eine Gymnasiastin und eine Hauptschülerin, der Frage widmen, was sie von der Zukunft erwarten.

Trotz vieler Unterschiede machte Kleeberg-Niepage eine Gemeinsamkeit fest: In beiden Texten fehlt jeder Hinweis auf eine Protesthaltung. Unzufriedenheit mit den Verhältnissen war zwar durchaus vorhanden, aber es herrscht die Vorstellung „wenn ich es nicht schaffe, ist es mein eigenes Verfehlen“. Gesellschaft wurde in den Schreiben nicht adressiert und so war es nur folgerichtig, dass es auch keine gesellschaftskritischen Gedanken gab. Aber es gab in den Schreiben auch keinen Hinweis auf die Vorstellung einer glücklichen Zukunft im Kapitalismus.

Vielmehr sahen sich die Schreiberinnen als Objekte blinder Mächte und die einzige Möglichkeit, die sie haben, ist, sich zu arrangieren und das Beste daraus zu machen. Es wäre interessant gewesen, diese Ergebnisse mit Befragungen von Jugendlichen in der DDR zu kontrastieren.

Ein Beispiel ist das Langzeitfilmprojekt „Die Kinder von Golzow“, in dem eine Landschulklasse ab 1961 filmisch begleitet wurde. Die Hoffnungen, Wünsche und Ängste der Menschen kamen zu Sprache. Auch beim Bankett der 500 Träumer, einem Preisausschreiben in der DDR im Jahr 1970 sollen sich Jugendliche die Welt im Jahr 2000 vorstellen. Man kann heute darüber spotten, aber man kann sich auch darüber Gedanken machen, warum die Jugendlichen damals weniger Zukunftsangst hatten, weniger das Gefühl, dass „blinde Mächte“ über ihr Schicksal bestimmen, als heute.

Wie aus dem Individualismus der Egotrip wurde

Eine Stärke des Kongresses bestand dahin, dass immer wieder auch die Frage gestellt wurde, wie Akteure der 1968er -Bewegung, den Kapitalismus mit stabilisieren halfen, anfangs oft gegen ihren Willen. So hat der Historiker Karl-Heinz Roth in seinem Vortrag dargelegt, wie die Betonung des Individuums zum „Egotrip“ und zum „Selfismus“ geriet und auch die Funktion veränderte.

Anfangs stärkte die Betonung der Individualität den Widerstand gegen die Verhältnisse, die die Menschen auch persönlich nicht mehr aushalten wollten. Doch der heutige Selfismus verhindert jede Solidarität. Roth vermied wie die meisten anderen Referentinnen und Referenten allerdings moralische Kritik. Man verwies auf die massive Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Karl-Heinz-Roth erklärte, dass er selber als „bekannte rote Socke“ mit dicker Verfassungsschutzakte immer sofort einen Job als Assistenzarzt bekommen hat. Mit der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse hingegen sei die Angst wieder das beherrschende Gefühl vieler Menschen geworden; doch Angst mobilisiere in der Regel nicht, sondern lähme.

Kritik der repressiven Toleranz

Einen wichtigen Aspekt haben Julia Plato und Falk Sickmann in ihrer Beschäftigung mit Slavoj Žižeks Toleranzbegriff angesprochen: Teile der Restlinken haben sich zum Wurmfortsatz des Liberalismus gemacht.

In den USA hat dies zum Aufstieg und zur Wahl von Trump entscheidend beigetragen – und nicht die angeblichen russischen Hacker, die gerade von den liberalen Kreisen ins Feld geführt werden. Sie wollen natürlich vermeiden, dass ihre Rolle bei dem Wahlergebnis diskutiert wird.

Plato und Sickmann haben dann noch zu Illustration ihrer „Kritik der repressiven Toleranz“ ein Foto vom Eingang eines angesagten Cafés in einem Berliner Szenebezirk eingeblendet, wo eine Tafel verkündete, dass Rassismus, Antisemitismus und Homophobie nicht akzeptiert werden. Eine Zeile darüber wurden Zahlungsmittel und -arten aufgelistet, die akzeptiert werden. Eine wahrscheinlich alltägliche Hinweistafel.

Die meisten Menschen nehmen je nach Gesinnung mit Freude oder Wut zur Kenntnis, was in der Lokalität nicht akzeptiert wird. Dass die Grundlage erst einmal der Besitz von Bargeld oder Kreditkarten ist, wird gar nicht besonders wahrgenommen, weil das eben zum Wesen des Kapitalismus gehört. Dass die Referenten genau dieses Schild als Exempel für eine repressive Toleranz nahmen, war gut gewählt.

So leistete der Kongress Aufklärung über den Zustand unserer Gesellschaft und der von vor 50 Jahren. Nur hätte man bei dem Titel „Deutschland ohne Opposition“ ein Fragezeichen setzen sollen. Denn es gibt im gegenwärtig in Deutschland durchaus eine Opposition – die aber steht rechts.

Die Vorstellung, dass Opposition immer staats- und kapitalismuskritisch sein muss, stimmt schon längst nicht mehr Aber das wäre unter Umständen ein Thema für den nächsten Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie. Das in einem ideologiekritischen Brief befürchtete Abtriften des Kongresses in Antiamerikanismus und Verschwörungstheorien hat sich beim diesjährigen Programm zum Glück nicht feststellen lassen.

Die Unterzeichner kritisieren einige Interviewäußerungen eines federführend für den Kongress verantwortlichen Wissenschaftlers. Es wäre wünschenswert, wenn beim nächsten Kongress eine kritische Debatte über die Streitpunkte auf einer wissenschaftlichen Basis möglich wäre.

https://www.heise.de/tp/features/Paralyse-der-Kritik-Gesellschaft-ohne-Opposition-3990642.html

Peter Nowak
RL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3990642

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/geosteuropas/personen/1683840
[2] http://www.fr.de/wissen/joerg-baberowski-die-selbstinszenierung-eines-rechten-a-1294450
[3] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/der-diffamierte-joerg-baberowski-erhaelt-beistand-14960798.html
[4] https://www.welt.de/geschichte/article163535334/Linksextremisten-wollen-nichts-verstehen-sondern-denunzieren.html
[5] http://www.taz.de/!5485962/
[6] https://www.ngfp.de/
[7] https://www.ngfp.de/wp-content/uploads/2017/12/GoO_Programm.pdf
[8] https://www.ngfp.de/wp-content/uploads/2017/12/GoO_Programm.pdf
[9] https://www.uni-flensburg.de/psychologie/wer-wir-sind/personen/andrea-kleeberg-niepage/
[10] http://www.kinder-von-golzow.de/
[11] https://www.hoferichterjacobs.de/produktionen/das-bankett/
[12] https://www.tagesspiegel.de/politik/vor-30-jahren-ertraeumten-sich-einige-ddr-jugendliche-das-jahr-2000/116046.html
[13] http://www.stiftung-sozialgeschichte.de/joomla/index.php/de/publikationen/literaturlisten-2/101-karl-heinz-roth
[14] http://www.falksickmann.de/
[15] http://www.zeit.de/2016/18/slavoj-zizek-kapitalismus-der-neue-klassenkampf
[16] http://critpsych.blogspot.de/2017/12/offener-brief-die-neue-gesellschaft-fur15.html

»Doppelmoral der Verfolgungsbehörden«

Am 20. Februar stürmten mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten ein selbstverwaltetes Tagungshaus im Wendland. Sie beschlagnahmten ein Transparent mit der Aufschrift »Afrin halte durch – Türkische Truppen & deutsche Waffen morden in Rojava – Es lebe die YPJ/YPG«. Die »Jungle World« hat mit Hans-Erich Sauerteig gesprochen. Er gründete das autonome Tagungshaus 1980 mit und ist bis heute dort aktiv.

Small Talk mit Hans-Erich Sauerteig vom autonomen Tagungshaus Gasthof Meuchefitz


Warum solidarisiert sich ein Tagungshaus im Wendland mit kurdischen Gruppen?

Das Tagungshaus wurde 1980 gegründet und war schnell Anlaufpunkt für die autonomen Linken aus Westberlin und Hamburg. Wir sahen uns von Anfang nicht nur als Teil der Anti-AKW-Bewegung, sondern ebenso als Teil der Antifa. Im vergangenen Jahr unterstützten wir den G20-Widerstand. Außerdem betrachten wir das, was in Rojava seit mehreren Jahren aufgebaut wird, als einen unterstützenswerten Gegenentwurf zu kapitalistischen, diktatorischen ­Regimes dort wie hier.

Dann war es wohl am 20. Februar nicht die erste Razzia?
Nein, wir waren immer mit Razzien konfrontiert und gegen uns wurde auch schon nach dem Terrorparagraphen 129a ermittelt.

Wie reagierten die Nachbarn im Wendland darauf?
Durch den seit über 35 Jahren andauernden Anti-AKW-Widerstand gibt es im Landkreis eine starke progressive Bevölkerung, die viel polizeiliche Repression erfahren musste. Dort bekamen wir viel Solidarität. Die Leute erklärten uns, sie verstünden die Welt nicht mehr, als sie von dem großen Polizeiaufgebot wegen eines Transparents erfuhren. Auch die Kritik an den deutschen Rüstungsexporten teilen viele Menschen. Schon kurz nach der Razzia beteiligten sich 150 Menschen an einer Spontandemonstration, die von der Polizei eingekesselt wurde. Die Linkspartei und sogar die Grünen haben die Razzia verurteilt. Mittlerweile wurden in der Region drei Transparente mit der gleichen Parole aufgehängt. Sie wurden bisher von der Polizei nicht beschlagnahmt.

Und was hängt jetzt an Ihrem Tagungshaus?
Bei uns hängt jetzt ein Transparent mit der Aufschrift »Freiheit für Opa, Weg mit dem KPP-Verbot. Es lebe die Buchstabenkombination«. Auf der Demonstration trugen wir die Parole »Meuchefitz und die USA – Seite an Seite«. Damit wollten wir auf die Doppelmoral der Verfolgungsbehörden hinweisen, wenn es darum geht, hiesige Linke und die kurdische Solidaritätsbewegung zu kriminalisieren. Die Ironie dieses Plakates haben leider nicht alle verstanden. Selbst die hiesige regionale Elbe-Jeetzel-Zeitung sah ein Weltbild zerfallen.

Dann scheint Ihnen die Razzia eher genutzt zu haben?
Wenn es Absicht des im Wendland seit langem übereifrigen Staatsschutzes gewesen sein sollte, die autonome Linke im Wendland und die Solidarität mit Afrin zu isolieren, so ist das gründlich misslungen. Die Regionalzeitungen haben lange Berichte gedruckt und dort auch unsere Argumente dargestellt. Sie zitierten aus unseren Flugblättern über die Rolle deutscher Waffen in dem Konflikt. So viel Aufmerksamkeit hätten wir alleine mit unseren Flugblättern nie erreicht.

Wie ist der Kontakt zur kurdischen Linken?
Im Landkreis wurde ein Afrin-Solidaritätskomitee mit kurdischen Frauen und Männern gegründet und wir stehen mit kurdischen ­Solidaritätsgruppen in Hamburg in Kontakt. Auch zu einigen der wenigen kurdischen Familien, die im Wendland leben, gab es Kontakt. Einige versucht man mit der Behauptung einzuschüchtern, sie würden sich mit deutschen Linksterroristen einlassen.

https://jungle.world/artikel/2018/10/doppelmoral-der-verfolgungsbehoerden
Interview: Peter Nowak

Nordsee vor Deliveroo

Online-Abstimmung über schlimmsten Unionbuster

Derzeit laufen die Planungen für die nächste Protestaktion gegen ein Unternehmen, das Betriebsräte behindert. Eine Initiative fordert härteres Durchgreifen der Staatsanwaltschaften.

Am Freitag, den 13. April, wird es Ärger geben: An diesem Tag könnte der britische Essenskurier Deliveroo, der Flughafensicherheitsdienst I-Sec oder die Imbisskette Nordsee Besuch von kritischen Gewerkschaftern bekommen. Die drei Unternehmen sind von der Initiative aktion./.arbeitsunrecht nominiert worden, weil sie durch die Behinderung von Betriebsräten negativ aufgefallen sind. Bis 15. März können Interessierte im Internet noch darüber abstimmen, wer Ziel des Protests werden soll. Im Moment liegt Nordsee vorne, dicht gefolgt von Deliveroo.

Immer dann, wenn der 13. eines Monats auf einen Freitag fällt, organisiert die Initiative mit Sitz in Köln gemeinsam mit einem Netzwerk engagierter Gewerkschafter_innen eine Aktion gegen »Unionbusting«. Das Wort, das aus den USA stammt, hat sich für den organisierten Kampf gegen Betriebsräte mittlerweile auch in Deutschland eingebürgert. Der Fischrestaurantkette Nordsee, die zur Unternehmensgruppe Theo Müller gehört, wirft die Arbeitsrechtsinitiative vor, langjährige Betriebsratsmitglieder kurz vor den Betriebsratswahlen zu leitenden Angestellten befördert zu haben. Dadurch können sie sich nicht mehr zur Wahl stellen.

Das I-Sec-Management hat sich durch die Kündigung von drei Betriebsräten für einen Besuch qualifiziert. Mittlerweile seien mehrere Hausverbote gegen sie ausgesprochen worden, um den Kontakt zur Belegschaft zu unterbinden. Auch der Widerstand gegen die Entlassungen soll sanktioniert werden. Der auf Unionbusting spezialisierte Arbeitsrechtler Walter Naujocks verklagte den gekündigten Betriebsratsvorsitzenden und seinen Stellvertreter auf Schadenersatz in Millionenhöhe. Ihr Protest gegen die Kündigungen soll dem Unternehmen geschadet haben.

Dem Management von Deliveroo wiederum wird vorgeworfen, in Köln eine Betriebswahl gezielt sabotiert zu haben, indem die Zahl der Festangestellten reduziert und die Zahl der Selbstständigen erhöht wurde. Die Initiative moniert auch, dass die Deliveroo-App, mit der die Arbeit organisiert wird, so umgestellt wurde, dass die Beschäftigten nicht mehr untereinander, sondern nur noch mit ihrem Schichtkoordinator Kontakt aufnehmen konnten. In Berlin forderte die Freie Arbeiter Union bisher vergeblich einen Tarifvertrag.

Die nächste Freitagsaktion fällt mitten in die bundesweiten Betriebsratswahlen, die alle vier Jahre stattfinden. »Bei keiner Wahl in Deutschland werden demokratische Grundrechte so mit Füßen getreten wie bei Betriebsratswahlen«, sagt der Sprecher der aktion./.arbeitsunrecht, Elmar Wiegand. Dennoch werde nur selten darüber berichtet, kritisiert seine Mitstreiterin Jessica Reisner. Das vergleichsweise große Medieninteresse an dieser Abstimmung hat mit dem Versuch der AfD zu tun, eine rechte, unternehmerfreundliche Konkurrenz zum DGB aufzubauen. Die Initiative aktion./.arbeitsunrecht richtet dagegen den Fokus auf die alltägliche Behinderung von Betriebsratsarbeit und kritisiert »die skandalöse Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden«. In Hessen hat sie nun eine Unterschriftensammlung gestartet. Damit wird die Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert, dafür zu sorgen, dass Betriebsratsbehinderung nicht länger straffrei bleibt. Anlass sind aktuelle Fälle am Frankfurter Flughafen.

aus Neues Deutschland: 9.3.2018

Peter Nowak

Ist die AfD ein Fall für den Verfassungsschutz?

Für den Kampf gegen rechts ist eine Bundeslöschstelle jedenfalls genau so untauglich wie die Verfassungsschutzämter

Der AfD-Vorsitzende von Brandenburg, Andreas Kalbitz, war vor 11 Jahren Teilnehmer eines Zeltlagers der neonazistischen Heimattreuen Jugend. Zwei Jahre später wurde sie verboten.

In der AfD sorgen solche Meldungen heute nicht mehr für große Aufregung. Schließlich hatte ein Teil ihres Personals schon Kontakt mit anderen rechten Gruppen gehabt. Doch könnte der Verfassungsschutz zumindest Teile der AfD beobachten. Die Forderung ist nicht neu, wird aber in den letzten Tagen mit größerer Intensität diskutiert.

Auch Landesverfassungsschutzämter drängen darauf, die AfD zu überwachen. Das ist nicht verwunderlich, schließlich wollen die Dienste ihre Unentbehrlichkeit vorführen und das können sie am besten, wenn sie neue Aufgabenfelder gerieren.

Der Verfassungsschutz braucht immer Anlässe, damit eine beträchtliche Zahl von Menschen eine Überwachung akzeptiert oder sogar fordert. Prompt stellt den Verfassungsschutz niemanden mehr in Frage.

Verfassungsschutz auflösen oder neue Aufgaben geben?

Dabei sah es nach der Selbstaufdeckung des NSU mal so aus, als könnte es ernst werden, mit der Abwicklung der Dienste. Schließlich waren die ja sehr nah dran an den NSU-Kadern, die trotzdem über ein Jahrzehnt in der ganzen Republik morden konnten. Oder gerade deswegen? Diese Frage ist noch offen und dürfte ungeklärt bleiben.

Damals sagten sich viele, warum weiter Geld ausgeben für Verfassungsschutzämter, die keinen Deut zur Aufklärung der neonazistischen Mordserie beigetragen hatten. Mittlerweile sind die Dienste auch bei einer jahrelangen rechten Terrorserie in Berlin-Neukölln in die Kritik geraten.

Obwohl der Täterkreis sehr gute Kenntnis der Neuköllner Situation haben muss, wurde bisher keine heiße Spur gefunden. Nun vermuten selber einige der von dem Terror betroffenen Neuköllner Sozialdemokraten, dass die Geheimdienste eher dafür verantwortlich sind, dass die Taten nicht aufgeklärt werden. So heißt es in der Taz:

Christiane Schott und Mirjam Blumenthal gehören zu denen, bei denen diese Beunruhigung am weitesten geht. Sie glauben nicht mehr daran, dass es hier nur um Versäumnisse geht, um unbeabsichtigte Fehler. „Natürlich bin ich keine Expertin für Polizeiarbeit, aber ich kann mir all diese Dinge nicht erklären. Und die Polizei hat sie mir bislang auch nicht erklären können“, sagt Blumenthal. Schott sagt es noch deutlicher: „Aus meiner Sicht wird das absichtlich kleingehalten.“

Blumenthal verweist auf mögliche Verbindungen zum NSU: Auf dessen Liste potenzieller Anschlagsziele standen auch die Falken Neukölln. Auch diese waren schon in den neunziger Jahren im Fokus rechter Gewalt. Einer der Täter damals: der Neuköllner Neonazi Carsten Szczepanski, später als V-Mann „Piatto“ im engsten Umfeld des NSU. Zwischen den Tätern von damals und den möglichen Tätern von heute gibt es personelle Verbindungen: Einige der Neonazis, die Anfang und Mitte der neunziger Jahre aktiv waren, gelten als politische Ziehväter derjenigen, die heute zum Kreis der Neuköllner Rechtsextremisten zählen.

Taz

Nun könnte man das alles als unbewiesene Verschwörungstheorien abtun. Zumal im Taz-Artikel leider ein Opfer des rechten Terrors in Neukölln ganz vergessen wurde: der vor 6 Jahren erschossene Burak B. Auch sein Mörder wurde bis heute nicht gefunden. Doch die rechte Terrorserie zeigt einmal mehr, dass ein Verfassungsschutz für die Aufklärung überflüssig, ja sogar kontraproduktiv ist.

Es geht darum, die diskreditierten Dienste zu rehabilitieren

Mittlerweile haben sich die Dienste umstrukturiert. Nach dem 11.9.2001 haben sie den Islamismus, nach den Protesten gegen G20 auch wieder die radikale Linke, als Beobachtungsobjekt auserkoren und jetzt vielleicht Teile der AfD. Nur sollten jetzt die Linken bloß nicht in die Falle tappen und da Zustimmung signalisieren, wenn die Rechten überwacht werden.

Man kann nicht gestern die Auflösung der Dienste fordern und heute die AfD-Überwachung begrüßen. Wer da zustimmt, hat den Verfassungsschutz akzeptiert und das ist der Hauptzweck der Übung.

Es geht darum, die gesellschaftlich diskreditierten Dienste wieder zu rehabilitieren. Um die Verankerung der AfD im rechten Lager zu erkennen, braucht es keinen Verfassungsschutz Das ist eine sehr öffentliche Veranstaltung. Wenn aktuell der AfD-Politiker vom völkischen Flügel, Andre Poggenburg, den AfD-Vorsitz in Sachsen-Anhalt aufgibt, liegt das an eher an parteiinternen Querelen, aber nicht an einer generellen Ablehnung seiner Positionen in der Partei.

Wahrscheinlich wird sein Nachfolger vom gleichen rechten Flügel kommen. Trotzdem zeichnet der rechtskonservative Politologe Werner Patzelt in einem Deutschlandfunk-Interview schon die Schimäre einer seriösen Rechten, die sich von den Teilen der Rechten abheben sollen, die nicht koalitionsfähig sind.

Nicht nur Patzelt und Co., auch viele andere Konservative, rechnen sich schon aus, wann sie mit der AfD zusammenarbeiten können. In Thüringen hat die CDU sogar einen Poggenburg mit in ein Gremium des Landtags gewählt, dass den sogenannten Linksextremismus untersuchen soll. So soll die Drohung mit einer Teilüberwachung der AfD durch den Verfassungsschutz auch dazu beitragen, dass sich die „seriöse“ Rechte durchsetz und die AfD koalitionsfähig wird.

„Sie müssen niemandem Bericht erstatten“

Doch nicht nur die Verfassungsschutzämter, auch ihre zivilgesellschaftlichen Zuarbeiter sollten kritisch beobachtet werden. Sie operieren mit gut klingenden Gummibegriffen wie Respekt und Demokratie, sind niemandem rechenschaftspflichtig und werden von niemandem kontrolliert.

Dabei greift die Arbeit dieser Demokratiezentren in die Meinungsfreiheit ein. Sie entscheiden, was im Internet hatespeech ist und nicht nur gelöscht, sondern auch juristisch sanktioniert werden muss. Was dafür notwendig ist, erklärt der dafür zuständige Stephan Ruhmannseder gegenüber der Taz:

Ich bin keine Ermittlungsbehörde. Meine Arbeit könnte theoretisch jeder an seinem Schreibtisch verrichten. Jedenfalls, sofern er bereit ist, sich in die Thematik einzuarbeiten.

Stephan Ruhmannseder

Überhaupt fällt auf, dass sich Ruhmannseder wenig Gedanken über die Problematik seines Jobs macht, die mit staatlichen Geldern arbeitet: „Kann man eigentlich von einer halbstaatlichen Organisation sprechen? Stephan Ruhmannseder zuckt mit den Schultern.“… Wäre es nicht gerade eine wichtige Frage, ob eine halbstaatliche Stelle mit der Attitüde einer NGO in die Meinungsfreiheit eingreift? Doch wozu sollte sich Ruhmannseder da Gedanken machen? Schließlich schreibt der Taz-Reporter:

Einen politischen Beschluss zur Gründung der Meldestelle gab es nicht – weder parlamentarisch noch ministerial noch nachrangig. Darauf legen sie hier Wert: Sie haben sich das selbst überlegt. Weil sie etwas machen wollten. Sie müssen niemandem Bericht erstatten.

Taz

Wie mit dem Begriff Hass jede Debatte entpolitisiert wird

Das ist aber dem Taz-Journalisten keinesfalls Anlass für eine kritische Nachfrage: „Stephan Ruhmannseder arbeitet für die Meldestelle ‚respect!‘, einer Anlaufstelle, der jeder Hass im Internet melden kann“, heißt es ohne eine kritische Nachfrage. Hass im Internet? Kann mit diesem Gummiparagraph nicht jede gesellschaftliche Äußerung, die die wohltemperierten Pfade eines Kamindialogs mit Jakob Augstein verlässt, darunter fallen?

In Spanien zeigt sich, wie Rapper zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, weil sie angeblich Hass gesungen hätten. Es wird nicht lange dauern, bis streikende Arbeiter Probleme bekommen, wenn sie ihre Chefs Ausbeuter nennen und damit womöglich „Klassenhass“ säen.

Wenn jetzt Linke so geschichtslos ebenfalls bei der großen Absage an den Hass mitmachen und Übertritte verfolgen, müssen sie auch manche populären Liedtexte aus der Punk-Ära auf den Index setzen. Es gab nämlich eine Zeit, da war Hass durchaus als legitime Reaktion auf eine unvernünftige Gesellschaft angesehen. Gibt es auch heute noch genug Gründe für Wut und Hass?

Warum werden solche Gummibegriffe wie Hass verwendet und nicht Dinge beim Namen genannt, seien es Rassismus, Antisemitismus oder welche menschenfeindliche Ideologe auch immer. Da kann man politisch diskutieren, ob die Vorwürfe zutreffen oder nicht. Der Begriff Hass ist aber gefühlsbeladen und völlig entpolitisierend. Ziemlich weit unten in dem langen Beitrag stellt sich der TAZ-Reporter doch noch einige grundsätzliche Fragen:

Aber darf man das eigentlich? Einfach mal eine Organisation gründen, die verdächtige Internet-Einträge sammelt, weiterleitet – und sich dafür regelmäßig mit der Polizei trifft? Und sich diese Arbeit mit öffentlichen Geldern finanzieren lässt? Die Antwort aus rechtlicher Perspektive ist ziemlich simpel, sie lautet: Warum nicht? Aber bei der Meldestelle finden sie außerdem: Man darf nicht einfach nur, sondern man muss. „Es wäre einfach wünschenswert, wenn wir nicht die einzige solche Clearingstelle wären, sondern es viele davon gäbe. Und das kann dann gerne von ganz anderen Leuten ausgehen“, sagt Stephan Ruhmannseder.

Taz

Auch hier wieder fällt auf, wie unkritisch Ruhmannseder seine Arbeit betrachtet. Da wäre doch ein „Muss man wirklich?“ angebracht und zumindest die Forderung nach externer Kontrolle. So viel Selbstkritik sucht man hier vergeblich. Für den Kampf gegen rechts ist eine solche Bundeslöschstelle jedenfalls genau so untauglich wie die Verfassungsschutzämter.

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https://www.heise.de/tp/features/Ist-die-AfD-ein-Fall-fuer-den-Verfassungsschutz-3989478.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.demokratie-leben.de/wissen/glossar/glossary-detail/heimattreue-deutsche-jugend-hdj.html
[2] http://www.rp-online.de/politik/deutschland/verfassungsschutz-laender-draengen-auf-afd-beobachtung-aid-1.7440006
[3] http://www.taz.de/!5487020/
[4] http://www.taz.de/!5487020
[5] http://www.taz.de/!5487020/
[6] http://burak.blogsport.de/
[7] http://wjpatzelt.de
[8] https://player.fm/series/interview-deutschlandfunk/interview-mit-werner-patzelt-politologe-afd-vor-richtungsentscheid
[9] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-andre-poggenburg-leitet-kommission-des-landtags-zu-linksextremismus-a-1196215.html
[10] http://www.demokratiezentrum-bw.de/demokratiezentrum/aktuelles/artikel/25098/
[11] http://www.taz.de/!5485709/
[12] http://www.taz.de/!5485709/
[13] http://www.taz.de/!5485709/
[14] https://jungle.world/artikel/2018/09/terror-koks-und-katalanen
[15] http://www.taz.de/!5485709/

Taxi-AG fordert Mindestlohn


Organisierte FahrerInnen protestieren gegen schlechte Arbeitsbedingungen

«Schluss mit dem Lohndumping im Taxi-Gewerbe» steht auf dem Banner, dass Mitglieder der Taxi-AG der Gewerkschaft ver.di am Mittwoch vor der Senatsverwaltung für Verkehr, Umwelt- und Klimaschutz aufgespannt haben. Die TaxifahrerInnen haben sich dort zur Mahnwache versammelt, um auf ihre prekären Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen. «Viele Betriebe zahlen den gesetzlichen Mindestlohn nicht. Standzeiten an Halteplätzen werden als vermeintliche Pausen deklariert und nicht bezahlt», beschreibt Taxifahrer Andreas Komrowski die schlechten Arbeitsbedingungen in der Branche.

Die neuen Taxameter würden nach wenigen Minuten automatisch auf Pause schalten, ergänzt sein Kollege Klaus Meier. Obwohl mittlerweile ein Gerichtsurteil diese Praxis für rechtswidrig erklärt hat, habe sich an den schlechten Arbeitsbedingungen nichts geändert, sagt Ramazan Bayram, von der Berliner Initiative gegen Arbeitgeberunrecht (BAGA) dem «nd». «Wir unterstützen die KollegInnen, weil hier unter den Augen des Senats Lohndumping begangen wird», erklärt er.
Der Pressesprecher des Verkehrssenats Matthias Tang erklärt auf Anfrage: „Die Umsetzung bzw. Überwachung des Mindestlohns liegt nicht in der Zuständigkeit von der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Hier sind wir auf Zuarbeit des etwa des Zolls angewiesen. Unsere Aufgabe ist Anwendung der personenbeförderungsrechtlichen Vorschriften. Jeder Unternehmer, der die Vorgaben des Personenbeförderungsgesetzes und der dazu erlassenen Verordnungen erfüllt, hat einen Anspruch auf Erteilung der Taxigenehmigung. Zu versagen ist die Genehmigung insbesondere etwa dann, wenn dem Unternehmer die Fachkunde oder die finanzielle Leistungsfähigkeit fehlen oder wenn Tatsachen vorliegen, die die Unzuverlässigkeit des Unternehmers begründen. Das kann unter anderem bei schweren Verstößen gegen arbeitsrechtliche oder sozialrechtliche Pflichten der Fall sein. Dann prüft das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (Labo), ob eine Genehmigung zu versagen oder zu entziehen ist. Dazu können auch Verstöße gegen die Bestimmungen des Mindestlohns gehören. Es ist aber nicht Aufgabe des Labo, mögliche Verstöße gegen den Mindestlohn selbst zu ermitteln. Vielmehr ist es auf Erkenntnisse anderer Behörden angewiesen, etwa des Zolls.“
Die gewerkschaftlich organisierten TaxifahrerInnen fordern einen Gesprächstermin beim zuständigen Verkehrssenat. Sie wollen erreichen, dass weitere Taxikonzessionen nur an Firmen vergeben werden, die den Mindestlohn für ihre Beschäftigten einhalten. Auch über die Festlegung des Beförderungstarifs wollen sie mit Verkehrssenatorin Regine Günter (parteilos, für Grüne) diskutieren.

Die Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Arbeit bestätigt dem «nd», dass ihre Behörde die Forderungen unterstützt. Man habe es auch abgelehnt, die Dokumentationspflicht für das Taxigewerbe auszusetzen. Doch die Taxi-AG ist vor allem über den Verkehrssenat enttäuscht. Dabei führen die prekären Arbeitsbedingungen auch zu Unfallrisiken, erläutert Komrowski. «Viele Fahrer müssen wegen der schlechten Einnahmen Überstunden machen und fahren dann auch mal übermüdet. Das kann zu Unfällen führen. So ruinieren sie ihre Gesundheit und die der Fahrgäste.» Dieser zerstörerische Wettbewerb müsste eigentlich für die Politik Anlass sein, regulierend einzugreifen, heißt es.
Dass sich am Mittwoch nur fünf FahrerInnen zur Mahnwache eingefunden haben, erklärt sich Klaus Meier damit, dass viele Beschäftigte während der Tourismusmesse nicht auf Einnahmen verzichten wollen. Außerdem sei die Branche schwer zu organisieren. «Viele Kollegen hoffen über die Runden zu kommen, indem sie mit ihren Chefs Vereinbarungen schließen», erklärt ver.di-Aktivist Burckhardt Zitschke. Das mache eine gewerkschaftliche Gegenwehr oft schwierig. Doch die ver.di-AG kündigt für die kommenden Wochen weitere Mahnwachen und Proteste an. Am 21. April will sich die Taxi-AG mit weiteren gewerkschaftlich organisierten Prekären zu einer Kundgebung vor dem Roten Rathaus treffen.

Burkhardt Zitschke sieht noch eine andere Möglichkeit, wie sich die TaxifahrerInnen gegen schlechte Arbeitsbedingungen wehren können. Er arbeitet an einer App, die von den KollegInnen selbst verwaltet wird. Diese sei allerdings noch in der Erprobungsphase. In London ist eine solche von den FahrerInnen verwaltete App seit einigen Monaten schon in Betrieb. Das würde die Position der TaxifahrerInnen gegenüber ihren Chefs verbessern. Die Taxi-AG werde damit aber nicht überflüssig, betont Komrowski.

Technische Lösungen könnten einen solidarischen Kampf nicht ersetzen. Für die nächsten Proteste wollen sie auch FahrradkurierInnen ansprechen, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen und sich in der Freien Arbeiter Union (FAU) organisiert haben. Für die Taxi-AG kein Hinderungsgrund für eine Zusammenarbeit. «Die Probleme der Kuriere mit Dumpinglöhnen und Kontrolle sind ähnlich wie bei uns, sagt Zitschke.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1081719.taxi-ag-fordert-mindestlohn.html

Peter Nowak

Taxameter automatisch auf Pause

Mahnwache von TaxifahrerInnen gegen prekäre Arbeitsbedingungen und Lohndumping

„Kein Lohndumping im Taxigewerbe“ stand auf dem Banner, dass Mitglieder der Taxi-AG der Gewerkschaft Verdi am Mittwoch vor der Senatsverwaltung für Verkehr, Umwelt- und Klimaschutz aufgespannt hatten. Die gewerkschaftlich organisierten TaxifahrerInnen hatten sich…

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Armut bekämpfen, statt Arme auszuspielen

Ein Bündnis von sozialen Initiativen fordert offensive Sozialpolitik

Nach dem vorläufigen Aufnahmestopp von Menschen ohne deutschen Pass bei der Essener Tafel (Wenn die „deutsche Oma“ gegen Arme ohne deutschen Pass ausgespielt wird) gab es viel Kritik aber auch Verständnis für die Maßnahme. Selbst Merkel meinte, sich dazu äußern müssen, und auch der Faschismusvorwurf wurde erhoben.

Bevor Ermüdungserscheinungen eintreten, bekam die Diskussion jetzt noch mal eine erfreuliche neue Richtung. Ein Bündnis von sozialen Initiativen initiierte einen Aufruf für einen Wandel der Sozialpolitik.

Dass Menschen, egal welcher Herkunft, überhaupt Leistungen der Tafeln in Anspruch nehmen müssten, sei Ausdruck politischen und sozialstaatlichen Versagens in diesem reichen Land, heißt es in der Erklärung, die u.a. vom DGB, der Nationalen Armutskonferenz, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem Sozialverband VdK Deutschland, dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter, dem Deutschen Kinderschutzbund, der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe und PRO ASYL unterzeichnet wurde.

„Sozialstaatliche Leistungen müssen dafür sorgen, dass für alle hier lebenden Menschen, gleich welcher Herkunft, das Existenzminimum sichergestellt ist. Es ist ein Skandal, dass die politisch Verantwortlichen das seit Jahren bestehende gravierende Armutsproblem verharmlosen und keine Maßnahmen zur Lösung einleiten. Damit drohen neue Verteilungskämpfe“, heißt es in dem Aufruf.

Damit werden die Verantwortlichen für die Misere genannt und dabei weder die unterschiedlichen Nutzer der Tafeln noch die Initiatoren der Tafeln verurteilt, sondern eine Politik, welche die Verarmung großer Teile der Bevölkerung in Kauf nimmt, was die „Vertafelung der Gesellschaft“ überhaupt nötig macht.

„Sozialpolitische Reformen der vergangenen Jahre hatten immer das Ziel, Mittel einzusparen“, erklärte Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz. Reichen seien Steuergeschenke gemacht worden, gleichzeitig habe man die Leistungen für Bedürftige zusammengekürzt. In der Folge sei die Konkurrenz der Menschen um die Mittel verschärft worden.

Heute beklagt die Politik, die den Sozialabbau herbeigeführt hat, die Entsolidarisierung der Gesellschaft.

Barbara Eschen

Die Verarmungspolitik hat einen Namen: Hartz-IV

Die Organisatoren machen auch deutlich, dass die politisch gewollte Verarmungspolitik einen langen Vorlauf hat, aber in dem Hartz IV-Programm kulminiert.

Um überleben zu können, waren immer mehr Menschen auf die Tafeln angewiesen. Da ist es besonders zynisch, dass der Alt-Sozialdemokrat und Lobbyist Claus Schmiedel in einem Interview in der Wochenzeitung Kontext erklärt.

Mit der Agenda und Gerhard Schröder haben wir 2005 noch einmal ein prächtiges Ergebnis bei der Bundestagswahl eingefahren.

Claus Schmiedel

So wie Schmiedel denken wahrscheinlich viele in der SPD, nur nicht alle werden es so offen aussprechen. Wenn eine Spätfolge der Essener Tafeldebatte dazu führt, diese Verarmungspolitik und die dafür Verantwortlichen in den Fokus zu nehmen, dann wäre das sehr positiv. Es gäbe viele Gründe weiterhin gegen die Vertafelung der Gesellschaft zu protestieren.

Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit der Essener Tafel wurde immer wieder betont, man dürfe die Menschen, die ehrenamtlich helfen wollen, nicht kritisieren. Natürlich geht es nicht darum, ihren guten Willen infrage zu stellen. Was aber sehr wohl not tut, ist die Kritik an einem bürgerlichen Philanthropismus, der von den gesellschaftlichen Ursachen der Verarmung und Verelendung nicht reden will und die Betroffenen nur als Bittsteller ansieht, die für jeden Bissen dankbar sein soll.

Wie schon Karl Marx den bürgerlichen Philanthropismus scharf kritisierte, so ist das heute auch wichtig. Nur noch wenige Organisationen wie Medico International kritisieren einen solch paternalistischen Ansatz von Hilfe und propagieren dagegen eine Unterstützung, die Menschen zu Selbstbewusstsein und Widerstand ermutigt.

Warum nicht die Tafeln nutzen, um mit den Menschen gemeinsame „Zahltage“ in Jobcentern zu machen, um ihre Rechte einzufordern, damit sie genug Geld haben, um Produkte ihrer Wahl zu kaufen? So würden sich die Tafeln selber überflüssig machen und das müsste ihre vornehmste Aufgabe für alle Menschen sein, wenn die Arbeit bei der Tafel wirklich gesellschaftlich etwas bewirken und nicht nur Armut verwalten und regulieren will.

https://www.heise.de/tp/features/Armut-bekaempfen-statt-Armut-auszuspielen-3988098.html

Peter Nowak
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[2] http://www.der-paritaetische.de/presse/buendnis-fordert-offensive-sozialpolitik-
armut-jetzt-bekaempfen
[3] http://infothek.paritaet.org/pid/fachinfos.nsf/0/
9ef8993719d83ff7c1258248002ebedd/$FILE/180306_pk_erklaerung.pdf
[4] https://www.kontextwochenzeitung.de/politik/361/gottes-segen-haelt-4945.html
[5] http://www.aktionsbuendnis20.de/
[6] https://www.medico.de
[7] http://de.labournet.tv/video/5879/zahltag-jobcenter-neukolln

Anti-Antifa united


In Frankfurt am Main wollen Polizeigewerkschafter und extrem rechte Medien verhindern, dass eine antifaschistische Gruppe Räume des DGB nutzt. Diese Allianz gegen antifaschistisches Engagement hat eine Vorgeschichte.

»Gewerkschaft der Polizei stellt sich gegen Antifa«, freute sich das extrem rechte Internetportal PI News über eine Presseerklärung des hessischen Landesverbands der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Die GdP nahm die öffentliche Diskussion über die Vergabe von Räumlichkeiten im Frankfurter DGB-Haus an die »Antifa United Frankfurt« zum Anlass, um auf Distanz zu ihrem Dachverband, dem DGB Hessen-Thüringen, zu gehen.

Die im Rhein-Main-Gebiet aktive antifaschistische Gruppe hatte sich, wie auch andere linke Organisationen, bereits öfter im Jugendclub des Frankfurter DGB getroffen. »Bildet Banden, werdet Teil einer neuen linksradikalen Gruppe in Frankfurt« – unter dieser Überschrift stand die Einladung der »Antifa United«. Darüber echauffierte sich die GdP genauso wie über ein in der Einladung benutztes Foto, auf dem die abgebildeten Personen sich mit Masken unkenntlich gemacht hatten.

Sollte die GdP nun ihre weitere Mitgliedschaft im DGB zur Disposition stellen, dürften linke Gewerkschafter ihr keine Träne nachweinen. Denn es ist nicht das erste Mal, dass die Gewerkschaft gegen die Arbeit antifaschistischer Gruppen in DGB-Häusern vorgeht.

Dass die Antifagruppe im DGB-Haus allerdings für den militanten Straßenkampf trainieren wollte, konnte man dem Einladungstext ebenfalls entnehmen: »Zusammen lernt ihr ähnlich denkende Leute kennen, mit denen ihr eure politischen Ideen und Vorstellungen in einem von euch selbstbestimmten Raum diskutieren und umsetzen könnt«, versprach die Gruppe den Teilnehmern. Offene Diskussionen, das Kennenlernen verschiedener linker Strömungen und das Bemühen um einen »solidarischen, selbstreflektierten Umgang miteinander« scheinen für die GdP und ihre poltischen Freunde bereits eine gefährliche Staatsfeindlichkeit zu signalisieren.

In dem GdP-Statement heißt es: »Wer sich öffentlich vermummt zeigt, sich selbst als radikal bezeichnet und damit bekundet, dass er die Vorschriften des Versammlungsrechts ignoriert, steht aus unserer Sicht außerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und stellt den Rechtsstaat nicht nur in Frage, sondern fordert ihn bewusst heraus!« Dass dies von einer Gewerkschaft kommt, deren Mitglieder sich gerne vermummt und behelmt der Öffentlichkeit präsentieren, und die vehement gegen das Tragen von Erkennungsnummern protestiert, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Sollte die GdP nun ihre weitere Mitgliedschaft im DGB zur Disposition stellen, dürften linke Gewerkschafter ihr keine Träne nachweinen. Denn es ist nicht das erste Mal, dass die Gewerkschaft gegen die Arbeit antifaschistischer Gruppen in DGB-Häusern vorgeht. Erst vor wenigen Monaten versuchten GdP und die mit ihr konkurrierende Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG), bejubelt von rechtslastigen Medien und der AfD, einen antifaschistischen Kongress im Münchner DGB-Haus zu verhindern. Der DGB zog die bereits erfolgte Kündigung allerdings wieder zurück, nachdem die Kongressorganisatoren sich ausdrücklich von Gewalt distanziert hatten.

Auch bei der Einschränkung von demokratischen Rechten ist die GdP eine treibende Kraft. Sie setzt sich für den Abbau des Datenschutzes ein und fordert weitere Einschränkungen des Demonstrationsrechts, obwohl SPD und Union rechtszeitig vor dem G20-Gipfel den Straftatbestand des tätlichen Angriffs auf Polizeibeamte explizit herausgestellt haben.

Als empörend bezeichnete es der Hamburger GdP-Vorsitzende Gerhard Kirsch, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen die Anmelder der G20-Proteste eingestellt hat. Empört sind die Polizeigewerkschafter auch immer, wenn ihre eigenen Mitglieder ausnahmsweise einmal vor Gericht ­stehen. Doch es ist unwahrscheinlich, dass die alte linke Parole »Polizeigewerkschaft raus aus dem DGB« Realität wird. Ihre Präsenz im DGB kann als Zeichen für die vollständige Integration der Gewerkschaften in die Apparate des kapitalistischen Staates gelten.

https://jungle.world/artikel/2018/09/anti-antifa-united
Peter Nowak