Stammheimer Todesnacht: Es bleiben zahlreiche Widersprüche

Kann der Tatort "Der rote Schatten" die Diskussion um die Todesumstände der RAF-Gefangenen neu beleben?

Der Tatort-Krimi Der rote Schatten[1], der am letzten Sonntag ausgestrahlt wurde, hat ein Verdienst. Er lenkt noch einmal die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass zahlreiche Widersprüche zur offiziellen Version der Todesumstände der RAF-Gefangenen am 18.Oktober 1977 in dem Isolationstrakt von Stammheim unaufgeklärt sind.

Denn in der Tatort-Fiktion war offen geblieben, ob sich die Gefangenen das Leben nahmen, vielleicht unter Aufsicht des Staates, oder ob sie ermordet wurden. Deshalb haben sich sofort die Bild-Zeitung[2] und Stefan Aust[3] zu Wort gemeldet und behauptet, in dem Tatort werde RAF-Propaganda verbreitet.

Die Bild-Zeitung bleibt da ihrer Linie treu. Sie hatte ja bereits vor über 40 Jahren Heinrich Böll[4] und andere linksliberale Intellektuelle zu RAF-Sympathisanten erklärt. Und der öffentlich-rechtliche RAF-Erklärer Stefan Aust fürchtet um seine Deutungshoheit für die Geschichte der RAF und der Ereignisse in Stammheim, wenn plötzlich auch über die Widersprüche zu der Version der Stammheimer Todesnacht diskutiert würden, die Aust ja immer vertreten hat.

Der Publizist Willi Winkler hingegen weist Austs Vorwürfe in einem Interview im Deutschlandfunk[5] zurück. Zu Aust erklärt Winkler nur knapp[6]:

Naja, soll ich mich jetzt wirklich zu Herrn Aust äußern? Der hat seine Karriere auf dem Mythos RAF aufgebaut. Und er hat die Vorlage geliefert für den Baller-Film „Der Baader Meinhof Komplex“. Also: Wer ist er, um das zu sagen?
Willi Winkler[7]

Warum werden nicht endlich die Akten offen gelegt?

Obwohl er selbst an die Selbstmordversion glaubt, ist sich Winkler der vielen unaufgeklärten Widersprüche der Geschehnisse am 18.10.1977 in Stammheim bewusst. Er fordert von den staatlichen Stellen Transparenz und sieht in der Diskussion nach der Tatort-Fiktion etwas Positives:

Wenn das jetzt Anlass dazu gibt, dass man die vorhandenen Akten offenlegt – nach 40 Jahren wäre das ja möglich, es wurde ja ausführlich die Geschichte eines V-Mannes behandelt, und es gab mehrere – das wäre doch kein schlechter Effekt, wenn die jetzt veröffentlicht werden müssten. Dann hätte es auch was Gutes.

Willi Winkler[8]

Tatsächlich könnte die Diskussion nach dem Tatort auch jüngeren Leuten deutlich machen, wie viel an den Geschehnissen vor 40 Jahren noch ungeklärt ist. Ein Nachgeborener, der seit Jahren dazu forscht, ist der IT-Spezialist Helge Lehmann, der 2011 seine Rechercheergebnisse[9] in einem Buch unter dem Titel „Die Todesnacht von Stammheim“ herausgegeben hat (vgl. dazu Helge Lehmann über blinde Flecken und Widersprüche[10]. Zum vierzigsten Jubiläum der Ereignisse hat kaum jemand darauf Bezug genommen.

Zahlreiche Punkte sind ungeklärt

Telepolis sprach mit dem Autor, der sich wundert, warum niemand auch nur versucht hat, die von ihm benannten Widersprüche aufzuklären.

Am 18.10.2017 jährt sich die Todesnacht von Stammheim, an dem die RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe in ihren Zellen umgekommen sind, zum 40ten Mal. Kaum noch jemand bezweifelt die offizielle Selbstmordversion. Warum sind Sie da eine Ausnahme?

Helge Lehmann: Meine Zweifel rühren von meinen Recherchen zu der Todesnacht in Stammheim. Zahlreiche Punkte sind ungeklärt oder wurden nicht in die Untersuchung des Todesermittlungsverfahrens aufgenommen. Die Indizienpunkte aus meinem Buch, die mir bisher niemand widerlegt hat, machen es nicht schwer, den Selbstmord anzuzweifeln.

Sie beschreiben sich als anfangs unpolitischen Menschen beschrieben und dann über 4 Jahre für Ihr im 2011 erschienenes Buch „Die Todesnacht von Stammheim“ recherchiert. Wieso nahmen Sie sich die Zeit und wie finanzierten Sie sich und ihre Recherche?
Helge Lehmann: Wenn ich erkenne, dass es bei irgendeiner Sache mehr zu erfahren gibt, bzw. sich irgendwelche Thesen als unschlüssig zeigen, möchte ich es genau wissen. Das hat dann mal mehr, mal weniger zeitintensiver Recherche zur Folge. Die „Todesnacht in Stammheim“ war extrem zeitintensiv, gefühlt unendlich viele Stränge gab es zu untersuchen. Da ich einen Job habe und hatte, konnte ich nur nach Feierabend, am Wochenende und an freien Urlaubstagen daran arbeiten.

Wie gingen Sie bei Ihrer Recherche vor?
Helge Lehmann: Da es keine Schemata gibt, begann ich logischerweise am Kernpunkt. Der Todesnacht selbst, sowie dem Auffinden der Toten und der verletzten Irmgard Möller. Schritt für Schritt sammelte ich Daten, holte mir in den verschiedenen Archiven verfügbare Akten und glich diese mit dem bereits vorhandenen Buchmaterial und dem Internet ab. So gelangte ich Schritt für Schritt voran und baute um die Todesnacht die Geschichte immer weiter aus. Dazu habe ich praktische Untersuchungen unternommen, wie beispielsweise die Lautstärke der Schüsse, um die Widersprüche aufzuzeigen.

Unmittelbar nach der Todesnacht von Stammheim bezweifelte ein großer Teil der Linken die Selbstmordthese. Ein Internationaler Untersuchungsausschuss versuchte Aufklärung. Haben Sie sich auf dessen Arbeit stützen können?
Helge Lehmann: Solche Untersuchungen habe ich im Nachgang mit meinen Recherchen abgeglichen. Hätte ich diese als Grundlage genommen, wäre ich in meiner Ausarbeitung beeinflusst worden. Das hätte ich als keine gute Herangehensweise gesehen.

Wahrscheinlichkeit des Schmuggels mehrerer Waffen gleich null

Sie haben sich ausgiebig mit dem behaupteten Waffenschmuggel in das Gefängnis und dem angeblichen geheimen Kommunikationssystem der Stammheimer Häftlinge auseinandergesetzt. Zu welchem Resultat kommen Sie da
?
Helge Lehmann: Nach meinen Untersuchungen, jeweils mit einem Versuchsaufbau, komme ich zu dem Ergebnis, dass der Waffenschmuggel nur möglich gewesen sein kann, wenn die untersuchenden Beamten grob fahrlässig und dilettantisch gearbeitet hätten. Da sich die Beamten bei einem Waffenschmuggel selbst in Gefahr gebracht hätten und da es vor jeder Durchsuchung intensive Vorbereitungen gab, erscheint mir die Wahrscheinlichkeit des Schmuggels mehrerer Waffen und Patronen sowie eine Kochplatte und anderer Gegenstände gleich null.

Wo sehen Sie einen weiteren zentralen Widerspruch in der offiziellen Version der Stammheimer Todesnacht?
Auch der Versuchsaufbau der Kommunikationsanlage, mit der sich die Gefangenen laut der offiziellen Version zum Selbstmord verabredet haben, zeigt deutlich, dass mit dem in den Zellen vorhandenen Material eine solche Anlage spätestens ab dem Beginn der Kontaktsperre der Stammheim-Häftlinge nach der Schleyer-Entführung nicht aufgebaut werden konnte.

Ein „Indizienprozess“ gegen die offizielle Version

Sie schreiben, dass ihre Untersuchungen die Form „eines Indizienprozesses“ gegen die offizielle Version angenommen hat. Wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, dass sie keine Beweise haben?
Helge Lehmann: In der Rechtsprechung ist ein Beweis mehr als ein Indiz, die Summe der Indizien kann als Beweis gelten. Natürlich habe ich keinen Beweis. Ich war nicht dabei, keiner der beteiligten Beamten hat sich dahingehend geäußert. Jedes Gericht würde aufgrund dieser Indizienlage das Ergebnis Selbstmord nicht als das tatsächliche zweifelsfreie Ergebnis sehen.

Waren Sie über die öffentlichen Reaktionen auf Ihr Buch enttäuscht? Schließlich wird es im Jubiläums-Jahr kaum erwähnt und selbst in linken Zeitungen wird die Selbstmordthese kaum in Frage gestellt.
Helge Lehmann: Nein war ich nicht. Genauer gesagt habe ich damit gerechnet. Die Sieger schreiben die Geschichte.

Aber auch der ehemalige RAF-Gefangene Karl-Heinz Dellwo[11], der heute als linker Verleger[12] und Aktivist[13] tätig ist, erklärte später, die RAF-Gefangenen hätten über einen Selbstmord als selbstbestimmten Akt, um sich der staatlichen Verfolgung zu entziehen, gesprochen. Würde die offizielle Version zumindest im Grunde gestützt?
Helge Lehmann: Seine Darstellung widerlegt die von mir offengelegten Indizien und Widersprüche nicht.

Könnten die von Ihnen untersuchten Widersprüche nicht auch darauf hinweisen, dass ein Selbstmord unter staatlicher Aufsicht damit verschleiert wurde? Ein Beispiel, die schon immer stark bezweifelte Art des angeblichen Waffenschmuggels könnte verschleiern, dass die Waffen mit Wissen staatlicher Stellen ins Gefängnis gelangt sind?
Helge Lehmann: Ich beteilige mich nicht an Spekulationen. Ich kann nur auf die in meinem Buch vorgelegten Indizienpunkte hinweisen. Warum löste keiner die benannten Widersprüche auf oder versucht, diese zu erklären?
Gehen Sie davon aus, dass es noch eine Aufklärung der Todesumstände in Stammheim geben wird? Welche politischen Folgen hätte das?
Helge Lehmann: Das ist nicht absehbar. Das bisherige Interesse an der Aufklärung hält sich ja in Grenzen. Diskussionen sind wichtig, um das ganze Thema zu verstehen. Es wäre allerdings nötig, dass sich mehr Menschen für das Thema interessieren beginnen. Vielleicht kann der Tatort, den ich sehr gelungen fand, dazu beitragen.

Peter Nowak

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[1] http://www.ardmediathek.de/tv/Tatort/Der-rote-Schatten/Das-Erste/Video?bcastId=602916&documentId=46960636
[2] http://www.bild.de/unterhaltung/tv/tatort/warum-dieser-krimi-unertraeglich-ist-53548250.bild.html
[3] https://www.derwesten.de/kultur/fernsehen/gefaehrlicher-unsinn-stefan-aust-kritisiert-raf-tatort-id212252239.html
[4] https://www.boell.de/de/stiftung/heinrich-boell
[5] http://www.deutschlandfunk.de/raf-tatort-willi-winkler-weist-aust-vorwuerfe-zurueck.2849.de.html?drn:news_id=804556
[6] http://www.deutschlandfunk.de/kritik-am-raf-tatort-die-zuschauer-sind-einfach-gescheiter.2907.de.html?dram:article_id=398352
[7] http://www.deutschlandfunk.de/kritik-am-raf-tatort-die-zuschauer-sind-einfach-gescheiter.2907.de.html?dram:article_id=398352
[8] http://www.deutschlandfunk.de/kritik-am-raf-tatort-die-zuschauer-sind-einfach-gescheiter.2907.de.html?dram:article_id=398352
[9] http://www.todesnacht.com/
[10] https://www.heise.de/tp/features/Die-Todesnacht-in-Stammheim-3392291.html
[11] http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/144524/index.html
[12] http://www.taz.de/!5117792
[13] https://www.g20hamburg.org/de/content/zum-riot-im-schanzenviertel-nicht-distanzieren