Falsche Ängste? Matthias Martin Becker kritisiert den Digitalisierungsdiskurs

Die Angst geht um bei vielen Lohnabhängigen: Werden bald nicht mehr VorarbeiterInnen, sondern Algorithmen das Arbeitstempo bestimmen? Nehmen uns die Maschinen gar die Arbeit weg? Nicht mehr nur die Vorstellung von Fabriken ohne ArbeiterInnen findet sich in der Diskussion. Jetzt sollen

selbst in Sektoren, in denen die menschliche Arbeitskraft bisher als unverzichtbar galt, Roboter Einzug halten. Dazu gehört vor allem die Pflege – aber auch JournalistInnen könnten durch Maschinen ersetzt werden. Der Wissenschaftsjournalist Matthias Martin Becker hat sich in seinem kürzlich im Promedia-Verlag erschienenen Buch »Automatisierung und Ausbeutung« der Frage gewidmet, was aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus wird. Dass er darauf keine einfache Antwort gibt, spricht für den Autor. Gegen das weitverbreitete Halbwissen über die Rolle der Automatisierung setzt er Fakten und beginnt mit einem historischen Exkurs ins 18. Jahrhundert: »Der erste Schachcomputer der Welt wurde im Jahr 1770 der Kaiserin Marie Theresia und ihrem Gefolge in Wien vorgeführt. Das Gerät bestand aus einer hölzernen Kommode und einer überlebensgroßen Puppe, in ein orientalisches Gewand gekleidet und mit Turban. Der Holzkasten diente der Puppe als Tisch. Mit einem ihrer mechanischen Arme bewegte sie Schachfiguren vor sich« (S. 67). Doch der Clou kommt nur wenige Zeilen später. »Diese Mechanik war zum größten Teil Attrappe, bis auf den Teil, der zur Steuerung des beweglichen Arms der Puppe diente. Denn bedient wurde der erste Schachcomputer von einem menschlichen Spieler, der sich im Innern des Kastens verbarg« (ebd.). Er wurde Schachtürke genannt. Der Name hat sich bis heute in der Literatur erhalten. Prominent findet er sich zum Beispiel auch in Walter Benjamins erster These seiner Schrift »Über den Begriff der Geschichte«. Becker hat die mehr als 250 Jahre alte Apparatur, die ein längst vergessener erfunden hat, so akribisch beschrieben, weil er damit zum Kern seiner Argumentation kommt, die sich durch das Buch zieht. »Wolfgang Kempelers ›Schachtürke‹ ist nach wie vor der gängige Typ des Arbeitsautomaten. Im Inneren der Maschinen stecken Menschen, bildlich gesprochen. Sie bedienen und reparieren die Automaten. Sie verbessern ihre Fehler und gleichen ihre Unzulänglichkeiten aus. Sie schreiben die Programme, mehr oder weniger gut« (S. 69). Becker zeigt an aktuellen Beispielen auf, dass in der Automatisierungstechnik bis heute die menschliche Arbeitskraft eine wichtige Rolle spielt, dies in der Öffentlichkeit aber häufig nicht wahrgenommen wird. So beschreibt er, wie ein kleiner weißer Roboter namens NAO die Jugendlichen in den Schulen beeindruckt, weil er auf Tastendruck Ja-Nein-Fragen beantworten und sogar Witze machen kann, wenn sich das junge Publikum zu langweilen beginnt. So soll demonstriert werden, dass Roboter bald beim empathiebasierten Lernen eingesetzt werden können. Das würde einem Einsatz in Schulen, in Kindergärten, aber auch im Carebereich den Weg ebnen. Aber Becker hat auch hier den menschlichen Faktor im Blick. »Wer die Präsentation zu Gänze verfolgt, erfährt, dass im Nebenraum eine Wissenschaftlerin sitzt und anhand von Kameraaufnahmen entscheidet, wann ein Scherz angebracht ist.« (S. 70)

Kein Roboter hinter der Theke
Becker spricht von einer Hochstapelei, die sich durch die Geschichte der Forschung zur Künstlichen Intelligenz und der Robotik zieht, und bringt dafür viele Beispiele aus Geschichte und Gegenwart. So wurde auf der Hannover-Messe im Jahr 2006 ein Roboterarm vorgestellt, der ein Weizenbier in ein Glas kippt. Die Öffentlichkeit und auch viele JournalistInnen waren begeistert. Werden wir bald von Maschinen in der Stammkneipe bedient? Becker gibt Entwarnung: »Wer genauer hinschaut, sieht, dass das Weizenbierglas durch eine Halterung in eine leicht schräge Lage gebracht wird. Die Steuerung führt die Bewegung des Roboterarms aus, ohne die Position des Glases zu berücksichtigen.« (S. 75) Becker führt dieses Beispiel an, um deutlich zu machen, dass für einen Roboter Tätigkeiten wie das Einfüllen eines Glases mit großen Problemen verbunden sind, wenn sie nicht unter Laborbedingungen verrichtet werden sollen. Nun geht es Becker keineswegs darum, die wissenschaftlichen Fortschritte zu bestreiten, die die Arbeitswelt umkrempeln. Doch die menschliche Arbeitskraft wird deswegen nicht überflüssig – und nicht die Algorithmen, sondern das Kapital bestimmen, in welche Richtung die Entwicklung vorangetrieben wird. Damit liefert er einen wichtigen Beitrag zu einer rationalen, nüchternen Debatte über die Digitalisierung und ihre Folgen. Denn die Angst, künftig mit Robotern und Algorithmen um den Arbeitsplatz konkurrieren zu müssen, führt dazu, dass sich viele Lohnabhängige kaum organisieren und für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. So hat eine falsche Angst vor der Digitalisierung ganz konkrete Konsequenzen für die Lohnabhängigen, die der Kapitalseite nützen. Solche Befürchtungen gibt es keineswegs nur in der IT-Branche. Der langjährige Bochumer Opel-Betriebsrat Wolfgang Schaumberg berichtete auf einer Veranstaltung im Berliner FAU-Lokal am 21. Mai 2017, dass die Angst vor der Digitalisierung ihrer Arbeitswelt in der Belegschaft gewachsen ist. Die Positionen der DGB-Gewerkschaften sind da oft keine Unterstützung für die Beschäftigten. Mit ironischem Unterton kommentiert Becker ein Statement des IG-Metall-Vorsitzenden Jörg Hoffmann, der 2015 auf der Fachtagung »Die neuen Roboter kommen« erklärte, dass der Mensch nicht in eine Nebenrolle gedrängt werden dürfe. »Den Menschen in den Mittelpunkt stellen, wer wollte da widersprechen? Wegen der weiterhin bestehenden Unzulänglichkeiten der Robotik und Automatisierung werden LohnarbeiterInnen wohl oder übel die Hauptrolle
spielen müssen. Die Frage ist, wie diese Rolle auszusehen hat«, kontert Becker. Auf die gewerkschaftlichen Debatten zur Digitalisierung, die sich nicht in den Äußerungen Hoffmanns erschöpfen, geht Becker in dem Buch nicht explizit ein. Allerdings gibt es Anstöße für einen linken Umgang mit der Digitalisierung.


Was wäre so schlimm, wenn Roboter die Arbeit übernehmen würden?

Damit kommen wir zu einem Aspekt, der Beckers Buch aus der Flut der Literatur zur Digitalisierung heraushebt. Er fragt, was denn so schlimm daran wäre, wenn uns Maschinen die Lohnarbeit abnehmen würden. Vor allem ungesunde, langweilige, nervtötende Tätigkeiten könnten wir, so Becker, doch gerne den Robotern überlassen. Im letzten Kapitel, das mit dem programmatischen Titel »Feierabend« überschrieben ist, kommt Becker auf diese Utopie zu sprechen. Er stellt noch einmal klar, dass er keine »sentimentale Bindung an heute archaische Arbeitsformen« (S. 205) hat. Etwas umständlich und mit Verweis auf den marxistischen Arbeitssoziologen Harry Bravermann sieht auch Becker die Notwendigkeit, »dass die Umformung der Arbeitsprozesse auf traditioneller Basis in solche, die auf wissenschaftlicher Grundlage aufbauen, nicht nur unvermeidlich, sondern sogar für den Fortschritt der Menschen und ihrer Befreiung von Hunger und anderen Formen des Elends notwendig ist« (S. 205). Die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für gewerkschaftliche Strategien ergeben, ist nicht Beckers Thema. Doch er liefert Anregungen, um solche Fragen weiter zu diskutieren. Vielleicht könnte ja eine Alternative zum Kapitalismus unter größeren Teilen der Bevölkerung wieder attraktiver werden, wenn damit geworben wird, dass es ein Grund der Freude und nicht der Angst sein könnte, wenn die Maschinen den Menschen die Lohnarbeit wegnehmen.

Peter Nowak
Matthias Martin Becker: »Automatisierung und Ausbeutung. Was wird
aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus?«, Promedia 2017, 240 S., 19,90
Euro, ISBN: 978-3-85371- 418-8

http://mediashop.at/buecher/automatisierung-und-ausbeutung-2/

aus: express Nr. 06/2017
im Netz unter:

siehe auch ak-Redaktion zu dem Buch:

https://peter-nowak-journalist.de/tag/automatisierung-und-ausbeutung/