»Prachttomate« fordert staatliche Rettung


Gemeinschaftsgarten hofft auf Unterstützung des Bezirks Neukölln, der das Grundstück kaufen soll

Bisher wurde das Vorkaufsrecht angewandt, um MieterInnen in Milieuschutzgebieten vor Verdrängung zu schützen. Nun fordern die NutzerInnen des Stadtteilgartens »Prachttomate« in Neukölln, das Vorverkaufsrecht auch zum Erhalt ihres Projekts anzuwenden. Vor einigen Wochen wurde ein Drittel des Areals verkauft, das die HobbygärtnerInnen bisher genutzt haben. Eine Baugruppe plant dort ein fünfstöckiges Gebäude mit Eigentumswohnungen. Ein Teil des Areals soll der »Prachttomate« weiter für ihr Urban-Gardening-Projekt zur Verfügung stehen. Doch damit sind Hobbygärtner Thomas Herr und seine MitstreiterInnen gar nicht einverstanden. »Wenn die bisherige Planung umgesetzt wird, könnte die «Prachttomate» ein kleiner Hinterhofgarten umgeben von Eigentumswohnungen werden, befürchtet Herr. Die GärtnerInnen sind mit einen anderen Vorschlag an die Öffentlichkeit gegangen.

«Der Garten liegt in dem Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße. Damit hat der Bezirk die Möglichkeit, das Vorkaufsrecht auszuüben, um die Versorgung des Gebietes mit sozialer, kultureller und sportlicher Infrastruktur sicherzustellen», sagt Herr dem «nd». Schließlich werde auf dem Gelände nicht nur gesät und geerntet. Es gibt einen Tausch- und Schenkmarkt, Workshops für Kinder aus benachbarten Schulen, und die Filmveranstaltungen im Open-Air-Kino stoßen auf viel Interesse. Thomas Herr betont, dass es bei dem veröffentlichten Konzept nicht nur um den Erhalt des Gartens geht. Ihnen schwebt ein soziales Modellprojekt vor, in dem Bildung, Freizeit, Sport, Wohnen und Gärtnern auf dem Areal möglich sein sollen. «Wohnen ist existenziell, aber Gärtnern ebenso, betont Herr. Die wohnungs- und stadtpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln, Marlis Fuhrmann, begrüßt die Pläne. »Im Wohnungsbestand sind hohe Mietsteigerungen und die Umwandlung in Eigentumswohnungen festzustellen. Es besteht Aufwertungsdruck.« Wünschenswert wäre daher ein Konzeptverfahren unter Federführung der städtischen Wohnungsbaugesellschaft »Stadt und Land« mit einem Anteil an Sozialwohnungen deutlich über 50 Prozent. Die Vorschläge der »Prachttomate« sind dafür eine gute Diskussionsgrundlage. Positiv bewertet Fuhrmann, dass in dem Konzept bezahlbares Wohnen, grüne Pädagogik und der Aufbau einer Kita zusammen gedacht werden.

Auch die Stadtentwicklungsexpertin der LINKEN im Abgeordnetenhaus, Katalin Gennburg, bewertet den Vorstoß der GärtnerInnen positiv. Dort sei verdeutlicht worden, dass der Erhalt von Grünflächen keine Konkurrenz zum Wohnungsbau seinmuss. Gennburg sagt, dass sich mit dem Netzwerk Urbane Gärten in Berlin die Projekte auch über die Bezirksebene hinaus koordinieren.

Der zuständige Neuköllner Baustadtrat Jochen Biedermann (Grüne) sieht hingegen kaum Realisierungsmöglichkeiten für die Umsetzung des Konzepts der »Prachttomate«. In der jetzigen Planung sieht er einen Kompromiss, der für alle Seiten Vorteile bringt. Schließlich könnte die »Prachttomate« einen Teil des Areals dann dauerhaft und nicht nur wie bisher im Rahmen einer Zwischennutzung bearbeiten. Im Gespräch mit »nd« verweist Biedermann auch auf die beschränkten finanziellen Mittel des Bezirks. Schließlich müssten mindestens eine Million Euro ausgegeben werden, um das Vorkaufsrecht für das Grundstück auszuüben. Auch wenn dadurch nicht das Wohnungsproblem gelöst werde, müsse man anerkennen, dass durch die Baugruppe Wohnraum auf dem Areal geschaffen werde, sagt Biedermann.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1080983.prachttomate-fordert-staatliche-rettung.html

Peter Nowak

Streit um Antifa-Treffen


In Frankfurt am Main wollen Polizeigewerkschafter eine linke Veranstaltung stoppen

»Organize! Wir gründen eine neue Gruppe.« So lautet das Motto einer Veranstaltung, zu der die Gruppe »Antifa United Frankfurt« Anfang Februar in den DGB-Jugendclub in der hessischen Mainmetropole eingeladen hatte. Es war nicht das erste Treffen der unabhängigen Antifagruppe, die für Bündnisse auch bis hinein ins gewerkschaftliche Spektrum bekannt ist.

Dass über diese Zusammenarbeit nun bundesweit gestritten wird, liegt an der Gewerkschaft der Polizei (GdP). In einer Presseerklärung teilte diese jüngst mit, dass sie die Überlassung von Räumlichkeiten im DGB-Haus für die Antifagruppe zum Anlass nehme, um auf Distanz zum DGB Hessen-Thüringen zu gehen. Weil auf dem Foto der Veranstaltungseinladung einige Personen ihre Gesichter mit Masken unkenntlich gemacht haben, bezeichnete die GdP die Antifagruppe zudem als »vermummte Einheit«. »Wer sich öffentlich vermummt zeigt, sich selbst als radikal bezeichnet und damit bekundet, dass er die Vorschriften des Versammlungsrechts ignoriert, steht aus unserer Sicht außerhalb des freiheitlich demokratischen Rechtsstaats«, heißt es in der GdP-Erklärung.

Zuvor hatte bereits der Vorsitzende der mit der GdP konkurrierenden Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Lars Maruhn, gegen das Antifatreffen im DGB-Haus polemisiert und der Gewerkschaft vorgeworfen, logistische Hilfestellung beim Kampf der Autonomen gegen den Staat zu bieten.

Dass nun Linke mit der Polizei nicht nur bei Demonstrationen in Konflikt geraten, zeigte sich vor einigen Monaten schon in München. Dort versuchten die GdP und die DPolG, bejubelt von rechtslastigen Medien und der AfD, einen antifaschistischen Kongress im DGB-Haus zu verhindern. Die danach erfolgte Kündigung der Räume wurde allerdings wieder zurückgezogen, nachdem die Kongressorganisatoren betont hatten, dass ihre Aktivitäten auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.

Der DGB-Bezirksvorsitzende von Frankfurt am Main, Michael Rudolph, erklärte gegenüber der »Frankfurter Neuen Presse«, dass der DGB grundsätzlich keine Räume an Gruppen gebe, die im Widerspruch zu ihren Grundsätzen stehen – zugleich distanzierte er sich aber auch nicht von der Antifa. »Der Vermieter hat auf Grund vergangener Mietverhältnisse keine Veranlassung dazu, die Räume an die Mieterin nicht zu vermieten«. Mitglieder unterschiedlicher Einzelgewerkschaften hoffen, dass der DGB dabei bleibt. Schließlich haben sich erneut rechte Gruppen hinter die Attacken der Polizeigewerkschafter gestellt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1080867.repression-streit-um-antifa-treffen.html

Peter Nowak

Chance für Solidarität


Deutschland Seine Verhaftung wurde in der Türkei gefeiert: In Hamburg steht Musa Aşoğlu vor Gericht

Die Repression gegen die G20-Proteste hat in der letzten Zeit das Thema Knast und Justiz wieder stärker in den Fokus der außerparlamentarischen Linken gerückt. Doch oft wird vergessen, dass ein Großteil der politischen Gefangenen in Deutschland heute migrantische Linke aus der Türkei und Kurdistan sind. Gegen sie wird mit dem Paragraphen 129b ermittelt, der die »Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland« unter Strafe stellt.
2008 wurde das erste Mal mit diesen Paragraphen linker Widerstand im Ausland vor deutschen Gerichten abgeurteilt. Fünf vermeintliche Mitglieder der türkischen kommunistischen DHKP-C wurden vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht angeklagt und verurteilt – ein Pilotverfahren. 2010 entschied der Bundesgerichtshof, dass auch Mitglieder der kurdischen Arbeiterpartei PKK nach dem Paragraphen 129b angeklagt werden können. Davon wird seitdem reichlich Gebrauch gemacht. Die Aktivitäten der kurdischen Bewegung, die ihre bisherigen traditionsmarxistisch-leninistischen Positionen in den letzten 20 Jahren einer gründlichen Revision unterzog, sich dem Demokratischen Konföderalismus zuwandte und den Kämpfen der Frauen einen großen Stellenwert zuschreibt, werden von der deutschen Justiz mit dem Terrorismusvorwurf belegt. Seit Juni 2016 läuft in München ein Verfahren gegen elf mutmaßliche Mitglieder der türkischen Kommunistischen Partei TKP/ML. Alle lebten und arbeiteten seit Jahren legal in Deutschland, als sie durch ihre Verhaftung im Jahr 2015 aus ihrem Alltag herausgerissen wurden.

Mediale Vorverurteilung als »Terror-Fürst«

Zurzeit läuft in Hamburg ein Verfahren gegen den türkischen Linken Musa Aşoğlu. Am 25. Januar hat der Prozess vor dem Hamburger Oberlandesgericht begonnen. Bis Anfang August 2018 sind schon Termine anberaumt. Aşoğlus Anwältinnen Gabriele Heinecke und Fatma Sayın zufolge weist das Verfahren gegen ihn einige Besonderheiten auf. Ihr Mandant wurde in deutschen und türkischen Medien als einer der »meistgesuchten Terroristen der Welt« und als »Terror-Fürst« vorverurteilt. Die türkischen Medien feierten Aşoğlus Verhaftung. Sie hatten ein hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, ebenso wie die USA. Dort hat man großes Interesse daran, vermeintliche Mitglieder der DHKP-C zu verurteilen, weil die Organisation, die politisch in der Tradition des Guevarismus steht und Stadtteilarbeit in Armenvierteln mit dem bewaffneten Kampf kombiniert, für Angriffe auf US-Einrichtungen in Istanbul und Ankara die Verantwortung übernommen hat. So könnte nach einer Verurteilung in Deutschland Aşoğlu die Auslieferung in die USA oder gar in die Türkei drohen. Eine solche Auslieferung ist möglich, wenn die betreffenden Länder zusichern, dass der Gefangene in der Haft nicht gefoltert wird und dass ihm nicht die Todesstrafe droht. Dann steht der Auslieferung von Deutschland aus nichts mehr im Wege.
Die Politik spielt bei sämtlichen 129b-Verfahren in Deutschland eine zentrale Rolle. Das Gesetz kann nur angewendet werden, wenn das Bundesjustizministerium die Bundesanwaltschaft dazu ermächtigt, gegen kurdische und türkische Linke in Deutschland zu ermitteln. Der Bundesvorstand der Roten Hilfe hat das Prinzip gut zusammengefasst: »Die Entscheidung, ob Unterstützer der kurdischen Befreiungsbewegung oder türkische Kommunisten einen legitimen Kampf führen oder ›Terroristen‹ sind, wird auf politischer Ebene getroffen. Ob verfolgt wird oder nicht, hängt nicht vom Tatvorwurf ab, sondern wird letztlich von einem Bundesministerium festgelegt«. Genau hier bieten sich auch politische Interventionsmöglichkeiten über die Begleitung der Prozesse hinaus. »Keine Ermächtigung zur Verfolgung kurdischer und türkischer Linker in Deutschland« müsste eine zentrale politische Forderung werden. Dabei geht es nicht darum, ob jemand die politischen Inhalte der jeweiligen Gruppierungen unterstützt oder nicht. Es geht darum, dass diese Inhalte in Deutschland nicht kriminalisiert werden dürfen und damit die Kooperation zwischen deutscher und türkischer Justiz beendet wird. Die ist nämlich ungestört weitergelaufen, während sich führende Politiker_innen Deutschlands und der Türkei gegenseitig bekämpft haben. Es ist keine Gefälligkeit für das türkische Regime, sondern eigenes Interesse deutscher Staatsapparate, Linke aus Kurdistan und der Türkei und sicher demnächst auch anderen Regionen in der Welt abzurteilen. Daher muss ein Kampf gegen diese Repression auch die Repressionsorgane beider Staaten und ihre Kooperation in den Fokus rücken.

Wenig Interesse in der außerparlamentarischen Linken

Das Interesse der außerparlamentarischen Linken an dem Verfahren ist sehr begrenzt. Das zeigte sich auch bei der internationalen Konferenz »Freiheit für Musa Aşoğlu«, die am 10. und 11. Februar im Centro Sociale in Hamburg stattfand. Ziel der Veranstalter_innen vom Netzwerk »Freiheit für alle politischen Gefangenen« war es, unterschiedliche von Repression betroffene Spektren zusammenzubringen. So berichteten Aktivist_innen des Bündnisses »United We Stand« auch über die Repression gegen G20-Gegner_innen und den wachsenden Widerstand dagegen. Eine gemeinsame Diskussion kam jedoch nur in Ansätzen zustande.

aus: ak 635 vom 20.2.2018

https://www.akweb.de
Peter Nowak

„Wenn die Arbeit der Filmemacher endet, beginnt die Arbeit der Aktivisten“


Auf der Biennale prämiert: „The Silence of Others“. Der Film thematisiert die nicht aufgearbeitete faschistische Vergangenheit der spanischen Regierungspartei

Politisch engagierte Filme sind schon lange auch bei vielen Rezensenten in Verruf geraten. Dass wurde an der Häme deutlich, als der Sozialkritiker Ken Loach[1] 2016 für seinen Film „Daniel Blake“ die Goldene Palme verliehen bekam, und dafür ein Wohlfühl-Movie aus Deutschland das Nachsehen hatte. Damals wurde in vielen Kommentaren das Ende eines politisch-engagierten Kinos gefordert.

Das Kino muss kritische Fragen stellen[2] – „Filmemachen ist ein Teil des politisches Kampfes“[3]. Diese Devise von Ken Loach, über dessen politischen Engagement vor allem zum Nahostkonflikt gestritten werden muss, dürfte auch auf Almuda Carracedo[4] zutreffen.

Die spanische Journalistin und Filmemacherin konnte am vergangenen Sonntag gemeinsam mit ihren Kollegen Robert Bahar[5] gleich zwei Filmpreise von der Berlinale in Berlin entgegen nehmen: den Panorama-Publikumspreis[6] und den 33. Friedensfilmpreis[7].

Doppelt ausgezeichnet wurde der Film „The Silence of Others“, der sich einem sehr aktuellen Thema widmet: Dem Schweigen über die Verbrechen des Franco-Regimes in Spanien und der Tatsache, dass bis heute in Spanien eine Partei an der Macht ist, die in der Traditionslinie dieses Regimes steht.

Ganz Spanien ist ein Massengrab

Zu Beginn des Films sehen wir eine alte Frau, die täglich Blumen an die Absperrung einer Autostraße stellt. Dort hatten Falangisten zahlreiche Dorfbewohner erschossen und verscharrt. Darunter auch ihre Mutter. Bald erfahren wir, dass fast in jedem Ort vermeintliche oder tatsächliche Gegner der Franco-Diktatur begraben liegen.

Während seiner Herrschaft war es lebensgefährlich, darüber auch nur zu reden. Die Angehörigen der Toten wurden in der Regel selber als Rote stigmatisiert und ausgegrenzt. Viele versteckten sich über Jahrzehnte in einer Hütte vor den Nationalisten. Nach Francos Tod ging die Politik des Verschweigens weiter.

Denn die Eliten des Franco-Regimes waren nur zu begrenzten bürgerlichen Freiheiten bereit, wenn ihre Verbrechen tabu bleiben. In dem Film wird sehr gut benannt, dass am Anfang des Ereignisses, der später spanischer Bürgerkrieg genannt wurde, ein Militärputsch stand, mit dem faschistische Militärs die soziale Revolution großer Teile der verarmten Bevölkerung buchstäblich vernichtet hatten.

Das ist ihnen mit Unterstützung von Mussolini-Faschismus und Nationalsozialismus gelungen. Die Hoffnungen der spanischen Franco-Gegner, dass mit deren Ende auch das spanische Regime fällt, wurden bitter enttäuscht. Im Kalten Krieg wurde Franco hofiert von den USA, dem Vatikan und EU-Politikern. Gespenstige Aufnahmen werden im Film gezeigt, wo sich der greise Franco wenige Wochen vor seinen Tod von Alt- und Neonazis aus Spanien und dem Ausland feiern lässt. Er galt als Vorkämpfer gegen den Bolschewismus wie noch heute ein Mitbegründer einer Stiftung, die Francos Erbe bewahren will, unverhohlen in die Kamera sagt.

Im Film wird auch deutlich gemacht, dass so auch viele Mitglieder der heutigen spanischen Regierungspartei Partido Popular[8] denken. Das erklärt, warum noch immer Straßennamen in spanischen Städten nach den faschistischen Generälen benannt sind und Franco-Statuen zu sehen sind.

Hoffen auf globale Gerechtigkeit als Ergebnis einer Niederlage

Erst das Wissen darum, dass es für Opfer im postfaschistischen Spanien keine Gerechtigkeit gibt, führte dazu, dass die Hoffnung auf eine transnationale Strafverfolgung gesetzt wurde. Die Theorie, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn sie im Ursprungsland nicht verfolgt werden, auch von anderen Gerichten überall auf der Welt geahndet werden können, wurde nach dem Ende der Militärdiktaturen in Südamerika entwickelt.

Was von den Vertretern dieses Ansatzes und auch im Film nicht thematisiert wird, ist die Tatsache, dass diese Kämpfe um eine internationale Justiz das Ergebnis einer Niederlage sind. Wie in Spanien haben auch die Militärs in Argentinien und Chile ihre Macht nicht durch eine Revolution der Bevölkerung verloren.

Dann hätte dort die Möglichkeit bestanden, sie vor Gericht zu stellen und Gerechtigkeit für die Opfer durchzusetzen. Vielmehr konnten die Militärs trotz ihres Verlusts an Macht maßgeblich die politische Ordnung nach ihrem Abtreten bestimmen. Die Straffreiheit für ihre Verbrechen war dabei ein zentrales Element.

Erst danach begann der Kampf um eine transnationale Justiz. Die Verhaftung Pinochets hat da Auftrieb gegeben. Obwohl er schließlich wieder nach Chile zurückkehren konnte, war damit der Mythos der Unantastbarkeit und Straflosigkeit der Gewaltherrscher erschüttert.

Es gab auch Folterer und Massenmörder aus der zweiten Reihe, die tatsächlich zu langen Haftstrafen verurteilt wurden und sie auch absitzen müssen. Der Film begleitet Franco-Opfer zu Gesprächen mit den Initiativen aus Lateinamerika. Darunter sind noch einige sehr alte Zeitzeugen der Verbrechen aus dem Bürgerkrieg.

Es sind Oppositionelle dabei, die sich in den 1960er Jahren gegen das Franco-Regimes wandten, verhaftet und gefoltert wurden und dann über Jahre in der Nachbarschaft ihrer Folterer leben mussten. Eine andere Opfergruppe waren ledige Mütter, deren Kinder in der Franco-Zeit für tot erklärt und an regimenahe Familien gegeben wurde.

Der Film zeigt den langen und mühsamen Weg zur Gerechtigkeit für die Opfer. Einer der berüchtigten Folterer wurde schließlich verhört, auf freiem Fuß ist er noch immer. Die spanische Regierung blockiert alle Versuche der argentinischen Justiz, hier Anklagen zu erheben. Schließlich ist ja die alte Franco-Partei in neuem Gewand weiter an der Macht.

Den Filmemachern könnte man vorwerfen, dass manche ihrer Darstellungen noch zu optimistisch waren. So wird nicht erwähnt, dass der Richter Garzon, der Ermittlungen wegen der Verbrechen des Franco-Regimes geführt hatte, schließlich von rechten Organisationen angezeigt wurde. Ihn wurden die Fälle entzogen und ihm drohte selber ein Verfahren.

Es wird im Film gezeigt, wie die linke Mehrheit im spanischen Rathaus durchsetzen konnte, dass nach Faschisten benannte Straßen umbenannt und das System verherrlichende Symbole entfernt werden sollten. Man sieht, wie einzig die Madrider Vertreter der Regierungspartei dagegen stimmten. Man erfährt aber nicht, wie die Rechte gegen den Beschluss Sturm gelaufen und die Umsetzung teilweise sabotiert hat.

Eine Entfrancoisierung Spaniens steht noch an

Durch die Fokussierung des Films auf die internationale Justiz wird nicht thematisiert, ob das Auftauchen einer neuen linken Protestbewegung in Spanien angesichts der Krise ab 2010 nicht auch innenpolitisch die Diskussion über die Aufarbeitung der Franco-Verbrechen neu auf die Agenda gesetzt hat.

Schließlich sind sowohl die Bewegungspartei Podemos als auch die Bürgerlisten in Madrid und Barcelona die parteiförmigen Folgen dieser neuen Bewegungen[9]. Zudem haben die neuen Aktivisten Erfahrung mit der Repression der modernen Francisten machen müssen.

Platzbesetzer, Gewerkschaft aber auch zunehmend wieder kritische Künstler[10] machten die Erfahrung, dass man in Spanien schnell ins Gefängnis[11] kommt, wenn man die Regierung und ihre politische Vorfahren kritisiert.

Diese Zusammenhänge werden in „Silence of Others“ nicht thematisiert. Was aber der Film auf jeden Fall deutlich gemacht hat: eine Entfrancoisierung Spaniens steht noch aus. Sie wird sich vor allem gegen die aktuelle Regierungspartei PP richten, die im Katalonien-Konflikt die nationalchauvinistischen Ressentiments der alten Rechten bedient.

Man kann zum Experiment eines katalonischen Nationalstaats geteilter Meinung sein. Man kann allerdings, nachdem man den Film gesehen hat, nicht mehr bestreiten, dass die unaufgearbeitete Geschichte des Francismus und deren Fortleben in der aktuellen spanischen Regierungspartei Realität und keine katalonische Propaganda ist.

In den Tagen, in denen der sogenannte Katalonien-Konflikt die Medien beherrschte, haben einige Gegner der katalonischen Nationalbewegung bestritten, dass das Erbe des Franco-Regimes heute in Spanien immer noch ein Problem ist.

Sie beteiligten sich damit an dem „Pakt des Schweigens“, den der Film so gut angreift. Es ist sympathisch, wie Almuda Carracedo sofort die „Bewegung für die Aufarbeitung der Verbrechen“ als die eigentlichen Gewinner der Preise benannte und erklärte, dass sie mehr als nur eine Künstlerin ist.

„Wenn die Arbeit der Filmemacher endet, beginnt die Arbeit der Aktivisten.“ Das macht deutlich, dass die Figur der engagierten Künstler nicht mit Ken Loach ausstirbt. Dass strichen auch die Jurymitglieder des Friedensfilmpreises Matthias Coers[12] und Peter Steudtner[13] in ihrer Laudatio heraus.

Peter Nowak
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http://www.heise.de/-3979218
https://www.heise.de/tp/features/Wenn-die-Arbeit-der-Filmemacher-endet-beginnt-die-Arbeit-der-Aktivisten-3979218.html

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.imdb.com/name/nm0516360/
[2] http://www.critic.de/interview/das-kino-muss-wieder-fragen-stellen-2480/
[3] https://web.archive.org/web/20120223064211/http://archiv.tagesspiegel.de/drucken.php?link=archiv/17.06.2006/2600594.asp
[4] https://journalism.nyu.edu/about-us/profile/almudena-carracedo/
[5] https://journalism.nyu.edu/about-us/profile/robert-bahar/
[6] https://www.berlinale.de/de/presse/pressemitteilungen/auszeichnungen__/pue-presse-detail_44308.html
[7] https://www.friedensfilm.de/
[8] http://www.pp.es/
[9] https://www.edition-assemblage.de/krisenproteste-in-spanien/
[10] https://rap.de/news/125437-spanischer-rapper-wegen-texten-zu-3-5-jahren-verurteilt/
[11] https://rap.de/news/125437-spanischer-rapper-wegen-texten-zu-3-5-jahren-verurteilt
[12] https://www.friedensfilm.de/index.php?id=279
[13] https://www.friedensfilm.de/index.php?id=278

Warum nicht das Fahrverbot selber machen

Warum wurden am Wochenende keine Straßenkreuzungen blockiert? Stattdessen starrt die Umweltbewegung wie das Kaninchen auf die Schlange auf die Entscheidung der Justiz

Seit Wochen ist das Thema Fahrverbote für Dieselfahrzeuge in den Medien. Eigentlich sollte das Bundesverwaltungsgericht schon letzten Donnerstag einen Beschluss fassen. Das Gericht hat sich auf kommenden Dienstag vertagt, wohl auch um der Bundesregierung Zeit für mögliche Vorbereitungen für eventuelle Fahrverbote zu geben. Auffällig ist, dass kurz nach der Vertagung bekannt wurde, dass die Bundesregierung Vorbereitungen dafür trifft.

Doch wo bleibt die außerparlamentarische Umwelt-Bewegung?

Was man aber vermisst, war das Zeichen für die Existenz einer außerparlamentarischen Umweltbewegung. Schließlich war gerade sie über Jahrzehnte, wenn es um AKWs ging, und seit einigen Jahren auch in der Bewegung für die Abschaltung der Kohlekraftwerke als eigener Faktor präsent. „Alles muss man selber machen“, lautete die richtige Erkenntnis.

Nur beim Kampf gegen die jahrzehntelange Vergiftung von Mensch und Umwelt durch den Individualverkehr scheint dieses Motto nicht zu gelten. Dabei wäre hier die vielbeschworene Kreativität und Spontanität der Umweltbewegung leicht umzusetzen. Schließlich bräuchte man keine langen Fahrten zu Standorten von AKWs und Kohlekraftwerken auf sich zu nehmen. Denn das Neckartor ist überall.

So wie die hoch mit Autogift kontaminierte Straße in Stuttgart hat jede Stadt ihre besonders umweltschädlichen Ecken. Warum gab es keinen Aufruf, die Zeit bis zur gerichtlichen Entscheidung zu nutzen, um schon mal in Eigenregie ein Fahrverbot umzusetzen? Man hätte nur am Samstagsmittag zum Flashmob auf diesen Straßen aufrufen sollen.

Wären in vielen Städten an diesen vielbefahrenen Straßen Menschen auf die Fahrbahn getreten und hätten sie nicht wieder verlassen oder hätten sie das Bedürfnis verspürt, in großen Gruppen die Straße immer wieder zu überqueren, dann wäre der Autoverkehr zum Stehen gekommen. Dann wäre genau das eingetreten, was fast regelmäßig auf Autobahnen passiert. Nur hätte dieser Stau ein politisches Ziel, das über die Debatte um Diesel und Fahrverbote hinausgehen muss.

„Massenexperiment an Menschen“

Der Arbeitsmediziner und Autor des Buches „Kranke Arbeitswelt“ Wolfgang Hien brachte in einem Interview auf den Punkt, um was es bei der Diskussion um die Vergiftung der Umwelt eigentlich geht:

Der eigentliche Skandal liegt erstens darin, dass Hundertausende Menschen am Arbeitsplatz über Jahrzehnte einer tatsächlich schädigenden Konzentration ausgesetzt waren, obwohl es seit Jahrzehnten Kritik an der alten Grenzwertsetzung gab. Zweitens ist es ein Skandal, dass Millionen Menschen, vor allem Kinder, chronisch Kranke und Alte, an stark befahrenen Straßen nicht nur acht Stunden am Tag und 40 Stunden in der Woche, sondern rund um die Uhr mit erheblichen Konzentrationen belastet sind, was statistisch gesehen mit Sicherheit Schäden verursacht. Der eigentliche Skandal ist, dass hier seit Jahrzenten ein Massenexperiment an Menschen vorgenommen wird. All das haben kritische Wissenschaftler seit langem thematisiert.

Wolfgang Hien

Wäre es da nicht an der Zeit, dass sich die Umweltbewegung auf den Grundsatz „Umweltschutz ist Handarbeit“ erinnern würde und jenseits von Politik und Justiz damit anfangen würde, Fahrverbote umzusetzen? Doch von solchen Aktionen konnte man nichts lesen.

Stattdessen wird wie das Kaninchen auf die Schlange auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts gestarrt. Dabei müsste doch zumindest bei lange in der ökologischen Bewegung aktiven Menschen die Erkenntnis noch nicht gänzlich verschüttet sein, dass die Justiz ein Teil des Staatapparats ist und bei seiner Entscheidung die staatlichen Gesamtinteressen im Fokus hat.

Das heißt nicht, dass die Gerichtsentscheidungen immer nur nach dem Gusto des Kapitals ausfallen. Es ist ja gerade die Aufgabe der Justiz im bürgerlichen Staat ein Gesamtinteresse zu konstruieren, was weder im Interesse noch in der Möglichkeit der einzelnen Kapitalfraktionen ist. Die Vorstellung aber, dass ein Gericht sich schon um die Umweltinteressen kümmern wird, ist absurd und zeugt von einen mangelnden Verständnis von Staat und Justiz.

Wenn überhaupt Umweltinteressen in gerichtliche Entscheidungen einfließen, dann wenn sich starke Bevölkerungsgruppen aktiv unabhängig vom Staat und seinen Apparaten dafür einsetzen. Die Anti-AKW-Bewegung ist dafür ein gutes Beispiel Daher ist ein Ausdruck der Regression einer ehemals außerparlamentarischen Bewegung, wenn sie nicht mehr in der Lage eigene Akzente jenseits von Parteien und Justiz zu setzen.

Nahverkehr gratis für Alle

Dieses Manko zeigt sich auch bei der Alternative für den gesundheitsschädlichen Individualverkehrs. Seit Jahrzehnten kämpfen Menschen für einen günstigen besser noch einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr. Er würde das Recht auf Mobilität auf Alle Realität werden lassen.

Die Kämpfe der Rote-Punkt-Aktion Ende der 1960er Jahre gehören ebenso dazu, wie viele lokale Bewegungen in unterschiedlichen Städten. „Berlin fährt frei“ lautete das gut begründete Motto einer Kampagne für kostenlosen Nahverkehr in Berlin, die wesentlich vom mittlerweile nicht mehr existierenden Berliner Sozialforum ausgegangen ist.

Das Bündnis wie auch die dazu gehörige Homepage sind mittlerweile Geschichte, die Forderung ist aber aktueller denn je. Das wurde deutlich, als die Bundesregierung kostenlosen Nahverkehr in einigen ausgewählten Städten in einem Brief aufführte, den sie an die EU-Kommission schrieb.

Der Kommission in Brüssel gegenüber soll sie Vorschläge benennen, wie sie die weiterhin selbst nach EU-Normen zu hohen Abgaswerte in vielen deutschen Städten senken will. Doch was machte die Linke?

Sie hätte daran erinnern können, dass nun ihre langjährigen immer als unrealistisch verlachten Forderungen sogar in einen Brief der Regierung auftauchen. Sie hätte kritisieren könne, dass da nur einige Städte als Experimentierfeld für den kostenlosen Nahverkehr benannt wurden und Metropolen wie Berlin und Hamburg ausgespart wurden.

Und sie hätte das Motto „Kostenloser Nahverkehr machen wir selbst“ dazu aufrufen sollen, jetzt bundesweit schon mal mit dem Fahren ohne Fahrschein zu beginnen. Wenn das viele machen, können die Kontrolleure nichts mehr machen. Stattdessen las man in vielen linken Medien, das ganze sei nur ein Ablenkungsmanöver der Regierung, sei gar nicht zu bezahlen und völlig unrealistisch.

Genau die Ausflüchte der Regierung benannte jetzt die Linke, um sich nicht um die Durchsetzung ihrer eigenen Forderungen kümmern zu müssen. Nur wenige wie der linke Verkehrsexperte Winfried Wolf verteidigten die Forderung eines kostenlosen Nahverkehrs.

Bei einer so angepassten Umweltbewegung brauchen sich die staatlichen Apparate wirklich nicht zu sorgen.

https://www.heise.de/tp/features/Warum-nicht-das-Fahrverbot-selber-machen-3977962.html

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Fahrverbote-Verkehrsministerium-bereitet-Rechtsgrundlage-vor-3977757.html
[2] https://jungle.world/artikel/2018/06/oftmals-heuchlerisch
[3] https://www.youtube.com/watch?v=Pa0p5abNKgA
[4] http://klima.blogsport.de/images/DiskussionspapierBerlinfaehrtfrei.pdf
[5] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1079903.kostenloser-oepnv-weniger-verkehrstote-durch-umsonstfahren.html

Wenn die „deutsche Oma“ gegen Arme ohne deutschen Pass ausgespielt wird

Niemand soll auf Essenstafeln angewiesen sein, nicht der Mann aus Osteuropa, nicht das Kind aus Syrien und nicht die deutsche Oma. Ein Kommentar

In den letzen Tagen steht die Essener Tafel verstärkt im öffentlichen Interesse. Es geht um folgenden Passus:

Da Aufgrund der Flüchtlingszunahme in den letzten Jahre, der Anteil ausländischer Mitbürger bei unseren Kunden auf 75% angestiegen ist, sehen wir uns gezwungen, um eine vernünftige Integration zu gewährleisten, zurzeit nur Kunden mit deutschem Personalausweis aufzunehmen.

Essener Tafel

Unter der Schlagzeile „Hilfe nur für Deutsche“ kritisierten viele Medien diesen Aufnahmestopp für Nicht-Deutsche, die in der Erklärung der Essener Tafel korrekt als ausländische Mitbürger, bei vielen Kritikern aber fälschlicherweise oft als Migranten bezeichnet werden.

Dabei handelt es sich bei den nun Abgewiesenen oft um EU-Bürger aus osteuropäischen Ländern, die einfach ihr Recht auf Freizügigkeit im EU-Raum wahrnehmen.

„Wir wollen, dass auch die deutsche Oma weiter zu uns kommt“

Die Regelung, nur noch Menschen mit deutschem Pass aufzunehmen, ist übrigens schon 4 Wochen alt. Die zeitverzögerte Empörung setzte ein, nachdem eine Zeitung die Regelung aufgegriffen hat. Es folgte die übliche Kritik, dass es sich um Rassismus handelte und dass Arme gegen Arme ausgespielt werden.

Der Leiter der Essener Tafel Jörg Sator wies natürlich den Rassismusvorwurf zurück und begründete gegenüber der WAZ den Stopp für Menschen ohne deutschen Pass so:

Der Verein habe sich dazu gezwungen gesehen, weil Flüchtlinge und Zuwanderer zwischenzeitlich 75 Prozent der insgesamt 6000 Nutzer ausmachten, erklärt der Vorsitzende Jörg Sartor. „Wir wollen, dass auch die deutsche Oma weiter zu uns kommt.“

WAZ

Nun beschreibt der Tafelleiter hier durchaus zutreffend die Folgen einer Austeritätspolitik, die Kapitalisten den roten Teppich auslegt und mit der Politik der Agenda 2010 zur Verarmung großer Bevölkerungsteile vorangetrieben hat. Die Versorgung durch die Tafeln war da schon eingepreist. Durch die im Interesse der Wirtschaftsverbände durchgesetzte Schuldenbremse werden die letzten Reste des Sozialstaats demontiert.

Der soziale Wohnungsbau wurde schon längst abgeschafft. Diese Politik wurde in Deutschland umgesetzt, aber mit noch gravierenden Folgen auch in vielen Ländern Osteuropas. Mit dem Ende des fälschlich als Sozialismus bezeichneten Staatskapitalismus in Osteuropa wurde in vielen Ländern eine kapitalistische Schocktherapie durchgesetzt, die vielen Menschen nur die Alternative ließ, im EU-Hegemon Deutschland die Hoffnung auf ein etwas Besseres Leben zu suchen.

Allzu viele dieser Menschen landeten im Billiglohnsektor, manche blieben ganz auf der Straße und hoffen, mit dem täglichen Gang zur Tafel überleben zu können (zu den Tafeln siehe auch: Mein Reich komme: 25 Jahre Tafeln in Deutschland).

So schafft man eine multinationale Unterschicht, aus der sich immer willige Arbeitskräfte für deutsche Konzerne rekrutieren lassen. Es war die deutsche Politik, die sich innerhalb der EU dafür stark machte, dass nichtdeutsche EU-Bürger kein Hartz IV bekommen sollen.

Einige Initiativen wehrten sich dagegen. Doch die Empörung war längst nicht so groß wie jetzt nach der Entscheidung der Essener Tafel. Dabei sind es solche politischen Maßnahmen, die dafür sorgen, dass die Einkommensarmen gegeneinander ausgespielt werden.

Gegen die Vertafelung der Gesellschaft

Bei der Kritik an den Ausschlusskriterien wird vergessen, die kapitalistischen Zustände zu kritisieren, die die Existenz und den Boom der Tafeln überhaupt möglich machten. Zum 20ten Jahrestag der Tafeln erinnerten einige Initiativen noch daran, dass die Tafeln eine Konsequenz der politisch gewollten und vorangetriebenen Pauperisierung großer Teile der Gesellschaft waren.

„Armgespeist – 20 Jahre Tafeln sind genug“ lautete 2013 das Motto der Initiative Aktionsbuendnis20.de[10]. Leider fand diese Initiative keine Fortsetzung über den 20ten Jahrestag hinaus. Doch die Texte auf der noch immer existierenden Homepage liefern noch immer die zentralen Argumente gegen eine Politik, die Menschen zwingt, an Essenstafel ihr Überleben zu sichern. Die Organisatoren schlossen mit einem optimistischen Ausblick:

Unsere Sicht auf die zunehmende Vertafelung der Gesellschaft wird sich so weiter verbreiten, kritische Studien und alternative Deutungsangebote werden auch weiterhin im Tafelforum archiviert und auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung zur Zukunft des Sozialstaats und einem menschenwürdigen Leben für alle Bürger wird mit dem Ende dieses Jahres sicher nicht beendet sein.

Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln sind genug[11]

Doch leider existiert die genannte Homepage für das Tafelforum[12] nicht mehr. Dabei braucht es eine solche Stimme, die nicht nur kritisiert, dass jetzt Menschen ohne deutschen Pass nicht mehr zu einer Tafel zugelassen werden. Niemand soll auf Tafeln angewiesen sein, nicht der Mann aus Osteuropa, nicht das Kind aus Syrien und nicht die deutsche Oma. Das müsste die zivilisatorische Minimalforderung sein. So würden zumindest die Kritiker nicht ebenfalls diese Spaltung der Armen weiter vorantreiben.

In den USA kann man gut beobachten, wie nicht nur von rechten Kreisen bei der Dreamer-Debatte Einwanderer ohne US-Pass gegen arme US-Bürger ausgespielt werden. Das macht sich schon in den Begrifflichkeiten deutlich.

Auch die US-Bürger ohne Geld und Lohnarbeit haben Träume oder hatten sie zumindest, bis sie durch die Folgen einer Politik vielleicht zu träumen verlernt haben. Dann beginnt die Zeit des Ressentiments, wo Rassismus und rechte Ideologie um sich greifen.

Eine linke Politik muss wieder an die Träume von einem menschenwürdige Leben für alle ansetzen und deutlich machen, dass es auf Grund der Produktionsverhältnisse heute ohne weiteres möglich wäre und eben kein Traum bleiben würde .

Eine inklusive Politik wendet sich sowohl an die deutsche Oma als auch die Menschen, die wo auch immer sie her kommen, hier ein besseres Leben erhoffen. In einigen Städten gab es in den letzten Jahren Initiativen[13] wie das Projekt Shelter[14] oder die Berliner Erwecbsloseninitiative Basta[15], die soziale Rechte für alle einfordern.

Das wäre eine Gesellschaft in der auch die Essenstafeln abgeschafft sind – als Teil einer Gesellschaft, die Menschen pauperisiert und gegeneinander ausspielt. Die Kritik darf nicht erst dann einsetzen, wenn es von der Essener Tafel praktiziert wird.
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Peter Nowak

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[1] http://www.essener-tafel.de
[2] http://www.essener-tafel.de/startseite
[3] http://www.essener-tafel.de/startseite
[4] https://www.waz.de/region/rhein-und-ruhr/kritik-an-essener-tafel-id213522021.html
[5] https://www.waz.de/staedte/essen/die-essener-tafel-nimmt-zur-zeit-nur-noch-deutsche-auf-id213512021.html
[6] https://www.waz.de/staedte/essen/die-essener-tafel-nimmt-zur-zeit-nur-noch-deutsche-auf-id213512021.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Mein-Reich-komme-25-Jahre-Tafeln-in-Deutschland-3973388.html
[8] http://www.axelkrueger.info/html/leistungsanspruch_fur_eu-ausla.html
[9] http://efainfo.blogsport.de/
[10] http://www.aktionsbuendnis20.de/
[11] http://www.aktionsbuendnis20.de/
[12] http://www.tafelforum.de/
[13] https://socialcenter4all.blackblogs.org/konzept/
[14] http://projectshelterffm.tumblr.com/
[15] http://basta.blogsport.eu/kampagne/aktionen/

Rigaer Straße temporär wieder geöffnet

Komplettsperrung der Straße in Friedrichshain hatte für Ärger bei AnwohnerInnen und Gewerbetreibenden gesorgt

Mehr als sieben Monate war die Rigaer Straße im Friedrichshainer Nordkiez zwischen Voigt- und Samariterstraße vollständig gesperrt. Seit dem 20. Februar können FußgängerInnen und RadfahrerInnen die Straße nachts zwischen 17 Uhr nachmittags und 6 Uhr morgens wieder passieren. An Wochenenden soll sie ganztägig für nichtmotorisierte VerkehrsteilnehmerInnen geöffnet sein.

Ursprünglich war die Totalsperrung für 19 Monate angekündigt worden. Das Ordnungsamt begründete diese Maßnahme mit der Absicherung von zwei Baumaßnahmen auf beiden Seiten der Straße. Dagegen richtete sich Protest von AnwohnerInnen und Gewerbetreibenden aus der Nachbarschaft. Der Bezirksbaustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg Florian Schmidt (Grüne) bezeichnet die temporäre Öffnung der Straße als Kompromiss. »Die Vollsperrung der Rigaer Straße stellt einen gravierenden Einschnitt dar. Die beteiligten Verwaltungen hatten diese Maßnahme ohne die politischen Bezirksstadträte genehmigt«, sagte er. Schmidt hofft, dass mit der zeitweiligen Öffnung eine Minderung der Belastung für die AnwohnerInnen erreicht werden kann. Aus juristischen Gründen sei eine völlige Aufhebung der Sperre momentan nicht möglich. Wenn die Rohbauphase der Bauprojekte abgeschlossen ist, wollen Bauträger und Bezirk erneut entscheiden, ob die Rigaer Straße ganz geöffnet werden könne.

Die temporäre Öffnung stößt bei der Nachbarschaft auf unterschiedliche Reaktionen. »Es ist schon gut, dass ich jetzt wieder ohne Umweg zum Arzt gehen kann«, meint die Rentnerin Lena Schmittke, die seit Jahrzehnten in der Rigaer Straße wohnt. Sie kann der Sperrung auch etwas Positives abgewinnen. »Dass jetzt weniger Autoverkehr auf der Straße ist, finde ich sehr gut. Doch dafür haben wir jetzt den Baulärm, und der wird uns noch eine Weile erhalten bleiben.«

Ein Imbissbetreiber direkt neben der Baustelle, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, bleibt skeptisch, ob durch die zeitweilige Öffnung wieder mehr Laufkundschaft zu ihm kommen wird. Das werde sich erst zeigen, wenn es wieder wärmer wird. Nach der Straßensperrung hatten mehrere Restaurants und Imbisse in der Umgebung massive Umsatzeinbußen beklagt. Mehrere Betroffene erklärten, dass sie deswegen sogar Beschäftigte entlassen mussten.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1080530.rigaer-strasse-temporaer-wieder-geoeffnet.html

Peter Nowak

Kampf um das Nord-Stream-2-Projekt

Wo rhetorisch die europäische Solidarität eingefordert wird, geht es vor allem um Interessen und Freundschaften

Wird das Projekt Nord Stream 2[1], mit dem Erdgas von Russland nach Westeuropa transportiert werden soll, realisiert oder doch noch abgeblasen? Um diese Frage wird dieser Tage in Deutschland heftig gerungen. Ein Beitrag in der FAZ hat der Debatte weiter Auftrieb gegeben. In einem Gastbeitrag[2] der konservativen Zeitung schreiben 7 Europaabgeordnete aus Deutschland, dass ein Aufgeben des Projekts eine Frage der europäischen Solidarität sei.

„Der Plan, eine zweite russische Gaspipeline durch die Ostsee nach Deutschland zu bauen, spaltet die EU politisch und stellt unsere Solidarität mit Polen, unseren baltischen Nachbarn, der Slowakei und der Ukraine, aber auch mit Dänemark und Schweden in Frage“, schreiben die EU-Politiker von Union, FDP und Grünen.

Unterzeichnet haben den Beitrag die Europapolitiker Manfred Weber (CSU), Reinhard Bütikofer (Grüne), Nadja Hirsch (FDP) sowie die Bundestagsabgeordneten Norbert Röttgen (CDU), Oliver Krischer (Grüne), Michael Link (FDP) und der einflussreiche Unions-Abgeordnete im EU-Parlament Elmar Brock. Direkt angesprochen wird in dem Beitrag die SPD: Ihr werfen die Verfasser vor, „rhetorisch Europa gar nicht genug hochleben zu lassen“, aber „an dieser Stelle, wo es konkret wird“, Solidarität vermissen zu lassen.

Was an den Beitrag auffällt, ist die Verwendung unklarer Begrifflichkeiten. Denn ein unbefangener Leser wird doch erst einmal fragen, warum es eine „Entsolidarisierung von Europa“ sein soll, wenn Erdgas aus Russland, das schließlich auch Teil Europas ist, in einen anderen Teil des Kontinent geliefert wird. Da ist es schon wesentlich verständlicher, wenn der US-Außenminister Tillerson gegen die Pipeline mobil macht[3].

Schließlich liegt es nicht unbedingt im geopolitischen Interesse der USA, wenn sich innerhalb Europas eine neue Energiekooperation ohne sie herausbildet. Aber auch Tillerson verwendet die Europa-Rhetorik, wenn er vor einer Gefahr für die Energiesicherheit Europas warnt. Tillerson äußerte sich bei einem Polenbesuch und es war leicht zu erklären, dass der Widerstand der beiden Länder gegen die Pipeline von gemeinsamen strategischen Interessen getragen wird (siehe dazu auch Hinter dem Rücken der Öffentlichkeit sponsert die EU eine eigene Gasinfrastruktur[4]).

Zwei unterschiedliche Russlandkonzepte in der deutschen Außenpolitik

Dabei fällt es eher in den Bereich der Ideologie, wenn hervorgehoben wird, dass Russland seit der Krim-Annexion von Ländern wie Polen und dem Baltikum als größte Bedrohung betrachtet wird. Der Widerstand gegen Nord Stream 2 hat doch viel ökonomischere Gründe.

Polen deckt zwei Drittel seiner Nachfrage noch immer durch russisches Gas ab und verdient wie die Ukraine an der Weiterleitung des Brennstoffes Richtung Westeuropa, also auch nach Deutschland. Nord Stream 2 würde Polen und die Ukraine umgehen und Polen würden so die Transitkosten entgehen.

Zudem schloss Polen im November 2017 eine langfristige Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten zur Lieferung von Flüssiggas (LNG) und hat in ein LNG-Terminal an der Ostseeküste investiert. Wie soll nun die Politik Deutschlands auf diese unterschiedlichen Interessen reagieren?

Dahinter stehen unterschiedliche Europakonzepte, die der früh verstorbene Historiker Reinhard Opitz[5] gründlich untersucht hat[6].

Große Teile der SPD setzten eher auf einer Art friedlichen Koexistenz mit Russland. Dabei greifen sie auf Konzepte zurück, wie sie schon lange vor der Oktoberrevolution in Teilen der deutschen Politik diskutiert wurden. Dagegen stehen die Konzepte, die in scharfer Frontstellung zu Russland stehen und ebenfalls schon lange vor 1917 entwickelt wurden.

Die osteuropäischen Staaten und die russische Karte

Aktuell setzen sie auf einen Gürtel von Nationalstaaten im Osten Europas, die vor allem aus innenpolitischen Gründen die antirussische Karte ziehen. Nur sind diese Staaten weder ein monolithischer Block, wie die häufigen binationalen Streitereien zwischen Polen und der Ukraine deutlich machen, noch ist das Verhältnis zu Russland in erster Linie eine Folge von russisch-sowjetischer Unterdrückung.

Es geht dabei vielmehr neben ökonomischen auch immer um innenpolitische Interessen. So hat die ungarische Rechtsregierung ein recht entspanntes Verhältnis zu Russland unter Putin und auch die Tschechische Republik hat erneut einen Präsidenten gewählt, der Wert auf gute Beziehungen zu Russland legt.

Mit beiden Ländern verbinden sich politische Ereignisse, die als ungarischer Aufstand 1953 und als Prager Frühling 1968 bezeichnet wurden und eher eine Distanz zu Russland vermuten lassen würden, wenn man davon ausgeht, dass das Verhältnis zu Russland von der Erfahrungen mit sowjetisch-russischer Machtpolitik abhängig ist.

Polen hingegen hätte von seiner geschichtlichen Erfahrungen der Besatzung nach 1939 genügend Grund, eine Dominanz Deutschlands zu fürchten. Eine besondere Rolle nimmt die Ukraine als Protegé Deutschland vor und nach 1945 ein. Schließlich mussten deutsche und ukrainische Nationalisten die gemeinsame Erfahrung machen, dass ihre Macht durch die Rote Armee einst massiv eingeschränkt wurde.

Deutschland hat bei der Etablierung des aktuellen ukrainischen Regimes an eine alte deutsch-ukrainische Kooperation angeknüpft. Wenn nun die 7 deutschen Politiker für ihre Argumente gegen das Projekt Nord Stream 2 auch auf die Interessen dieser Ukraine rekurrieren, legen sie eine Geschichtsvergessenheit an den Tag, die seit den Maidan-Ereignissen in Deutschland zu beobachten ist.

Von Grünen wie Rebecca Harms[7] bis zum damaligen Außenminister Westerwelle gab es wenig Skrupel, mit den alten rechten Bundesgenossen, die am Maidan mit Fahnen und Parolen aufgefahren waren, zu kooperieren. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich in dem Gastbeitrag ein Bündnis von Politikern der Union, der FDP und der Grünen zusammengefunden hat.

Das macht nur deutlich, dass eine gemeinsame Regierung dieser Parteien nicht an außenpolitischen Fragen geplatzt ist. Vielmehr zeigt das gemeinsame Statement, dass ein solches Bündnis durchaus noch eine Zukunft hat.

Es geht um unterschiedliche geo- und wirtschaftspolitische Interessen. Die Rhetorik um den Zusammenhalt Europas ist da nur eine ideologische Nebelkerze. Da wird die Krimaktion Russlands bemüht, bloß um nicht von Geopolitik und Ökonomie reden zu müssen.

Wie Außenpolitik funktioniert – Politische Aufklärung über ein Video

Das ist in den USA ganz anders, wie die Videokünstlerin Dani Gal[8] in dem Film Hegemon[9] zeigt, der zurzeit in der Berlinischen Galerie[10] zu sehen ist.

Wenige Wochen bevor Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA gewählt wurde, reiste Gal nach Washington D.C., um Expertinnen und Experten zur US-amerikanischen Außenpolitik zu interviewen. Diese vertreten ein breites politisches Spektrum und sind ehemalige oder aktuelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Think Tanks, Militärbüros oder der CIA.

Wer wissen will, nach welchen Kriterien die US-Außenpolitik funktioniert, wird hier mehr erfahren als durch die Lektüre vieler deutscher Kommentatoren der US-Politik. Ihr großes Manko besteht schon darin, dass sie politische Vorgänge personifizieren. Diese Tendenz hat sich noch verstärkt, seit Trump im Amt ist. Da wird oft so getan, als würden außenpolitische Grundlinien allein von ihm in seinem Schlafzimmer getroffen und als hinge die Frage von Krieg und Frieden von seiner psychischen Befindlichkeit ab.

Dagegen sprechen in dem Interview, die Männer und Frauen aus der zweiten und dritten Reihe, sie kennen sich mit der Materie aus. Bis auf zwei Kritiker sehen sich alle als Vertreter von US-Interessen. Und sie reden auch unbefangen darüber, und das macht den großen Unterschied zur Debatte in Deutschland aus. In den Interviews geht es wenig um Personen und Moral, dafür aber viel um ökonomische und geopolitische Interessen.

Ein solcher Film über die Interessen Deutschlands und der von dem Land dominierten EU nach dem Vorbild von Dani Gals „Hegemon“ steht noch aus. Dabei wäre die Diskussion um das Projekt Nordstream 2 ein guter Aufhänger dafür.

https://www.heise.de/tp/features/Kampf-um-das-Nord-Stream-2-Projekt-3976329.html

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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.nord-stream2.com/de/
[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/die-nord-stream-2-gaspipeline-entzweit-die-eu-15457609.html
[3] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/amerikas-aussenminister-tillerson-lehnt-nord-stream-2-pipeline-ab-15420196.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Hinter-dem-Ruecken-der-Oeffentlichkeit-sponsert-die-EU-eine-eigene-Gasinfrastruktur-3975705.html
[5] https://search.socialhistory.org/Record/ARCH02887
[6] https://www.rebuy.de/i,2137451/buecher/europastrategien-des-deutschen-kapitals-1900-1945-reinhard-opitz
[7] https://twitter.com/RebHarms/status/951812014636240899
[8] http://thelostmoment.blogspot.de/2007/06/dani-gal.html
[9] https://www.spikeartmagazine.com/en/articles/berlin-premiere-hegemon-documentary-dani-gal
[10] https://www.berlinischegalerie.de/fileadmin/content/bilder/ausstellungen/12×12/Handouts/2018/Handout_Gal-final.pdf

Angeklagte in TKP-Prozess freigelassen

129b-Haftbefehl gegen vier Beschuldigte aufgehoben

Für Susanne Kaiser war der 19. Februar ein Freudentag. Schließlich konnte die Nürnberger Ärztin ihre Freundin und Kollegin Dilay Banu Büyükavci wieder in die Arme schließen. Büyükavci war Ende April 2015 von einer schwer bewaffneten Anti-Terror-Einheit festgenommen worden, als sie sich nach ihrer Arbeit an einer Nürnberger Klinik mit Kolleg_innen getroffen hatte. Seitdem saß die 46-Jährige im Hochsicherheitstrakt München-Stadelheim in Untersuchungshaft. 

Mit Büyükavci sind neun weitere türkische Linke verhaftet worden, darunter der Lebensgefährte der Ärztin. Sie alle werden beschuldigt, die 1972 gegründete Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch Leninistisch (TKP/ML) unterstützt zu haben. Diese kämpft in der Türkei auch mit Waffengewalt gegen das türkische Militär. 

Laut eigener Aussage haben die Angeklagten nie eine Waffe in der Hand gehabt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen dagegen die Organisierung von Solidaritätskonzerten und das Sammeln von Spenden für eine terroristische Organisation vor. Nur ist die inkriminierte TKP/ML in Deutschland nicht verboten. Grundlage der Anklage ist der Paragraf 129b, nach dem legale Tätigkeiten kriminalisiert werden können, wenn damit eine als terroristisch klassifizierte Organisation unterstützt worden sein soll. Das Bundesjustizministerium muss in jeden einzelnen 129b-Fall die Verfolgungsermächtigung geben.

Die Haftbefehle gegen Büyükavci und ihre drei Mitangeklagten wurden jüngst außer Vollzug gesetzt. Sie konnten unter Auflagen das Gefängnis verlassen. Büyükavcis Anwälte Yunus Ziyal und Peer Stolle werten die Freilassung als Erfolg. 

Banu Büyükavci kann in der Nürnberger Klinik, an der sie vor ihrer Verhaftung angestellt war, nun weiterarbeiten. Einige ihrer Kolleg_innen hatten sie die ganze Zeit unterstützt. Dazu gehörte Susanne Kaiser. Mit einem kleinen Kreis weiterer Kolleginnen hatte sie sich für die Freilassung Büyükavcis eingesetzt. Sie schrieben unter anderem an verschiedene Landes- und Bundespolitiker. Die meisten Adressat_innen reagierten nicht einmal. Lediglich der Bund der Steuerzahler antworte mit einem Brief. Ihn hatten sie angeschrieben, um auf die Kosten des Münchner Mammutprozesses hinzuweisen. Der geht auch nach der bedingten Freilassung der vier Angeklagten in München weiter. Seit einem Jahr wird im Münchner Strafjustizzentrum verhandelt. 

Erst vor Kurzen begann in Hamburg der Prozess gegen den türkischen Linken Musa Asoglu. Anfang Februar forderten auf einen Kongress in Hamburg Anwält_innen und Solidaritätsgruppen seine Freilassung. Als »Auftragsarbeit für Erdogan« bezeichnen auch die Anwälte Stolle und Ziyal das Münchner TKP-ML-Verfahren. Dieses sei nur durch eine Kooperation der deutschen und türkischen Justiz möglich.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1080133.angeklagte-in-tkp-prozess-freigelassen.html

Peter Nowak

Die deutsche Erpressungspolitik gegen Griechenland geht weiter


Unter Altmaier setzt sich fort, was Schäuble begonnen hat: eine Einmischungs- und Aufpasserpolitik, die das Aufkommen von Rechten in Kauf nimmt

Wenn heute von Politkern Reformen angemahnt oder gefordert werden, bedeutet das für die einkommensarmen Teile der Bevölkerung nichts Gutes. Das kann man im Inland seit mehr als 30 Jahren beobachten.

Noch in den 1970er Jahren waren Reformen mit der Strategie der Sozialdemokratie verbunden, schrittweise Verbesserungen für die Mehrheit der Menschen durchzusetzen. Seit den 1980er Jahren bedeuten Reformen die Zurichtung der Menschen auf die Interessen des Kapitals. Dieses Prinzip gilt im In- und auch im Ausland.

Die Bevölkerung in Griechenland macht schließlich seit 2015 die Erfahrung, wie das Diktat einer von ihr nicht gewählten EU-Troika unter der Federführung Deutschlands ihre Lebensbedingungen entscheidend verschlechtert. Dabei hatte eigentlich eine Mehrheit der griechischen Bevölkerung durch Wahlen und ein Referendum ein „Oxi“, also Nein, zu dieser Politik deutlich gemacht.

Doch die Troika zog die Daumenschrauben an und erreichte mit der Erpressung, dass der einst linkssozialdemokratische Ministerpräsident Tsipras das Gegenteil der Politik umsetzte, für die er ins Amt gewählt wurde. Mittlerweile ist es selbst Teilen der sozialdemokratischen Schwesternparteien peinlich, wie billig Tsipras und seine Partei ihre postulierten Grundsätze aufgegeben hat.

Manche fordern einen Ausschluss aus der Fraktion der Europäischen Linken. Die Verteidiger des Kurses von Tsipras verweisen auf die politische Niederlage, die die Partei und die Mehrheit der Bevölkerung im Sommer 2015 erlitten und die dazu geführt habe, dass die Regierung eine Politik umsetzen muss, von der sie selbst nicht überzeugt sei. Zudem äußern sie die Hoffnung, dass Griechenland das Schlimmste hinter sich habe und bei einer etwas verbesserten ökonomischen Situation den Druck der Troika vermindern könne.

Hoffnungen weckte auch der Rückzug des deutschen Langzeit-Finanzministers Schäuble von seinem Posten. Schließlich hatte der in den entscheidenden Wochen 2015 der griechischen Regierung die Pistole auf die Brust gesetzt – entweder raus aus der Eurozone oder Unterwerfung. Da nun die Mehrheit der Syriza-Leute eben auch nur Sozialdemokraten waren, die nur links blinkten, entschieden sie sich für die Unterwerfung.

Nach Schäuble spielt Altmaier den deutschen Aufpasser in Griechenland

Doch die Hoffnungen auf eine Milderung des Troika-Drucks nach Schäubles Rückzug vom Wirtschaftsministerium erweisen sich als verfrüht. Vor den Finanzministertreffen der EU in Brüssel, auf dem über weitere Hilfstranchen für Griechenland beraten wurde, machte Kanzleramtsminister Peter Altmaier deutlich, was er vom griechischen Protektorat erwartet.

Griechenland müsse alle Reformauflagen erfüllen, um weitere Gelder zu bekommen. Aber der deutsche Protektor belässt es nicht bei allgemeinen Appellen, sondern wird sehr konkret: Deutschland pocht vor allem darauf, dass die griechische Regierung ein System für Zwangsversteigerungen von Häusern und Wohnungen im Internet schafft. Was das für die Betroffenen bedeutet, erfährt man auf einem Blog, der untersucht, welche Folgen die Troika-Politik auf die Bevölkerung hat:

Bisher war die Praxis der Zwangsversteigerungen wegen Schulden an das Finanzamt eher „lethargisch“, da in allen Fällen – besonders „großer“ Schuldner – die programmierten Zwangsversteigerungen meistens fruchtlos verliefen. Und dies, weil auf Basis der „Verordnung über Beitreibung Öffentlicher Einnahmen“ und der griechischen Zivilprozessordnung das Mindestgebot obligatorisch der sogenannte Einheitswert der Immobilien war, was in diesem Fall als „Schutzschild“ wirkte und die „Krähen“ daran hinderte, sich die Immobilien der Steuerpflichtigen zu Spottpreisen „unter den Nagel“ zu reißen. All dies gehört nun jedoch der Vergangenheit an.

Griechenlandblog

Auf dem Blog wird auch erklärt, dass Griechenland entgegen der Hoffnung von Tsipras und Co. auch nach Auslaufen des Memorandums unter strenger Beaufsichtigung stehen wird, bis es zwei Drittel seiner Schulden getilgt hat.

Warum sich Yanis Varoufakis disqualifiziert hat

Die Verschuldung ist eine Methode, um Länder unter Kuratel zu stellen und zu entscheiden, welche Politiker dort noch eine Zukunft haben und welche nicht. Daran beteiligen sich auch regierungsnahe Journalisten wie Wilfried Loth, der in der FAZ kürzlich das neueste Buch des kurzzeitigen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis rezensierte, das den Titel trägt: Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment.

Dabei verschweigt Loth in der Rezension nicht, was die Absicht der deutschen Politik war.

Varoufakis’ Vertrauen in die Stärke des Schwachen ist umso erstaunlicher, als er deutlich sah, dass Wolfgang Schäuble als einer seiner stärksten Gegenspieler mit voller Absicht auf den Grexit zusteuerte. Ein Ende mit Schrecken war dem deutschen Finanzminister lieber als ein Schrecken ohne Ende: Nur so würden sich die anderen Krisenländer der Eurozone auf einen Stabilitätskurs verpflichten lassen.

Mit der Einschätzung, dass das Maßnahmenpaket nicht tragfähig war, das die Troika Ende Juni vorlegte, stimmte er ironischerweise mit Varoufakis überein. Nur zog er daraus eben den Schluss, dass Griechenland jetzt eine „Auszeit“ von der Währungsunion nehmen müsse, während Varoufakis immer noch hoffte, dies verhindern zu können.

Rüdiger Loth, Allein gegen die Troika

Doch Loth kritisiert nun mit keinen Wort dieses antidemokratische Diktat sondern Yaroufakis, weil er nicht die nötige Demut gegenüber dem deutschen Protektor gezeigt hat.

Schade eigentlich. Varoufakis’ enormer finanzpolitischer Sachverstand, der in dem Bericht auch aufscheint, sein Erfindungsreichtum und seine Energie im Kampf gegen griechische Oligarchen und griechischen Klientelismus könnten bei der Überwindung der griechischen Schuldenkrise immer noch hilfreich sein. Die Polemik, mit der er seinen Bericht umrahmt, disqualifiziert ihn freilich für eine solche Rolle.

Rüdiger Loth, FAZ

Geschichtsvergessene Einmischung in die Politik eines anderen Landes

Da ist das Bedauern herauszuhören, dass ein Mann mit einer solchen Begabung wie Varoufakis nicht oder zu wenig für die deutschen Interessen arbeitet. Dass er es auch noch wagt, deutsche Politiker und ihre Hiwis von der Troika zu kritisieren, disqualifiziert ihn in den Augen von Loth für ein politisches Amt in Griechenland. Auf den Gedanken, dass darüber doch eigentlich die griechischen Wähler entscheiden müssten, kommt Loth gar nicht.

Was für eine Geschichtsvergessenheit gegenüber einem Land, das die deutsche Besatzung mit besonderer Grausamkeit zu spüren bekommen hat! Von Deutschlands Schulden wegen nicht gezahlter Reparationen und nicht zurückgezahlter Kredite wagt in Griechenland schon gar niemand mehr zu reden. Das blieb den wenigen Wochen im Frühjahr und Frühsommer 2015 vorbehalten, als die neugewählte griechische Regierung in Einklang mit der Bevölkerungsmehrheit und bestätigt durch Wahlen und ein Referendum es wagte, sich dem europäischen Hegemon Deutschland zu widersetzen.

Mittlerweile haben sich viele aus der enttäuschen griechischen Bevölkerung wieder nationalistischen Themen zugewandt und gehen massenhaft dafür auf die Straße, dass sich das Nachbarland Mazedonien nicht so benennen darf (siehe Namensstreit um Mazedonien: Ausnahmezustand wegen Großdemonstration in Athen). Und die in der Demonstration mit marschierenden Nazis greifen anschließend linke Zentren an.

Dieser Anstieg der Rechten ist auch ein zumindest in Kauf genommener Effekt des Austeritätsdiktats der EU-Troika. Kurz nach der Regierungsübernahme von Syriza wurde ein Troika-Vertreter aus dem Land geschickt. Das war ein Zeichen von Souveränität. Als die Troika-Vertreter zurückkamen, war die Niederlage von Syriza besiegelt. Doch wer klagt jene EU-Politiker – die aus Deutschland an erster Stelle – an, die sich seit Jahren bis heute in die Politik eines souveränen Staates Griechenland einmischen und die Wahlergebnisse ebenso ignorieren wie Ergebnisse von Referenden?

In den USA wurden nun russische Einzelpersonen und Institutionen wegen Einmischung in die Politik des Landes angeklagt .Was ihnen vorgeworfen wird, ist harmlos gegenüber der Einmischung der EU-Troika und besonders Deutschlands in die griechische Innenpolitik.

Diese Mächtigen denken gar nicht daran, dass Griechenland in der Lage sein könnte, diese Politiker und Bürokraten anzuklagen. Und welches Gericht würde eine solche Anklage annehmen? Schließlich ginge es ja hier um die Anklage einer jahrelangen politischen Praxis und wäre nicht Teil eines Theaters wie die Klagen gegen Russland in den USA.

https://www.heise.de/tp/features/Die-deutsche-Erpressungspolitik-gegen-Griechenland-geht-weiter-3973857.html

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.kleinerbuchladen.de/shop/rainer-balcerowiak-die-heuchelei-von-der-reform
[2] https://www.dielinke-europa.eu/de/article/8985.gue-ngl-die-fraktion-der-linken-im-europaeischen-parlament.html
[3] https://peteraltmaier.de/
[4] http://www.deutschlandfunk.de/griechenland-altmaier-fordert-einhaltung-von-reformzusagen.1939.de.html?drn:news_id=852491
[5] http://www.griechenland-blog.gr/
[6] http://www.griechenland-blog.gr/2017/08/griechenlands-finanzaemter-sollen-immobilienvermoegen-pluendern/2140507/
[7] http://www.griechenland-blog.gr/2017/08/griechenlands-finanzaemter-sollen-immobilienvermoegen-pluendern/2140507/
[8] http://www.griechenland-blog.gr/2018/02/griechenland-es-gibt-ein-leben-auch-ohne-kruecken/2141902/
[9] https://www.yanisvaroufakis.eu/
[10] https://www.kunstmann.de/buch/yanis_varoufakis-die_ganze_geschichte-9783956142024/t-0/
[11] http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/yanis-varoufakis-die-ganze-geschichte-15433969-p2.html
[12] http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/yanis-varoufakis-die-ganze-geschichte-15433969-p2.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/Namensstreit-um-Mazedonien-Ausnahmezustand-wegen-Grossdemonstration-in-Athen-3960105.html
[14] http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/30837

»Demonstrationsrecht verteidigen«


Gewerkschaften gegen Grundrechtseinschränkungen / Kritik an Kriminalisierung von Vereinen

Das Bündnis »Demonstrationsrecht verteidigen« will im Sommer 2018 in mehreren Städten mit Demonstrationen gegen den Abbau der Grundrechte protestieren. Die Initiative entstand unmittelbar nach dem G20-Treffen im vergangenen Jahr in Hamburg. Dort mussten Tausende die Erfahrung machen, dass Grundrechte massiv beschnitten wurden. Das fing mit der polizeilichen Verhinderung eines Camps von Gipfelgegnern an, trotz gegenteiliger Gerichtsentscheidungen. Demonstrations- und Kundgebungsverbote gehörten ebenso dazu, wie Buskontrollen während der An- und Abreise der Demonstranten. Betroffen davon war auch eine Gruppe von Gewerkschaftern wie Nils Jansen. Er ist Mitglied im ver.di-Bezirksjugendvorstand NRW-Süd und Sprecher der Initiative »Grundrechte verteidigen«. Bereits am 7. Oktober 2017 organisierte das Bündnis einen bundesweiten Grundrechtekongress in Düsseldorf, an dem über 100 Menschen aus außerparlamentarischen Initiativen aber auch der LINKEN teilnahmen. Die dort verabschiedete Erklärung endete mit dem Bekenntnis: »Die uns durch unsere Verfassung gewährten Rechte lassen wir uns nicht nehmen.« Dort verständigte man sich auch auf Protestaktionen im Jahr 2018.

Auf einem bundesweiten Vorbereitungstreffen, das am 4. März von 11 – 17 Uhr im Haus Gallus in Frankfurt am Main stattfinden wird, sollen die Planungen für die Protestaktionen vorbereitet werden. Dabei setzt man auf dezentrale Aktionen in vier Städten in Deutschland. Initiativensprecher Nils Jansen macht im Gespräch mit »nd« deutlich, dass es bei den Aktionen nicht nur um den Kampf gegen die Einschränkungen des Demonstrationsrechts geht. In einem Aufrufentwurf, den die Grundrechteinitiative kürzlich veröffentlichte, wird die Kriminalisierung linker türkischer und kurdischer Vereine kritisiert. In den vergangenen Monaten sind mehrere ihrer Demonstrationen polizeilich aufgelöst worden, weil inkriminierte Symbole und Fahnen gezeigt wurden.

Auch die Einschränkung von Gewerkschaftsrechten durch das Tarifeinheitsgesetz wird von der Grundrechtsinitiative kritisiert. Das Gesetz schränkt die Rechte von kleineren Gewerkschaften in einem Betrieb massiv ein und wurde von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di abgelehnt.

Doch die geplanten Proteste haben auch eine geschichtliche Dimension. »Wir wollten die Erfahrungen, die wir beim G20-Gipfel mit den Grundrechtseinschränkungen gemacht haben, mit einem historischen Datum verbinden«, betont Nils Jansen. Am Mai 1968 protestierten Tausende Menschen unter dem Motto »Notstand der Demokratie« gegen die von der damaligen großen Koalition vorangetriebenen Notstandsgesetze mit einem Sternmarsch in der damaligen BRD-Hauptstadt Bonn. Er war der Höhepunkt einer jahrelangen außerparlamentarischen Bewegung, an der sich junge und alte Linke, darunter viele Gewerkschafter beteiligen. Die Initiative »Grundrechte verteidigen« will 50 Jahre danach an diese Kämpfe anknüpfen und wieder sind Gewerkschaften federführend daran beteiligt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1079966.demonstrationsrecht-verteidigen.html

Peter Nowak

Whistleblower unter Druck

Warenschmuggel in der JVA Tegel: Disziplinarstrafen für Häftlinge, die Verfahren ins Rollen brachten

Im September 2016 berichtete das ZDF-Magazin „Frontal 21“, dass Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Tegel im Knast produzierte Produkte über den anstaltseigenen Fahrdienst für den Eigenbedarf oder den Weiterverkauf ohne Lieferschein aus dem Gefängnis schmuggeln. Bereits im November 2017 wurden die Ermitt- lungen gegen sämtliche beschuldigte JVA-Mitarbeiter eingestellt, bestätigte der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft Martin Steltner kürzlich. Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) zeigte sich zufrieden, dass der Verdacht gegen die MitarbeiterInnen ausgeräumt wurde.

Gefangene in die Rentenversicherung und Mindestlohn auch für Arbeit hinter Gittern

Als verheerendes Signal für die Whistleblower hinter Gittern bezeichnet hingegen die Berliner Soligruppe der Gefangenengewerkschaft/bundesweite Organisation (GG/BO) die Einstellung. Martina Franke äußerte gegenüber der taz Zweifel an der Gründlichkeit der Ermittlungen: „Unseren Angaben nach haben sich bei der Polizei, angeregt durch die damalige TV-Berichterstattung, mehrere Gefangene gemeldet, die eine Klau- und Schmuggelwirtschaft seitens der Bediensteten bestätigen hät- ten können, aber nicht vernommen worden.“ Die Whistleblower, die das Verfahren ins Rollen gebracht haben, befürchten nun wegen falscher Beschuldigungen belangt zu werden. Sie waren von Anfang an Druck im Knast ausgesetzt. Häftlinge, die von der Schmuggelwirtschaft profitierten, haben sie gemobbt und bedroht. Die Gefängnisleitung verhängte gegen zwei der Whistleblower Disziplinarstrafen, weil sie den Schmuggel mit einem Mobilteleon gefilmt und damit gegen das Handyverbot im Knast verstoßen haben. Die GG/BO unterstützt die Gefangenen weiterhin. Die 2014 in Tegel gegründete Interessenvertretung hält es für den größeren Skandal, dass die geschmuggelten Produkte unter Bedingungen des Sozial- und Lohndumpings von Gefangenen hergestellt werden. Die GG/ BO fordert die Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung und den Mindestlohn auch für Arbeit hinter Gittern. Sebastian Brux, Sprecher des Justizsenators, wollte die Kritik der Gewerkschaft nicht kommentieren.

taz, dienstag, 20. februar 2018

Peter Nowak

Die Welt am Abgrund

Bei der sogenannten Sicherheitskonferenz in München wurde deutlich: Die konkurrierenden kapitalistischen Blöcke steuern auf einen größeren Krieg zu

Eigentlich hatte der nur kommissarisch amtierende Bundesaußenminister Sigmar Gabriel[1] seinen Auftritt bei der sogenannten Münchner Sicherheitskonferenz schon abgesagt. Schließlich sollte er seinen Posten an Martin Schulz abgeben. Der musste allerdings auf Druck der Partei wenige Stunden nach der Ankündigung seines künftigen Postens wieder einen Rückzieher machen.

Damit ist aber noch längst nicht entschieden, ob Gabriel im Amt bleibt, selbst wenn die SPD-Basis das Bündnis mit der Union absegnet. Schließlich ist die innerparteiliche Konkurrenz groß. Aber nach München ist Gabriel doch noch gefahren und hat mit seiner Vision der Weltlage, die man sonst eher aus den Reihen der deutschen Friedensbewegung kannte, die ja vor allem in den 1980er Jahren die Apokalypse[2] beschworen hat, für Aufsehen gesorgt.

Auch Gabriel erklärte[3] in München, dass die Welt zu Beginn des Jahres 2018 am Abgrund stehe. Dabei verwies er auf den weiterhin ungelösten Ukrainekonflikt und die Gefahr, dass sich rund um Syrien die unterschiedlichen Machtblöcke auch militärisch in die Quere kommen.

Welche Rolle spielen die USA in Syrien?

Der Deutschlandfunk-Analyst Thilo Kößler gibt Gabriel in Bezug auf Syrien argumentative Unterstützung[4]:

Bis zu 200 russische Söldner sollen laut „New York Times“ bei einem Luftschlag der USA getötet worden sein. „Die Gemengelage in Syrien werde immer gefährlicher, sagte US-Korrespondent Thilo Kößler im Dlf. Er habe nicht den Eindruck, dass die US-Regierung sich des Gefahrenpotenzials bewusst sei.

Thilo Kößler im Gespräch mit Manfred Götzke, Deutschlandfunk[5]

Diese Einschätzung erinnert doch stark an die Debatte über die Ursachen des 1914 begonnenen großen Konflikts, der in der Geschichtswissenschaft – trotz begründeter Einwände aus den Ländern des globalen Südens – weiterhin als 1. Weltkrieg firmiert.

Vor dem 100. Jahrestag der Beendigung des Konflikts haben einige konservative Historiker die These aufgebracht, dass alle beteiligen Machthaber wie Strafwandler[6] in diesen Konflikt hineingeschlittert seien, sich damals also auch des Gefahrenpotentials nicht bewusst gewesen seien. Die These wurde vor allem in Deutschland positiv aufgenommen, wird doch vor allem die Verantwortung dieses Landes für den Ausbruch des Krieges damit relativiert.

Aber die Historiker haben natürlich die Wirtschaft, Militär und Politik der anderen beteiligten Länder ebenfalls entschuldigt. Nach ihrer Lesart gibt es keine ökonomischen und politischen Interessen, die zu Konflikten zwischen Machtblöcken treiben, die dann zu Kriegen führen. Daher machen sie sich auch gar nicht erst die Mühe, solche Interessen erkennen zu wollen. Das kann man sowohl Thilo Kößler als auch Sigmar Gabriel attestieren.

Die Nahost-Korrespondentin Karin Leukefeld[7] hingegen versucht sich an einer sehr einseitigen Einschätzung der Interessen in dem Konflikt, wenn sie konstatiert[8]: „Washington braucht Krieg in Syrien, um den Mittleren Osten ’neu zu ordnen‘.“

Wenn Leukefeld dann schreibt, dass die vom Westen ausgehende Teilung Syriens auf US-Konzepte eines „Neuen Mittleren Ostens“ zurückgehen, die seit den 1950er Jahren in verschiedenen Varianten aufgelegt wurden, läge doch die analytische Leistung gerade darin, die verschiedenen Varianten darzustellen und herauszuarbeiten, wie sie auf die Veränderungen der letzten Jahrzehnte reagieren.

Schließlich sind inzwischen die nominalsozialistischen Staaten zusammengebrochen, die „Islamische Revolution in Iran“ hat die Region eben so stark beeinflusst, wie die islamistischen Anschläge vom 11.9.2001 und die Entmachtung von Saddam Hussein im Irak, um nur einige Aspekte zu nennen. Stattdessen kommt dann folgende Behauptung, die Leukefeld nicht weiter begründet[9]:

Ziel ist, die arabischen Staaten zu zerbrechen, um eine geostrategische Kontrolle über die Region durchzusetzen. Israel, der wichtigste Bündnispartner des Westens in der Region, wird dafür in die EU-NATO-Strukturen eingebunden und militärisch gestärkt.

Karin Leukefeld[10]

Hier fällt vor allem auf, dass Leukefeld vorrangig die USA und Israel als Akteure nennt, die sie mit der Zerstörung arabischer Staaten in Verbindung bringt und denen sie vorwirft, damit den Konflikt voranzutreiben. Russland ist in dieser Lesart ein Akteur, der auf Wunsch der syrischen Regierung den Status Quo verteidigt.

Ausgeblendet wird, dass sich diese arabischen Staaten längst zu autoritären, teils despotischen Gewaltmaschinen entwickelt hatten, die Teile der Bevölkerung oft an Hand von ethnischen Kriterien unterdrückten und damit die Ursache für die Destabilisierung in der Region geschaffen haben. Nur so ist auch zu erklären, dass große Teile der syrischen Kurden heute zeitweise mit den USA verbunden sind.

Auch der Konflikt Saudi-Arabien-Iran ist eben nicht dadurch entstanden, dass die USA seit 1950 die arabischen Staaten zerstören will. Schließlich ist ja das arabische Königreich in diesem Fall Bündnispartner der USA gegen den nichtarabischen Iran. Allein hieran zeigt sich, wie unzureichend es ist, einfach auf jahrzehntealte US-Strategen zu verweisen.

Immerhin ist Leukefeld in ihrem Text nicht mehr auf die Ölinteressen rekurriert, die schließlich noch die deutsche Friedensbewegung der 1990er Jahre in der Parole „Kein Blut für Öl“[11] zusammengefasst haben.

Krieg und Kapitalismus

Nun ist klar, dass niemand eine Analyse der aktuellen Konflikte am Beispiel Syrien erstellen kann, die alle Aspekte und die beteiligten Akteure berücksichtigt. Schließlich ändern sich ja auch häufig politische Konstellationen und es kommen Details hinzu, die man bisher gar nicht übersehen konnte. Man braucht nur den Schlingerkurs der Türkei in den letzten Jahren im Syrienkonflikt dafür heranzuziehen.

Vor wenigen Jahren wollte das Erdogan-Regime mit dem Sturz von Assad die eigenen außenpolitischen Ambitionen ausweiten. Mit dem Eintritt Russlands in dem Konflikt sind diese Pläne grandios gescheitert und zeitweilig sah es so aus, als würden sich in Syrien das Nato-Mitglied Türkei und Russland bekämpfen. Da wurde schon diskutiert, ob in diesem Fall auch die Beistandsverpflichtung der Nato greift.

Nun hat sich die Türkei mit Russland arrangiert und versucht, ihre außenpolitischen Interessen mit denen des syrischen Regimes und Russlands abzugleichen. Das kann allerdings bald wieder scheitern. Jetzt sind es die USA und nicht mehr die Türkei, die wohl für den Tod russischer Staatsbürger verantwortlich sind[12]. Nur weil es wohl um eine Privatarmee und nicht um reguläre russische Soldaten handelt, hatte der Vorfall keine gravierenden Auswirkungen.

Russland tut sich sehr schwer, diese russische Präsenz in Syrien zu bestätigen. Das war auch in der Ukraine schon so, wo offiziell lange Zeit keine russischen Staatsbürger in dem Konflikt involviert waren. Wenn es außenpolitisch passt, werden aus diesen inoffiziellen Kombattanten dann schnell auch mal „Helden für das Vaterland“. Eine Kritik daran müsste sämtliche an dem Konflikt beteiligten Staaten und Akteure in den Blick nehmen und deutlich machen, dass es da nicht „die Guten und Bösen“ gibt, sondern konkurrierende Machtblöcke.

Vielmehr könnte am Syrienkonflikt deutlich gemacht werden, dass sich hier einmal mehr bestätigt, dass es in einer kapitalistischen Welt Kriege immer geben wird. Das hat seinen Grund nicht in erster Linie in bösen und guten Politikern, sondern darin, dass die einzelnen kapitalistischen Staaten und Staatenbünde ihre Interessen gegen ihre Konkurrenten in allen Formen austragen. Krieg war und ist dabei immer eine Option.

Daher war auch der in manchen Kreisen verbreitete Glaube, dass nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation 1989 der allgemeine Frieden ausbricht, nur naiv und geschichtsvergessen. Recht behalten haben die schlaueren Analysten, die bereits vor mehr als 25 Jahren in der Zeitschrift Konkret und ähnlichen Publikationen eine Wiederkehr der Situation wie vor 1914 prognostizierten.

Die durch den Ost-West-Konflikt zeitweise stillgelegten Konflikte zwischen Ländern und Ländergruppen treiben wieder einem Krieg mit möglicherweise weltweiter Dimension zu. Syrien ist da nur das aktuelle Beispiel.

EU: Teil des Problems und nicht der Lösung

Was vielleicht auch die schlaueren Analysten überrascht haben mag, ist die Schnelligkeit, in der es Deutschland gelungen ist, als EU-Hegemon seine weltpolitischen Interessen zu formulieren. Auch dafür war Gabriels Rede[13] auf der Münchner Sicherheitskonferenz ein gutes Beispiel. Er hat die EU mit Vegetariern in einer Welt von Fleischessern bezeichnet, eine Metapher für eine Macht, die angeblich in Frieden mit allen leben will, aber die böse Welt lässt es nicht zu.

So stilisierte sich noch jede Macht als eigentlich den Frieden fördernd, während sie den Krieg vorbereitete. Dabei nannte Gabriel China ebenso als Antipode wie die USA unter Trump. Die Bezüge auf die historisch gewachsenen Beziehungen dürfen dabei nicht fehlen. Aber deutlich wird, dass die EU ebenso eine konkurrierende kapitalistische Macht ist.

Natürlich erwähnte Gabriel nicht, wie die EU und besonders Deutschland am Balkan und in der Ukraine die Krise vorangetrieben haben. Schließlich ging sie in beiden Fällen von der besonderen Förderung prodeutscher Kräfte aus, was den Konflikt anheizte.

Als besonderen sozialdemokratischen Akzent wollte Gabriel seine bei einem Treffen mit Russlands Außenminister gemachten Ankündigungen, die Sanktionen mit Russland schrittweise zu lockern, verstanden wissen. Das kommt dem Teil der deutschen Wirtschaft entgegen, der sich Profite vom Russlandgeschäft erhoffte.

Andere Kapitalkreise haben aber andere außenpolitische Interessen und markieren solche Ankündigung gleich als Einknicken gegen Russland. Besonders das grünennahe Spektrum ist da besonders laut.

Die USA schalten keine Anzeigen, sondern schicken Kanonenboote

Dort wird auch besonders bejubelt, dass in den USA jetzt 13 russische Firmen und Einzelpersonen wegen Beeinflussung der Wahlen in den USA angeklagt werden[14]. Geht man davon aus, dass die Vorwürfe stimmen, werden völlig gewöhnliche Aktionen wie das Schalten von Anzeigen oder das Posten von Meldungen zu einer Verschwörung gegen die USA hochstilisiert.

Wenn sich bisher die USA in den Wahlkampf oder den politischen Prozess eines Landes eingemischt haben, kamen ganz andere Töne. Erst kürzlich ermutige US-Außenminister Tillerson das venezolanische Militär zum Putsch gegen die dortige Maduro-Regierung. Tillerson hatte auch einen Katalog von Forderungen genannt, mit denen Maduro das Wohlwollen der USA gewinnen könnte.

Der US-Außenminister hat sich damit in die Tradition der US-Politik gegen andere amerikanische Länder gestellt, die als „Kanonenboot-Politik“ berüchtigt wurde. Da wurden keine Anzeigen geschaltet und keine Internetkommentare lanciert, sondern mit dem Kanonenboot gedroht oder es gleich geschickt.

Auch die deutsche Regierung liebt direktere Mittel, um Wahlentscheidungen in für sie wichtigen Regionen zu beeinflussen. Da zeigte ein Außenminister Westerwelle in der Ukraine, auf welcher Seite des politischen Spektrums er stand. Den griechischen Wählern wurde 2015 ganz klar gesagt, was passiert, wenn sie die damalige Linkspartei Syriza an die Regierung wählen und genau diese ökonomische Strangulierung wurde dann auch umgesetzt, bis Tsipras vor dem Diktat der EU-Troika kapitulierte.

Das Schauspiel der US-Anklagen wegen der russischen Wahleinmischung ist daher nur ein Teil des Konflikts miteinander konkurrierender kapitalistischer Zentren. Dazu gehört Russland wie der von Deutschland dominierte EU-Block genauso wie die USA. „Nach Osten“ lautete die Unterschrift unter einem Foto, das Bundeswehrsoldaten mit militärischem Gerät auf dem Weg nach Litauen zeigt.

Es ist ebenso ein Teil des Puzzles der gegenwärtigen Welt am Abgrund, die Gabriel in seiner Münchner Rede beschwor. Er und seine Politik sind aber wie die gesamte Konferenz Teil des Problems und nicht die Lösung.

Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Die-Welt-am-Abgrund-3972577.html
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[1] https://sigmar-gabriel.de
[2] http://www.bpb.de/apuz/59696/popularitaet-der-apokalypse-zur-nuklearangst-seit-1945?p=all
[3] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/rede-muenchner-sicherheitskonferenz/1599848
[4] http://www.deutschlandfunk.de/russlands-rolle-in-syrien-usa-unterschaetzen.799.de.html?dram:article_id=411014
[5] http://www.deutschlandfunk.de/russlands-rolle-in-syrien-usa-unterschaetzen.799.de.html?dram:article_id=411014
[6] https://www.amazon.de/Die-Schlafwandler-Europa-Ersten-Weltkrieg/dp/3421043590
[7] https://leukefeld.net/
[8] https://www.jungewelt.de/artikel/327428.stabilisierung-%C3%A0-la-usa.html
[9] https://www.jungewelt.de/artikel/327428.stabilisierung-%C3%A0-la-usa.html
[10] https://www.jungewelt.de/artikel/327428.stabilisierung-%C3%A0-la-usa.html
[11] https://www.antimilitarismus-information.de/ausgaben/2003/4-03_2.pdf
[12] http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-russlands-tote-soeldner-tote-zweiter-klasse-a-1193899.html
[13] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/rede-muenchner-sicherheitskonferenz/1599848
[14] http://www.sueddeutsche.de/politik/russland-affaere-us-justiz-klagt-russen-wegen-wahl-einmischung-an-1.3871612

Weniger Profit, mehr bezahlbarer Wohnraum

Seit über einem Jahr stellt die Linkspartei in Berlin die Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen. An den steigenden Mieten in der Hauptstadt hat das nichts geändert.

Ein Jahr im Amt – das ist für Politiker immer eine willkommene Gelegenheit für Selbstbespiegelung und die Präsentation ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Erfolge. Auch Katrin Lompscher von der Linkspartei nutzte ihr einjähriges Jubiläum als Berliner Wohnungs- und Stadtentwicklungs­senatorin für eine Bilanz. »Was wurde in einem Jahr in der Wohnungsfrage ­geschafft beziehungsweise was nicht?« – unter diesem leicht verschwurbelten Motto stand die Diskussion, zu der die »Helle Panke«, die Berliner Sektion der Linkspartei-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, Ende Januar eingeladen hatte.

Moderiert wurde die Debatte von Andrej Holm, den viele der zahlreichen Besucher freundlich begrüßten und mit Vornamen anredeten. Schließlich ist Holm seit Jahren als Mieteraktivist bekannt. Sein kurzes Gastspiel als Staatssekretär, das er wegen Stasivorwürfen bald beenden musste, schuf ein ungewöhnliches Bündnis: »Holm bleibt« lautete das Motto einer kurzlebigen Kampagne, bei der sich Mitglieder der außerparlamentarischen Mieterbe­wegung erstmals in ihren Leben für einen Politiker stark machten. Was bei der Veranstaltung deutlich wurde: Nach Holms Rücktritt blieb das Verhältnis zwischen großen Teilen der mieten- und stadtpolitischen Bewegung in Berlin und dem Senat entspannt.

Nur kurz wurde es etwas lauter – weil sich einige Menschen beschwerten, die keinen Einlass mehr in dem vollen Saal fanden.

Die mehr als 250 Teilnehmer hörten geduldig zu, als Lompscher ihre kleinen Erfolge anpries. Zu der lockeren Atmosphäre dürfte beigetragen haben, dass die Senatorin gar nicht bestritt, dass sich für einen Großteil der Mieter mit geringen Einkommen in Berlin wenig zum Besseren gewendet hat. Das bestätigte die Mieteranwältin Carola Hand­werg mit einem Bericht aus ihrer täglichen Praxis. Demnach formulierten die Eigentümer die Begründungen für Kündigungen immer kreativer und kämen damit bei den Gerichten häufig sogar durch. Zudem sei die Zahl der Zwangsräumungen von Wohnungen in Berlin weiter gestiegen, auch städtische Wohnungsgesellschaften seien an dem Anstieg beteiligt.

Lompscher behauptete, dass die Wohnungen meistens schon verlassen und Zwangsräumungen daher nicht nötig seien. Dabei ist bekannt, dass viele ­Betroffene aus Scham lieber bei Bekannten auf der Couch oder gleich auf der Straße übernachten, als sich räumen zu lassen. An der Stelle wäre für die ­außerparlamentarische Linke zumindest die Forderung nach einem Räumungsmoratorium bei städti­schen und kommunalen Wohnungsbaugesellschaften angebracht gewesen. Eine solche Forderung muss allerdings von unten durchgesetzt werden, indem man die betroffenen Mieter bestärkt, nicht freiwillig auszuziehen, und stattdessen die Verantwortlichen in ihren Büros besucht.

Die Eigentumsfrage stellte in der »Hellen Panke« dann wenigstens Ralf Neumann von der Mieten-AG der Interventionistischen Linken (IL). Man ­müsse dafür sorgen, dass die Profite der Immobilienfirmen sinken, sagte er. Dazu hat die Mieten-AG unter dem Titel »Das Rote Berlin« eine Broschüre veröffentlicht. Der Titel knüpft an die linkssozialdemokratische Wohnungs­politik im sogenannten Roten Wien der zwanziger Jahre des vorigen Jahr­hunderts an, als mit großzügig finanziertem kommunalem Wohnungsbau tatsächlich einige Erfolge in der Wohnungsfrage erzielt wurden.

In ihrem Konzept schlägt die IL »Strategien für eine sozialistische Stadt« vor, so der Untertitel. Der private Wohnungsmarkt solle durch Steuern, ­Regulierung und Marktbehinderung zurückgedrängt und so die Spekula­tion mit Wohnraum un­attraktiv gemacht werden. In einem nächsten Schritt ­solle der Wohnraum durch Aufkauf und Enteignung ­rekommunalisiert und zusammen mit den bereits in Landeseigentum befindlichen Wohnungen in demokratische Selbstverwaltung überführt werden. Dafür will die IL Mieter politisch organisieren und zivilen Ungehorsam sowie Projekte wie das Mietenvolksbegehren unterstützen.

Die Bewegung müsse außerparlamentarisch bleiben, betont die IL in der Borschüre. Gespräche mit Parteien­vertretern lehnt sie aber nicht ab. Es sei radikaler bei den Parteien die Erfüllung von Wahlversprechen einzufordern, als abstrakte Verratsvorwürfe zu er­heben, heißt es in Richtung jener Autonomen, die etwa in der aktuellen ­Ausgabe der Zeitschrift radikal die IL bereits als Vorfeldorganisation der Linkspartei einordnen – und bekämpfen wollen.

Interventionistische Linke Berlin: Das Rote Berlin. Strategien für eine sozialistische Stadt. Berlin 2018, 47 Seiten, kostenloser Download unter interventionistische-linke.org/beitrag/das-rote-berlin

https://jungle.world/artikel/2018/07/weniger-profit-mehr-bezahlbarer-wohnraum

Peter Nowak

Mit dem 129b gegen kurdische und türkische Oppositionelle


Die deutsche Politik ermächtigt die Kriminalisierung von Oppositionellen, die auch in der Türkei verfolgt werden

Der 14. Februar stand ganz im Zeichen der Solidarität mit Deniz Yücel, dem Journalisten, der nunein Jahr in der Türkei im Gefängnis ist. Zum Jahrestag erschien einBuchmit Texten, die Yücel im Gefängnis geschrieben hat. Viele Zeitungen berichteten über den Fall.

Im Fall Deniz Yücel gibt s in Deutschland längst das ganz große Bündnis. Die Parole „Free Deniz“ blinkt täglich am Springerhochhaus und auch einige hundert Meter finden wir sie im Schaufenster der linksliberalen Tageszeitung taz. Für beide Zeitungen hat Yücel geschrieben. Begonnen hat er seine journalistische Laufbahn bei der linken Wochenzeitung Jungle World. Damals waren seine zentralen Themen die Kritik an den deutschen Verhältnissen. Viele derer, die sich heute für Yücel einsetzen, hätten ihn damals bekämpft.

Nun kann man Deniz Yücel nur wünschen, dass er, der längst zum Spielball politischer Interessen der Machthaber in der Türkei geworden ist, bald freigelassen wird. Dann hätte auch die Heuchelei der Medien ein Ende, die sich im Fall Yücel über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei echauffieren können und nichts dabei finden, dass Deutschland seit Jahren mit dafür sorgt, das kurdische und türkische Oppositionelle verfolgt werden.

Das Justizministerium muss in jedem Fall die Justiz zum Ermitteln ermächtigen

Darauf haben am vergangenen Wochenende auf der de Internationalen Konferenz“Freiheit für Musa Asoglu”hingewiesen. Musa Asoglu ist vor der Hamburger Justiz seit Ende Januar 2018 wegen Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach dem Paragraph 129b angeklagt. Die beiden Rechtsanwältinnen Anwältinnen Gabriele Heinecke und Fatma Sayin wiesen auf einen Satz in dem Paragraphen hin, der oft übersehen wird. “

In den Fällen des Satzes 2 wird die Tat nur mit Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz verfolgt. Die Ermächtigung kann für den Einzelfall oder allgemein auch für die Verfolgung künftiger Taten erteilt werden, die sich auf eine bestimmte Vereinigung beziehen. Bei der Entscheidung über die Ermächtigung zieht das Ministerium in Betracht, ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich erscheinen.

2008 wurde das erste Mal mit den Paragraphen 129b linker Widerstand im Ausland vor deutschen Gerichten abgeurteilt. Fünf vermeintliche Mitglieder der türkischen kommunistischen DHKP/C wurden vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht angeklagt und verurteilt. Das war ein Pilotverfahren. Seit Juni 2016 läuft in München einVerfahren gegen elf mutmaßliche Mitglieder der türkischen Kommunistischen Partei TKP/ML. Alle haben sie seit Jahren legal in Deutschland gelebt und gearbeitet, bis sie durch ihre Verhaftung im Jahr 2015 aus ihrem Alltag herausgerissen worden sind.

2010 entschied der Bundesgerichtshof, dass auch Mitglieder der kurdischen Arbeiterpartei PKK nach dem Paragraphen 129 b angeklagt werden können. Davon wird seitdem reichlich Gebrauch gemacht. Die Aktivitäten der kurdischen Bewegung, die sich in den letzten 20 Jahren eine gründliche Revision ihrer bisherigen traditionsmarxistisch-leninistischen Positionen vorgenommen hat, die sich dem Demokratischen Konföderalismus zugewandt hat und die den Kämpfen der Frauen einen großen Stellenwert zuschreibt, werden von der deutschen Justiz mit dem Terrorismusparagraphen abgeurteilt.

Dabei ist es Kennzeichen dieses Paragraphen, dass in Deutschland völlig legale Tätigkeiten, wie das Sammeln von Spenden und das Organisieren von Solidaritätskonzerten mit Gefängnisstrafen geahndet werden kann, wenn das Gericht der Meinung ist, dass es sich dabei um Aktivitäten für eine terroristische Organisation im Ausland geschieht.

Jubel bei der türkischen Presse und Politik

Dass nun der Paragraph 129b den Schlüssel dafür bietet, dass türkische und kurdische Oppositionelle auch in Deutschland juristisch verfolgt werden können, freut natürlich die türkische regierungsnahe Presse und die Politik. Die Medien berichten daher auch ausführlich über solche Verfahren und fordern die deutsche Regierung auf, mit der Anwendung des Paragraphen noch großzügiger umzugehen.

Es ist allerdings keine Gefälligkeit der deutschen Politik und Justiz für ihre türkischen Kollegen und auch nicht die oft prognostizierte lange Hand Erdogans, die bei den 129b-Verfahren in Deutschland maßgeblich ist. Es gibt vielmehr bei den deutschen und türkischen Staatsapparaten ein Verfolgungsinteresse. Darin liegt auch der Grund, dass ein Großteil der Medien, die im Fall Yücel die Situation der Menschenrechte in der Türkei beklagen, keine Einwände haben, wenn die deutsche Politik die Ermittlung gegen Menschen erlaubt, die bereits in der Türkei verfolgt wurden.

https://www.heise.de/tp/features/Mit-dem-129b-gegen-kurdische-und-tuerkische-Oppositionelle-3970067.html

Peter Nowak
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[1] http://www.dw.com/de/deniz-y%C3%BCcel-365-tage-eingesperrt/a-42470693
[2] http://www.edition-nautilus.de/programm/Flugschriften/buch-978-3-96054-073-1.html
[3] http://political-prisoners.net/item/5652-internationale-konferenz-zum-s-129b-prozess-gegen-musa-aolu-am-1011-2-2018-in-hamburg.html
[4] http://dejure.org/gesetze/StGB/129b.html
[5] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/
[6] http://demokratischeautonomie.blogsport.eu/?page_id=12
[7] https://www.heise.de/tp/features/Grup-Yorum-Verbote-Schikanen-finanzielle-Verluste-3744759.html
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