Hier ist die Ausnahme lange Normalität

In den französischen Vorstädten wurde der Notstand schon seit Jahren geprobt

Der Aufstand im Titel hatte auch außerparlamentarische Linke zu dieser Veranstaltung gelockt: »Riots. Violence as Politics« hieß eine Konferenz, die vor gut einer Woche am Institut für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) stattfand. Doch so mancher, der sich eine starke Konzentration auf die französischen Straßenunruhen von 2016 gewünscht hatte, wurde enttäuscht und verließ die Konferenz bald wieder.

Wer geblieben ist, konnte Informationen über einen brisanten Aspekt der französischen Politik bekommen, der in den letzten Monaten angesichts des Präsidentenwahlkampfes in den Hintergrund getreten war. Es ging um den Ausnahmezustand, der auch unter dem neuen Präsidenten vorerst nicht aufgehoben werden wird. In den Banlieues, den französischen Vorstädten, wurde der Notstand schon seit Jahren praktiziert. Immer wieder machte die Polizeigewalt vor allem gegen Jugendliche Schlagzeilen. Mittlerweile sind in vielen Banlieues Initiativen entstanden, die sich gegen die faktische Aufhebung von Grundrechten in den Banlieues wehren.

Bei der IPB-Konferenz in Berlin diskutierten Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus den Banlieues, ob die gemeinsam erfahrene Repression eine Kooperation zwischen den sozialen Bewegungen in und außerhalb der französischen Vorstädte fördert. »Wir grenzen uns von den Rechten und den Linken ab«, betonte Alamy Kanoute, der sich seit Jahren gegen die Polizeigewalt in den Banlieues engagiert und mittlerweile auf eine gesellschaftliche Veränderung durch Wahlen setzt. Einige Bürgerlisten, auf denen aktive Vorstadtbewohner kandidieren, traten bereits bei Wahlen an. Für Kanoute ist die Beteiligung an den Wahlen Bürgerrecht, das auch Banlieue-Bewohner nutzen sollen.

Auch die Soziologin und Banlieue-Aktivistin Fatima Ouassak, die sich der Stärkung von Familien, insbesondere der von Müttern, widmet, sieht kaum Bündnispartner außerhalb der Vorstädte. So sei es beim Kampf für ein fleischloses Essen in Schulkantinen nicht möglich gewesen, vegane Eltern und religiöse Eltern bei der Forderung für ein fleischloses Schulessen zu koordinieren.

Dass manchmal ein Namenswechsel die Kooperation unterschiedlicher Bewegungen fördern kann, zeigte Ouassak am Beispiel einer Initiative gegen Islamophobie. Sie bekam größeren Zulauf, als sie sich in Initiative zur Verteidigung des Laizismus umbenannte. Aus dem Publikum kam die kritische Nachfrage, ob nicht ein Großteil der Banlieue-Bewohner außerhalb ihrer Wohnorte arbeite und sich daher sowieso in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen ohne Stadtteilbezug organisieren könne.

Dies bekräftigte der Soziologe Marvan Mohammed vom Centre Maurice Halbwachs mit Verweis auf die teilweise erfolgreichen Versuche, im Umfeld der Organisation von jungen Kommunisten, Kämpfe in und außerhalb der Banlieues zu verbinden. Sie stellen dabei die Verbesserung der Situation an den Arbeitsplätzen in den Fokus. Mohammed warnte aber vor jeglicher Romantisierung. »Die meisten Bewohner der Vorstadtbewohner träumen vom Eigenheim und nicht von der Revolution.«

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1052554.hier-ist-die-ausnahme-lange-normalitaet.html
Peter Nowak

„Tiefer Staat“ gegen Trump

Kommentar zum Streit um den US-Präsidenten und den Hoffnungen auf ein Impeachment

Einige Monate ist es schon her, da war Sigmar Gabriel noch SPD-Chef und wurde als glückloser Kanzlerkandidat seiner Partei gehandelt. Trump war gerade zum US-Präsidenten gewählt und alle Welt überbot sich mit Empörung und Überraschung. Auch Gabriel ließ sich mit der Einschätzung vernehmen[1], dass Trump der Vorreiter einer neuen autoritären und chauvinistischen Internationale sei.

Mehr als 6 Monate später bereist dieser Präsident Europa und sagt über Deutschland einige Sätze, die viele denken, aber kaum mehr zu sagen wagen. Beispielsweise, dass Deutschlands Haushaltsüberschüsse gefährlich für viele andere Länder sind. Trump meinte vor allem die USA, die er ja schließlich wieder groß machen will. Und da ist Deutschland einfach ein Konkurrent auf dem Weltmarkt, der sich sehr schlecht benimmt. Das ungefähr dürfte der Sinn der Trump-Äußerungen sein, die nun aktuell für Aufregung sorgen.

Auf dem Kirchentag kannte man angesichts der Trump-Schelte keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche:

Ich bin zwar im Wahlkampf, aber man muss die deutsche Kanzlerin wirklich in Schutz nehmen, dass sie sich dem nicht beugt.
Sigmar Gabriel[2]

Martin Schulz, den das Merkel-Lob seines Parteifreunds und potentiellen Konkurrenten sicher getroffen hat, übertrug den Ärger auf Trump und nannte ihn einen „Autokraten“.


Deutsche Politiker haben andere Staaten schon oft so behandelt

Wenn nun das SPD-Spitzenpersonal sich so echauffiert, dann wird eines deutlich. Bisher haben immer deutsche Politiker, ob von Union oder SPD, Kollegen vor allem aus Ländern der europäischen Peripherie so von oben herab behandelt. Schlimmer noch, sie sind wie Autokraten aufgetreten, die gleich die Gesetzgebungen anderer Staaten außer Kraft setzten. Griechische Politiker hätten darüber sicher eine Menge zu erzählen.

Erst in den letzten Tagen verhinderte Bundeswirtschaftsminister Schäuble, dass Griechenland zumindest einige Schuldenerleichterungen gewährt werden. Anders als die Trump-Äußerungen sorgt das Verhalten von Schäuble nicht für Empörung, sondern erhöht seine Zustimmungswerte. Nur Eric Bonse brachte es auf den Punkt[3]: „Die Schuldenkrise wird in Griechenland noch Generationen plagen. Und das nur, weil Wolfgang Schäuble Finanzminister ist. Der CDU-Hardliner stoppte nicht nur die Auszahlung des nächsten Hilfskredits. Und das, obwohl Athen ein neues Austeritätsprogramm beschlossen hat, gegen das die Hartz-Reformen nur ‚ein mildes Lüftchen‘ waren, wie Schäubles Gegenspieler Sigmar Gabriel (SPD) zu Recht anmerkte.“

Was Schäubles Druck auf Griechenland bedeutet, formuliert Bonse auch sehr klar, nur mit den Zahlen hat er sich etwas vertan: „So soll die Schuldenlast gedrückt werden – wenigstens auf dem Papier. In der Praxis bedeutet dies aber eine 50-jährige Knechtschaft. Die Schuldenkrise, die 2010 begann, wird noch Generationen plagen. Und das nur, weil Schäuble Finanzminister ist. Höchste Zeit, dass er abdankt.“

Denn es sind eigentlich über 75 Jahre Knechtschaft. Die fing an, als die deutsche Wehrmacht Griechenland besetzte und ausplünderte, selbst die Kredite, die es dem Land abpresste, wurden nicht zurückbezahlt, von Reparationen für die Güter, die man außer Landes brachte, und den Menschen, die zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden, gar nicht zu reden. Darüber wurde im kurzen europäischen Frühling 2015 geredet, als es die Mehrheit der griechischen Bevölkerung wagte, eine Partei zu wählen, die nicht die Interessen Deutschlands und seines europäischen Vorfelds bedienen wollte.

Der europäische Frühling endete, als die griechische Regierung gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung und ihrer Wähler, vor Deutsch-Europa kapitulierte und sich deren Austeritätsprogramm beugte. Seitdem ist die Frage nach Rückzahlung der deutschen Schulden in Griechenland und von Reparationen wieder ein Thema für kleine linke Zirkel, wie schon Jahre zuvor.

Die Kritik an Deutschland aber wird von der politischen Rechten formuliert, sei es Le Pen in Frankreich, Wilders in Holland oder von führenden Politikern der polnischen Nationalkonservativen und natürlich von Erdogan und Trump. Liberale und große Teile der Linken scharen sich dann umso bedingungsloser hinter Merkel und damit explizit auch hinter eine exponierte Stellung in der Bundesregierung hat. Nun kann man Trump nicht so schnell unter Druck setzen wie die griechische Regierung.

Notfalls muss Trump beseitigt werden

Doch noch hat Deutsch-Europa eine Hoffnung, dass die Trump-Ära eine Episode bleiben könnte. Anfangs hegten manche Kommentatoren noch die Hoffnung, Trump werde schnell die Lust am Präsidentenjob verlieren und selber aufgeben. Doch als sich abzeichnete, dass es hier um Wunschdenken handelt, schließlich hat der Mann ja zielbewusst auf dieses Amt hingearbeitet und auch Unterstützer in bestimmten Kapitalkreisen, wurde die Entmachtung durch ein Impeachment von fast allen Medien in aller Ausführlichkeit geschildert.

Nur am Rande wurde von einigen Kommentatoren angemerkt, dass für ein solches Verfahren eigentlich alle Grundlagen fehlen, weil die Voraussetzung wäre, dass relevante Teile der Republikanischen Partei sich gegen Trump stellen müssten. Und das nach den Erfahrungen im Vorwahl- und im Wahlkampf. Damals gab es den Aufruf, Trump die Nominierung zu verweigern, obwohl er genügend Wahlleute hatte. Das wäre theoretisch möglich gewesen, hätte aber die Republikaner in den Grundfesten erschüttert. Damals war nur einige kleine Zahl von Delegierten dazu bereit. Viele stimmten aus Parteiräson für Trump, obwohl sie befürchteten, er werde krachend verlieren und auch die Zahl ihrer Mandatsträger in Senat und Repräsentantenhaus dezimieren.

Nachdem es anders gekommen ist, sollen nun diese Republikaner einem Impeachment zustimmen, das ungleich schwerwiegendere Erschütterungen in Partei und den gesamten USA nach sich ziehen würde, als die Verweigerung der Nominierung vor der Wahl? Da muss man sich schon fragen, in welchen alternativen Welten diese Kommentatoren eigentlich leben.

Sollten Trump-Gegner auf ein Impeachment setzen?

Die technischen Details einmal beiseite gestellt könnten wir uns auch fragen, ob ein solches Impeachment von einem emanzipatorischen Standpunkt überhaupt sinnvoll wäre. Die Frage sollte klar verneint werden, schon weil als Alternative nur Vizepräsident Pence nachrücken würde, der für eine genauso reaktionäre Politik wie Trump steht und deshalb ja auch von ihm ernannt wurde. Wichtiger aber ist, dass mit dem Impeachment FBI und andere Geheimdienste einen Machtzuwachs erfahren würden, die von niemanden gewählt und damit noch weniger als der zwar nicht von der Mehrheit der Wähler, aber der Wahlleute bestätigte Trump legitimiert sind. Nun ist es in den USA keineswegs einmalig, dass der „tiefe Staat“, also demokratisch unlegitimierte Institutionen, Politiker stürzen oder aufsteigen lassen können. Das ist immer ein Zeichen für tiefgreifende Zerwürfnisse im herrschenden Machtapparat.

In den Zeiten des McCarthyismus wurden schließlich nicht nur vermeintliche oder tatsächliche Linke, sondern sogar führende Politiker und Minister beschuldigt, mit der Sowjetunion und der Kommunistischen Partei der USA zu kooperieren. Damals gab es in der herrschenden Klasse einen Streit darum, ob die USA mit der Sowjetunion gute Beziehungen wie im Kampf gegen das Nazi-Deutschland haben sollten oder ob es darum geht, sie im Kalten Krieg zu besiegen. Beide Seiten gehörten zum politischen Etablissement der USA und reklamierten das nationale Interesse der USA für sich.

Auch der momentane Streit um den Umgang mit Russland findet innerhalb der herrschenden Kreise der USA statt. Auch hier stehen sich unterschiedliche Kapitalinteressen gegenüber. Auch die Verschwörungstheorien über die angeblich so große Macht Russlands erinnern an ähnliche Kampagnen gegen den angeblichen Weltkommunismus bzw. Bolschewismus. Auch die antisemitische Note darf dabei nicht fehlen, dass nun ausgerechnet Trumps Schwiegersohn Kushner in den Fokus des „tiefen Staates“ rückt, dem bisher nachgesagt wird, er versuche, Trump eine realpolitische Note zu geben. Mehr noch ist bekannt, dass er für die Beziehungen zwischen Trump und Israel zuständig war. Es ist sicher kein Zufall, dass er nun ebenfalls als zu russlandfreundlich gilt.

Da wird jeder Kontakt von US-Politikern mit russischen Kollegen in die Nähe des Geheimnisverrats gerückt. Da wird eine Unterredung zwischen Trump und dem russischen Außenminister skandalisiert. Dabei nehmen die, die sich am lautesten über den Geheimnisverrat echauffieren, in Kauf, dass durch die Fokussierung das Thema erst so richtig weltweit bekannt wird. Da wird endlos kommentiert, ob es bereits eine Behinderung der Justiz ist, wenn Trump Ermittlern gegenüber äußert, dass er hoffe, dass sie das Verfahren gegen seine engsten Mitarbeiter einstellen.

Wenn nun Vergleiche zur Watergate-Affäre gezogen werden, sollte daran erinnert werden, dass Nixon nicht abgesetzt werden sollte, weil er von Ermittlern eine Einstellung von Verfahren gefordert hat, sondern weil er Bespitzelungen von Gegnern und Einbrüche in die Zentrale der oppositionellen Demokraten zu verantworten hatte. Solange nicht ähnliche Vorwürfe gegen das Trump-Team laut werden, dürfte eigentlich jede Diskussion über ein Impeachment als das Wunschdenken von Menschen klassifiziert werden, die sich gegen einen Rechtspopulisten mit noch weniger legitimierten Institutionen des Tiefen Staats verbünden würden.


Geheimdienste trockenlegen und dann soll Trump verschwinden

Die Gründe sind unterschiedlich. Deutsch-Europa hofft, so schnell wie möglich einen US-Präsidenten los zu werden, der seine Politiker ähnlich behandelt, wie es sich gegen schwächere Staaten in der EU verhält.

In den USA hat ein Teil der Demokraten ihre Wahlniederlage noch immer nicht überwunden und will nun mit Hilfe des „Tiefen Staates“ Rache nehmen. Dabei hätte doch Clintons Umfeld als erstes den Rücktritt von FBI-Chef Comey fordern müssen. Er und nicht Russland hat mit seinen Ermittlungen in der Email-Affäre kurz vor den Präsidentenwahlen starken Einfluss auf deren Niederlage gehabt.

Die Oppositionellen in den USA sollten sich hüten, im Kampf gegen Trump auf die Institutionen des „Tiefen Staates“ setzen. Denn damit würden sie garantieren, dass in den USA selbst moderate Reformen nicht möglich sind. Das FBI und ähnliche Institutionen haben bisher immer nach der Devise gehandelt, dass es ihnen egal sei, wer unter ihnen Präsident ist. Eigentlich wäre es eine demokratische Aufgabe, diesen jahrzehntealten „Tiefen Staat“ endlich trockenzulegen. Das geht nach Lage der Dinge nur durch das Präsidentenamt. Soll doch Trump diese Aufgabe übernehmen und dann verschwinden, müsste die Forderung der Opposition lauten.

Peter Nowak
https://www.heise.de/tp/features/Tiefer-Staat-gegen-Trump-3726780.html
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http://www.heise.de/-3726780

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.welt.de/politik/ausland/article159356652/Tuerkei-gratuliert-Trump-und-fordert-Auslieferung-von-Guelen.html
[2] http://www.dw.com/de/gabriel-geht-auf-kirchentag-hart-mit-trump-ins-gericht/a-38991087
[3] http://www.taz.de/!5403119

Fest gegen Mietwucher an der Frankfurter Allee

Am Sonntag feiern Friedrichshainer Mieter und Eigentümer gemeinsam vor dem Wohnblock

»Gemeinsam leben im Denkmal für Vielfalt und Toleranz – gegen Mietwucher und Verdrängung« lautet das Motto des Nachbarschaftsfestes, zu dem die Bewohner des Blocks Frankfurter Allee 5 bis 27 am Sonntag ab 14 Uhr vor ihren Häusern einladen. Es ist Richtung Osten gesehen der letzte an den Zuckerbäckerstil angelehnte Block der Allee. »Bei dem Fest kooperieren sowohl Mieter als auch Wohnungseigentümer«, sagt Achim Bahr von der Vorbereitungsgruppe im Gespräch mit »nd«.

Die Häuser waren in den 1950er Jahren in der Frankfurter Allee errichtet worden und sollten nach den Vorstellungen der SED Arbeiterpaläste werden. In den 1990er Jahren wurden sie privatisiert und für die Immobilienbranche interessant. Unter dem Motto »Wohnen im Denkmal« wurde um Käufer für die Wohnungen geworben.

»Das Verhältnis zwischen den Eigentümern, die auch dort wohnen und den Altmietern ist heute entspannt«, sagt Bahr. Wolfgang Grabowski gehört zu den Altmietern. »Die von dem Unternehmen ›Home Center‹ betriebene Strategie, möglichst viele Altmieter zu verdrängen, ist auf ganzer Linie gescheitert«, nennt Grabowski einen weiteren Grund zu feiern. In den Jahren 2012 und 2013 wurde Bewohnern unter anderem deshalb gekündigt, weil sie ihre Schuhe vor die Wohnungstür gestellt hatten. Diese Kündigungen sind von den Gerichten zurückgewiesen worden.

Als Reaktion auf die Entmietungsstrategien organisierten sich die Bewohner und wählten Mieterräte. Wolfgang Grabowski ist einer von ihnen. Seine zentralen Aufgaben sieht er aktuell in der besseren Gestaltung des Areals vor den Häusern. Dazu gehört auch die Wiederinbetriebnahme der Brunnen. Auch weitere Mieterhöhungen, die durch den aktuellen Mietspiegel begünstigt werden, sieht er als große Gefahr vor allem für die Altmieter.

Das wird auch Thema einer Podiumsdiskussion um 15 Uhr sein. Zugesagt hat die Grünen-Bundestagskandidatin Canan Bayram, sowie von der LINKEN Ex-Kultursenator Thomas Flierl sowie Abgeordnetenhausmitglied Steffen Zillich. Auch die SPD will einen Vertreter schicken.

Drohende Mieterhöhungen im Friedrichshainer Nordkiez sind auch das Thema eines Spaziergangs, der von der Bezirksgruppe der Berliner Mietergemeinschaft gemeinsam mit Stadtteilinitiativen organisiert wird. Er beginnt um 13.30 Uhr an der Rigaer Straße 71-73, wo das Bauprojekt »Carré Sama Riga« für viel Unmut sorgt. Die Route führt an weiteren Orten der Verdrängung vorbei. Um 15 Uhr soll das Alleefest erreicht werden.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1052286.fest-gegen-mietwucher-an-der-frankfurter-allee.html

Peter Nowak

Die Falle der Identitätspolitik

In Berlin wurde über „Riots“, Gewalt und Politik gesprochen – auch von Aktivisten aus den französischen Banlieues. Deutlich wurde, dass eine Absage an den Universalismus keine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung bewirkt

Der etwas missverständliche Titel „Riots. Violence as Politics“[1] hatte am vergangenen Wochenende auch manche außerparlamentarische Linke zum Besuch einer Konferenz[2] im Institut für Protest- und Bewegungsforschung[3] in Berlin motiviert. Manche hatten sich wohl angesichts des Titels eine stärkere Konzentration auf die Straßenunruhen gewünscht.

Jedenfalls verließ ein Teil der Besucher die Konferenz relativ schnell. Wer geblieben ist, konnte einen Eindruck von den politischen Verhältnissen in Frankreich bekommen, die sich gravierend von der hiesigen Frankreich-Berichterstattung der letzten Monate unterschied. Schon Monate vor dem Präsidentschaftswahlkampf fokussierte sich die Auseinandersetzung auf die Namen Le Pen versus Macron bzw. den Kampf zwischen Nationalismus und EU-Liberalismus. Unter dieser Perspektive wurden die Alltagskämpfe von vielen Menschen in Frankreich zum Verschwinden gebracht.
Wer sich nicht zwischen Macron und Le Pen entscheiden wollte, wurde angegriffen

Wer sich weder hinter Le Pen noch hinter Macron stellen wollte, wurde sogar von Medien, die sich links bzw. linksliberal nennen, verbal angegriffen. Der Vorwurf, Steigbügelhalter des Nationalismus zu sein, war häufig zu hören. Das Recht, sich der Stimmabgabe zu verweigern, nicht zur Wahl zu gehen bzw. ungültig zu wählen, wurde im Falle Frankreichs auch in linksliberalen Medien vehement infrage gestellt.

Vergessen war, dass noch 2004 der Publizist und Sozialpsychologe Harald Welzer[4] die Diskussion über den Wahlboykott[5] auch wieder in liberalen Kreisen populär machte. Auf der Konferenz in Berlin wurde nun schnell deutlich, dass es sehr viele Menschen, ja ganze Milieus, in Frankreich gab, für die weder Le Pen noch Macron eine Alternative waren.

Zum Beispiel viele derjenigen, die im letzten Jahr an der Protestwelle gegen das wirtschaftsliberale Arbeitsgesetz, das sogenannte loi travail beteiligt waren. Warum sollte Macron, der noch weitere wirtschaftsliberale Projekte plant, für diese Menschen eine Alternative sein? Doch hätten die Protestform der Platzbesetzungen, wie sie von der Bewegung in Frankreich praktiziert worden ist, natürlich ebenfalls hinterfragt werden müssen.

Keine Gesellschaftsveränderung mit Occupy und Nuit Debout

Schließlich hat auch der „Movement“-Theoretiker Michael Hardt in einem nd-Interview[6] Ernüchterndes über die Bewegung der Platzbesetzungen geäußert, die vor fünf Jahren einen kurzen medialen Hype hatten. So fällt Hardts Fazit über die auch von ihm sehr hochgelobten Bewegungen erstaunlich kritisch aus:

Zuletzt begann 2011 ein großer Bewegungszyklus. Es war die Zeit der großen Platzbesetzungen. Sie begann in Nordafrika, Ägypten und Tunesien, aber kam auch nach Europa, Spanien, Griechenland, die USA mit Occupy Wall Street, Brasilien und in die Türkei mit den Gezi-Park-Protesten. Doch diese Bewegungen hatten neben ihrer Ausrichtung aufs Lokale eins gemein: die irgendwann um sich greifende Enttäuschung über die mangelnde Langlebigkeit, und dass es ihnen nicht möglich war, wirkliche soziale Transformationen in die Wege zu leiten.
Michael Hardt

Nun ist diese Erkenntnis keine Überraschung und wurde vor fünf Jahren bereits von Linken unterschiedlicher Couleur beschimpft, weil sie mit ihrer Kritik einer neuen weltweiten Bewegung schaden würden. Geschadet hat eher, dass auch manche Linke, die es eigentlich besser wissen müssten, anfangs kritiklos diesen Hype hinterhergelaufen sind. Nun hat Hardt zumindest einige der Probleme dieser Bewegungen erkannt.

Die Art von Horizontalismus, die ich dabei im Kopf habe, könnte man am besten anhand der Platzbesetzungen und anderen Formen des Widerstandes aufzeigen. Kurz gesagt waren das führungslose Bewegungen. Ich lehne dabei nicht deren Wunsch nach Demokratie ab, aber diese Bewegungen waren nicht erfolgreich. Manchmal waren sie zwar vorübergehend sehr mächtig, aber sie waren eben immer nur sehr kurzlebig und nie kontinuierlich.
Michael Hardt

Aber die Rettung ist nah, denn Michael Hardt verkündet eine frohe Botschaft:

Toni Negri und ich beschäftigen uns in unserem neuen Buch mit der Notwendigkeit, wirklich demokratische Strukturen aufzubauen, mit denen gleichzeitig Aufgaben erfüllt werden können, die bisher normalerweise von Führungspersonen erledigt werden. Die entscheidende Frage ist also, wie man effektive und langlebige Organisationen aufbauen kann, die eben nicht auf charismatische Führer oder eine zentrale Führung von oben herab angewiesen sind.
Michael Hardt

Ob das Buch der beiden wichtigen Stimmen der globalisierungskritischen Bewegungen, das nun wahrlich nicht neue Problem von Repräsentanz versus Bestehen auf Rede in erster Person lösen kann? Wir dürfen gespannt sein. Zumal Hardt immer genügend Allgemeinplätze zur Verfügung hat, die das Gemüt der Bewegungslinken streicheln.

Was heute gefragt ist, sind die Kreativität und Vorstellungskraft der Bewegungen, um eine wirkliche Alternative zu entwickeln.
Michael Hardt


Weder rechts noch links noch universalistisch

Damit kommen wir zum zweiten Teil der Konferenz „Riots. Violence as Politics“. Dort haben Aktivistinnen und Aktivisten aus französischen Banlieues ihre Arbeit vorgestellt und sollten sich zur Frage äußern, ob sie sich vorstellen können, bei Initiativen außerhalb der Banlieues zu kooperieren. Vor allem Alamy Kanoute[7], der mit einer Bürgerliste[8] in die Kommunalpolitik eingestiegen ist und sich dabei gleichermaßen von der Linken und Rechten abgrenzt, repräsentiert einen Kommunalismus, der die Banlieues zu widerspruchsfreien Orten verklärt.

Noch vehementer wandte sich Fatima Ouassak[9] gegen eine Kooperation mit unterschiedlichen sozialen Gruppen. Dabei hätte diese Position eine gewisse Rationalität, wenn Ouassak behauptet, es gebe keine andere relevante Gruppe, mit der man zusammenarbeiten könne. Wenn sie aber gleichzeitig den Universalismus als überholtes, rassistisches Projekt der Weißen ablehnt, wird der ideologische Hintergrund deutlich.

Es geht um die Festschreibung neuer Identitäten, aber keineswegs um eine politische Emanzipation aller Menschen. Versucht wird, eine Banlieue-Identität zu konstruieren. Die diffusen Gegner sind die Weißen und der Universalismus der Linken. Wie problematisch das Konzept ist, zeigt sich schon bei der Frage, die auf der Veranstaltung gestellt wurde. Warum wird beim von allen Referentinnen und Referenten beschworenen Kampf gegen die Islamfeindlichkeit und den Rassismus kein einziges Mal der Kampf gegen den Antisemitismus genannt?

Der Soziologe Marvan Mohammed[10], der am Centre Maurice Halbwachs[11] lehrt, bestätigte, dass in den letzten Jahren die antisemitische Gewalt in Frankreich gewachsen sei. Es seien nicht nur bei den islamistischen Anschlägen Juden gezielt ermordet worden.

Antisemitismus und Sexismus – kein Thema für die Banlieues?

Die anderen Referenten schwiegen entweder oder unterstellten wie Fatima Ouassak dem Fragesteller, die Bewegungen in den Banlieues belehren zu wollen. Das Fazit ihrer Rede war klar, wer sich kritisch mit dem Antisemitismus oder der patriarchalen Gewalt auch in den Vorstädten beschäftigt, sei schon dem antimuslimischen Rassismus verfallen.

Diese Reaktion scheint verständlich, wenn es um die Versuche des Front National und anderer rechter Gruppen und Publikationen geht, Gewalt gegen Juden, Frauen und sexuelle Minderheiten zu einen reinen Problem der Banlieues und des Islams zu erklären. Doch genau so fatal ist die Gegenreaktion, die auf dem Podium in Berlin dominierte. Dort wurde suggeriert, dass diese Gewaltverhältnisse eben kein Problem sind, mit dem sich Menschen und Gruppen, die sich gegen Polizeigewalt in den französischen Vorstädten engagieren, beschäftigten müssen.

Als hätte es die Entführung und Ermordung von Ilan Halimi[12] durch eine islamistische Bande, die mit antikolonialistischer Rhetorik Geld vom Juden erpressen wolle[13], nie gegeben. Warum es den Banlieue-Aktivisten so schwer fällt, den Antisemitismus auch als ihr Problem sehen, zeigt welch fatale Wirkung die Ersetzung des Universalismus durch ein „Empowerment der Nicht-Weißen“ hat.

Die Jüdinnen und Juden werden dann zu den Weißen gerechnet und schon ist der Kampf gegen den Antisemitismus kein Problem der Nicht-Weißen. Die Soziologin Sina Arnold[14] hat in ihrer in der Hamburger Edition erschienenen Studie zum Antisemitismusdiskurs in der US-Linken[15] unter dem Titel „Das unsichtbare Vorurteil“ gut herausgearbeitet, dass auch in der US-Linken die Gewalt gegen Juden „de-thematisiert“ wird, weil sie oft generell zu den Weißen gerechnet werden und daher nicht unterdrückt werden können.

Doch daneben macht die Weigerung von akademischen Banlieue-Aktivisten, Antisemitismus auch als ihr Problem zu erkennen, deutlich, dass die Absage an den Universalismus nicht zu einer Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung führen kann. Jede Gruppe thematisiert nur noch ihre Unterdrückung und ignoriert die Gewalt und Unterdrückung, die anderen Menschen, die nicht zu ihrer Gruppe gehören, zugefügt wurde.

Es ist auch bezeichnend, dass Ouassak Familienwerte in den Banlieues beschwört. Dass auch die nicht-weiße Familie ein Ort der Unterdrückung sein kann, für Menschen, die sich nicht an die kulturell vorgegebenen Geschlechterrollen halten, für Frauen, die nicht unter Fuchtel des Vaters oder großen Bruders stehen sondern ein selbstbestimmtes Leben führen wollen, bleibt dabei ausgespart.

Kein Verweis auf gesellschaftliches Leben außerhalb der Vorstädte

Es ist bezeichnend, dass die Frage, ob denn nicht fast alle Banlieue-Bewohner gesellschaftliche Bezüge außerhalb des Stadtteils haben und ob sich dort nicht auch soziale und politische Beziehungen bilden, von keinem der Referenten beantwortet wurde. Denn die Antwort passt nicht zum Bild der konstruierten Banlieue-Identität, die zumindest Ouassak und Kanoute beschworen. Sie verfolgen ein politisches Projekt, das auf dieser Identität aufbaut und sie haben deshalb ein taktisches Verhältnis dazu.

Für eine Diskussion im Institut für Protestforschung wäre es aber sinnvoll gewesen, auch Referenten einzuladen, die genau diese Identitäten infrage stellen. Der Publizist Bernard Schmid, der detailliert die Politik des Ausnahmezustands auf der Konferenz analysierte, hätte sich in einer solchen Rolle in den Augen der Banlieue-Aktivisten schon dadurch disqualifiziert, dass er eben unter die Kategorie der Weißen fällt.

Doch es gibt auch genügend gewerkschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten[16] aus Afrika oder anderen Regionen des globalen Südens, die sich für die Verbesserung ihrer Arbeitsverhältnisse einsetzen und dabei mit Kollegen unabhängig von ihrer Hauptfarbe und Herkunft kooperieren. Es ist allerdings nicht verwunderlich, dass diese Stimmen auf der Konferenz nicht zu hören waren.

Denn die kommunalistische Ideologie, die die Referenten vertraten, finden ihre Entsprechung in einem postmodernen Diskurs an vielen Universitäten, der den Universalismus verabschiedet hat zugunsten eines Patchwork von Minderheiten und Identitäten, die um ihre Recht und ihre Würde kämpfen. So unterschiedlich Bewegungen wie Occupy, die Aktivitäten in den französischen Banlieues und die Schriften von Michael Hardt und Antonio Negri auch sonst sind: Im wieder zelebrierten Abschied vom Proletariat und in der Beschwörung vom Mosaik der Minderheiten sind sie sich einig.

Für sie gilt, was Michael Hardt über die Platzbewegungen der letzten Jahre im Nachhinein im nd-Interview[17] konstatiert:

Doch diese Bewegungen hatten neben ihrer Ausrichtung aufs Lokale eins gemein: die irgendwann um sich greifende Enttäuschung über die mangelnde Langlebigkeit, und dass es ihnen nicht möglich war, wirkliche soziale Transformationen in die Wege zu leiten.
Michael Hardt
https://www.heise.de/tp/features/Die-Falle-der-Identitaetspolitik-3723514.html

Peter Nowak

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3723514

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.hsozkult.de/event/id/termine-33192
[2] http://gewalt.hypotheses.org/855
[3] https://protestinstitut.eu/
[4] http://www.kwi-nrw.de/home/profil-hwelzer.html
[5] http://www.bpb.de/apuz/180362/warum-ich-dieses-mal-waehlen-gehe?p=all
[6] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1050083.jetzt-ist-die-zeit-grosses-zu-tun.html
[7] http://www.lesinrocks.com/2016/04/19/actualite/almamy-kanoute-lhomme-veut-exporter-nuit-debout-banlieue-11820680/
[8] http://www.leparisien.fr/val-de-marne-94/l-ancienne-tete-de-liste-d-emergence-almamy-kanoute-sillonne-les-quartiers-26-04-2010-899828.php
[9] http://contre-attaques.org/auteur/fatima-ouassak
[10] https://www.franceinter.fr/personnes/marwan-mohammed-0
[11] http://www.cmh.ens.fr/
[12] https://web.archive.org/web/20110604025051/http://www.timesonline.co.uk/tol/sport/football/european_football/article734051.ece
[13] http://www.hagalil.com/archiv/2006/03/halimi.htm
[14] https://www.bim.hu-berlin.de/de/personen/dr-sina-arnold/
[15] http://www.his-online.de/verlag/9010/programm/detailseite/publikationen/das-unsichtbare-vorurteil/?sms_his_publikationen%5BbackPID%5D=1252&cHash=f52971f68ac0d29416cce48c863e8b24
[16] https://www.solidaires.org/
[17] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1050083.jetzt-ist-die-zeit-grosses-zu-tun.html

Wie Müll entsorgt

Ein Film über Entrechtung italienischer Fleischarbeiter

»Wir haben 12 Stunden täglich für 5 bis 6 Euro geschuftet und als wir ein bisschen Würde gefordert haben, haben sie uns wie Müll weggeschmissen.« Die Arbeiter in der norditalienischen Fleischfabrik Livorno sind verbittert. Nachdem sie für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt hatten, wurden sie entlassen. Weil das Unternehmen die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung rechtswidrig nicht abgeführt hat, bekommen sie nun nicht einmal Unterstützung. Solche Szenen totaler Entrechtung und der Kampf um Würde werden in dem Dokumentarfilm »Wir kämpfen weiter« von der Regisseurin Sara Bagli Bellini dokumentiert. Der Film stellt sich klar auf die Seite der streikenden Arbeiter und der Basisgewerkschaft Si Cobas, die sie unterstützt. Deren Sekretär Aldo Milani wurde aus einer Tarifverhandlung mit Handschellen von der Polizei abgeführt und darf heute Italien nicht verlassen. Dank labournet.tv erfahren wir von diesen Angriffen auf Gewerkschaftsrechte. Auf der Onlineplattform für weltweite Arbeitskämpfe kann der Film demnächst heruntergeladen werden (labournet.tv).

http://de.labournet.tv/wir-kaempfen-weiter

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1052090.wie-muell-entsorgt.html
Peter Nowak

Ortsnah Exil gefunden

SZENELADEN: Mietvertrag unterschrieben, bereit für den Umzug: Hans-Georg Lindenau bleibt mit dem M99-Laden in Kreuzberg

HG/M99.Exil“ steht auf einem selbstgemalten Schild in einem Fenster der Ladenräume in der Falckensteinstraße 46. Mitten im Kreuzberger Eventgebiet in unmittelbarer Nähe zur Oberbaumbrücke erhält der „Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf “ sein neues Domizil. Am Mittwoch wurde der Mietvertrag abgeschlossen. Mehr als 30 Jahre hat der nach einem Sturz auf einen Rollstuhl angewiesene Hans-Georg Lin-
denau seinen Szeneladen mit dem Sortiment aus Büchern, Aufklebern und politisch korrekten Kleidungsstücken in der Manteuffelstraße 99 betrieben. Lindenau, der seine KundInnen auch schon mal zur Assistenz beim Ladendienst aufforderte, ist in der linken Szene über Deutschland hinaus bekannt. Für AnarchistInnen und junge Antifas aus ganz Europa gehörte ein Besuch des M99 zum festen Bestandteil eines Berlin-Trips. Auch von Berliner AktivistInnen wurde der Laden geschätzt, weil er die Spaltungstendenzen in der radikalen Linken ignorierte. So hatte Lindenau lange die prononciert israelsolidarische Zeitschrift Bahamas genauso wie die radikal-ntizioniische Publikation Intifada im Sortiment. Lindenau vertraute auf die mündigen KundInnen,
die keine Bevormundung brauchen. So argumentierte er auch gegen den politischen Staatsschutz, der bei mehr als 50 Razzien im Laden immer wieder Schriften aus der autonomen Szene beschlagnahmte. Doch in den letzten Jahren war es zunehmend die Gentrifizierung, die Lindenau Probleme bereitete. Dass das Haus mit dem M99-Laden gleich sieben Mal den Besitzer wechselte, hat wohl auch mit den unkonventionellen Mitteln zu tun, mit denen Lindenau gegen eine drohende Vertreibung kämpfte. So trennte sich bereits in den 1990er Jahren ein Arzt wieder von der Kreuzberger Immobilie, nachdem Lindenau mit UnterstützerInnen vor dessen Praxis in einer Brandenburger Kleinstadt auftauchte. Hat Lindenau mit dem Um-
zug nun doch gegen die Gentrizifizierung verloren, fragen sich manche in der Berliner Szene. Für Lindenaus Anwälte Burkhardt Dräger, Benjamin Raabe und Christoph Müller hingegen hat mit dem Ortswechsel ein langjähriger MieterInnenkampf, der bereits mehrere Gerichte beschäftigte, ein positives Ende gefunden. Sie sehen es als
besonderen Erfolg, dass Lindenau in Kreuzberg bleiben kann. Möglich wurde das, weil die Stiftung Umverteilen mit Lindenau den Mietvertrag abschloss. Magnus Hengge von der Nachbarschaftsinitiative Bizim Kiez verweist auf den großen öffentlichen Druck, mit dem im August 2016 eine Zwangsräumung vom in seinem Laden lebenden Lindenau verhindert werden konnte. Dem auf Assistenz angewiesenen Lindenau sei es nun auch in seinem neuen Domizil möglich, „sein einzigartiges Lebenskonzept des durch Kunden betreuten Wohnladens“ fortzusetzen. Laut Hengge hat Bizim Kiez Lindenau nicht nur beim Kampf gegen die Räumung unterstützt. Die Initiative organisierte auch Nachbarschaftshilfe bei der rollstuhlgerechten Einrichtung der
neuen Ladenwohnung. Bis spätestens zum 30. Juni soll der Umzug abgeschlossen sein.

aus: DIE TAGESZEITUNG FREITAG, 26. MAI 2017

Peter Nowak

Raus aus der Szene

In Berlin diskutierten radikale Linke darüber, wie sie in gesellschaftliche Kämpfe eingreifen können

„Konferenz zur Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie« lautete der vollständige Titel des Berliner Treffens, an dem vom 28. bis zum 30. April mehr als 1.000 radikale Linke aus ganz Europa teilnahmen. Eigentlich sprachen alle von der Selbermachen-Konferenz – eine politisch problematische Verkürzung. Erinnert der Begriff Selbermachen doch an die Do-it-Yourself-Bewegung, ein in subkulturellen Kreisen beliebtes Konzept, das durchaus mit neoliberalen Vorstellungen kompatibel sein kann. Der Kapitalismus bietet heute genug Nischen, in denen Menschen Gelegenheiten zum Selbermachen haben, wenn nur die
Grundprinzipien der kapitalistischen Verwertung nicht angetastet werden. Doch die Linken, die sich in Berlin trafen, suchten nach Wegen raus aus den oft subkulturellen Nischen. Ein Anspruch, der schon im Aufruf deutlich wurde. Dort heißt es: »Gemeinsam wollen wir uns Fragen stellen, auf die die außerparlamentarische Linke Antworten finden muss, will sie ein wirklicher gesellschaftlicher Faktor werden: Wie stellen wir uns Verdrängung und Gentrifizierung entgegen? Wie schaffen wir es, in den Alltagskämpfen unserer Nachbarschaften verankert zu sein? Welche Formen kann die Selbstorganisierung
von Frauen annehmen? Wie können im Betrieb und im Arbeitsalltag Prekarisierter Kämpfe gelingen? Wie wehren sich Erwerbslose gegen die Zurichtungen durch das Jobcenter? Wie sieht eine Fabrik unter Arbeiter_innenkontrolle aus? Und welche Formen von Rätedemokratie wollen wir realisieren?« Der Unterschied zum großen Autonomiekongress 1995 in Berlin ist augenfällig. Damals drehten sich die Debatten um die Frage, was das autonome »Wir« eigentlich ist. 22 Jahre später ging es darum, wie radikale Linke in gesellschaftliche Kämpfe eingreifen können. Dass es bei der diesjährigen Konferenz um die Politik im Stadtteil, im Jobcenter und auch am Arbeitsplatz ging, liegt auch an den politischen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen der letzten Jahre. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene hat das Erstarken von regressiven politischen Bewegungen dazu beigetragen, dass die außerparlamentarische Linke wieder Politik in und mit der Gesellschaft machen will. Die Politik der Agenda 2010 ebenso wie die Einführung von Bachelor und Master an den Hochschulen sind Angriffe auf die Nischen, in die sich viele radikale Linke zurückgezogen hatten. Da mit hat auch die schon immer kritisierte
autonome Szenepolitik ihre Grundlage verloren. Die meisten radikalen Linken stecken in prekären Arbeitsbedingungen, und gerade die angesagten Szenebezirke sind einer verstärkten Gentrifizierung ausgesetzt. Konnten die linken Genoss_innen vor 22 Jahren noch darüber diskutieren, ob es sinnvoll ist, wenn linke Kneipen verlängerte Wohnzimmer sind, so wird dieser Streit obsolet, wenn die Investor_innen dort Eigentumswohnungen bauen wollen. Bewegungen wie jene um die Kampagne Zwangsräumung verhindern machten auf der Konferenz deutlich, wie eine gesellschaftliche Intervention der radikalen Linken in die Gesellschaft aussehen kann. Menschen, die vorher nicht politisch aktiv waren, wurden ermutigt, sich gegen den Verlust ihrer Wohnung zu wehren. Im Verhältnis zu den täglichen Zwangsräumungen sind sie weiterhin eine Minderheit. Aber dadurch ist eine Diskussion entfacht worden, die die Verantwortlichen für die Zwangsräumungen kritisiert. Besonders erfreulich war die starke Präsenz von Themen des Widerstands in der Arbeitswelt auf der Konferenz. In einer Zeit, in der DGB-Belegschaften wie die IG-Metall eindeutig die Interessen der schrumpfenden Kernarbeiter_innen in den Mittelpunkt stellen und die Leiharbeiter_innen ignorieren, bedarf es basisdemokratischer Ansätze, die die Interessen aller Arbeiter_innen in den Blick nehmen. Auf dem Kongress war der Grupo de Accion Sindical (GAS) vertreten, in der sich Arbeitsmigrant_innen aus der südeuropäischen Peripherie, vor allem aus Spanien und Portugal, in Berlin zusammen geschlossen haben. Die FAU-Betriebsgruppe der Lebenshilfe Frankfurt/Main berichtete über einen Arbeitskonflikt, bei dem schließlich die Dienstleistungsgewerk-schaft ver.di einen Tarifvertrag geschlossen und die Basisgewerkschafter_innen an den Rand gedrängt hat. Auf großes Interesse stießen die Herausgeber_innen von Rebel Roo, einer Zeitschrift von Deliveroo-Fahrer_innen im englischen Bristol. Angestoßen von der FAU hat mittlerweile auch in Deutschland eine Organisierung von Fahrradkurier_innen begonnen.
Die Redner_innen warnten allerdings vor übertriebenem Optimismus. Die Flexibilisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse bringe einen häufigen Arbeitsplatz- und Jobwechsel mit sich. Dies erschwere eine längerfristige Organisierung. Viele machen die Erfahrung, dass sie überall mit den gleichen schlechten Arbeitsbedingungen konfrontiert sind. Ein Kollege sprach von einem Lernprozess, der vielleicht dazu führen kann, dass sich die Leute irgendwann dauerhafter organisieren. Hier müsste sich die Frage anschließen, ob nicht in
der US-Linken diskutierte Konzepte, wie die Working-Center oder die Sozialen Netzwerke, einen wichtigen Beitrag bei Organisierungsprozessen im flexiblen Kapitalismus leisten können. Dort wird versucht, Kämpfe im Stadtteil, im Jobcenter und am Arbeitsplatz zu verbinden. Das könnte vielleicht Thema eines Nachfolgekongresses sein, der sich spziell mit linker Intervention in Betriebs- und sozialen Kämpfen befasst. Ein zweiter Strang auf der Konferenz war ein neuer Internationalismus. Der Zapatismus gehört schon lange zu den Steckenpferden der Autonomen. Zur aktuellen Entwicklung in Chiapas wurde ein Film gezeigt, der das Leben in den zapatistischen Gebieten zeigen sollte, aber erstaunlich widerspruchsfrei blieb. Es waren vor allem glückliche Menschen bei der Erntearbeit, in der Schule oder in den Gesundheitszentren zu sehen. Ein weiterer Schwerpunkt des neuen Internationalismus war das kurdische Rojava. Gleich auf mehreren Diskussionen berichte Ercan Ayboğa detailliert auch über die Probleme in den kurdischen Gebieten, in denen Räestrukturen eine wichtige Rolle spielen und sich die PYD als linke Partei, die diese Entwicklung erst ermöglicht hat, bewusst im Hintergrund hält. Leider blieb die Situation in Venezuela auf der Konferenz völlig ausgespart – ein Land, auf dessen Rätestrukturen und Stadtteilkomitees Dario Azzelini in seinen Büchern und Filmen hingewiesen hat. Das wäre doch eine gute Gelegenheit gewesen, auch Kontroversen offen auszutragen.

Peter Nowak
http://www.akweb.de/


ak | Nr. 627 | 16. Mai 2017

Kettenhaftung statt Konkurstricks


Die beim Bau des Einkaufszentrums »Mall of Berlin« um ihre Löhne geprellten rumänischen Arbeiter haben ihre Klage vor dem Arbeits­gericht verloren.

Um ausstehende Löhne kämpfende Bauarbeiter bleiben vor dem Berliner Arbeitsgericht ohne Erfolg

»Ich hatte große Hoffnungen in die deutsche Justiz. Doch mittlerweile bin ich sehr enttäuscht«, sagt Ovidiu Mindrila. Gerade hat er erfahren, dass seine Klage gegen die HGHI Leipziger Platz GmbH & Co. vom Berliner Arbeitsgericht abgelehnt wurde. Mindrila gehört zu einer Gruppe rumänischer Arbeiter, die auf der Baustelle des Einkaufszentrums »Mall of Berlin« gearbeitet hatten und denen große Teile ihres Lohns vorenthalten wurden.

Im Herbst 2014 sorgte ihr Fall bundesweit für Schlagzeilen, nachdem sich die Arbeiter an die Basisgewerkschaft Freie Arbeiterinnen- und Arbeiterunion (FAU) gewandt hatten. Auf Kundgebungen in der Nähe des Einkaufszentrums wurde gefordert, dass der Lohn gezahlt wird. Zugleich reichten die Arbeiter vor dem Arbeitsgericht Klage gegen die Subunternehmen ein, bei denen sie beschäftigt waren. Obwohl sie mehrere Prozesse gewannen, hat keiner der Betroffenen bisher einen Cent bekommen, weil die Firmen Insolvenz anmeldeten. Also verklagten sie mit der HGHI die Bauherrin, die das Zentrum betreibt. Die Firma gehört zum Firmengeflecht des Investors Harald Huth.

»Das Generalunternehmen wählt die Subunternehmen aus und ist deswegen auch dafür verantwortlich, wenn sie die Löhne nicht zahlen«, sagte Mindrilas Anwalt Sebastian Kunz der Jungle World. Die Anwälte des beklagten Unternehmens hatten hingegen argumentiert, dass die Subunternehmen und nicht der Generalunternehmer ­bestimmten, was auf der Baustelle geschehe. Dieser Rechtsauffassung schloss sich das Gericht an und lehnte Mindrilas Klage ab. Trotz der Nieder­lage bereut er nicht, den juristischen Weg gegangen zu sein. »Es geht um mein Recht«, betonte er.

Doch längst nicht alle seiner Kollegen verfügen nach mehr als zwei Jahren noch über so viel Kampfgeist. »Mittlerweile sind viele der Arbeiter wieder in Rumänien und haben den Eindruck, dass ihnen das große mediale Interesse nichts gebracht hat«, berichtet Hendrik Lackus von der FAU über die Stimmung unter den Betroffenen. Auf dem Höhepunkt des Kampfs, als ein Erfolg greifbar nahe schien, hatten die Arbeiter und ihre Freunde die Gründung einer Basisgewerkschaft nach dem Modell der FAU in Rumänien geplant. doch als sich die Auseinandersetzung hinzog und die Arbeiter trotz gerichtlicher Erfolge ihren Lohn nicht bekamen, seien die Arbeiter ernüchtert gewesen. Auch Lackus macht aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. Anfangs habe er noch die Hoffnung gehabt, dass die Arbeiter ihre Löhne bekommen. Doch je länger sich die Auseinandersetzung hinzog, desto pessimistischer sei er geworden, sagte er der Jungle World.

Tatsächlich demonstriert die Aus­einandersetzung um die Löhne der Bauarbeiter der »Mall of Berlin« auch die Grenzen des Rechtswegs. Jochen Empen vom DGB-Projekt »Faire Mobilität« forderte bereits im vergangenen Sommer eine Kettenhaftung der Un­ternehmen. Vor allem in der Bauwirtschaft könne so verhindert werden, dass Beschäftigte ohne Lohn blieben, wenn Subunternehmen pleite gingen. Dann müsste das Generalunternehmen, das die Subunternehmen beauftragt hat, für die entgangenen Löhne haften.

https://jungle.world/artikel/2017/20/kettenhaftung-statt-konkurstricks

Peter Nowak

„Kommunismus für Kids“ und ein Hauch von McCarthyismus

Die US-Rechte schoss sich auf die Kulturwissenschaftlerin Bini Adamczak ein, weil die den Kommunismus für ein emanzipatives Zukunftsprojekt hält

„Ein Gespenst geht um in Europa“, hieß es im Kommunistischen Manifest. Mehr als 150 Jahre später hat es wohl den Kontinent gewechselt. Jetzt scheint das kommunistische Gespenst vor allem in den USA zu spuken. Die US-Rechte befürchtet, dass es in die Kinderzimmer eindringt und Kindern die Köpfe verwirrt. Doch in welcher Gestalt hat sich das Kommunismus-Gespenst in die USA eingeschlichen? In Form eines Buches, das den Titel „Communism for Kids“[1] trägt und im akademischen Mitpress-Verlag[2] erschienen ist.

Autorin des Buches ist die in Berlin lebende Kunsttheoretikerin und Publizistin Bini Adamczak[3]. Sie hat das Buch in Deutschland unter dem sperrigeren Titel „Kommunismus, kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird“ im libertären Unrast-Verlag herausgegeben[4].
„Kommunistisches Begehren, das endlich alles anders wird“

In der deutschen Ausgabe wird schnell klar, dass es sich um kein Kinderbuch handelt, sondern um ein Buch, das sich dem Kommunismus nicht mit komplexen Analysen nähern will. Bini Adamczak beschreibt ihre Intention auf der Verlags-Homepage[5] so:

Wie lässt es sich – jetzt! – fünfzehn Jahre nach dem Ende der Geschichte über das Ende der Vorgeschichte, über Kommunismus schreiben, ohne der Lächerlichkeit eines ohnmächtigen Pathos zu verfallen? Kritische Kritik + Negation der Negation? Aber: sollte sich der Kommunismus auf übelgelaunte Negation beschränken, ohne Traum und Sexappeal? Es bedarf einer kinderleichten Sprache um ein kommunistisches Begehren zu erfinden. „Den Kommunismus machen: das kann ja wohl nicht so schwer sein.“

KOMMUNISMUS ist für alle da. Einsteigerinnen und solche, die schon immer an diesem verflixten Fetischkapitel verzweifelt sind: Artisten der Negation, praktische Kritikerinnen und jene, denen das falsche Ganze einfach als zu farblos erscheint. Die kleine Geschichte erweist den Kommunismus gänzlich unzeitgemäß als das wunderlich Einfache + Schöne. Sie folgt einem kommunistischen Begehren: dass endlich alles anders wird.
Bini Adamczak

Dass es sich um kein Rechtfertigungsbuch autoritärer Staatssozialismusmodelle handelt, ist allen klar, die schon mal was von Bini Adamczak gelesen[6] haben und das Angebot des libertären Verlags kennen.

Rechte auf der Jagd gegen Linke

Die US-Rechten haben anscheinend nur den Titel „Comunisms for Kids“ gelesen und rot gesehen. Den Auftakt machte die National Review[7]. Dann zog das Buch immer weitere Kreise in rechten Netzwerken. „Sie wollen unsere Kinder“, hieß dann in The Daily Beast[8].

„Etwas muss geschehen; andernfalls könnten Eltern entdecken, dass Ideologen vom Schlage Adamzcaks wie Hitler die Kinder bereits auf ihre Seite gezogen haben“ (im Original: already have the children), heißt es am Schluss des Versuchs, das rote Gespenst zu bannen. Ein Verbot des Buches forderten die Konservativen und die extremere Rechte wollte es gar verbrennen. In Westdeutschland waren früher linke Autoren wie Bert Brecht und Anna Seghers ebenfalls mit solchen Kampagnen konfrontiert.

Bini Adamczak sieht in der rechten Kampagne einen Antikommunismus à la McCarthy. Der nahm mit Beginn des kalten Krieges auch Züge der Intellektuellenverfolgung an, weil gerade dort Kommunisten und ihre Unterstützer besonders häufig verortet wurden. Auch antisemitische Elemente waren von Anfang an Teil des McCarthyismus. Höhepunkt der damaligen Kampagne war das Todesurteil gegen die jüdischen Linken Ethel und Robert Rosenberg.

Die Historiker Sina Arnold und Olaf Kistenmacher haben im letzten Jahr diesen Fall wieder bekannt gemacht und in einem Buch[9] aufgearbeitet. Dabei sind sie in einem Kapitel auch auf die Rolle des Antisemitismus in der Kampagne eingegangen. In der aktuellen Jagd auf das Kommunismusgespenst ist dieses ideologische Gebräu wieder enthalten.

Es geht gegen Linke und besonders gegen Intellektuelle und das strukturell antisemitische Motiv vom „Kinderschänder“ findet sich dort auch wieder. Nachdem sich der Verlag mit Adamczak solidarisiert hat, lief auch die Unterstützung von US-Linken langsam an. Dem US-Philosophieprofessor Chad Kautzer[10] ist freilich zuzustimmen, wenn er schreibt[11]: „Die Linke wäre also gut beraten, Communism for Kids ebenso viel Aufmerksamkeit zu schenken, wie es die Rechte bereits tut.“

Das wäre die beste Antwort auf die rechte Kampagne und könnte auch Adamczaks andere Bücher einbeziehen. In Gestern Morgen[12] setzt sich die Autorin mit den Fragen, die in „Kommunismus für Kinder“ behandelt werden, philosophisch auseinander.

Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Kommunismus-fuer-Kids-und-ein-Hauch-von-McCarthyismus-3717633.html
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Links in diesem Artikel:
[1] https://mitpress.mit.edu/books/communism-kids
[2] https://mitpress.mit.edu
[3] https://mitpress.mit.edu/authors/bini-adamcza
[4] https://www.unrast-verlag.de/gesamtprogramm/allgemeines-programm/anarchie-autonomie/kommunismus-178-1782017-02-03-14-45-44-detail
[5] https://www.unrast-verlag.de/autor_innen/biniadamczak-144
[6] https://www.unrast-verlag.de/autor_in/biniadamczak-144
[7] http://www.nationalreview.com/corner/446670/communism-kids-book-bini-adamczak-published-mit-press
[8] http://www.thedailybeast.com/articles/2017/04/22/hey-kids-how-cool-is-communism
[9] https://www.edition-assemblage.de/der-fall-ethel-und-julius-rosenberg/
[10] http://lehigh.academia.edu/ChadKautzer
[11] http://www.akweb.de/ak_s/ak627/40.htm
[12] https://www.unrast-verlag.de/gesamtprogramm/allgemeines-programm/politik-gesellschaft/gestern-morgen-257-detail

Zu wenig Duschen, poröse Wände

Gefangenengewerkschaft mobilisiert fürTeilschließung der JVA Tegel wegen Baumängeln

Kundgebungen vor Gefängnissen sind in Berlin nicht selten. Doch am kommenden Samstag um 15 Uhr wird es eine Premiere geben. Dann wird nicht für Solidarität mit inen oder allen Gefangenen, sondern vor der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel für deren Teilschließung mobilisiert.Organisiert wird die Aktion von der Gefangenengewerkschaft/bundesweite Organisation (GG/BO), die vor drei Jahren in der JVA Tegel von Gefangenen gegründet wurde. Mit der Kundgebung am Samstag startet die
Knastgewerkschaft ihre Kampagne für die Schließung von Gefängnissen wegen baulicher Mängel.


„Museum oder Filmkulisse“

Davon sind nach Ansicht des Sprechers der GG/BO Oliver Rast mehrere Gebäude der JVA Tegel betroffen. Die Mauern seien porös, es gäbe zu wenige Duschen und sanitäre Anlagen. „Die Gebäude könnten vielleicht noch als Museum oder als Filmkulisse verwendet werden. Aber Menschen dürfen dort nicht mehr untergebracht werden“, so Rast gegenüber der Taz. Dass dies realpolitische Forderungen sind, untermauert Rast mit einer Auflistung von Maßnahmen, nach denen 300 bis 400 Plätze im Gefängnis eingespart werden können. So schlägt die GG/BO den Ausbau des Offenen Vollzugs und die Freilassung von Gefangenen vor, die
eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Das seien Maßnahmen, die der jetzige Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) als Oppositionspolitiker als Teil einer liberalen Gefängnispolitik selber vertreten hat, betont Rast. Dass die Gefangenengewerkschaft drei Jahre nach ihrer Gründung durchaus nicht isoliert ist, zeigt der volle Terminkalender von Rast. Kommende Woche spricht er bei der Vorstellung des Grundrechtsreports in Karlsruhe zur Situation der Menschenrechte von Gefangenen, Donnerstag diskutiert er mit dem ehemaligen Gefängnisleiter und heutigen Strafvollzugskritiker Thomas Galli auf dem Kirchentag über die
Zukunft der Knäste. Doch Beachtung bekommt die GG/BO vor allem außerhalb
der Gefängnisse. Bisher war kein Bundesland bereit, mit ihr über einen Mindestlohn für Knastarbeit und den Einbezug in die Rentenversicherung zu verhandeln. Rast sieht hier besonders Berlin in der Pflicht: Schließlich hätten sich die Grünen stets für esozialisierung ausgesprochen und die LINKE sich im letzten Jahr sogar ausdrücklich hinter die Forderungen der GG/BO gestellt.

aus: Taz, Freitag, 19 Mai
Peter Nowak

Sturm der Entrüstung

Die US-amerikanische Übersetzung des Buches »Kommunismus – Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird« von Bini Adamczak hat einen Shitstorm ausgelöst.

Eigentlich ist eine große Medienresonanz der Wunsch jedes Autors, der ein Buch schreibt. Doch die Berliner Autorin Bini Adamczak hätte auf den Shitstorm gerne verzichtet, den die US-amerikanische Ausgabe ihres bereits 2004 im libertären ­Unrast-Verlag erschienen Buches »Kommunismus – Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird« in den USA ausgelöst hat. Nachdem MIT-Press, der Verlag der US-amerikanischen Universität Massachusetts Institute of Technology, das Buch unter dem Titel »Communism for Kids« veröffentlicht hatte, begann die rechte Kampagne. Konservative und rechte Medien wie Breitbart, The National Review und The American Conservative echauffierten sich über ein Buch, das angeblich Kinder indoktrinieren will. Die meisten Kritiker hatten wohl nicht mehr als den Titel und den Klappentext gelesen. Denn es handelt sich nicht um ein Kinderbuch. Außerdem wird in dem Buch wie in allen Texten von Bini Adamczak allen autoritären Varianten des Sozialismus eine klare Absage erteilt. Die Wissenschaftlerin setzt sich mit den Opfern des Stalinismus auseinander und stellt sich die Frage, wie im Wissen um diese Verbrechen ein antiautoritärer Kommunismus möglich ist.

»Hey Kids, How Cool Is Communism« lautet die Überschrift auf der Website The Daily Beast über einem hetzerischen Artikel, in dem Adamczak mit Hitler verglichen wird. »Etwas muss ­geschehen; andernfalls könnten Eltern entdecken, dass Ideologen vom Schlage Adamzcaks, wie Hitler, die Kinder bereits auf ihre Seite gezogen haben« (im Original: already have the children), heißt es in dem Text. In einigen rechten Postillen will man das Buch sogar verbrennen. Neben Adamczak erhielt auch der Verlag MIT-Press Hassmails und Drohungen. Doch der Verlag steht zu seiner Autorin und verteidigt die Publikation als Bei­trag zur Diskussion. Der Literaturprofessor Fredric R. Jameson betont, dass Adamczaks Buch hilfreich sei in einer Zeit, in der viele Menschen nach neuen Formen von Leben und Zusammenleben suchten.

Adamczak äußerte sich im Gespräch mit der Jungle World überrascht über das Ausmaß des Antikommunismus in den USA, der durchaus Züge des McCarthyismus trage. Sie sieht einen deutlichen Zusammenhang mit dem Rechtspopulismus Donald Trumps. Jetzt könne die Linke wieder stärker ins Visier geraten, vermutet Adamczak. Ob sie in den USA Gelegenheit hat, über ihr Buch zu diskutieren, ist noch ungewiss. Nach dem Shitstorm könnte ihr ein Einreiseverbot in die USA drohen. Bereits 2010 wurde Gabriel Kuhn, der seit langem in der anarchistischen Bewegung aktiv ist und dazu publiziert hat, ohne Begründung die Einreise in die USA verweigert.
USA

https://jungle.world/index.php/artikel/2017/20/sturm-der-entruestung

Peter Nowak

Tausend Augen der Jobcenter

»Hoch die Arbeit, so hoch, dass niemand dran kommt«. Mit diesem lustigen Titel wird eine Berliner Veranstaltung angekündigt, auf der Harald Rein aus Frankfurt am Main an die heute weitgehend vergessene Geschichte der westdeutschen JobberInnenbewegung erinnern wird.

Vor 30 Jahren wehrten sich in verschiedenen Städten Erwerbslose gegen die Zurichtung zur Arbeit. Sie propagierten offen den Kampf für ein schönes Leben ohne die Lohnarbeit. Der Aktivist Harald Rein ist bereits zum Chronisten dieser Bewegung geworden. Die Veranstaltung wird im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Die 1000 Augen der Jobcenter« stattfinden.

Organisiert wird sie von der überwachungskritischen Gruppe Seminar für angewandte Unsicherheit (SaU). Der Name erinnert noch an die Entstehung der Gruppe im studentischen Milieu nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September. Anfangs sensibilisierte sie mit ihren Diskussionsveranstaltungen, Filmabenden und Spaziergängen für die massive Präsenz von Kameras im öffentlichen Raum. Sie beteiligte sich auch an den großen Demonstrationen, bei denen unter dem Motto »Freiheit statt Angst« Tausende gegen die unterschiedlichen Formen von Überwachung auf die Straße gingen.

Beim Thema Überwachung kommen vielen Menschen noch immer vor allem Kameras im öffentlichen Raum sowie Telefon- und Internetdurchforschung in den Kopf, sie denken nicht unbedingt an Jobcenter. Doch im Gegensatz zum Gros der Datenschutzbewegung verband das SaU den Kampf gegen Überwachung mit einer linken Gesellschaftskritik. »Wer von Überwachung redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen«, so lautete die Devise.

Im letzten Jahr organisierte das SaU die erste Veranstaltungsreihe unter dem Titel »Die 1000 Augen der Jobcenter«. Dort wurden unterschiedliche Formen von Überwachung, Kontrolle und Disziplinierung der Erwerbslosen durch die Jobcenter thematisiert. Die Veranstaltungen waren auch ein Ort des Austausches zwischen aktiven Erwerbslosen und jungen Wissenschaftlern. Die Organisatoren waren selbst überrascht, wie gut die Veranstaltungen besucht waren und dass viele Erwerbslose unter den ZuhörerInnen waren. Daher war für sie schnell klar, dass sie die Reihe fortsetzen würden.

In der bevorstehenden Veranstaltungsreihe will sich das SaU nun zuerst am 10. Juni mit Disziplinierungspraktiken und dem besonderen Sanktionsdruck gegen Erwerbslose unter 25 Jahren beschäftigen. Gerade in einer Zeit, in der Politik der Agenda 2010 meist nur im Detail kritisiert wird und schon neue Nachfolgeprojekte in den Schubladen der Politiker liegen, ist eine solche Veranstaltungsreihe absolut sinnvoll. Denn hier wird endlich einmal wieder fundamentale Hartz IV-Kritik geübt. Alle Veranstaltungen der Reihe werden im Berliner Stadtteilladen Zielona Gora stattfinden.

unsicherheit.tk/ veranstaltungsreihe-jobcenter
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1051188.tausend-augen-der-jobcenter.html
Peter Nowak

NRW-Wahl ist Ausdruck des gesellschaftlichen Rechtsrucks in Deutschland

Selbst die Reste der Opposition sehen vor allem in Trump, Putin und Erdogan die Gegner – Ein Kommentar

So schnell und häufig hat wohl selten eine Ministerpräsidentin beteuert, dass sie allein für die Wahlniederlage verantwortlich ist, wie es Hannelore Kraft seit der NRW-Wahl immer wiederholte. Auch SPD-Politiker und Wahlhelfer wie der Grafiker Klaus Staeck[1] wurden nicht müde zu betonen, dass die Wahlniederlage in NRW durch die Landespolitik verursacht wurde. Auch die Grünen wollten in dem schlechten Wahlergebnis in NRW nur Landesursachen sehen.

Es ist klar, dass die beiden Parteien, die so schlecht abgeschnitten haben, fürchten, dass sich dadurch die Stimmung für die Bundestagswahlen verschlechtert. Unterschätzten sie damit nicht das Publikum, das noch den Reden der Politiker in Wahlkämpfen folgt? Hat man in der SPD nicht Schulz als Merkels chancenreichen Konkurrenten ausgegeben? Hat man nicht vor allem die NRW-Wahl als Startschuss für die Bundestagswahl ausgegeben? Und jetzt soll das alles nicht mehr wahr sein? Handelt es sich vielleicht auch hier um die vielzitierten alternativen Wahrheiten, dass die Ursachen von SPD und Grüne hauptsächlich im Land NRW liegen? Das Ziel ist klar: Die SPD will Martin Schulz aus der Schusslinie nehmen und die Grünen wollen sich noch eine Debatte über ihre beiden Vorsitzenden ersparen.

Rückkehr nach Emmerich

Eine NRW-Reportage[2] in der Wochenzeitung Freitag, in der die sogenannten Abgehängten aus verschiedenen Teilen von NRW unter dem alarmistischen Titel „Failed State NRW“[3] zu Wort kamen, zeigte, dass bei allen regionalen Problemen die Bundespolitik mit reinspielt. Da setzt ein Mann, der sich „Keule“ nennt, zum Rundumschlag auf die große Politik an und es wird deutlich, dass die Trennung in Landes- und Bundespolitik so gar nicht existiert.

„Das haben wir alles schön der SPD zu verdanken“, sagt er. Dem Schröder das mit Hartz IV, seitdem sei hier Rambazamba. Dem Bürgermeister, „der nichts taugt“, der sich um die Armen einen Dreck schere. Und dem nordrhein-westfälischen Innenminister Ralf Jäger, der laut Keule schuld daran sei, dass er sich nicht mehr allein vor die Tür traue. „Wenn die alle richtig malochen würden, die da kommen, dann könnten von mir aus noch ein paar Tausend herziehen. Aber stattdessen nur Verbrecher!“, sagt er.

Man könnte denken, da spricht ein AfD-Wähler, aber diese Keule wird als CDU-Wähler vorgestellt. „Siehste, die Merkel, die macht das. Der ist das ganz gleich, was die alle reden. Die macht das einfach“, sagt Keule triumphierend, dem die AfD „zu Nazi“ ist und die SPD „zu unfähig.“

Interessant ist in der Reportage, dass hier ein Bild vom Ruhrgebiet gezeichnet wird, in dem Abgehängte der unterschiedlichen Branchen über ihre Situation und die da oben schimpfen. Dabei hatte erst kürzlich mit „Das Gegenteil von Grau“[4] ein Film von Matthias Coers und Grischa Dallmer Premiere, der die vielfältigen sozialen Initiativen im Ruhrgebiet vorstellt. Senioren sind ebenso vertreten wie prekäre Wissenschaftler und Studierende.

Das Bild, das der Film vom Ruhrgebiet zeichnet, ist fast in allen Punkten konträr zu Reportagen vom abgehängten Ruhrgebiet, wie sie in den letzten Tagen nicht nur in der Wochenzeitung Freitag, sondern auch in vielen anderen Medien zu lesen waren. Sogar der Niederrhein wird als eine abgehängte Region vorgestellt. Mit dem Titel „Rückkehr nach Emmerich[5] wird auf Didier Eribons Bestseller „Rückkehr nach Reims“ rekurriert, einer Stadt, in dem mit dem Rückzug der Industrie die Tristesse Einzug hielt und die Rechten Erfolge zeigten.

Nur eine Schnittstelle gibt es zwischen dem Film der sozialen Selbstermächtigung und der Reportage des Freitag. Ein Redaktionsmitglied des Bochumer Straßenmagazins Bodo[6] kommt zu Wort. Obwohl er sinngemäß nichts Unterschiedliches über die Dortmunder Nordstadt sagt, ist der Kontext doch verschieden. „Was wir hier in der Nordstadt in den letzten Jahren erleben, ist eine Gentrifizierung von unten: Alle, die etwas geschafft haben, gehen weg. Noch ärmere Menschen kommen nach“, wird Bodo-Redaktionsleiter Bastian Pütter in der Freitag-Reportage zitiert.

Das klingt so, als würde hier ein Kampf der Ärmsten gegen die Armen stattfinden. Im Film „Gegenteil von Grau“ hingegen betont ein Bodo-Mitarbeiter, dass die Dortmunder Nordstadt immer ein Ort war, in dem sich Arbeitsmigranten vieler Länder angesiedelt haben. Das werde auch in Zukunft so bleiben. Das klingt weniger nach abgehängter Gegend, sondern auch nach Selbstermächtigung.

Wenn die Abgehängten ein starkes Deutschland wählen

Doch gerade hier ist der entscheidende Unterschied. Die sehr unterschiedlichen Menschen, die in „Gegenteil von Grau“ vorgestellt werden, erwarten wenig von der Parlamentspolitik, sind daher auch nicht enttäuscht von den Politikern. Sie sorgen in ihrem Alltag dafür, dass sich in ihrem Lebensumfeld etwas verändert.

In den Reportagen über das abgehängte NRW werden Menschen gezeigt, die arm sind, sich ihre Situation nicht erklären können, Ausländern oder „denen da oben“ die Schuld geben und am Konstrukt eines starken Deutschland festhalten. Bei dem in der Freitag-Reportage zitierten Mann mit dem Aliasnamen Keule ist Merkel noch der Garant dafür. Viele andere wählen die AfD, weil sie sich mit einem starken Deutschland identifizieren. Statt Solidarität setzen sie auf Standortnationalismus.

In Zeiten, als im Ruhrpott noch die Schornsteine rauchten, reichte ein Fußballverein für die eigene Identität. In Zeiten der Krise muss es schon die Nation sein. Wie weit der Standortnationalismus in die sozialdemokratische Wählerschaft geht, zeigt auch der Tarifabschluss der IG-Metall[7] mit den Verbänden der Zeitarbeitsbranche[8], der Leiharbeiter weiterhin schlechter stellt[9]. Der Gewerkschaftsjournalist der Wochenzeitung Jungle World Stefan Dietl liefert[10] eine plausible Erklärung dafür, dass die IG-Metall einen Tarifvertrag unterzeichnet, der die Leiharbeiter schlechter stellt, als sie ohne Vertrag wären, weil dann die gesetzlichen Bestimmungen greifen würden:

Die viel gerühmte Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie in der Weltmarktkonkurrenz fußt auch auf dem billigen und flexiblen Einsatz von Leiharbeit. Gerade den Industriegewerkschaften, die vorwiegend in exportorientierten Branchen präsent sind, ist dies durchaus bewusst. Im möglichen Verlust dieses Wettbewerbsvorteils sehen viele Beobachter nicht nur ein Risiko für die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Exportindustrie, sondern auch für die Arbeitsplätze der dort traditionell gut organisierten Stammbelegschaften. Es ist daher wenig erstaunlich, dass die Gewerkschaften zwar auf eine gewisse Regulierung der Leiharbeit drängen, um so den Druck auf die Stammbeschäftigten etwas zu mindern, den Wettbewerbsvorteil billiger Leiharbeiter aber erhalten möchten.
Stefan Dietl

Der Tarifvertrag dient also nicht dazu, die Arbeitsbedingungen der Leiharbeiter zu verbessern, sondern sie im Interesse der Stammbelegschaft und des Standorts Deutschland auf Abstand zu halten. Unter solchen Bedingungen kann keine solidarische Aktion der Beschäftigten entstehen. Daher ist es auch kein Wunder, dass eine Partei, die noch die soziale Gerechtigkeit der SPD der 1970er Jahre hochhält, wie die Linkspartei in NRW knapp an der Fünfprozentklausel scheitert. Sie hätte auch knapp darüber kommen können. Der gesellschaftliche Rechtsruck hängt nicht an einigen hundert Stimmen.


Ausdruck des gesellschaftlichen Rechtsrucks

Das Wahlergebnis ist aber ein Rechtsruck, was die Stärkung von CDU und FDP und das passable Ergebnis für die AfD zeigt. Alle drei Parteien, wenn sie auch in den nächsten Jahren nicht bündnisfähig sein werden, wollen ein starkes Deutschland, das kämpferische Gewerkschaften klein- und Migranten, die Deutschland nicht nützen, möglichst draußen halten.

Auch große Teile der SPD haben keine grundlegenden anderen Ziele. Daher ist es auch verkehrt, nun fieberhaft danach zu suchen, was die Politiker Kraft, Jäger oder Löhrmann falsch und Laschet und Lindner richtig gemacht haben. Dass sich in Deutschland anders als in Ländern der europäischen Peripherie keine linke Alternative zur Austeritätspolitik etablieren konnte, liegt an der Rolle Deutschlands als Hegemonialmacht in der EU.

Schlaue Köpfe haben bereits in den frühen 1990er Jahren auf deutschlandkritischen Kongressen erkannt, dass im wiedervereinigten Deutschland Linke im und außerhalb des Parlaments eine Randgruppe analog zur USA werden würden. Bei den Wahlen würde es nur darum gehen, wer den Standort Deutschland besser repräsentiert. Dass dabei die Union die Nase vorn hat, ist nicht verwunderlich.

Mit der Wahl von Trump wurde Merkel auch von liberalen und grünennahen Medien zur Verteidigerin der freien Welt ausgerufen. Sie wurde als demokratische Lichtgestalt im Vergleich zu Putin, Erdogan und Trump gefeiert und Deutschland wurde als das Land der Freien ausgerufen. Wer noch von Niedriglöhnen, Armut in den Städten und der Ausbreitung der Billigjobs in Deutschland redete, wurde bestenfalls belächelt.

Auch außerhalb des sozialpolitischen Gebietes gab es kaum noch gesellschaftlichen Widerstand. Da wurde noch zwei Jahre über die NSA und die Rolle deutscher Geheimdienste gesprochen. Doch die aus der Bloggerszene hervorgegangene re:publica[11] wurde dieses Jahr endgültig zum Kirchentag der Internetszene[12], wo sich Jahr für Jahr Politiker aller Bundestagsparteien die Klinke in die Hand geben. Proteste[13] gegen einen Bundeswehrstand auf der re:publicca gab es immerhin noch vereinzelt.

In Zeiten von Putin und Trump ist Deutschland plötzlich der Hort der Freiheit. Selbst explizit deutschlandkritische Bands wie die Antilopengang[14] singen auf dem Konzert für Deniz Yücel auf einer Veranstaltung[15], die auch von der rechtskonservativen Welt unterstützt wird. „In Zeiten, in denen die Pressefreiheit aber nicht nur durch Inhaftierungen von Journalisten, sondern auch in demokratischen Ländern durch Rufe wie ‚Lügenpresse‘ von AfD bis Donald Trump bedroht ist, wird umso deutlicher, dass Pressefreiheit uns alle angeht“, schreibt[16] die Mitorganisatorin Doris Akrap. In einer Situation, in der in Deutschland ein gesellschaftlicher Rechtsruck im Gange ist und selbst schlaue Linke vor allem in Putin, Erdogan und Trump den Gegner sehen, können Merkel und ihre Nachfolger fast ohne Proteste herrschen.

Peter Nowak
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[1] http://www.staeck.de/
[2] http://www.freitag.de/autoren/bartholomaeus-von-laffert/dortmund-hart
[3] http://de-de.facebook.com/derfreitag/photos/a.401082522921.196897.313744767921/10155401665597922/?type=3
[4] http://gegenteilgrau.de/
[5] https://www.taz.de/Wahl-in-Nordrhein-Westfalen/!5405856/
[6] http://www.bodoev.de/
[7] http://www.igmetall.de/26-2017-25361.htm
[8] http://www.ig-zeitarbeit.de/presse/artikel/branchenzuschlaege-sechste-zuschlagsstufe-verabschiedet
[9] http://www.labournet.de/politik/alltag/leiharbeit/leiharbeit-gw/hoechstueberlassungsdauer-der-metall-und-elektroindustrie-geknackt-ig-metall-stimmt-zeitarbeit-bis-zu-vier-jahren-zu/
[10] http://jungle.world/artikel/2017/18/vier-jahre-leiharbeit
[11] https://re-publica.com/de
[12] http://www.tagesspiegel.de/berlin/digitalkonferenz-in-berlin-die-re-publica-ist-erwachsen-geworden/19762552-all.html
[13] http://www.metronaut.de/2017/05/konfetti-gegen-die-bundeswehr-und-warum-die-republica-eine-chance-verpasst-hat/
[14] http://www.antilopengang.de/
[15] http://www.facebook.com/events/1901717233437127/
[16] http://www.taz.de/!164199/

Senatorin der Linken gibt Grünes Licht für Nobelprojekt im Friedrichshainer Nordkiez

„… und die Stadt gehört Euch!“ So lautete eine einprägsame Wahlkampfparole der LINKEN zur Abgeordnetenhauswahl. Manche rätselten, wer mit dem Euch wohl gemeint ist. Im Friedrichshainer Nordkiez könnte es die CG-Gruppe sein. Schließlich genehmigte die Senatorin für Bauen und Wohnen Kathrin Lompscher das Carré Sama-Riga in der Rigaerstraße 71-73. Seit über einem Jahr protestieren AnwohnerInnen im Friedrichshainer Nordkiez gegen den Nobelbau der CG-Gruppe, von dem sie eine Aufwertung des Stadtteils, höhere Mieten und die Vertreibung von Menschen mit geringen Einkmmen befürchten. Noch am 3. Mai erinnerten BewohnerInnen des Friedrichshainer Nordkiez Lompscher an die Wahlversprechen ihrer Partei. „Wir fordern Sie auf, die Pläne der CG-Gruppe auf dem Gelände der Rigaer Straße 71-73 abzulehnen und den Weg frei für eine Planung zu machen, die prozessorientiert die Menschen im Kiez mitnimmt und nicht weiter gewachsene Kiezstrukturen zerstört“, heißt es in dem Brief.

Die Senatorin wurde aufgefordert, sich ein Vorbild an den von den Grünen nominierten Baustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg Florian Schmitt zu nehmen, der auf einer Versammlung im Friedrichshainer Nordkiez am 2.Mai erklärte, dass er seine Unterschrift unter der Baugenehmigung des Carré Sama-Riga verweigert.

Die planungsrechtliche Prüfung habe ergeben, dass die Versagung des Bezirksamts nicht rechtens war, begründete die Stellvertretende Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen Petra Rohland gegenüber MieterEcho-Online die Genehmigung ihrer Behörde. „Das Vorhaben ist nach § 34 Abs. 1 BauGB zulässig. Infolgedessen musste ein positiver Widerspruchsbescheid erteilt werden“, betont Rohland. Dieser Paragraph, der die rechtliche Grundlage für die Genehmigung von Bauvorhaben darstellt, wird von der Aktionsgruppe Rigaer Straße 71-73, in der sich die KritikerInnen des Projekts zusammengeschlossen haben, heftig kritisiert. Damit würden die Rechte der AnwohnerInnen und des Bezirks ausgehebelt, erklärte Gudrun Gut mit Verweis auf die zahlreichen Einwendungen, die gegen das Carré Sama-Riga beim Bezirksamt eingereicht worden waren. Die Senatsverwaltung für Wohnen scheint auch unter Lompscher hingegen kein Problem mit dem Paragraphen zu haben.

„§ 34 BauGB sichert in unbeplanten Innenbereichen, dass sich die geplante Bebauung in die nähere Umgebung einfügen muss und gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse gewahrt bleiben. Eine Abschaffung dieser Vorschrift wäre daher im Hinblick auf die städtebauliche Ordnung nicht zielführend“, verteidigt Rohland den umstrittenen Paragraphen. Diese Begründung muss den kritischen Nachbar/innen wie Hohn vorkommen. Für sie fügt sich ein Nobelprojekt mit einer Miete von bis zu 13 Euro/qm keineswegs gut in eine Umgebung ein, in der viele Menschen mit geringen Einkommen leben und der Verdrängungsdruck gewachsen ist.

Grüne geben sich mieter/innenfreundlich und kritisieren Lompscher

Für die GRÜNEN erweist es sich als Glücksfall, dass eine LINKE nun die Genehmigung für das Projekt geben muss. Daher kann Baustadtrat Schmitt die Genehmigung im Bezirk verweigern, im Wissen darum, dass die CG-Gruppe auf Senatsebene Erfolg hat, egal welches Parteibuch die verantwortlichen Politker/innen haben.

„Der Senat hat der CG Gruppe gegen den Bezirk abgeholfen, den Bauantrag am Freitag vergangener Woche wirksam werden lassen. Es hätte den Senat nichts gekostet, in dieser Sache die Bezirksebene zu stärken und zu sagen: Nein, so wie du das hier einreichst, ist es eben nicht genehmigungsfähig, “ kritisierte die rechtspolitische Sprecherin der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus Canan Bayram die Entscheidung von Lompscher. Sie bewirbt sich für das Mandat als Direktkandidatin ihrer Partei für den Bundestag, das bisher Ströbele in drei Legislaturperioden verteidigte. Auch in der BVV Friedrichshain-Kreuzberg ist zwischen LINKEN und GRÜNEN Wahlkampfstimmung ausgebrochen. Im Stadtplanungsausschuss von Friedrichshain-Kreuzberg brachten die GRÜNEN den Text eines Briefes ein, in dem Lompscher aufgefordert wurde, gemeinsam mit den Bezirk eine Strategie die weitere Verdichtung des Friedrichshainer Nordens zu entwickeln.

Proteste gegen Carré Sama-Riga werden fortgesetzt

Während die CG-Gruppe in Briefen an die unmittelbare Nachbarschaft des Projekts den Baubeginn für August ankündigte, setzten die NachbarInnen ihren Widerstand fort. „Jetzt erst recht“, heißt es in einem Aufruf, in dem zur Fortsetzung des zehnmonatigen Scheppern gegen CG aufgerufen wird, das seit Mitte Januar täglich um 19 Uhr an der Rigaer Straße 71-73 stattfindet (MieterEcho Online berichtet). Am 28. Mai wird dort um 13 Uhr ein Kiezspaziergang beginnen, der die AkteurInnen von Mieterhöhungen und Verdrängung im Friedrichshainer Nordkiez thematisieren soll. Die CG-Gruppe ist dabei ein wichtiger Punkt, deshalb soll der Spaziergang dort starten. Die Bezirksgruppe Friedrichshain der Berliner MieterInnengemeinschaft unterstützt den Kiezspaziergang.
aus:

MieterEcho online 15.05.2017
https://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/cg-gruppe-friedrichshain.html

Peter Nowak

Symbolpolitik gegen Erdogan

Über die Todesstrafe darf die Türkei in Deutschland nicht abstimmen lassen, aber tödliche Waffen werden weiter in das Land exportiert

„Kassel entrüsten“ lautete das Motto einer symbolischen Aktion[1], mit der Antimilitaristen den Rüstungskonzern Krauss-Maffei Wegmann in Nordhessen mit selbstgebastelten Panzersperren blockierten. „Panzerhersteller beliefert Despoten und Regime in der ganzen Welt mit seinen Waffen, das wollen wir verhindern“, erklärte Simon Kiebel von der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen[2] zur Aktion.

Zu den bevorzugten Exportländern dieser Waffen gehört neben Katar die Türkei. Das dürfte manche wundern, die das Zerwürfnis zwischen der Erdogan-Türkei und Deutschland verfolgt haben. Dabei liefen die Militärgeschäfte auch in dieser angeblich so kritischen Phase in den deutsch-türkischen Beziehungen wie geschmiert weiter. Der Rüstungskonzern Rheinmetall hat bereits mit der Bundesregierung konferiert[3], damit die von ihm angepeilte Nachrüstung der Panzer der türkischen Armee nicht noch scheitert. Sogar eine Panzerfabrik will Rheinmetall in der Türkei errichten.

Wenn dann Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace in ihrer Pressemitteilung[4] die besondere moralische Verwerflichkeit der geplanten Investition darin entdecken, dass das Unternehmen der Erdogan-Familie nahesteht, wird das ganze Elend einer Position deutlich, die von Ökonomie- und Staatskritik nichts wissen will. Wäre die Panzerfabrik eher zu rechtfertigen, wenn die Unternehmen der Opposition nahestehen würden?

Dass es im Kapitalismus auch in der Türkei unter Erdogan um sachliche und nicht um personelle Beziehungen geht, auch wenn sich die Unternehmensführung natürlich in der Regel mit den jeweils Regierenden gutstellt, wenn die gute Profitbedingungen garantieren, wird bei einer solchen Kritik ausgeblendet. Das führt dazu, dass die Kritiker der Türkei meistens an die Bundesregierung appellieren können, Erdogan klare Kante zu zeigen und die meistens die Forderungen schon längst erfüllt hat. Denn es geht in der Regel um Symbolpolitik.

Der Flüchtlingsdeal, an dem die türkische Regierung genau so großes Interesse hat wie die deutsche, wie auch die Rüstungsgeschäfte und die Kooperation mit dem türkischen Militär im Rahmen der NATO gehen natürlich weiter. Schließlich war auch nach dem Militärputsch von 1980, bei dem die Repression gegen die türkische Opposition wesentlich blutiger war als unter Erdogan, der Natoausschluss kein Thema. Im Gegenteil: Die Nato hat mit Befriedigung gesehen, dass Friedhofsruhe in dem Land am Bosporus gewaltsam hergestellt wurde, manche sprechen sogar zugespitzt vom Nato-Putsch[5].

Wie Deutschland die Todesstrafe verabscheuen lernte

Die jüngste Volte in der medial ausgetragenen Fehde ist die Erklärung der Bundesregierung, wonach in Deutschland lebende türkische Staatsbürger über die Wiedereinführung der Todesstrafe hierzulande nicht abstimmen dürfen. Nun steht das Thema zurzeit gar nicht auf der Agenda. Erdogan hatte mehrmals angedroht, ein Referendum gegen die Todesstrafe anzuberaumen. Es gab aber bisher keine konkrete Vorbereitung dazu. Manche politische Analysten bezweifeln, ob es dazu kommt.

Damit würden die Spannungen mit der EU weiterwachsen und alle Verhandlungen storniert. Es gibt aber durchaus Anzeichen, dass die türkische Regierung einen totalen Bruch mit der EU vermeiden und die bisherige Schaukelpolitik fortsetzen will. Zudem ist nach dem trotz massiven Druck und dem vielleicht sogar unregelmäßigen, knappen Ausgang des Referendums unklar, ob Erdogan für die Einführung der Todesstrafe eine Mehrheit bekommen würde. Es könnte allerdings sein, dass die Zustimmung wächst, wenn die Terrorismushysterie weiter angeheizt wird.

Jedenfalls handelt es sich um keine aktuelle Entscheidung. So diente das prophylaktische Verbot des Referendums über die Todesstrafe vor allem der Selbstinszenierung Deutschlands als aufgeklärte Nation. Dass die Todesstrafe generell mit europäischen Werten nicht übereinstimmt, ist eher eine Behauptung. In Frankreich wurde die Todesstrafe erst 1981 nach dem Wahlsieg der Linkskoalition abgeschafft. In Großbritannien wurde gegen heftigen Widerstand großer Teile der Tories die Todesstrafe abgeschafft, nachdem sie vorher für 5 Jahre ausgesetzt war[6].

Auch hier war die Labour Party der eigentliche Motor. Das macht deutlich, dass der Kampf gegen die Todesstrafe historisch ein Thema der Linken war, während große Teile der Konservativen das Recht auf staatliches Töten nicht aus der Hand geben wollten. In der Linken gab es zu dem Zeitpunkt eine Zäsur, als die auf einen Staatssozialismus fixierte Fraktion die staatliche Repression einschließlich der Todesstrafe in der immer autoritärer werdenden Sowjetunion verteidigte.

Auch in Deutschland war der Kampf gegen die Todesstrafe ein linkes Thema, bis zum Ende des Nationalsozialismus. In einer auf historische Themen spezialisierte Onlineplattform[7] ist zu lesen:

Im Parlamentarischen Rat der Jahre 1948/49 waren die Vorzeichen zunächst umgekehrt: Denn plötzlich stand die unausgesprochene Frage im Raum, wie mit deutschen Kriegsverbrechern verfahren werden sollte. So schlug ausgerechnet der rechtsgerichtete Abgeordnete Hans-Christoph Seebohm vor, ein Verbot der Todesstrafe in der neuen Verfassung zu verankern. Seine „Deutsche Partei“ begriff sich als Interessenvertretung der ehemaligen Nationalsozialisten. Die SPD-Abgeordneten jedoch zögerten, wollten sie doch keineswegs der Bestrafung von Kriegsverbrechern Grenzen setzen. Letztlich setzte sich aber bei den SPD-Abgeordneten die Haltung durch, die Ablehnung der Todesstrafe sei ein wichtiges Element der Abkehr von der NS-Barbarei. Am 6. Mai 1949 wurde trotz Einwände der CDU-Abgeordneten mit deutlicher Mehrheit ein knapper und klarer Satz als Artikel 102 ins Grundgesetz aufgenommen: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“.
Historeo[8]

Die Maßnahme mit der hohe NS-Täter vor der Hinrichtung bewahrt werden wollte, sollte sich bald für die BRD auszahlen. Da das Land früher als andere westeuropäische Nachbarn die staatliche Hinrichtung abgeschafft hatte, konnte sie jetzt als Vorbild für andere Länder inner- und außerhalb der EU fungieren. Auch Israel blieb natürlich nicht von dem neudeutschen Sendungsbewusstsein verschont.

Nachdem die israelische Justiz des für die Shoah verantwortlichen Adolf Eichmann habhaft werden konnte und die Justiz des Landes zu dem Schluss kam, dass für seine Verbrechen nur die Todesstrafe in Frage kommt, konnte sich Westdeutschland schon als moralische Instanz aufspielen, die aus der Geschichte gelernt und deshalb die Todesstrafe abgeschafft hat.

Hier nahm die Erzählung vom zivilisierten Deutschland, das aus seinen Verbrechen gelernt hat, Konturen an. Dass Eichmann von führenden deutschen Sicherheitsdiensten und Politikern gedeckt und der zuständige antifaschistische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit gutem Grund eher auf die israelische als auf die deutsche Justiz vertraute[9], wurde natürlich nicht erwähnt.

Dieser kleine historische Diskurs scheint mir notwendig, weil diese Aspekte völlig ausgeblendet werden, wenn sich die Bundesregierung heute den Kampf gegen die Todesstrafe zu ihren Markenzeichen macht.



„Die Nazis hatten den Leichen keine Nummern aufgemalt“

Wie stark die NS-Vergangenheit auch in die neudeutsche Menschenrechtspolitik hineinwirkt, zeigt sich bei der Berichterstattung über Ermittlungen der deutschen Justiz über angebliche Verbrechen des syrischen Regimes. Der Streit über die Glaubwürdigkeit der Quellen[10] soll hier einmal ausgespart bleiben. Doch frappierend ist, dass die Analogie zu den NS-Verbrechen gezogen wird und sogar die Nazis im Ergebnis noch etwas besser wegkommen. So heißt es in einen Bericht der eng mit syrischen Oppositionellen verbundenen Soziologin Kirsten Helberg in der Taz[11]:

Die Kommission für Internationale Gerechtigkeit und Verantwortung (CIJA) hat etwa eine Million syrischer Dokumente gesichert, die Befehlsketten und Verantwortlichkeiten beweisen. Und auch die Caesar-Fotos führen direkt zu Regime-Vertretern. Denn an den Leichen der Gefangenen sind Nummern angebracht. „Unglaublich“ findet das der ehemalige Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda, Stephen Rapp. „Wir hatten keine Beweismittel in Form von Dokumenten wie in Syrien“, so Rapp. Selbst in Nürnberg habe es das nicht gegeben.
Kirsten Helberg[12]

Es soll nun keineswegs in Abrede gestellt werden, dass syrische Oppositionelle das Recht haben, Verbrechen des Regimes auch im Ausland untersuchen zu lassen. Dass aber ein deutscher Ermittler sofort auf die Naziverbrechen rekurriert, zeigt eben wie eng noch nach 70 Jahren in die aktuelle deutschen Menschenrechtspolitik das Bestreben eingeschrieben ist, deutlich zu machen, dass andere mindestens genau so wüten, wie es die Nazis getan haben.

Auch das Erdogan-Regime wird schon mal mit den Nazis verglichen. Wenn hingegen Erdogan und seine Adepten den Nazivorwurf gegen Deutschland erheben, ist die Empörung groß. Wenn dann noch ein Großteil, aber keineswegs die Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen mit türkischem Pass, beim Referendum für Erdogans Staatsprojekt stimmen, wird deren Demokratiefähigkeit bezweifelt. Manche haben gar dieses Wahlergebnis zum Anlass genommen, um die doppelte Staatsbürgerschaft zu bekämpfen.

Nur in den deutschen Verhältnissen sucht kaum jemand die Ursachen für das Ergebnis. Sie hätten vielleicht mal das Theaterstück NSU-Monologe[13] hören sollen, das auf langen Interviews von drei nahen Angehörigen von NSU-Opfern beruht. Sie beschreiben sehr eindrücklich, wie sie alle von den deutschen Behörden als Täter behandelt wurden, wie gegen sie ermittelt wird und ihre Nachbarn über sie ausgefragt wurden. Ist es verwunderlich, dass alle drei berichteten, dass es ihnen wichtig war, ihre ermordeten Angehörigen in der Türkei zu beerdigen? Auf einem mehrtätigen Tribunal[14] werden die Opfer darüber berichten.

https://www.heise.de/tp/features/Symbolpolitik-gegen-Erdogan-3713702.html
Peter Nowak
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[1] https://www.dfg-vk.de/stoppt-den-waffenhandel/ruestungskonzern-mit-panzersperren-blockiert
[2] https://www.dfg-vk.de
[3] http://www.presseportal.de/pm/30621/3630701
[4] https://www.greenpeace-magazin.de/nachrichtenarchiv/deutsche-panzer-fuer-erdogan-rheinmetall-will-der-tuerkei-eine-fabrik-bauen
[5] http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Tuerkei/30jahre-putsch.html
[6] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45234182.html
[7] http://www.historeo.de/datum/todesstrafe-in-deutschland-debatte-1952
[8] http://www.historeo.de/datum/todesstrafe-in-deutschland-debatte-1952
[9] http://www.zeit.de/kultur/film/2015-09/staat-gegen-fritz-bauer-lars-kraume
[10] https://www.heise.de/tp/features/Folter-und-Hinrichtungen-AI-erhebt-schwere-Vorwuerfe-gegen-syrische-Regierung-3619601.html
[11] https://www.taz.de/Berichte-von-syrischen-Folteropfern/!5406173/
[12] https://www.taz.de/Berichte-von-syrischen-Folteropfern/!5406173/
[13] https://heimathafen-neukoelln.de/spielplan?url=DieNSUMonologe
[14] http://www.nsu-tribunal.de/