Versand im Getriebe

Beschäftigte von Amazon kämpfen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen

Der Weltkonzern Amazon weigert sich, seine Angestellten dem Tarif für den Einzel- und Versandhandel entsprechend zu entlohnen. Dagegen regt sich Widerstand.

Ende September sollte das neue Computerspiel »Fifa 18« erscheinen und viele Gamer sorgten sich, ob Amazon es ihnen pünktlich liefern werde. »So wie viele Spielerinnen und Spieler auf die Auslieferung des neuen Fifa-Spiels warten, warten die Beschäftigten auf faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen«, sagte Silke Zimmer von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi aus diesem Anlass. Pünktlich zum Erscheinen des Spiels waren Beschäftigte bei dem Versandhändler in Streik getreten. Sie forderten die Anwendung des Tarifvertrags des Einzel- und Versandhandels. Nach Angaben von Verdi kam es in den Versandzentren Graben, Leipzig, Bad Hersfeld, Werne und Koblenz zu Arbeitsniederlegungen. In dem Tarifkonflikt ist es bereits seit dem Frühjahr 2013 immer wieder zu Streiks gekommen, doch der Konzern weigert sich weiterhin, über die Gewerkschaftsforderungen zu verhandeln.

Der Arbeitskampf bei Amazon hat eine besondere Bedeutung über die unmittelbar Beteiligten hinaus. Zumindest in Ansätzen ist eine transnationale Organisierung entstanden. So gab es mehrere Treffen von Amazon-Beschäftigten aus Polen und Deutschland. Besonders die in der anarcho-syndikalistischen Basisgewerkschaft »Arbeiterinitiative« (IP) organisierten Kollegen in Poznań solidarisierten sich mit dem Arbeitskampf in Deutschland. Solche länderübergreifenden Solidarisierungen sind eher selten. Verdi kooperiert zudem in Polen mit der eher konservativen Gewerkschaft Solidarność, nicht aber mit der kämpferischen IP. Dass es trotzdem zu einer Kooperation der Beschäftigten kam, ist auch der Arbeit eines außergewerkschaftlichen Solidaritätsbündnisses zu verdanken. Besonders in Leipzig hat es engen Kontakt mit dem Teil der Belegschaft ent­wickelt, der sich regelmäßig an Streiks beteiligt. Es gab mittlerweile drei bundesweite Treffen.

Höhepunkt der Solidaritätswoche soll die Blockade des Amazon-Verteilzentrums in Berlin werden.

Für Ende November plant ein außerbetriebliches Bündnis eine Solidaritätswoche unter dem Motto »Make Amazon Pay«. Höhepunkt soll die Blockade des Amazon-Verteilzentrums in Berlin am 24. November werden. Der Termin ist mit Bedacht gewählt. Seit Wochen bewirbt das Versandunternehmen den 24. November als »Black ­Friday«. An diesem Tag will Amazon mit besonders günstigen Angeboten ­locken, so dass das Bestellaufkommen entsprechend hoch sein dürfte. Das Bündnis rechnet sich deshalb besonders gute Chancen aus, dem Konzern Einnahmeausfälle zu bescheren. Ein solcher Erfolg im Sinne der Initiatoren wird aber nur eintreten, wenn die Aktion nicht auf einen Standort beschränkt bleibt. Jonathan Schneider vom Vorbereitungskreis äußerte sich im Gespräch mit der Jungle World optimistisch. Er geht davon aus, dass das Vor­haben in mehreren europäischen Ländern unterstützt wird.


Aktionstag zum »Black Friday« Ende November

Auf einem bundesweiten Vorbereitungstreffen Mitte September in Berlin waren auch eine Gruppe von Beschäftigten aus Poznań und ein Betriebsratsmitglied vom Standort Brieselang anwesend. Für kritische Nachfragen sorgte allerdings die Abwesenheit von Beschäftigten aus streikerfahrenen Unternehmensstandorten wie Bad Hersfeld und Leipzig. Das Bündnis wolle in den kommenden Wochen diesen Kontakt verstärken, sagten die Organisatoren, bei denen das kommunistische Bündnis »Ums Ganze« federführend ist. Vertreten sind auch Mitglieder des Redaktionskollektivs Capulcu. Sie verstehen sich als »technologiekritische Aktivisten und Hacktivisten« und bringen dieser Tage unter dem Titel »Disrupt! Widerstand gegen den technologischen Angriff« ein Buch heraus, in dem sie den Angriff »auf die Lenkungslogik einer Big-Data-animierten Selbstoptimierung« propagieren.

Der Amazon-Konzern ist für Capulcu die Speerspitze einer solchen Entwicklung. Daher betont der Vorbereitungskreis für den Aktionstag zum »Black Friday«, dass es ihm nicht nur um die Forderungen der Beschäftigten nach einem besseren Tarifvertrag und mehr Lohn gehe. »Amazon ist stilprägend für ein neues Produktionsmodell, in dem intelligente Informationstechnologie zur effektiveren Unterwerfung menschlicher Arbeit genutzt wird«, sagte ein Capulcu-Vertreter auf dem Berliner Treffen. Amazon binde die Nutzer nicht nur beim Online-Shopping in den Prozess permanenter Bemessung und Bewertung ein. Ein Beispiel dafür sei die Auswertung sämtlicher verfügbarer Nutzerdaten. Die Amazon-Beschäftigten seien bereits vom Einsatz intelligenter Informationstechnologie betroffen. So gebe bei dem Konzern eine lernende Lagersoftware das Tempo und die Abfolge der Arbeitsschritte vor.

Ob die jüngsten Streiks tatsächlich die Auslieferung von »Fifa 18« verzögert ­haben, ist umstritten. »Das Unternehmen musste Kunden Briefe schicken, dass das Fifa-Spiel nicht rechtzeitig geliefert werden kann und stattdessen ein Fünf-Euro-Gutschein zur Verfügung gestellt wird«, sagte Verdi-Sprecherin Zimmer. Ein Amazon-Sprecher  ehauptete hingegen, das Lieferversprechen des Unternehmens sei eingehalten worden.

https://jungle.world/artikel/2017/41/versand-im-getriebe

Peter Nowak

Nach der Wahl in Österreich: Das „Modell Orban“ auf Erfolgskurs

Die Anbahnung neuer Bündnisse mit den Rechten und der Trump-Faktor

Aus der Landtagswahl in Niedersachsen kann jeder heraus lesen, was er will. Merkel sieht das Ziel eines grünschwarzgelben Bündnisses damit nicht erschwert. Die SPD ist zufrieden, dass sie auch unter Schulz nicht immer Wahlen verlieren kann. Und schon wird von davon geredet, dass die AfD mit knapp 6 Prozent ihren Zenit überschritten hat.

Dass die extrem zerstrittene niedersächsische AfD, in der sich noch kurz vor den Landtagswahlen Spitzenpolitiker gegenseitig verklagt und aus der Partei ausgeschlossen haben, überhaupt über die 5-Prozenthürde kam, zeigt, dass die AfD heute wirklich einen Besenstil aufstellen kann und trotzdem ins Parlament kommt. Die niedersächsischen Linken, die vor der Wahl jeden Streit aufgeschoben haben, hingegen haben es wieder nicht geschafft, was deutlich macht, dass es eine strukturell rechte Mehrheit auch in Deutschland gibt.

FPÖ hat Vorbildfunktion für Rechte in Deutschland

Doch interessanter als das niedersächsische Wahlergebnis ist das Ergebnis der Wahl in Österreich, die allgemein als Rechtsruck wahrgenommen wird. Zu den Wahlgewinnern gehört mit der konservativen ÖVP, die Schwesternpartei der Unionsparteien, und mit der FPÖ ein Vorbild der AfD und anderer Rechtspopulisten. Diese Vorbildfunktion ist weit älter als die AfD.

So wurde vor mehr als 20 Jahren der damalige FPÖ-Politiker Jörg Haider in rechten Kreisen zum Role-Modell eines Politikers, der den klassischen Rechtsextremismus mit dem Rechtspopulismus vereinigte[1]. Als Haider zu Diskussionsveranstaltungen in deutsche Fernsehstudios eingeladen wurde, träumte die damals noch zersplitterte deutsche Rechte jenseits der Union vom Modell FPÖ.

Die Parole „Mein Freund ist Ausländer“ trugen Rechte vor sich her, um ihr Idol zu verteidigen. Inzwischen ist Haider 8 Jahre tot, davor hat er die FPÖ in die Regierung geführt, dann gespalten und noch immer hat die Partei ihre Vorbildfunktion für die deutsche Rechte nicht verloren. Und noch immer funktioniert die Melange aus Rechtsextremismus und Rechtspopulismus hervorragend.

Die Neonazivergangenheit des FPÖ-Vorsitzenden ist unter dem Titel Die Akte Strache[2]/ gut aufgearbeitet, auch seine Kontakte zur später in Deutschland verbotenen Wikingjugend gehören dazu[3]. Doch der hat es längst nicht mal mehr nötig, etwas zu dementierten.

Die Entnazifizierung der FPO-Politiker funktioniert heute so wie damals bei ihren Großeltern. Die NS-Vergangenheit war – anders als ein Engagement im Widerstand gegen den NS – damals nicht karriereschädigend und eine Liaison mit der Wikingjugend hindert Strache nicht daran, sich heute seinen Koalitionspartner aussuchen zu können.

Denn neben der ÖVP haben auch die österreichischen Sozialdemokraten von der SPÖ längst klargemacht, dass sie sich eine Kooperation mit der FPÖ durchaus vorstellen können. In einigen Bundesländern klappt die Zusammenarbeit geräuschlos. Die Grünen blieben unter der in Österreich geltenden 4-Prozent-Hürde, auch weil der österreichische Boris Palmer namens Peter Pilz[4] eine eigene Liste aufgemacht hat. Die Liste KPÖ-Plus, auf der einige ehemals linke Grüne kandierten, konnte keine Wahlerfolge erzielen, will aber außerparlamentarisch weiterarbeiten[5].

Orban und Seehofer jubeln über das Wahlergebnis

Wenn also auch eine Querfront zwischen der SPÖ und der FPÖ nicht gänzlich ausgeschlossen ist, so ist doch ein Bündnis zwischen der ÖVP und der FPÖ wahrscheinlicher. Das gab es bereits 2000 schon einmal. In der EU wurde damals über Sanktionen für Österreich diskutiert. Am Ende zerlegte es sich durch interne Konflikte und vor allem Haiders Machtallüren. Doch heute hätte ein solches Bündnis im europa- und weltpolitischen Kontext einen besonderen Stellenwert. Denn mit einer solchen Koalition würden innerhalb Europas die Staaten gestärkt, die sich offen für eine stärkere Abriegelung Europas gegenüber den Migranten aussprechen[6].

Zu einen der Anführer dieser Staaten gehört rechtskonservative ungarische Regierungschef Orban, den die beiden österreichischen Wahlgewinner Strache und Kurz zum Vorbild erklärt haben[7]. Auch in den regierungsnahen ungarischen Medien war das Lob für das Wahlergebnis im Nachbarland groß.

Auch der Noch-CSU-Vorsitzende Seehofer hat immer wieder Orbans Politik gelobt[8] und ihm im letzten Jahr auch nach Deutschland eingeladen[9]. Deshalb verwundert es auch wenig, dass die Christsozialen längst ihre eigene Interpretation des österreichischen Wahlergebnisses verbreitet haben und damit sicher auch in der CDU auf Zustimmung stoßen.

Kurz stehe für Klartext in der Flüchtlings- und Europafrage und zeigt, dass die Konservativen damit Wahlen gewinnen können, heißt es aus München[10]. Dass zielt auf die Nachfolger von Merkel, wo immer seltener von Ursula von der Leyen und immer mehr von Jungkonservativen wie Spahn die Rede ist.

Implizit wird damit gesagt, dass die Union in der Flüchtlingsfrage so ungeniert von der AFD abschreiben sollte, wie es die ÖVP unter Kurz von der FPÖ getan hat. Dass es in Österreich nicht darum ging, die Rechtspopulisten klein zu halten, was als Strategie gegen die AfD in Deutschland noch ausgegeben wird, ist klar. Man will ja gemeinsam regieren. Und auch in Ungarn sorgt die rechte Fidesz-Partei mit ihren rassistischen und antisemitischen Kampagnen, dass es links von ihr kaum eine Opposition gibt. Die offen nazistische Jobbikpartei hat oft Schwierigkeiten, sich von der Regierungspartei abzugrenzen, weil die so weit nach rechts gerückt ist.

Die Rechten in der Union, die sich jetzt an Orban und Kurz orientieren, sind keine wirklichen Antipoden zur Merkel-Linie. Es geht nur um taktische Nuancen. Denn Merkel und ihre Anhänger wussten sehr wohl zu schätzen, dass die Orbanisten in verschiedenen Ländern mit der Schließung der Balkanroute zum massiven Rückgang der Migranten beigetragen hat. Nur offen sagen wollte man das nicht. Deshalb gehört Orbans Fidesz im Europäischen Parlament auch zur Europäischen Volkspartei[11], in der auch federführend die Unionsparteien sitzen.

Als Fidesz die antisemitische Kampagne gegen Soros initiierte, schienen manche in der EVP über eine Trennung von den ungarischen Rechten nachzudenken[12], die aber bis heute nicht vollzogen wurde.

Trumpfaktor nicht unwesentlich

Das könnte sich bei der Anbahnung neuer Bündnisse als nützlich erweisen. Denn es ist auch für die Union in der Nach-Merkel-Ära eine taktische Frage, wann sie mit einer AfD, die sich in den Parlamenten festgesetzt hat, Bündnisse eingeht. Doch neben der europäischen Dimension kommt noch ein weiterer Aspekt dazu, der Trump-Faktor.

Dass er bei seinen Europabesuch vor einigen Monaten Polen einen besonderen Besuch abstattete, wurde als Affront gegen Deutschland und die Merkel-Politik[13] interpretiert. Die rechtskonservative polnische Regierung lobt den US-Präsidenten dafür, dass er sich, anders als die EU und Deutschland, nicht ständig in die polnische Innenpolitik einmischt.

Tatsächlich wird mit dem Argument der Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit immer wieder versucht, eine Politik im ganzen EU-Raum durchzusetzen, die den deutschen Kapitalinteressen besonders passen. Wie wenig es dabei um die Rechtsstaatlichkeit geht, zeigt das Schweigen derselben EU, wenn es um die Verletzung der Menschenrechte durch die spanische Regierung gegen die katalonische Unabhängigkeitsbewegung geht.

Dort werden schon Menschen und Funktionsträger bestraft, weil sie nicht gegen eine friedliche Abstimmung und gegen friedliche Demonstranten vorgegangen sind, die für das Recht auf eine Abstimmung auf die Straße gegangen sind. Würde die Opposition in Russland oder Weißrussland so unterdrückt, wäre die Empörung in der EU groß. In Spanien sind die gewendeten Francofaschisten[14] als Partido Popular ebenfalls Teil der Europäischen Volkspartei.

Doch die Zusammenarbeit reicht bis viel weiter zurück. Franco-Spanien war ein Ort, in dem es sich ehemalige Nazis und Rechte aller Couleur wohlfühlten und auch führende Politiker der CDU/CSU lobten die klerikale Diktatur. Das ist nun etwa kein Grund für einen grünen Spitzenpolitiker wie Reinhard Bütikofer[15] von den Postfaschisten und ihren neuen Bündnispartnern die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern.

Nein, den katalonischen Regierungschef greift er[16] als „Schwindler“ an . Es sind nicht nur die von den Liberalen bekämpften Orban oder Kurz – die Rechte in Europa ist schon längst in wichtigen Positionen wie in Spanien.

Ob sie nun bekämpft oder gehätschelt wird, liegt vor allem an ökonomischen und geopolitischen Interessen und weniger an Begriffen wie Rechtsstaatlichkeit. Das wird aktuell durch die EU-konformen Menschenrechtsverletzungen der spanischen Regierung überdeutlich.

Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Nach-der-Wahl-in-Oesterreich-Das-Modell-Orban-auf-Erfolgskurs-3863300.html

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/rassismus_deutschland/rechtspopulismus-europa-100.html#Oesterreich
[2] http://gfx.sueddeutsche.de/apps/e563408/www
[3] http://diepresse.com/home/innenpolitik/324919/Affaere_HC-Strache-und-die-WikingJugend
[4] http://www.oe24.at/oesterreich/politik/wahl2017/pilz/Liste-Pilz-will-ihren-Namen-aendern/304236659
[5] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20171014_OTS0016/kpoe-plus-auftakt-zu-neuen-kaempfen-statt-wahlkampfabtakt-bild
[6] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/fpoe-will-oesterreich-in-die-visegrad-gruppe-bringen-15245016.html
[7] http://www.heute.at/politik/wahl17/story/Nationalratswahl-Politologe-analysiert-Ergebnis-Kurz-Strache-41344718
[8] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/horst-seehofer-kann-grenzzaun-rechnung-von-viktor-orban-nachvollziehen-a-1165924.html
[9] http://www.faz.net/aktuell/politik/orban-bei-seehofer-ungarischer-festakt-in-bayern-sorgt-fuer-empoerung-14470626.html
[10] http://www.tagesspiegel.de/politik/csu-zur-wahl-in-oesterreich-kurz-steht-fuer-klartext/20461282.html
[11] http://www.eppgroup.eu/de
[12] http://www.spiegel.de/politik/ausland/viktor-orban-seine-fidesz-partei-bringt-cdu-und-csu-in-verlegenheit-a-1142184.html
[13] http://www.handelsblatt.com/politik/international/trump-in-polen-dreifacher-angriff-auf-deutschland/20028084.html
[14] https://www.quora.com/What-is-the-history-of-Partido-Popular-in-Spain-as-it-relates-to-Franco
[15] http://reinhardbuetikofer.eu
[16] http://www.deutschlandfunk.de/katalonien-gruenen-europachef-buetikofer-wirft-puigdemont.1939.de.html?drn:news_id=802163
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Der ostdeutsche Patient und seine Gesundbeter

Nach dem AfD-Erfolg wächst die Schar der Ossi-Versteher

Die Wahlerfolge der AfD haben vielerlei Diskussionen ausgelöst. In der Jungle World wird diskutiert, ob das Mehrheits- oder das Verhältniswahlrecht die Rechten kleinhält. Andere bekennen sich umso inniger zur bürgerlichen Demokratie als der besten aller Welten. Und auch eine Ossi-Debatte haben uns die Rechten eingebrockt.

Ist die AfD in der ehemaligen DDR deshalb besonders erfolgreich, weil die Ossis späte Rache an der westlichen Arroganz nehmen wollen. Das zumindest behauptete[1] die Inlandredakteurin der Taz Simone Schmollack.

Sie hatten auch gehofft, irgendwann bekommen sie ihr Land wieder – nachdem die Treuhand die sogenannte dritte Garde aus Westmanagern nach Delitzsch, Wittenberge und Chemnitz geschickt hatte, um Betriebe abzuwickeln. Irgendwann brummen ostdeutsche Wirtschaft und Wissenschaft schon wieder – hatten sie geglaubt. Und die Politik in Neubrandenburg, Zwickau und Erfurt werde von Ostdeutschen gemacht. So wie auch Zeitungen, Radio und Fernsehen. Irgendwann haben wir unser Land wieder. Dafür nehmen wir auch mal diese westdeutsche Arroganz in Kauf. Im Verdrängen sind wir ja gut.

Heute, fast 30 Jahre nach dem Ende der DDR, haben die Ostdeutschen ihr Land aber nicht wieder. Es ist nach wie vor in Wessihand. Nicht in den verödeten ostdeutschen Dörfern in der Prignitz, im Muldentallandkreis, im Ueckerrandowkreis. Dort herrscht ostdeutsche Lethargie vom Feinsten: Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Alter.

Simone Schmollack

DDR-Bevölkerung hat den Kapitalismus bekommen, den sie mehrheitlich gewählt hat

Schmollack beschreibt recht präzise den Elitenwechsel nach 1989, vergisst aber das Wesentliche. Es geschah eine kapitalistische Landnahme, gegen die sich die Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht gewehrt hat. Sie hat vielmehr genau der Allianz für Deutschland um Helmut Kohl die Mehrheiten gegeben, die die besonders schnelle Durchsetzung des westdeutschen Kapitalismus versprochen hat.

Hätte die DDR-Bevölkerung im politischen Unterricht besser aufgepasst, hätte ihnen schon auffallen müssen, dass der Mehrheit der Bevölkerung im Kapitalismus nicht das Land, nicht die Fabriken und nicht die Häuser gehören. Vor 1989 gehörte es im Wesentlichen einer aus Kernen der alten Arbeiterbewegung entsprungenen Nomenklatura. Dagegen hat die Mehrheit der DDR-Bevölkerung auf den ganz normalen Kapitalismus gesetzt und den hat sie bekommen.

Auch Katharina Rohnstock ist Ossi-Versteherin. Sie hat das sogar zu ihrem Beruf gemacht. Ihre Firma[2] hat sich auf das Schreiben von vor allem ostdeutschen Biographien spezialisiert. In der Wochenzeitung Freitag hat sie zumindest anerkannt, dass der Kapitalismus nicht einfach über die DDR-Bevölkerung übergestülpt wurde.

Nach der Wende haben viele Menschen zwischen Rostock und Zwickau mit großem Enthusiasmus die CDU gewählt und wurden enttäuscht: Blühende Landschaften fanden sie vorzugsweise dort, wo Unkraut in abgewrackten Fabriken spross. Dann wandten sich viele der SPD zu, in der Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit – und wieder hatten sie sich getäuscht.

Und die Linken, organisiert in der PDS? Sie hätte am ehesten die Stimme des Ostens sein können, kämpfte aber jahrelang um ihre Existenz, gegen Rote-Socken-Kampagnen und Stasi-Vorwürfe. Die Linken versäumten es, gemeinsam mit den Menschen in den neuen Ländern an einer Geschichte zu schreiben, die Lebensleistungen reflektierte und ein selbstbestimmter Gegenentwurf zum herrschenden Geschichtsbild war.

Katharina Rohnstock

Keine Rache an den Wessis, sondern Kampfansage an Minderheiten und Schwächere

Wenn den Ostdeutschen ihre kollektive Erziehung vorgeworfen wurde, hätten sie genau diese Kollektivität verteidigen können und sich so gegen das kapitalistische Modell der Individualisierung wehren können. Wer sich stattdessen beklagt, dass er sich als Deutscher zweiter Klasse fühlt, geht ganz bewusst den Weg der ethnischen Ausgrenzung und des Sozialrassismus.

Die Wahl der AfD ist dann keine Rache an „arroganten Wessis“, sondern die bewusste Einordnung in das kapitalistische Konkurrenzsystem mit seinen Ausgrenzungsmechanismen. Mit der Wahl setzt dieser Teil der DDR-Bevölkerung ihre Zustimmung zum kapitalistischen System fort, die sie seit 1989 praktiziert haben. Auch Rohnstock hat kein Interesse, ein solches System zu hinterfragen. So wendet sie sich an die großen Ossi-Versteher aller Parteien:

Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) schon. Sie wird, seit sie das tut, mit verzweifelten, traurigen, ängstlichen Geschichten überschwemmt. Sie erkennt an, das die Vita eines Menschen gewürdigt sein will. Es bräuchte tausend solcher Ohren, um Ostdeutsche erzählen zu lassen. Erzählen befreit und ist eine gesellschaftliche Ressource, die weitgehend unentdeckt ist. Anstatt in die Infrastruktur sollte in eine Sozialstruktur investiert werden, die gemeinschaftsbildende Prozesse ermöglicht. Sie sollte Fördermittel bereitstellen, damit Kommunikationsräume wie der Dorfkonsum und die Dorfkneipe in strukturschwachen Regionen neu entstehen können.

Katharina Rohnstock

Auch der Sportredakteur der Taz, Markus Völker, hat ein Herz für Ossis. Er kritisiert[5], dass den Ossis nach der Wahl der Aluhut aufgesetzt worden sei:

Im sozialen Gefüge ist etwas nicht in Ordnung, aber der Ossi als Symptomträger muss es ausbaden. Er wird in der Öffentlichkeit als komisches Wesen, als Homo zoniensis vorgeführt.

Markus Völker

Alternative Recherchekreise mit alternativen Wahrheiten

Am Ende landet Völker bei der Totalitarismustheorie und Relativierung:

Der Osten wählt nur ein bisschen anders als der Westen, er schaut mehr auf die Ränder, zu den Linken und zur AfD, aber das sind ja nun auch Parteien, die sich zum Grundgesetz bekennen und nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden.

Markus Völker

Auch sonst sind die von Völker imaginierten Ossis ganz harmlos.

Die Politik verkaufte Losungen, aber erst mal keine Lösungen. Das hat den Osten skeptisch gemacht und erneut politisiert. Man bildete wieder private Recherchekreise, suchte selbst nach Wahrheiten und stellte „die da oben“ in Frage – das typische Nischenverhalten, wie man es vor 1989 gelernt hat.

Markus Völker
Dass es „den Osten“ ebenso wenig gibt wie den Westen, scheint Völker gar nicht aufgefallen zu sein. Seine alternativen Netzwerke verbreiten dann eben ihre alternativen Wahrheiten zur Flüchtlingspolitik, dem Klimawandel und manche sind dann sogar der Meinung, dass das Deutsche Reich von 1939 weiterbesteht und die NSU eine Geheimdienstoperation gegen Deutschland war. Zumindest haben manche Taz-Leser gegen diese Relativierung rechter Politik Einspruch erhoben und gefragt, warum jeder Journalist, der in der DDR geboren wurde, als Ossi-Experte durchgehen kann.

Kein Sommer für Bornstedt

Die neue Ossi-Debatte bestätigt einmal mehr, dass sich Geschichte oft als Farce wiederholt. Denn schon Ende der 1990er Jahre gab es in der Linken eine ähnliche Diskussion, aber auf höherem Niveau. Auch damals entschuldigten einige Traditionslinke die rassistischen Einstellungen mancher Ostdeutscher als Rache der Entmündigten.

Damals prägten schlauere Linke den Begriff Gollwitz-Linke[6] nach dem Ort in Brandenburg, an dem sich die Debatte zuspitzte. Dort wollte eine Mehrheit verhindern[7], dass jüdische Migranten in einem leerstehenden Gebäude untergebracht werden. Die Diskussion führte wesentlich zur Herausbildung einer antideutschen Strömung in Teilen der ostdeutschen Antifa, die nicht in das Lied von den so entrechteten Ostdeutschen einstimmen wollte und sich mit den Opfern ihrer Rache solidarisierte.

Mit teils martialischen[8], teils spielerischen[9] Parolen ärgerten sie die Traditionslinke, trugen aber auch zu emanzipatorischen Debatten bei.

30 Jahre später wäre es auch eine Farce, wenn sich als Antwort auf die Versteher der Rache der Entmündigten erneut eine solche antideutsche Strömung bilden würde. Das war der Tenor einer kürzlich in Berlin durchgeführten Veranstaltung[10] über die antideutsche Antifa in Ostdeutschland.

Es gab 1989 eine Alternative, die die Mehrheit der Ossis ausschlug

Sinnvoller ist es, sich die tatsächliche Geschichte der DDR-Opposition gegen den autoritären Staat genauer anzuschauen. So wissen viele nicht, dass auch die Unabhängige Antifa in der DDR bereits 1987 entstanden ist, worüber ein kürzlich im Dampfbootverlag erschienenes Buch[11] informiert. Sie war Teil einer linken DDR-Opposition, die sich gegen die autoritäre SED-Herrschaft ebenso wendete wie gegen die kapitalistische Annexion.

Einen solchen 3. Weg gab es auch in den DDR-Betrieben[12]. Hier wird deutlich, dass es Ende der 1989 Alternativen gab, die die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung ausgeschlagen hat. Die, die jetzt von den Ossi-Verstehern als Opfer der Verhältnisse dargestellt werden, haben oft im DDR-Staat als Blockwarte mitgetan, um im Herbst 1989 mit Deutschlandfahnen und Kohl-Elogen die neuen Machtverhältnisse abzufeiern. Die linke DDR-Opposition wurde bereits seit Oktober 1989 als Wandlitzkinder beschimpft und bedroht.

Es ist nicht erstaunlich, dass die neuen Ossi-Versteher auf diese Opposition gar nicht eingehen. Dann müssten sie zumindest konstatieren, dass der Kapitalismus nicht einfach über den Osten gestülpt wurde, sondern von einem großen Teil der Bevölkerung begrüßt wurde und wird. Wenn ein Teil davon jetzt AfD wählt, setzen sie nur auf einen weiteren Akteur, der ihnen die Zumutungen des Kapitalismus mit Hetze gegen Schwächere und Minderheiten versüßt.

https://www.heise.de/tp/features/Der-ostdeutsche-Patient-und-seine-Gesundbeter-3862080.html

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.taz.de/!5447829/
[2] http://www.rohnstock-biografien.de
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Bl%C3%BChende_Landschaften#/media/File:KAS-Sympathiewerbung-Bild-2893-1.jpg
[4] https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en
[5] http://www.taz.de/!5451143/
[6] https://jungle.world/artikel/2007/26/globale-gollwitz-linke
[7] https://www.jungle.world/artikel/1997/44/sympathie-fuer-die-gollwitzer
[8] http://de.indymedia.org/2002/07/25412.shtml
[9] http://www.neues-deutschland.de/artikel/651187.geist-ergib-dich-oder-was.html
[10] http://berlin.carpediem.cd/events/4817064-antideutsch-in-ostdeutschland-versuch-einer-rekonstruktion-at-baiz/
[11] http://www.dampfboot-verlag.de/shop/artikel/30-jahre-antifa-in-ostdeutschland
[12] http://www.dr-huertgen.de/publics/aufbruch.htm

Satire oder Volksverhetzung?

Redaktion eines Münsteraner Stadtmagazins entschuldigt sich und übt Selbstkritik

»Von der Maas bis an die Memel mit ruhig festem Schritt, schleift die langen Messer, wir werden sie jagen, bis das Judenblut vom Messer spritzt.« Solche Verse fanden sich kürzlich nicht etwa in einer rechtsextremen Zeitung, sondern in dem Münsteraner Kulturmagazin »Ultimo« unter der Rubrik »Setzers Abende«. »Das ist der Platz für Satire«, betont Rainer Liedmeyer gegenüber dem »nd«. Der Ultimo-Geschäftsführer erklärt, dass es dem Verfasser dieser Zeilen darum gegangen sei, die Geistesverwandtschaft zwischen Nazis und AfD zu zeigen. Daher habe er Zitate von AfD-Politikern mit Blut-und-Boden-Versen aus NS-Liedgut gemischt.

Doch nicht alle haben die antifaschistische Intention der Satire verstanden. Zwei LeserInnen erstatteten Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft Münster bestätigte gegenüber der Lokalzeitung »Westfälischen Nachrichten«, dass sie Ermittlungen eingeleitet habe. Es bestehe ein Anfangsverdacht der Volksverhetzung.

Auch die Stadt Münster distanzierte sich von den Versen. »Soweit mir bekannt, gab es einen vergleichbaren Beitrag in dem Magazin noch niemals. Deshalb gehe ich davon aus, dass es sich um eine einmalige Entgleisung handelt«, erklärte der Pressesprecher der Bezirksregierung Münster, Joachim Schiek. Die Stadtwerke Münster stornierten vorerst die Anzeigen in »Ultimo«. »Ob Satire oder nicht – das ist ganz eindeutig kein Umfeld, in dem wir Werbung schalten wollen«, begründete Unternehmenssprecher Martin Schuster gegenüber den »Westfälischen Nachrichten« diese Entscheidung.

In der aktuellen »Ultimo«-Ausgabe entschuldigte sich die Redaktion bei den Lesern und übte Selbstkritik: »Vielleicht hätten wir zum Gedicht eine kleine Erklärung hinzufügen sollen, um Irritationen zu vermeiden und darauf hinzuweisen, dass es sich um eine satirische Montage handelt.« Man habe geglaubt, »dass alle, die ›Ultimo‹ kennen, gar nicht auf die Idee kommen, dort würde braune Propaganda verbreitet«, betonte Liedmeyer gegenüber dem »nd«. Die Zeitung habe in ihrer 30-jährigen Geschichte immer eher links gestanden und bereite in der nächsten Zeitung ein Konzert mit der antifaschistischen Band Antilopengang vor.

Linus Becker von der Antifaschistischen Aktion Münster findet es nicht so unverständlich, dass die satirischen Zeilen von manchen Lesern missverstanden wurden. Bereits seit mehreren Jahren stehe ein Mitarbeiter der »Ultimo« wegen rechtslastiger Texte in der Kritik. Die hat er zumindest zeitweise in der rechtskonservativen Wochenzeitung »Junge Freiheit«, aber auch in der Zeitschrift »Westfalium« veröffentlicht.

»Politisch korrekte Sittenwächter in Münster wollen den Hindenburgplatz der Domstadt umbenennen, weil der greise Generalfeldmarschall der Machtübernahme Hitlers nicht entgegenwirkte«, kommentierte der Autor die Initiative eines Münsteraner Bündnisses. »Seit einigen Jahren widmen sich hundertfünfzigprozentige Ideologen eifrig der Säuberung von Straßennamen. In vielen Städten werden Ostpreußen-Viertel getilgt, Staatsdiener des Kaiserreichs entfernt und die politische Gesinnung von Künstlern durchleuchtet«, moniert der Autor.

In einer kurzen Stellungnahme erklärte der Autor, die Zusammenarbeit mit der Wochenzeitung »Junge Freiheit« habe er schnell beendet. Vorwürfe der Antifaschistischen Aktion Münster, er habe danach unter Pseudonym weiter Artikel verfasst, bestreitet er.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066949.satire-oder-volksverhetzung.html

Peter Nowak

Landauer ist wieder da

»Die Zeit Gustav Landauers ist noch nicht da«, schrieb der anarchistische Publizist und politische Aktivist Erich Mühsam zum 10. Jahrestag der Ermordung seines Freundes, der am 2. Mai 1919 nach der Zerschlagung der Münchner Räterepublik von Freikorpssoldaten schwer misshandelt und dann erschossen worden war. Bestraft wurden seine Mörder nicht. Lediglich einige Soldaten erhielten Geldstrafen, weil sie den Leichnam noch ausgeraubt hatten.

Die Täter sympathisierten später mit den Nazis, die bereits 1933 den Gedenkstein zerstören ließen, den Landauers Freunde 1925 an seinem Grab auf dem Münchner Waldfriedhof errichtet hatten. Seit Mitte Juli dieses Jahres erinnert dort ein Denkmal an den »Schriftsteller, Politiker, Theoretiker und Aktivisten des anarchistischen Sozialismus, Gegner des Militarismus und Mitglied der Münchner Räteregierung«, wie die Inschrift auf dem schwarzen Obelisk informiert. Doch nicht nur in München soll an ihn erinnert werden.

»Anfang Mai 2019 soll in Berlin zum hundertsten Todestag Gustav Landauers ein möglichst zentral gelegenes und gut sichtbares Landauer-Denkmal eingeweiht und so eine dauerhafte Markierung in der Erinnerungstopographie dieser Stadt realisiert werden«, erklärt der Kulturwissenschaftler Jan Rolletschek. Er promoviert nicht nur über die Spinoza-Rezeption von Landauer, sondern hält auch dessen politisches Erbe noch immer für aktuell. »Landauers philosophisches Denken geht von der Frage aus, wie die persönliche Freiheit mit der gesellschaftlichen Integration in Einklang gebracht werden kann«, betont Rolletschek. Eine Frage, die sich für die Formulierung linker Politik immer wieder stelle.

Deswegen versteht die Initiative ein Gustav-Landauer-Denkmal in der deutschen Hauptstadt keineswegs nur als ein Erinnerungsmal. Sie gibt Broschüren heraus, in denen Texte und Flugblätter von Landauer nachgedruckt werden, die sich mit linker Strategie und Taktik befassen. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem theoretischen und praktischen Wirken von Landauer ist Ziel der Initiative.

Darüber hinaus will sie die weitgehend vergessene Geschichte der anarchistischen und anarchosyndikalistischen Arbeiterbewegung in Berlin wieder neu entdecken. Auf Stadtteilspaziergängen in Kreuzberg und Wedding wird an historischen Orten, wo sich beispielsweise Zeitungsdruckereien oder auch Versammlungslokale befanden und Demonstrationen stattfanden, daran gemahnt, wofür diese Bewegung stand und noch stehen könnte.

Auch Historiker und Politologen wandten sich in den vergangenen Jahren verstärkt Landauer zu. Es erschienen mehrere Bücher, Brief- und Tagebucheditionen sowie ausgewählte Schriften. Ist Gustav Landauers Zeit vielleicht doch endlich gekommen? Es scheint so.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066789.landauer-ist-wieder-da.html?sstr=peter|nowak

Peter Nowak

„Freiheit für Beate Zschäpe“

13.10.2017 – Das rechtspopulistische „Compact“-Magazin hat ein Sonderheft mit dem Titel „NSU – Die Geheimakten“ herausgebracht.

Unterstützung für Beate Zschäpe; (Screenshot)
Der NSU-Prozess ist nicht zu Ende und das Urteil über Beate Zschäpe noch nicht gesprochen, ihre Unterstützer melden sich schon zu Wort. Bisher waren es vor allem obskure Verschwörungstheoretiker, die in dem NSU-Verfahren die große Verschwörung halluzinierten. So werden in dem NS-verherrlichenden Blog „Deutsche Lobby“ die Angeklagten im NSU-Verfahren zu „Opfern des immer noch wütenden besatzungsrechtlichen Verfolgungssystem BRD“ erklärt. Der NPD-Politiker Arne Schimmer, der als früherer sächsischer Landtagsabgeordneter Mitglied des dortigen NSU-Untersuchungsausschuss war, hat eine Broschüre veröffentlicht, in der rhetorisch gefragt wird, ob die NSU ein Staatskonstrukt sei.

Doch auch das „Compact“-Magazin das dem rechten Flügel der AfD nahe steht, hat kürzlich ein Sonderheft mit dem Titel „Freiheit für Beate Zschäpe“ herausgebracht. „Compact“-Chefredakteur Jürgen Elsässer gesteht im Editorial linken Politikern und Journalisten zu, sie hätten einige Verdienste, „was die Aufdeckung der Hilfestellung des Staatsschutzes für das Zwickauer Trio angeht“. Doch anschließend stellt er entgegen allen Beweisen den neonazistischen Hintergrund des NSU in Zweifel. „Jedenfalls haben die Antifa-Jakobiner alle Spuren, die auf ausländische Täter hindeuten, notorisch unterdrückt. Der Mörder ist immer der Deutsche – nach dieser Devise schreiben sie ihre Artikel, und wer anderes behauptet, kann nur ein Rassist sein“, bedient sich Elsässer der in rechten Kreisen zirkulierenden Verschwörungstheorien. Ganz in deren Diktion heißt die Sondernummer denn auch „NSU – Die Geheimakten“.

Offener Brief an Zschäpe

Lob gibt es für „Compact“ vom ehemaligen „Sleipnir“-Herausgeber Peter Töpfer. „Es geht ganz sicher auch um das Schicksal der armen Frau Zschäpe, aber es geht auch um mehr, nämlich politisch darum, … genau diesem … volksfeindlichen Staat mit all seinen Lügengebilden einen Schlag zu versetzen“, schreibt Töpfer, der seit Jahren in extrem rechten Kreisen aktiv ist.

Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass Jürgen Elsässer für Beate Zschäpe Verständnis aufbringt. Bereits im Mai 2013 schrieb er ihr einen offenen Brief, der mit dem Satz beginnt: „Ich habe Angst, dass Sie das Gefängnis nicht mehr lebend verlassen werden. Ihre Münchner Zelle könnte ihre Todeszelle werden, auch wenn die Todesstrafe bei uns abgeschafft ist.“ Dort tadelt er Zschäpe milde: „Nicht sympathisch ist mir der Neonazismus, mit dem Sie in ihrer Jugend halb Jena erschreckt haben.“ Doch auch darüber sieht er hinweg. „Aber selbst wenn man alles Schlimme zusammenrechnet, was Sie bis zu Ihrem Abtauchen Anfang 1998 verbrochen haben, so waren das weitaus weniger Gewaltdelikte als beim jungen Joschka Fischer.“

Blick nach Rechts
https://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/freiheit-f-r-beate-zsch-pe
Peter Nowak

Berlin: Werbung verbieten!?

Romantische Kulturkritik und „Sexismus shouldn’t sell“ – Generalverbote sind der falsche Ansatz

Im Berliner Mittelstandskiez Schöneberg gibt es viele Initiativen, die sich gegen die Abholzung von Bäumen, für Baumscheiben und Urbangardening und auch für die stadtteilgerechte Nutzung des Baudenkmals Gasometer[1] engagieren. Ein Kritikpunkt der Anwohner ist die Leuchtwerbung[2] an der Außenwand des Gasometers. Hier geht es nicht um die Kritik an der Werbung im Allgemeinen, sondern um konkrete Inhalte. Welche Beweggründe die Kritiker der Werbung haben, kann man nur zwischen den Zeilen lesen. Dort heißt es etwa:

Außenwerbung an einem Industriedenkmal wie dem Schöneberger Gasometer ist durchaus nicht selbstverständlich. Da der Gesamteindruck des Bauwerks durch das Geflimmer der Leuchtwerbung erheblich beeinträchtigt wird, müssen aus Sicht der Genehmigungsbehörde besondere Gründe erkennbar sein, die das rechtfertigen. Ein solcher Grund war in diesem Fall, die Zusage des Eigentümers, den Gasometer zu sanieren.

Bi-Gasometer.de[3]

Nun könnte man denken, dass man schon wohlhabend genug ist, um sich Gedanken zu machen, ob eine Außenwerbung die Außenwirkung des Berliner Gasometers beeinträchtigt. Viele würden sagen, die Lichtwerbung bringt sie überhaupt dazu, mal dort hinzugucken. Dass es sich nicht um grundsätzliche Werbekritik geht, zeigt sich schon daran, dass Bi-Gasometer lediglich kritisiert, dass die Werbeeinnahmen nicht für die Sanierung des Gasometers verwendet werden. Hier geht es wohl eher um unterschiedliche Konzepte der Aufwertung eines Stadtteils.

Zwischen Recht auf Stadt und romantischer Kulturkritik

Dagegen hat die Initiative Berlin Werbefrei[4] eine grundsätzliche Kritik. Sie bereitet einVolksbegehren[5] vor, um die Außenwerbung in Berlin stark einzuschränken. Dabei vermischen sich bei ihr Kritik an der kapitalistischen Zurichtung öffentlicher Räume mit konservativer Kulturkritik. So lautet ein Kritikpunkt:

Die massive Zunahme und neue Formen von Werbung wirken sich negativ auf das Stadtbild aus. Das individuelle Gesicht der Stadt verschwindet. Stadt- und Landschaftsräume werden durch Werbung verunstaltet. Die Stadt wird von immer mehr Plakat-, Licht- und Display-Werbung überflutet. Der öffentliche Raum wird banalisiert.

Volksentscheid Berlin Werbefrei[6]

Hier klingt unverkennbar die Kulturkritik der Romantik durch. Bereits im 19 Jahrhundert wurde beklagt, wie die Landschaft und die historischen Bauten von Fabrikschloten und Eisenbahnen banalisiert und abgewertet werden. Ansonsten betonen die Initiatoren des geplanten Volksbegehrens, dass es ihnen nicht darum gehe, Werbung generell aus der Stadt zu verbannen.

Sie wollen einen „verträglichen Umgang mit Werbeflächen im Öffentlichen Raum“ durchsetzen. Nur ist es fraglich, ob es eine Einigung darüber geben wird, wie der „verträgliche Umgang“ denn aussieht. Auffallend ist, dass bei den Werbekritikern der Zusammenhang zwischen Reklame und Kapitalismus gänzlich ausgespart wird. Dem belesenen Taz-Kolumnist Helmut Höge ist dieser Zusammenhang natürlich nicht entgangen.

Er verweist in seiner Kolumne[7] auf die Gedanken des marxistischen Wirtschaftstheoretikers Alfred Sohn-Rethel[8], wonach es in der kapitalistischen Produktion von Anfang an eine Überproduktion gab, die ständigen Absatzdruck hervorruft. Dabei wird die Werbung immer wichtiger.

Hierin liegt auch der Grund, warum es in den nominalsozialistischen Gesellschaften kaum Produktwerbung, dafür aber Parolen gab, um die Menschen zu guter Arbeit anzustupsen. Die Werbekritiker, die den Zusammenhang zwischen den Objekten ihrer Kritik und dem Kapitalismus nicht erwähnen, geraten so schnell in die Gefilde romantischer Kulturkritik und die Beschwörung von unverfälschter Natur -und Stadtbilder.

„Sexismus shouldn’t sell“

Eine große Diskussion hat auch die Initiative des Bezirksamt des Berliner Stadtteils Kreuzberg-Friedrichshain[9] zur Eindämmung und möglichen Verbannung als sexistisch eingeschätzte Werbung[10] in dem Stadtteil ausgelöst.

Hier geht es nicht um eine generelle Kritik an der Werbung, sondern an den Inhalten. Auch da wird es natürlich schwer sein, eine gesellschaftliche Übereinkunft darüber zu finden, wann Werbung diskriminierend und sexistisch ist. In einem Taz-Interview[11]erklärte die Gleichstellungsbeauftrage von Friedrichshain-Kreuzberg, Petra Koch-Knöbel[12], dass für sie Bordellwerbung dazu gehören würde .

Taz: Bordellwerbung halten Sie für diskriminierend?
Petra Koch-Knöbel: Auf jeden Fall, ja. Frauen werden hier als käufliche Sexualobjekte dargestellt. Damit sollte man Jugendliche nicht pausenlos konfrontieren.
Taz: Die Grünen wollten doch bisher die Stigmatisierung der Sexarbeiterinnen beenden und ihren Beruf normalisieren. Und denen sagen Sie jetzt, dass sie für ihren Beruf nicht werben dürfen?
Petra Koch-Knöbel: Nicht auf großen Plakaten im öffentlichen Raum. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich bin für die Rechte der Prostituierten. Aber es ist nicht wegzudiskutieren, dass das ein Beruf mit einem problematischen Frauenbild ist, für den man nicht öffentlich mit Großplakaten werben sollte.

Interview Taz: „Sie werden Frischfleisch genannt“[13]

Hier wird der Widerspruch deutlich, dass einerseits Sexarbeiterinnen nicht mehr diskriminiert werden sollen und anderseits durch das Werbetabu doch wieder eine neue Schranke eingebaut wird. Auch die Frage, ob Werbung mit rosa T-Shirts diskriminierend ist, dürfte die Gemüter erhitzen.

Taz: Rollenstereotype lehnen Sie auch ab und wollen sie nicht mehr auf Plakaten reproduziert sehen. Heißt das: Kein rosa T-Shirt mehr für Mädchen?
Petra Koch-Knöbel: Genau. Die Eltern können ruhig auch mal nachdenken darüber, wie sie ihre Kinder einengen, wenn sie sie nur in Klischeeklamotten stecken.

Interview Taz: „Sie werden Frischfleisch genannt“[14]

In den USA gab es heftige Diskussionen über den möglicherweise rassistischen Anteilen in einem kurzen Werbeclip der Kosmetikfirma Dove[15]. Hierbei wird aber auch die Problematik deutlich, wenn man die Klassenverhältnisse vergisst. Wo der akademische Mittelstand darüber diskutiert, ob diese oder jede Werbung diskriminierend ist, fragen sich einkommensarme Menschen, ob sie sich die beworbenen Produkte leisten können.

Es ist auch bezeichnend, dass bei der Werbekritik selten thematisiert wird, dass und wie durch Werbung das Begehren nach oft besonders teuren Modeprodukten gefördert werden. Es werden Jugendliche gemoppt, wenn sie sich die angesagten Klamotten bestimmter Sportfirmen nicht leisten können. Ist dieses Problem heute nicht in den Schulen relevanter als das vielzitierte rosa T-Shirt?

Zudem finden sich in Berlin an einigen exponierten Stellen Werbung für die Polizei und Sicherheitsdienste. Auf einem Poster ist ein Mann zu sehen, der von der Polizei in einer U-Bahnstation in Polizeibegleitung abgeführt wird. Sofort werden Assoziationen zu einkommensarmen Menschen wach? Ist eine solche Werbung nicht auch diskriminierend?

Adbusting statt Werbeverbote

Solche Fragen stellen sich eher Gruppen, die nicht unbedingt für ein Verbot, sondern für einen kreativen Umgang mit der Werbung eintreten. Längst gibt es Adbusting-Workshops[16], wo diese Art der Werbekritik auch praktisch eingeübt werden kann. Eine solche Herangehensweise ist staatlichen oder kommunalen Verboten eindeutig vorzuziehen.

Sie führt dazu, dass sich Menschen selber Gedanken über die Werbung machen, die sie aushalten wollen oder nicht. Wenn Menschen eine Werbung als sexistisch empfinden, ist es alle Mal besser, sie drücken diese Kritik am konkreten Produkt aus, als dass sie einen Antrag ausfüllen, der zu einem Verbot führen soll.

Bei einer solchen kreativen Werbekritik geht es dann tatsächlich um die Inhalte der Werbung und nicht um ein Beklagen von angeblich geschädigter Natur oder Landschaft.

Ein Generalverdikt gegen die Werbung an sich verbietet sich schon deshalb, weil mittlerweile auch die Kunst in die Branche eingezogen ist. Ästhetisch sind solche Produkte gegenüber den grauen Betonwänden auf jeden Fall ein Gewinn.

https://www.heise.de/tp/features/Berlin-Werbung-verbieten-3858720.html

Peter Nowak
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http://www.heise.de/-3858720

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.bi-gasometer.de/
[2] http://www.bi-gasometer.de/leuchtwerbung/
[3] http://www.bi-gasometer.de/leuchtwerbung/
[4] https://berlin-werbefrei.de/
[5] https://berlin-werbefrei.de/gesetzestext_und_begruendung.html
[6] https://berlin-werbefrei.de/aussenwerbung.html
[7] http://www.taz.de/Archiv-Suche/!5450748&s=&SuchRahmen=Print
[8] https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=118615246
[9] https://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg
[10] https://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg/politik-und-verwaltung/beauftragte/gleichstellung/frauenfeindliche-werbung/
[11] http://www.taz.de/!5450696/
[12] https://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg/politik-und-verwaltung/beauftragte/gleichstellung/
[13] http://www.taz.de/!5450696/
[14] http://www.taz.de/!5450696/
[15] https://www.nytimes.com/2017/10/08/business/dove-ad-racist.html
[16] http://www.adbusters.org/

Justizposse um Furz gegen Polizei

Exakt 17 Stunden und 13 Minuten brauchten MitarbeiterInnen der Polizei und der Justiz, um eine ungewöhnliche Strafanzeige zu bearbeiten. Ein Mann soll eine Polizistin beleidigt haben, weil er bei einer Personenkontrolle in ihrer Nähe gefurzt habe. Der Mann bekam einen Strafbefehl über 900 Euro. Nachdem er Widerspruch einlegte, stellte das Amtsgericht Tiergarten das Gerichtsverfahren umgehend ein. Die Kosten für den Prozess und den Anwalt des Angeklagten übernahm die Staatskasse.
»Wir haben wirklich andere Probleme in Berlin und hätten das Geld besser für die Prävention und die strafrechtliche Verfolgung von islamistischen Straftaten verwenden können«, kritisiert Sebastian Schlüsselburg, Rechtsexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, den Verfolgungseifer wegen etwas heißer Luft.
Schlüsselburg hatte eine Schriftliche Anfrage nach dem Zeitaufwand der Ermittlungen gestellt. Er zeigte sich im nd-Gespräch »verwundert, dass die Staatsanwaltschaft nicht frühzeitig von ihrer Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens Gebrauch gemacht hat«. Unverständlich findet es der Politiker auch, dass nicht die Polizistin, die den Furz wahrgenommen hatte, sondern ihr Einsatzleiter die Anzeige stellte.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066673.polizei-berlin-justizposse-um-furz-gegen-polizei.html
Peter Nowak

Justizposse kostet 87 Euro

Ein Furz bei einer Personenkontrolle in der Rigaer Straße sorgt für Nachwehen. Abgeordneter Sebastian Schlüssenburg (Linke) ließ die Kosten errechnen

Viel Spott zogen sich die Justiz­behörden zu, nachdem bekannt geworden war, dass Christopher S. einen Strafbefehl von 900 Euro erhalten hatte, weil er bei einer Personenkontrolle in der Rigaer Straße in der Nähe einer Polizistin einen Furz gelassen hatte. Nicht die Beamtin, son­ dern der Einsatzleiter stellte eine Anzeige. Für Christopher S. ging die Angelegenheit glimpf­lich aus. Das Berliner Amtsgericht stellte das Verfahren ein. Viel Wind um nichts, lautete der kurze Kommentar einer Pro­zessbesucherin. Doch umsonst war die Justizposse keineswegs.
Sebastian Schlüsselburg, Mit­glied der Linken im Abgeordne­tenhaus wollte vom Senat wis­ sen, wie hoch der Zeitaufwand und die Kosten für die Ermitt­lungen im Furz­-Verfahren war.
In ihrer Antwort listete Martina Gerlach, Staatssekretärin für Justiz und Verbraucherschutz, auf, dass 23 Dienstkräfte mit ei­nem Zeitaufwand von 17 Stun­ den und 13 Minuten mit der Be­arbeitung des Falls beschäftigt waren. Die Zeit setze sich „zu­sammen aus den polizeilichen Maßnahmen vor Ort, der späte­ren Sachbearbeitung und dem zeitlichen Aufwand für die rich­terliche Vorladung“.
Die MitarbeiterInnen von Schlüsselburg errechneten aus diesen Angaben Kosten in Höhe von lediglich 87,25 Euro. „In die­ ser Rechnung werden die Ar­beitsaufwendungen der Mitar­ beiterInnen von Gericht und Staatsanwaltschaft nicht mit einbezogen“, erklärte Schlüs­selburg gegenüber der taz. Auch die Kosten des nach 20 Minuten mit einer Einstellung beendeten Gerichtsprozesses Anfang Sep­tember und des Leipziger An­walts von Christopher S., die die Staatskasse trägt, konnten nicht berücksichtigt werden.
„Wir haben wirklich andere Probleme in Berlin und könn­ten das Geld für den Ausbau von Prävention und juristischer Verfolgung von Islamismus ver­ wenden“, kritisierte Schlüssel­burg den Verfolgungseifer.
Derweil gehen im Gefahren­ gebiet der Rigaer Straße die um­ strittenen und kostenintensi­ven Polizeimaßnahmen weiter. So rückte vor weniger Tagen die Polizei mit Feuerwehr und Be­weissicherungstrupp an, um ein Transparent von der Fassade der Rigaer Straße 94 zu entfernen, weil es das Logo der linken On­ lineplattform indymedia zeigte. Doch auch nach dem Verbot von indymedia­linksunten ist das Zeigen des Symbols bisher nicht strafbar.

aus Taz: 13.10.2017
Peter Nowak

Von Provos und Spontis

Sebastian Kalicha würdigt den gewaltfreien Anarchismus

»Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution« lautete das Credo des holländischen Anarchisten Bart de Ligt. Das mag alle überraschen, die Anarchismus noch immer mit Chaos und Gewalt in Verbindung bringen. Doch damit wird schlichtweg die lange Tradition eines gewaltfreien Anarchismus und Syndikalismus ignoriert, die Einfluss in vielen linken Bewegungen in aller Welt hatte und hat.

Der Wiener Autor Sebastian Kalicha hat sich seit Jahren mit dieser gewaltfreien Strömung befasst und sie in verschiedenen Veröffentlichungen bekannt gemacht. Jetzt begab er sich erneut auf die Suche nach den historischen Wurzeln und Spuren des anarchistischen Pazifismus. Es ist nur konsequent, dass sein sachkundiges wie streitbares Buch im Verlag Graswurzelrevolution erschienen ist, einem Editionshaus, das zur Infrastruktur der gewaltfreien Bewegung gehört und auch regelmäßig eine Zeitschrift gleichen Namens herausgibt.

Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel geht es um die theoretischen Grundlagen der gewaltfreien Bewegung, im zweiten werden 55 bekannte und unbekannte Aktivisten und Aktivistinnen vorgestellt, und im dritten Teil folgt ein Überblick über Organisationen und Bündnisse, die sich in der Vergangenheit und in der Gegenwart teilweise oder vollständig mit gewaltfreier Theorie und Praxis beschäftigen.
Als zentral für das theoretische Fundament der gewaltfreien Bewegung nennt der Autor die Zweck-Mittel-Relation, nach der mit Gewalt eine Bewegung vielleicht siegen kann, aber selber wieder neue Gewalt reproduziert. Dabei wird allerdings ausgeblendet, dass es historische Situationen geben kann (und auch hinlänglich gab), in denen auch überzeugte Gewaltfreie von diesem Credo abweichen müssen. Erinnert sei an den jüdischen Anarchisten Pierre Ruff, der im Zweiten Weltkrieg den Mut der Kommunisten lobte und hoffte, dass die Rote Armee das NS-System zerschlägt. Ruff erlebte die Befreiung nicht mehr, er starb im KZ Neuengamme.

In oder aus der Not geborene Widersprüche erkannten auch viele andere Gewaltfreie, was sie auch sympathisch macht. Zeigt dies doch zugleich, dass sie keine Doktrinären sind, sondern ihre Überzeugungen an der konkreten Praxis überprüfen und auch mitunter revidieren. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Kalicha den Mut aufgebracht hätte, diesen Widersprüchen in den 55 Kurzporträts von Menschen aus aller Welt Raum zu geben.

Der Autor erinnert an prominente Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi, Leo Tolstoi und Albert Camus, Bertram Russell und Aldous Huxley. Erfreulicherweise sind in dem Buch auch viele Frauen porträtiert, die Teil der gewaltfreien Bewegung waren und – wie in anderen Teilen der Linken – oft im Schatten der vermeintlich bedeutsameren männlichen Mitstreiter standen. Simone Weil gehört noch zu den einigermaßen bekannten Frauen der anarchistischen Bewegung. Doch wer kennt Marie Kugel, Ethel Mannin, Dorothy Mannin, Judi Bari und Utah Philips? Sie waren zu unterschiedlichen Zeiten aktiv und blieben ihren Überzeugungen zeitlebens treu, obwohl sie oft noch stärker von Repression betroffen waren als die Männer.

Erfreulich ist, dass Kalicha der syndikalistischen Strömung große Aufmerksamkeit widmet. Dieser Strang der Arbeiterbewegung zählte den Generalstreik und die direkte Aktion zu seinen Kampfformen. Die Syndikalisten lehnten die Verletzung von Personen ab, nicht aber Sachbeschädigung oder die Besetzung von Fabriken. Nur wenige von ihnen bezeichneten sich explizit als Anarchisten oder Anarchistinnen. Henriette Roland Holst, ebenfalls hier porträtiert, gehörte zur holländischen marxistischen linkskommunistischen Schule, die die Oktoberrevolution begrüßte, aber die folgende Entwicklung der Sowjetunion ablehnte.

Im letzten Kapitel zeigt Kalicha auf, welchen Einfluss gewaltfreie Theorien und Praktiken auf die Antikriegs- und Ökologiebewegung hatten. Die holländische Provobewegung beeinflusste beispielsweise die westdeutschen Spontis. Weniger bekannt ist die holländische Kabouter-Bewegung, die Kalicha als »freundliches Gesicht des Kropotkinismus« einführt. Interessant ist, dass die Kabouter Mitte der 1970er Jahre Wahllisten aufstellten und die Theorie vom parlamentarischen und außerparlamentarischen Standbein in die Diskussion brachten, die einige Jahre später die Grünen in der Bundesrepublik übernahmen. In einem sehr kurzen Kapitel geht Kalicha auch auf die Inspiration der gewaltfreien Anarchisten für die Oppositionsbewegung in der DDR ein. Dabei wird vor allem auf die Dresdner Gruppe »Wolfspelz« hingewiesen. Auch der israelischen Gruppe »Anarchists against the Wall« ist ein kurzes Kapitel gewidmet. Ausführlicher wird die globalisierungskritische Bewegung, darunter Occupy, behandelt. Gewaltfreie Aktionsformen werden hier mit einer marxistischen Staatskritik verbunden, was sehr zu begrüßen ist. Denn der Marxismus braucht die libertäre Staats- und Machtkritik ebenso, wie die Anarchisten von der oft moralisch grundierten Staatsablehnung der Marxisten lernen können.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066243.von-provos-und-spontis.html

Sebastian Kalicha: Gewaltfreier Anarchismus & anarchistischer Pazifismus.
Auf den Spuren einer revolutionären Theorie und Bewegung. Graswurzelrevolution, 278 S., br., 16,90 €

Peter Nowak

Zu kooperativ für Solidarität?


Die Anti-Knast-Tage in Berlin beleuchteten die Situation der Gefangenen nach den Hamburger G20-Protesten

Bei vielen libertären Linken ist kooperatives Verhalten mit Gerichten oder anderen Staatsorganen nicht gerne gesehen. So stößt das Einlenken vieler junger G20-Häftlinge nicht bei allen auf Verständnis.

Die juristische Nachlese der Proteste gegen den G20-Gipfel ist im vollen Gange. Die ersten elf Angeklagten vor dem Hamburger Amtsgericht haben die ihnen vorgeworfenen Taten eingeräumt, um Entschuldigung gebeten und nahmen das Entgegenkommen der Gerichte dankbar an, wenn diese – wie in vielen Fällen geschehen – die von der Staatsanwaltschaft geforderten hohen Strafen zur Bewährung aussetzten.

Doch immer noch sitzen seit Anfang Juli rund 30 Personen im Knast – die meisten von ihnen in Untersuchungshaft. Unter ihnen der 21-jährige nicht vorbestrafte Niederländer Peike S., der wegen zweier Flaschenwürfe auf Polizeibeamte zu einer ungewöhnlich hohen Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten ohne Bewährung verurteilt worden war.

Bei vielen Hamburger G20-Häftlinge können Gemeinsamkeiten ausgemacht werden. Oft sind die Beschuldigten recht jung, leben im europäischen Ausland und arbeiten in geregelten Arbeitsverhältnissen. Ihr größter Wunsch ist es, das Gefängnis und Deutschland zu verlassen. Um ihre Gerichtsprozesse zu verkürzen, kooperieren sie mit den Behörden.

Über die Repressionsbedingungen wurde am vergangenen Wochenende auf den Anti-Knast-Tagen im Berliner Mehringhof debattiert. Ein Bündnis verschiedener libertärer Gruppen hatte ein vielfältiges Programm vorbereitet, an dem auch Vertreter_innen aus den Reihen der Zeitschrift »Gefangeneninfo« und der »Roten Hilfe« teilnahmen. Insgesamt waren über 200 Besucher_innen aus Deutschland und Österreich angereist, sie setzten sich zwei Tage lang mit den unterschiedlichen Aspekten von Gefängnis auseinander.

Vielen auch in der radikalen Linken sei heute oft nicht klar, dass eine Demonstration mit Gefängnis enden kann, so der Tenor. Das schaffe Ängste und führe dann dazu, dass die Betroffenen nur noch darüber nachdenken, wie sie schnell wieder aus dem Gefängnis entkommen können. So zumindest erklärten sich die meist jungen Teilnehmer_innen der Tagung die große Bereitschaft zur Kooperation bei den Hamburger Gerichtsverfahren. Ein junger Mann sprach auch von einer Niederlage für die außerparlamentarische Linke.

Wolfgang Lettow gehörte zu den älteren Teilnehmern der Anti-Knast-Tage. Der Redakteur der Zeitschrift »Gefangeneninfo« hat bereits Ende der 1970er Jahre mit der Solidaritätsarbeit begonnen, als Gefängnisse noch voll mit politischen Gefangenen und die Gerichtssäle zu klein für die vielen Prozessbesucher_innen waren.

In seinen Vortrag ging er auf die heute im Vergleich zu den 70er und 80er Jahren stark veränderte soziale Zusammensetzung in den deutschen Gefängnissen ein. Neben Menschen aus der Türkei und Kurdistan, die heute das Gros der politischen Gefangenen stellen, säße auch eine steigende Anzahl sogenannter sozialer Gefangener aufgrund von Delikten wie Schwarzfahren, Diebstahl oder Raub ein. Beide Gruppen seien besonders starken Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt, wenn sie im Gefängnisalltag zu wenig Kooperationsbereitschaft zeigen würden. Lettow betonte, dass Briefe für Gefangene nach wie vor ein wichtiges Mittel der Unterstützung seien.

Großen Raum nahm bei den Anti-Knast-Tagen die Frage des Umgangs mit Angeklagten ein, die vor Gericht kooperieren, ohne andere Personen zu belasten. Zu einer gemeinsamen Handlungsmaxime kam man dabei allerdings nicht.

Ein aktueller Fall ist die Verurteilung der Schweizerin Andrea N. vergangene Woche in Chur. Wegen linkspolitisch motivierter Militanz in den Jahren 2007 bis 2010 in Berlin wurde sie zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, von der sie – abzüglich ihrer in der Untersuchungshaft verbrachten Zeit – nun neun Monate absitzen muss. Die Frau hat sich mittlerweile von der linken Szene verabschiedet und die Anklagepunkte eingeräumt. Gleichzeitig verweigerte sie jedoch Angaben zu anderen Personen und zu politischen Strukturen.

Dennoch hegte von den Anwesenden kaum jemand mehr solidarische Gefühle gegenüber der ehemaligen Berliner Aktivistin Andrea N. Diese hatte bereits vor zehn Jahren wegen politischer Delikte 14 Monate in der Haftanstalt Berlin-Pankow absitzen müssen. Von denen, die damals die Solidaritätskampagne »Freiheit für Andrea« mitgetragen hatten, waren nur noch wenige am letzten Wochenende dabei.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066477.zu-kooperativ-fuer-solidaritaet.html

Peter Nowak

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In dem Gefangeneninfo und auf der Seite von ABC Wien gab es eine Reaktion auf dem Artikel, der hier nur mit zwei Anmerkungen dokumentiert wird:

Hier ist davon die Rede, dass die Vorbereitungsgruppe so radikal ist, dass sie nicht mit der bürgerlichen Presse kooperiert. Was nicht stimmt. Wenn ein/e Gefangene einen Hungerstreik macht etc. wird natürlich der Kontakt zur Presse gesucht, was ja auch sinnvoll für die Gefangenen sein kann. Nur hat in diesen Fall gar keine Kooperation zwischen den Veranstalter_innen und der bürgerlichen Presse stattgefunden. Das ist nämlich eine längere Zusammenarbeit, die mit Interviews, Artikeln etc. begleitet wird. Das gab es nicht. Ich habe als Journalist über eine öffentlich beworbene und angekündigte Veranstaltung einen Artikel geschrieben. Das ist keine Kooperation zwischen den Veranstalter_innen und der Zeitung und daher haben die Veranstalter_innen darauf auch keinen Einfluss. Es gab natürlich immer wieder Versuche aus verschiedenen politischen Lagern, Berichterstattung zu verhindern. Es ist bedauerlich, dass auch libertäre Linke nicht vor dem Versuchen gefeit sind, eine Berichterstattung, die nicht von ihnen genehmigt ist und nicht unter ihrer Kontrolle steht, verhindern zu wollen. Es ist auch bezeichnend, dass ausgerechnet libertäre Linke nicht die Autonomie der Veranstalter_innen der einzelnen Arbeitsgruppen respektieren und auch dort Einfluss nehmen wollen. Den Veranstalter, den ich namentlich erwähnte, habe ich vorher gefragt und er hat seine Zustimmung dazu gegeben. Dass sich da noch einige sogenannte Libertäre als Über-ZK aufspielen, ist nur lächerlich. Das Ganze wird hier auch dokumentiert als Zeugnis der ideologischen Verwirrunung heutiger Linksradikaler, die sich ärgern, dass sie nicht alles unter ihrer Kontrolle haben. Und nun ist nicht zu befürchten, dass diese in ihrer aktuellen Form als radikale Linke mehr Einfluss auf die Gesellschaft bekommen, um ihren Kontroll- und Überwachungsgelüsten zu frönen. Doch zu befürchten ist, dass sie das nach ihrer radikalen Phase tun, wenn sie dann in den diversen Jobs für die bürgerliche Gesellschaft sind.

Die Anti-Knasttage 2017 in Berlin
Eine Auswertung, wie sie waren, was fehlte, wie geht es weiter?
Die Orgagruppe der Anti-Knast-Tage 2017

aus: gi_411_web.pdf und

Die Anti-Knast-Tage 2017 in Berlin – Eine Auswertung, wie sie waren, was fehlte, wie geht es weiter?

„Bei wem wir uns auch sehr ausdrücklich bedanken wollen, ist der Journalist Peter Nowak. Dieser nämlich veröffentlichte einen Artikel in der Zeitung „Neues Deutschland“, „Zu kooperativ für Solidarität?1“ über die Anti-Knast-Tage in Berlin. Wir wollen mal ein paar Dinge klarstellen, erstens, die Anti-Knast-Tage waren nicht von einem „ Bündnis verschiedener libertärer Gruppen“ organisiert und es nahmen auch keine „Vertreterin*innen aus den Reihen (…) der Roten Hilfe“ teil. Einige von uns sind Anarchist*innen, aber andere eben nicht und wir wollen dies betonen. Die Rote Hilfe wurde nicht eingeladen, weil sie nicht für die Abschaffung der Knäste stehen kann und steht, dies bestätigten uns auch einige ihrer Mitglieder. Diese Einstellung teilen nicht alle Mitglieder der RH, weil es auch dort Menschen gibt, die für die Abschaffung von Knästen sind, aber unter dem Motto könnten sie die Tage nicht unterstützen. Genauso wenig ist die RH für die Freiheit aller Gefangenen und engagiert sich nur für „politische Gefangene“, was wir nicht teilen. Was nicht bedeutet, dass die Rote Hilfe nicht trotzdem einen Infotisch ab dem Samstag aufgebaut hatte und es auch klar war, dass sie dafür Platz hätten.
Was uns auch sehr ärgerte ist das Peter Nowak, einen Veranstalter namentlich erwähnte. Und zuletzt die Einschätzung von Peter Nowak, dass während der Anti-Knast-Tage „die Frage des Umgangs mit Angeklagten (…), die vor Gericht kooperieren“ sehr viel Raum eingenommen hätte. Um diese Frage herum fand eine Veranstaltung statt, die von einer sehr langen Diskussion begleitet wurde. Aber es war nur eine von vielen. Dass daraus Peter Nowak die Schlussfolgerung zog, dass dies sich auf den Fall einer Person bezieht die in der Schweiz verurteilt wurde, war mehr als fragwürdig und nicht nachvollziehbar. Unseres Erachtens nach spielte es evtl. nur in kleinen Gesprächen eine Rolle, aber über diesen Fall wurde nicht in den Diskussionen geredet. Wir wollen nicht sagen, dass Peter Nowak absichtlich gelogen hat, aber er hat definitiv nicht wenig falsch veröffentlicht. Er hat auch in keinem Moment mit irgendwem von uns geredet, bzw. erwähnt, dass ein Artikel veröffentlicht werden würde. Dies hätten wir so oder so verneint, weil wir die Kooperation mit bürgerlichen Medien strikt verweigern. Für uns ist es wichtig, dies klarzustellen, weil es uns selber sehr überraschte einen Artikel darüber zu lesen und es uns sehr ärgerte was drin stand. Wir haben Peter Nowak ganz persönlich die Leviten gelesen. Diese Zeilen sollten ihn also auch nicht mehr überraschen.

„Für viele waren Nazis eine Nebenerscheinung“

Vor 30 Jahren gründeten sich in der DDR die ersten unabhängigen Antifa-Gruppen – Auslöser war der Überfall von Neonazis auf ein Punkkonzert in der Zionskirche in Prenzlauer Berg. Dietmar Wolf war einer der Mitbegründer der Ost-Antifa

INTERVIEW PETER NOWAK

taz: Herr Wolf, wann sind Sie in der DDR das erste Mal mit Neonazis in Kontakt gekommen?
Dietmar Wolf: Ich bin ab 1978 regelmäßig zu Spielen des Fußballclubs BFC Dynamo gegangen. Dort habe ich 1982 oder 1983 die ersten Fans mit extrem kurzen Haaren und auffälligen Klamotten gesehen, die aus heutiger Sicht typisch für Skinheads waren. Außerdem fiel zu dieser Zeit mehr und mehr auf, dass die Fansprechchöre immer extremer und aggressiver wurden und zunehmend rassistische, antisemitische, sexistische Inhalte hatten. Das war dann auch ein wesentlicher Grund für mich, nicht mehr zum BFC ins Stadion zu gehen.

Wie kamen Sie in den Kreis der Mitbegründer der Ostberliner Antifa?
Ich gehörte seit 1987 verschiedenen Gruppen der politischen Opposition in der DDR an. Unter anderem war ich auch Mitarbeiter in der Kirche von Unten. Deshalb war ich unmittelbar an der Planung und Organisation der Veranstaltung am 19. April 1989 beteiligt. Ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits von der Gründung der Antifagruppe in Potsdam gehört. Allerdings hatte ich keine persönlichen Kontakte dorthin

Wie kam es zur Gründung unabhängiger Antifa-Gruppen in verschiedenen Städten der DDR?
Auslöser war der Überfall von Nazi-Skinheads auf ein Punkkonzert in der Ostberliner Zionskirche im Oktober 1987. Er hatte in zweierlei Hinsicht Si­gnal­wir­kung. Zum einen erhöhte sich danach die Zahl der offenen Übergriffe von Nazis und Skinheads. Zum anderen regte sich erstmals selbst organisierter Widerstand. Daraus folgte dann die Gründung von unabhängigen Antifa-Gruppen: in Potsdam und Dresden 1987, in Halle 1988 und in Berlin nach einem gescheiterten Versuch 1987 am 19. April 1989 in den Räumen der Kirche von Unten, der KvU.

Wer steckte hinter dem Überfall auf die Zionskirche?
Damals hatten sich relativ spontan ungefähr 30 Neonazis von einer Geburtstagsfeier in einer Kneipe in Prenzlauer Berg zur Kirche aufgemacht, um das Konzert anzugreifen. Angeführt wurde die Aktion von Ostber­liner Neonazis wie Ronny Busse. Einige ebenfalls beteiligte ­Westberliner Neonazis sind allerdings nie enttarnt worden: Es gab ein Amtshilfeverfahren der DDR-Behörden, dem aber leider von Westberliner Seite nicht stattgegeben worden ist.

Wie war das Verhältnis zwischen der Unabhängigen Antifa und den unterschiedlichen Gruppen der DDR-Opposition?
Gute Kontakte hatte wir zu linken Oppositionsgruppen, die sich anarchistisch definierten, wie zum Beispiel die Umweltbibliothek und eben die KvU in Berlin. Der große Teil der Oppositionsgruppen – auch jene, die sich als marxistisch oder trotzkistisch definierten – nahm die Antifa-Gruppen aber nicht wirklich ernst. Für ihn war damals das Thema Rassismus und Nazis eine eher unwesentliche Nebenerscheinung.

Wie reagierten die DDR-Verantwortlichen auf die unabhängige Antifa?
Der Staat beziehungsweise das Ministerium für Staatssicherheit antworteten mit Repression und Bespitzelung. Es gab seitens der Antifa-Gruppen Versuche, mit der FDJ ins Gespräch zu kommen und auch auf der unteren Ebene eine gewisse Zusammenarbeit anzuregen. Das wurde von der FDJ bis in die Zeit der Wende hinein kategorisch abgelehnt.

Die Maueröffnung 1989 ermöglichte Ihnen dann direkte Kontakte mit Westberliner und westdeutschen Antifagruppen. Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen Antifa Ost und West?
Nach anfänglich großem Interesse und großer Bereitschaft zur Zusammenarbeit machten viele Antifaschisten und Antifaschistinnen aus der DDR die Erfahrung von Bevormundung, Herabwürdigung und ideologischen Eingliederungsversuchen durch die Westgruppen. Das führte schnell dazu, dass auch in den antifaschistischen Gruppen der Begriff des Ost-West-Konflikts Einzug hielt.

Wo lagen die Unterschiede?
In den 90er Jahren gründeten westdeutsche Antifa-Gruppen die Antifaschistische Aktion/Bundesweite Aktion, eine antifaschistisch ausgerichtete Kader- und Sammlungsorganisation nach dem historischen Vorbild des Rotfrontkämpferbunds. Antifas aus der DDR koordinierten sich zu dieser Zeit im Ostvernetzungstreffen, zu dem Gruppen aus dem Westen keinen Zugang hatten.

Sie sind in der antifaschistischen Bildungsarbeit aktiv. Worum geht es da?
Ich sehe meine Bildungsarbeit als einen kleinen Beitrag zum Erhalt von antifaschistischer Geschichte. Sie ist in gewisser Weise eine Brücke von 1987 ins Jahr 2017. Denn leider stelle ich immer wieder fest, dass die Antifaschisten und Antifaschistinnen von 2017 kaum etwas über die Antifagruppen von 2007 und 1997 wissen, geschweige denn von 1987.

Interview: Peter Nowak

Dietmar Wolf, geb. 1965, stellt am 12. 10. um 20 Uhr das Buch „30 Jahre unabhän­gige Antifa in Ostdeutschland“ vor. BAIZ, Schönhauser Allee 26A

aus Taz vom 9.10.2017:
http://www.taz.de/Archiv-Suche/!5451924/

Wie viel Heimat verträgt die Politik?

Diskussionen nach den Wahlen: Die Grünen streiten über Heimat und die hippe Linke spielt Jung gegen Alt aus

Der Schock der etablierten Parteien über den Zuwachs der AfD ist vorbei. Nun sind sie dabei, ihren Diskurs entsprechend anzupassen, d.h. nach rechts zu verschieben. In der CDU und der CSU betonen alle, dass sie jetzt die konservative Seite wieder stärker akzentuieren wollen. Dabei hat ja CSU-Chef Seehofer vorgemacht, wie man mit einem rechten Diskurs die AfD stärkt. Ständig hat er die Obergrenze bei dem Flüchtlingszahlen gefordert, die mit dem Grundgesetz gar nicht vereinbar ist.

Nun dämmert Seehofer, dass seine Karriere beendet ist, weil er die Forderung so nicht umsetzen kann. Wenn er in der FAZ[1] mit dem Satz zitiert wird: „Ich kann ohne eine Lösung zur Obergrenze nicht zurück zu meiner Basis“, macht er noch deutlich, dass der Rechtsruck aus der Mitte der Gesellschaft kommt.

Da ist für die AfD auf jeden Fall noch Potential. Dass bei einer möglichen Koalition mit FDP und Grünen das Wort „Obergrenze“ nicht in den Vereinbarungen stehen wird, ist auch Seehofer klar. Doch die Mehrheit Grünen ist flexibel genug, unter einem anderen Begriff durchaus weitere Einschränkungen der Flüchtlingsgesetze zu akzeptieren. Allerdings dürfte es in der Partei da noch heftige Auseinandersetzungen darum geben.

Warum die Grüne Heimatpartei über den Begriff „Heimat“ streitet

Seit einigen Tagen streiten sich die Grünen darüber, ob sie sich positiv auf den Heimatbegriff[2] beziehen sollen. Ausgelöst hatte die Debatte die Spitzenpolitikerin Kathrin Göring Eckardt, die auf dem Parteitag ausrief[3]: „Wir lieben dieses Land, das ist unsere Heimat, und diese Heimat spaltet man nicht.“

Die Grüne Jugend kritisierte diese Rhetorik als ausgrenzend. In der Taz hat Göring Eckardt ihre Rede verteidigt[4] mit dem obligatorischen Hinweis, man dürfe die Heimat nicht den Rechten überlassen. Ihr hatte der Wissenschaftler Anatol Stefanowitsch[5] ebenfalls in der Taz widersprochen[6]. Seiner Meinung hat der Begriff Heimat in der Politik nichts zu suchen.

Wird Heimat zu einem politischen Begriff, wird es gefährlich, denn dann wird Heimat etwas, das durch die bedroht ist, die ein Zuhause suchen. Wenn der politische Heimatbegriff von einem konkreten Ort auf ein ganzes Land ausgedehnt wird, entsteht eine Nation, deren Mitgliedschaft durch Abstammung bestimmt ist. Die für niemanden ein Zuhause sein kann, für den sie nicht Heimat ist und die für niemanden Heimat werden kann, für den sie es nicht schon immer war.

Anatol Stefanowitsch

Nur ist die Diskussion etwas absurd. Denn die Grünen waren seit ihrer Gründung immer eine Heimatpartei. Ihre ökologische Orientierung war immer mit dem Kampf um eine lebenswerte Heimat verbunden. Auch die westdeutsche Anti-Pershing-Bewegung, in der die Grünen in ihrer Frühphase vertreten waren, hatte immer einen starken Heimat und sogar Nationalbezug. Es ist auch kein Zufall, dass die Filmreihe „Heimat“[7] von Edgar Reitz in der Umwelt und Anti-Raketenbewegung viele Anhänger hatte.

Viele aus der Alternativbewegung erklärten damals, sie hätten sich durch ihr Engagement dort mit dem Heimatbegriff versöhnt. Es ist schon erstaunlich, dass diese Zusammenhänge in der aktuellen innergrünen Heimatdiskussion ausgeblendet werden. Da wird suggeriert, erst der Kretschmann in Baden-Württemberg und Van Bellen in Österreich hätten den Heimatbegriff bei den Grünen populär gemacht. Nein, die Grünen waren seit ihrer Gründung damit verbunden.

Die Linke und die Migranten

Auch die Linke war in Gestalt der PDS eine Heimatpartei besonderen Typs, nämlich die Partei der ostdeutschen Kümmerer. Diese Rolle hat sie heute weitgehend verloren, teilweise auch an die AfD. Dafür findet die Linke Zustimmung bei einer linksbürgerlichen, urbanen Mittelschicht. Die legt Wert darauf, dass die Partei zumindest einige menschenrechtliche Grundlagen einhält und eben nicht auch anfängt, über Obergrenzen für Migranten zu diskutieren.

„Kurs halten“, appelliert[8] die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Linken, Ulla Jelpke Das ist eine Entgegnung auf Wortmeldungen des Duos Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine. Dabei spielt das bekannte schlechte Verhältnis des Duos mit den gegenwärtigen Vorsitzenden der Partei eine große Rolle.

Lafontaine hat zudem schon als SPD-Spitzenpolitiker mit für die Verschärfung des Asylrechts gesorgt und mit seiner „Fremdarbeiterrede“[9] schon vor mehr als 12 Jahren für Unmut gesorgt. Doch wenn er darauf verweist, dass die Migration auch eine Klassenfrage ist, und die Ärmsten der Armen eben nicht die Möglichkeiten haben, nach Europa zu kommen, hat er Recht.

Das ist nun aber kein Argument für die Einschränkung von Flüchtlingsrechten, sondern für den Kampf um einen sicheren Transfer, damit die Menschen nicht mehr gezwungen sind, die lebensgefährlichen Routen zu nehmen. Andererseits muss nicht nur das Recht zu fliehen, sondern auch da Recht zu bleiben und trotzdem menschenwürdig leben zu können, gestärkt werden.

In Teilen der linksliberalen und linken Szene wird tatsächlich zu wenig darüber diskutiert, welche Folgen die Migration studierter oder gut ausgebildeter junger Menschen für diejenigen hat, die keine Möglichkeiten der Flucht haben. Bei aller Kritik an vielen Positionen des Duos Lafontaine/Wagenknecht zur Migrationsfrage, sollte dieser Aspekt genauer diskutiert werden, darin ist der saarländischen Landesvorsitzenden der Linken Astrid Schramm[10] zuzustimmen.

Muss die Linke grüner werden?

Recht haben aber auch die Mitarbeiter der Rosa Luxemburg Stiftung, Michael Brie und Mario Candeias, die in ihrer Wahlanalyse[11] empfehlen, die Linke solle Teil eines solidarischen Blocks werden – auch in der Unterstützung von Migranten. Auch der Chefredakteur der Tageszeitung Neues Deutschland warnt vor einer Anpassung der Linken[12] an den gesellschaftlichen Mainstream in der Flüchtlingsfrage.

Wenn Strohschneider dann Stimmen aus der Linksjugend zitiert, die sich wünschen, dass sich die Linke dem „städtischen, progressives, akademisches Milieu“ öffnen soll und sogar postuliert, „grüner zu werden, ohne die Grünen zu kopieren“, sollte man aber hellhörig werden. Zielen solche Vorschläge nicht auf eine neue linksliberale Partei hin?

Wie Alte gegen Junge in der Linken ausgespielt wurden

Ein negatives Beispiel gab da in einem Taz-Artikel die Kandidatin der Linken in Neukölln Judith Benda[13]. „Linke wird hip und urban“[14], lautet die Überschrift des Artikels. Da wird schon ein Ressentiment gegen die nicht hippe, nicht so urbanen Menschen bedient, die eben vielleicht nicht in Neukölln, sondern in Marzahn oder Hellersdorf wohnen. Genau dieses Ressentiment bedient Benda, die in dem Taz-Bericht über Neukölln mit diesem Statement zitiert[15] wird:

Alter ist eigentlich keine politische Kategorie. Aber es gibt schon einen Unterschied zwischen einem 60jährigen Typen und einer jungen Frau, die für eine andere politische Praxis steht.

Judith Benda

Auffallend ist hier auch die Geschichtslosigkeit in einer Partei, die sich in die Tradition einer Bewegung stellt, in der die „roten Großeltern“ ihren Kindern und Enkel über ihre Kämpfe an der Werkbank, am Arbeitsamt oder wo auch immer erzählten, um sie der jüngeren Generation weiterzugeben. Natürlich war auch viel Mythos und Kitsch dabei. Aber sowohl in der kommunistischen als auch in der anarchosyndikalistischen Arbeiterbewegung standen die oder rotschwarzen Großeltern auch für ein bestimmtes Bild von Gesellschaft und Geschichte.

„Die Enkel fechten es besser aus“

Da war die Vorstellung von einer Gesellschaft, in der die Erfahrungen von Kämpfen, ihre Erfolge aber auch ihre Niederlagen weitergegeben wurden. Darin war auch die Hoffnung enthalten, dass es eben nicht nur einzige Individuen, sondern eine kollektive Erfahrung gibt, die weitergegeben werden kann.

Bendas Statement steht für eine Generation, die davon nichts mehr hören will. Für sie ist ein 60-jähriger Arbeiter ein Typ, der möglichst schnell verschwinden, und den jungen, hippen urbanen Linken Platz machen soll.

Eine Linke, die sich selber ernst nimmt, müsste Platz sowohl für den 60jährigen Mann und die junge Frau haben. Ansonsten lässt sie die Kernwählerschaft der klassischen Arbeiter rechts liegen.

https://www.heise.de/tp/features/Wie-viel-Heimat-vertraegt-die-Politik-3852221.html

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/csu-chef-horst-seehofer-beharrt-weiterhin-auf-obergrenze-15234106.html
[2] http://www.deutschlandfunk.de/ausgeloest-von-katrin-goering-eckardt-gruene-debattieren.1773.de.html?dram:article_id=397435
[3] http://www.deutschlandfunk.de/ausgeloest-von-katrin-goering-eckardt-gruene-debattieren.1773.de.html?dram:article_id=397435
[4] http://www.taz.de/!5451388/
[5] http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we06/institut/mitarbeiterinnen_und_mitarbeiter/stefanowitsch/index.html
[6] http://www.taz.de/Kommentar-Gruener-Heimatbegriff/!5450730/
[7] http://www.heimat123.de/
[8] https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/319554.kurs-halten.html
[9] https://www.sozialismus.info/2005/07/11327/
[10] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1065842.lafontaine-hat-das-recht-auf-asyl-nicht-in-frage-gestellt.html
[11] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1065470.auswege-aus-der-zehn-prozent-nische.html
[12] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1065502.waere-das-linke-politik.html
[13] https://www.abgeordnetenwatch.de/profile/judith-benda
[14] http://www.taz.de/Die-Linkspartei/!5448496/
[15] http://www.taz.de/Die-Linkspartei/!5448496/

Mietenexplosion per Post


Bewohner der Schöneberger Gleditschstraße wollen sich gegen Erhöhung ihrer Mieten wehren

Jens Hakenes ist stinksauer. Er ist Mieter in der Gleditschstraße in Schöneberg. Nach der Modernisierung seines Hauses im vergangenen Jahr hat die Eigentümergesellschaft »Industria Wohnen« aus Frankfurt am Main ihm eine Mieterhöhung zugeschickt. So wie ihm gehe es 100 anderen Mietern, die in den Altbauten in seiner Straße wohnen. »Uns drohen jetzt Mehrkosten von insgesamt rund 100 000 Euro pro Jahr«, sagt Hakenes aufgebracht.

Hakenes kritisiert, dass die »Industria Wohnen« sich nicht an die Vereinbarungen mit dem Bezirksamt halte. Das habe auch der Berliner Mieterverein in einer Überprüfung der Mieterhöhung festgestellt. Tatsächlich kommt ein Mitarbeiter des Mietervereins in einer Stellungnahme zu der Einschätzung, dass die Modernisierung in der Gleditschstraße als reine Instandhaltungsmaßnahmen zu klassifizieren ist, die keine Mieterhöhung mit sich bringen dürfe. Das sähen auch die Vereinbarungen vor, die der Bezirk mit der »Industria Wohnen« vor zwei Jahren geschlossen habe. 

Der Vertrag zwischen dem Eigentümer und dem Bezirksamt war das Ergebnis eines Runden Tisches, nachdem sich die Mieter in der Gleditschstraße mit Kundgebungen und Straßenfesten gegen ihre durch die erhöhten Mieten drohende Verdrängung gewehrt hatten. Die Anwohner haben sich in der Mietergemeinschaft Gleditschstraße zusammengeschlossen und wollen erreichen, dass sie sich auch nach der Modernisierung der Häuser die Miete noch leisten können. Mit der Vereinbarung zwischen Bezirk und Eigentümer hofften sie, vor einer Mietenexplosion geschützt zu sein.

Als nun doch die Mieterhöhungen in den Briefkästen lagen, staunten die Mieter in Schöneberg nicht schlecht. »Jetzt steht der Bezirk in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Vereinbarung auch umgesetzt wird«, sagt Hakenes. Schließlich sei der ja Vertragspartner und nicht die Mieter. 

Uwe Klotz vom Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg dämpft die Erwartungen. »Bezüglich der Vereinbarung aus dem März 2015 werden wir bestehende vertragliche Möglichkeiten prüfen. Für den Fall, dass diese auch vorhanden sind, werden wir sie umsetzen«, sagte Klotz. Das Bezirksamt habe allerdings keinerlei gesetzliche Möglichkeiten, in Mieterhöhungsverlangen von Hauseigentümern einzugreifen. 

Sollte das Bezirksamt keine Reduzierung der Miete erreichen, bleibt den Mietern noch der individuelle Klageweg. Der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins Reiner Wild äußerte sich indes zurückhaltend, was die Chancen für die Mieter angeht: »Die Rechtsauslegung meines Mitarbeiters, auf die sich die Mieter aus der Gleditschstraße berufen, muss nicht auch jene der zuständigen Gerichte sein.« Die Mietergruppe will in diesem Fall vor allem durch öffentlichen Druck durchsetzen, dass die Vereinbarung umgesetzt wird. 

Zurzeit sammeln die Mieter Spenden, um weitere Gutachten über die Rechtmäßigkeit der Mieterhöhungen in Auftrag zu geben. Erste kleine Erfolge können die Mieter derweil vermelden. »Für eine etwa siebzig Quadratmeter große Wohnung verlangte die ›Industria Wohnen‹ ursprünglich eine Mieterhöhung von rund 141 Euro. Durch die bisher vorgenommenen Korrekturen sinkt dieser Betrag jetzt um rund zehn Euro monatlich«, rechnet Hakenes vor. 

Von der »Industria Wohnen« gab es trotz mehrmaliger Nachfragen bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066077.mietenexplosion-per-post.html
Peter Nowak

Wenn die Rechte Israel lobt

Diskussionsstoff für einen Antifaschismus auf der Höhe der Zeit


Momentan werden viele Bücher über die AfD verfasst. Etliche sind im Handgemenge geschrieben und schon nach wenigen Monaten nicht mehr aktuell. Doch das von Stephan Grigat herausgegebene „AfD und FPÖ, Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechte bilder“ gehört zu den Büchern, über die man noch länger diskutieren wird.

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