Müssen die Grünen fürchten, unter die 5-Prozent-Hürde zu fallen?

Das Ende eines künstlichen Hypes um eine Partei, die eigentlich keiner braucht – ein Kommentar

Jüngere Zeitgenossen werden es für Fake-News halten. Doch vor knapp 15 Jahren haben die damaligen Spitzenpolitiker einer Partei namens FDP auf Talkshows durch auffällige Schuhsohlen für Spott und Aufmerksamkeit gesorgt. Dort prangte die Zahl 18[1]. Das war die Marge, mit der die damaligen Vorturner der Liberalen in den Bundestag einziehen wollten.

Das Duo hatte sich das Ziel gesetzt, nicht mehr Funktionspartei von Union oder SPD sein zu wollen. Vielmehr wollten sie als dritte eigenständige Kraft Sozialdemokraten und Konservativen Paroli bieten. Sogar eine eigene Kanzlerkandidatur der Liberalen war im Gespräch. Möllemann hatte wahrscheinlich das Beispiel Österreich vor Augen, wo damals Jörg Haider mit einem scharfen Rechtskurs die FPÖ tatsächlich in die Liga der führenden Parteien hievte. Möllemann stürzte im buchstäblichen Sinne ab und wurde kein Berliner Haider.

Doch 7 Jahre späte spukte das Projekt 18 Prozent[2] weiter in den Köpfen mancher FDP-Politiker. Die Geschichte ist darüber hinweggegangen. Westerwelle und Möllemann sind tot und die FDP ist derzeit nicht im Bundestag vertreten. Wenn sie es beim nächsten Mal wieder schafft, wird sie sehr wahrscheinlich wieder zu der Funktionspartei zwischen SPD und Union.

Das ist das eigentlich Interessante, glaubt man den Prognosen nach der Wahl von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten. Das Zweiparteien-System, das die Nachkriegsordnung nach 1945 in Westberlin dominierte, hat auch heute noch immer eine gewisse Stabilität.

Das ist schon deshalb erstaunlich, weil dieses Modell in Ostdeutschland keine Grundlage hat. Dort hatte auf der sozialdemokratischen Seite die PDS in den 1990er Jahren die Rolle einer sozialen Volkspartei übernommen. In manchen Regionen eroberten Rechtsaußen-Gruppierungen die Hegemonie als sozialrassistische Heimatparteien.

Das klassische Modell mit zwei hegemonialen Parteien, an denen sich die kleineren Parteien auszurichten haben, wird schon seit Jahrzehnten als Auslaufmodell gehandelt. Doch wer ist der Rammbock, der es zum Einsturz bringen kann? Vor 5 Jahren wurde kurze Zeit die Piratenpartei gehandelt[3]. Doch deren Hype war bereits vorüber, bevor sie überhaupt in den Bundestag einzog.

Als Zeugnisse des kurzen Hypes der Piratenpartei sind noch einige Landtagsmandate übriggebliebenen, die bei den nächsten Wahlen verschwinden werden. Lediglich in dem Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg konnte eine Piratenpartei als undogmatische Linke überleben.

Auch die Grünen haben seit Jahren den Drang, das Zwei-Parteien-System zu durchbrechen. Sie wollen nicht mehr Funktionspartei sein, sondern wie es im Politsprech so schön heißt, mit SPD und Union auf Augenhöhe verhandeln. Dass die Grünen ausgerechnet im strukturkonservativen Baden-Württemberg einen ersten Ministerpräsidenten stellen und der auch noch bei den folgenden Wahlen bestätigt wurde, hat die grünen Blütenträume gesteigert.

Die Wochenend-Taz entwickelte sich zum Sprachrohr dieser Strömung. Der Journalist Peter Unfried veröffentlichte in den letzten Monaten zahlreiche Beiträge, in denen er den Grünen Ratschläge gab, wie sie von Funktionspartei zur führenden Kraft werden und dann den sozialökologischen Umbau vorantreiben könnten. Mit diesem Begriff wird eine kapitalistische Regulationsphase bezeichnet, die sich vor allem auf erneuerbare Energie und neue Technologien stützt.

Im Diskurs von Unfried und seinen Anhängern soll Deutschland Motor dieses sozialökologischen Umbaus in Europa und auch darüber hinaus werden. So wird versucht, einen grünen Standortnationalismus zu kreieren, der vor allem in der letzten Zeit einen betont antirussischen Einschlag bekommen hat. Die Nato wird nicht mehr wie in der Frühphase der Grünen in Frage gestellt, sondern soll im Gegenteil gegen Russland einsatzbereit gehalten werden.

Mit dem Diskurs des Aufstiegs der Grünen zu einer mit Union und SPD ebenbürtigen Partei ist also ein expliziter Rechtskurs der Parteien verbunden. Doch das waren vor allem Papierdiskurse, die in der Taz und einigen anderen Medien geführt wurden. In der politischen Praxis hat sich immer gezeigt, dass die Grünen mit der Ausnahme von Kretschmann eine Funktionspartei blieben. Selbst in Berlin scheiterten[4] sie 2011 mit dem Versuch, mit Renate Künast zur Regierenden Bürgermeisterin zu machen.

Nach den Prognosen der letzten Wochen sind sie nun näher an der Fünf-Prozent-Hürde als den angestrebten 20 Prozent[5]. Der Niedergang in den Prognosen hat sich schon lange vor Schulz‘ Antritt für die SPD abgezeichnet, aber wurde durch den noch verschärft. Schließlich hatten sich die Grünen ja schon auf eine Allianz mit der Merkel-Union eingerichtet, was für sie Sinn machte, wo es scheinbar keine Alternative zu Merkel auf der politischen Ebene gab und die Parole „Merkel muss weg“ von AfD und Pegida vertreten wurde.

Nun könnte mit Schulz tatsächlich ein SPD-Herausforderer Merkel ablösen und die Grünen müssen sich fragen, ob sie wieder Juniorpartner der Sozialdemokraten werden wollen. Für Unfried und Freunde ist das ein Greuel. Dagegen machen sie seit einigen Wochen mobil.

Doch der Hype, den Schulz bei der Sozialdemokratie und darüber hinaus ausgelöst hat, hat wenig mit realen Alternativen zur Merkel-Politik zu tun. Vielmehr versteht er es anscheinend, zumindest vorübergehend, ehemalige SPD-Wähler für ihre Partei zurückzugewinnen. Manche sprechen davon, dass er wieder Vertrauen zurückgewinnt. Doch das ist schon mal eine unbewiesene Behauptung.

In einer politischen Atmosphäre, wo grundlegende Inhalte nicht mehr bei Wahlen verhandelt werden und kein Sozialdemokrat nur einen Steuersatz für Unternehmen, wie er noch bei der Regierung Helmut Kohl bestand, mehr zu fordern wagt, ist eine Stimme für die SPD weniger eine Frage des Vertrauens, sondern die Frage nach dem Ausprobieren eines neuen Produkts. Die Wähler handeln wie Kunden, die im Supermarkt eine neue, besonders angepriesene Zahnpasta kaufen. Man probiert was Neues aus, hat aber keine besonderen Erwartungen daran. Die theoretischen Prämissen legte der Politologie Johannes Agnoli bereits 1967, als er das damals viel beachtete Buch „Transformation der Demokratie[6] verfasste.

Zu den wichtigsten Aspekten dieses Versuchs, den Kapitalismus stabil zu machen und politisch zu sichern, gehören: a) die Auflösung der Klasse der Abhängigen in einem pluralen System von Berufskategorien. Sie erwies sich schon in der faschistischen Fassung als geeignet, der objektiven Polarisierung der Gesellschaft von der subjektiven, organisatorischen und bewußtseinsmanipulativen Seite her entgegenzutreten. Dem organisierten Kapitalismus stehen hier wirksamere Mittel zur Verfügung als dem früheren Konkurrenzkapitalismus. Und aus den Fehlern des faschistischen Pluralismus hat der demokratisch genannte schließlich auch gelernt.

b) In der staatlichen Reproduktion der Gesellschaft schlägt dies um in die Formalisierung der Parteienpluralität. Gemeint ist, dass zwar mehrere, den Herrschaftstendenzen nach allerdings am besten zwei Parteien um den Machtanteil konkurrieren, die einzelnen Parteien dabei aber weitgehend sich angleichen. Sie verzichten darauf, konkrete gruppen- oder klassengebundene Interessen zu vertreten, werden zur allgemeinen Ausgleichsstelle und stehen in einem nach außen hin unterschiedslosen Austauschverhältnis mit allen realen Gruppen und allen idealen Positionen ausgenommen die an Strukturveränderungen interessierten Gruppen und die revolutionären Ideen. Solche Parteien trennen sich von der eigenen gesellschaftlichen Basis und werden zu staatspolitischen Vereinigungen: zu den Amtsträgern des staatlichen Ausgleichs.

Johannes Agnoli

Darin hat sich auch 50 Jahre nach der Abfassung des Traktats in Deutschland wenig geändert, auch in den USA ist es nicht gelungen, die Dualität Demokraten versus Republikaner zu überwinden. Das ist auch der Grund dafür, dass Bernie Sanders den dringenden Aufrufen seiner jüngeren, aktionistischeren Anhänger nicht nachgekommen ist und sein Wirkungsfeld nicht außerhalb der großen Parteien verlegt.

Agnoli hat noch in den 1980er Jahren die sich damals noch als Protestpartei gerierenden Grünen mit in sein Modell der Einheitspartei einbezogen. Auch damit kann er sich posthum bestätigt sehen.

Natürlich muss neuen Produkten im Supermarkt genauso wie am Politmarkt ein Markenkern, etwas Unverwechselbares, angedichtet werden. Wenn diese Erzählung dann funktioniert, läuft das Produkt gut.

Der Berliner Journalist Rainer Balcerowiak hat in der Edition Berolina ein gut lesbares Buch veröffentlicht, das einen Begriff kritisch unter die Lupe nimmt, der im anstehenden Wahlkampf eine zentrale Rolle spielten dürfte. Es geht um den Begriff Reform. Mit dem Titel „Die Heuchelei von der Reform“[7] macht der Autor schon deutlich, dass er das ganze Reformgerede für Ideologie hält. Er macht einen Exkurs bis zu den Römern, als es auch schon Reformbedarf gab. Sehr gut zeichnet der Autor nach, wie der Begriff einen neuen Bedeutungsgehalt bekommen hat.

Noch in der Ära Willi Brandt trugen Reformen dazu bei, das Leben vor allem von Lohnabhängigen zu verbessern, es war also klassisch sozialdemokratische Politik. Doch schon in der Ära seines Nachfolgers Helmut Schmidt wurden Reformen zum Schrecken für die Subalternen. Der Begriff Reform wird seit mehr als drei Jahrzehnten häufig dann verwendet, wenn einst erkämpfte Rechte auf dem Arbeits- oder Rentensektor, im Bereich von Wohnungen und Mieten abgebaut und diese Bereiche den Interessen der Wirtschaft unterworfen wurden. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war die Agenda 2010, die Gerhard Schröder und Co. als Reform verkauften.

Balcerowiak findet erfreulich klare Worte, wenn er davon spricht, dass mit den Hartz-Gesetzen neben der politisch gewollten Verarmung eine „Unterwerfung unter ein bisher für unmöglich gehaltenes Kontroll- und Repressionssystem“ verbunden war. Nun gehörte Martin Schulz immer zu den Befürwortern der Reform, die er jetzt auch nicht abbauen, sondern nur an einigen Punkten modifizieren will. Weder will er Sanktionen aufheben, wie es Erwerbslosengruppen und soziale Initiativen seit Jahren fordern, noch will er die Politik der Verarmung abschaffen. Doch schon für die vage Ankündigung von Modifizierungen beim Hartz IV-Regime hagelt es Kritik von Wirtschaftsverbänden, der Union und auch Teilen der Grünen[8]. Balcerowiak hat in einem Kapitel den Mythos vom Reformlager, das angeblich bei den kommenden Wahlen im Angebot sei, gut gekontert und vor allem aufgezeigt, dass die Grünen als neoliberale Partei gut mit der FDP harmonieren.


https://www.heise.de/tp/features/Muessen-die-Gruenen-fuerchten-unter-die-5-Prozent-Huerde-zu-fallen-3635441.html

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-3635441

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.n-tv.de/politik/Westerwelle-fuer-Projekt-18-article118035.html
[2] https://www.welt.de/politik/article3188102/Projekt-18-Westerwelles-Albtraum-ist-zurueck.html
[3] https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article106242600/Hoehenflug-der-Piraten-gebremst.html
[4] http://www.welt.de/politik/wahl/berlin-wahl/article13539983/Wie-sich-Renate-Kuenast-in-Berlin-vergaloppiert-hat.html
[5] https://philosophia-perennis.com/2017/01/31/gruene-historischer-tiefstand/
[6] http://copyriot.com/sinistra/reading/agnado/agnoli06.html
[7] http://buch-findr.de/buecher/die-heuchelei-von-der-reform/
[8] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-02/wahlkampf-gruene-kritik-martin-schulz-acht-punkte-plan

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Aus diesen Beitrag zitierte der in den Artikel erwähnte Taz-Kommentator Peter Unfried ohne Quellengabe:

„Wie ich lese, plane ich außerdem einen sozialökologischen Umsturz, also eine „kapitalistische Regulationsphase, die sich vor allem auf erneuerbare Energie und neue Technologien stützt“. Schlimm. Und als ob das nicht schon genug wäre: Wer steckt hinter dem perfiden Plan, eine schwarz-grüne Bundesregierung zu installieren? Sie ahnen es.“
Hier geht es zum vollständigen Kommentar:
https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5398162&s=&SuchRahmen=Print/

Antworten auf AfD-Parolen gesucht

»Die einzige Partei, die gegen die Islamisierung Deutschlands aufbegehrt, ist die AfD.« In einer Art Rollenspiel liest eine Frau diesen Satz vor. Eine andere muss schnell eine Antwort darauf finden. »Was heißt eigentlich Islamisierung?«, stellt sie die Gegenfrage. In dem Rollenspiel ging es darum, rechtspopulistischen Statements schnell und überzeugend entgegenzutreten. Es war Teil der Berliner Regionalkonferenz der Initiative »Aufstehen gegen Rassismus – Keine AfD im Bundestag« am Samstagnachmittag in der ver.di-Bundesverwaltung.

Ziel der rund 80 Teilnehmer war es, Ideen zu sammeln, um im Wahljahr den Einzug der Rechtsaußenpartei in den Bundestag zu verhindern. Dazu zählt neben der aktiven Diskussion mit potenziellen AfD-Wählern auch die kritische Begleitung von Veranstaltungen der Partei beispielsweise mit Kulturbeiträgen und Konzerten. Die Teilnehmer beschlossen zudem, sich am Protest gegen den AfD-Bundesparteitag in Köln zu beteiligen.

Eine wichtige Rolle wurde auf der Aktionskonferenz auch den Gewerkschaften zugesprochen. Anwesende Gewerkschaftsaktivisten stellten selbstkritisch Schwächen ihrer Arbeit fest. So falle es den Gewerkschaften schwer, mit prekär Beschäftigten in Kontakt zu kommen. Schließlich gelte, »das Bündnis lebt von der Mitarbeit aller«, erklärte ver.di-Sekretärin Jana Seppelt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1043062.antworten-auf-afd-parolen-gesucht.html

Peter Nowak

Muss ein Journalist bei der Springerpresse arbeiten, um so viel Solidarität zu bekommen?

Deniz Yücel – Wie ein linker Journalist mittig gemacht werden soll

„Diesen Mann kann man nicht wegsperren“, heißt es in einer Kolumne[1] der Zeit. „Free Deniz Yücel“, heißt es auf Plakaten am Taz-Café. Es hat selten eine so schnelle und wahrnehmbare Unterstützung für einen Gefangenen gegeben wie im Fall des in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel[2].

Mit dem „Free Deniz Yücel“-Auto-Korso[3] wurde auch das Protestrepertoire erweitert und mancher islamisch-nationalistische Erdogan-Fan ganz schön geärgert.

Diese Solidarität ist sehr zu begrüßen und manche, die Yücels Andocken beim Springerkonzern missfiel, können die Entscheidung zumindest nachvollziehen. Wenn es aus seinem persönlichen und kollegialen Umfeld heißt, es sei schon lange sein Ziel gewesen, als Auslandskorrespondent in der Türkei zu arbeiten, dann ist das unter dem Dach von Springers Flaggschiff „Die Welt“ zwar ebenfalls risikant, wie sich gezeigt hat, aber es schafft doch schnell ein gewaltiges Echo und eine große Solidarität.

Es gibt viele „Deniz Yücels“, die nicht für die Welt arbeiten und deren Verhaftung häufig kaum wahrgenommen wird. Gemeint sind Journalisten, die wie Yücel die deutsche und türkische Staatsbürgerschaft besitzen, im Besitz eines Presseausweises sind und in der Türkei verhaftet werden. Im Unterschied zu Yücel schreiben sie für Medien der türkischen oder kurdischen Linken, die eine begrenzte Auflage haben, und sie werden immer wieder Zielscheibe der Repression.

Bereits in den 1990er Jahren, also noch lange vor Antritt der islamistisch-konservativen AKP-Regierung, waren zwei linke deutsch-türkische Journalisten über längere Zeit in türkischen Gefängnissen verschwunden. Sie haben für kleine linke Zeitungen gearbeitet und wurden beschuldigt, Mitglieder von linken Organisationen zu sein, die sie gar nicht kannten. Eine Solidaritätskampagne konnte es für sie gar nicht geben, weil die Öffentlichkeit gar nichts von ihrer Festnahme erfahren hatte.

Als sie schließlich nach längerer Haft freigelassen wurden und die Türkei verlassen konnten, stießen sie in Deutschland auf Unverständnis und Unglauben. Dort wurde ihnen vorgehalten, wenn sie so lange in einem Gefängnis gesessen haben, müsse ja an den Vorwürfen was dran sein. Sie und ein kleiner Kreis von Vertrauten wendeten sich dann an Pressevertreter.

Auch dort mussten sie immer wieder den Verdacht ausräumen, Mitglieder der Organisationen zu sein, was ihnen von der türkischen Justiz zum Vorwurf gemacht worden war. Einer der beiden Journalisten sprach davon, dass er sich schon nach der Festnahme in einem Roman von Kafka wähnte und das Gefühl habe nicht nachgelassen, als er wieder in Deutschland war.

Statt Solidarität und Unterstützung zu erfahren, wurden sie mit Misstrauen konfrontiert und mussten sich weiter verteidigen. Es gab schließlich einige Artikel über das Schicksal der beiden deutsch-türkischen Journalisten in einer Zeitung der für Medien zuständigen Gewerkschaft und in einigen kleineren Publikationen. Natürlich war ihr Fall so auch nur in kleinen Kreisen bekannt und ist heute auch im Internet kaum aufzufinden.

Die beiden Journalisten waren aber keine Ausnahmen. Deutsch-türkische Linke wurden schnell in die Terrorismusecke gestellt. Allenfalls als Kurden hatten sie einen gewissen Bonus, weil von denen bekannt war, was auch der gemeine deutsche Journalist wusste, dass sie nämlich öfter protestieren.

Wer glaubt, dass solche Debatten heute der Vergangenheit angehören, wurde dann in der FAZ mit einer Debatte konfrontiert, ob Deniz Yücel der richtige Mann in der Türkei gewesen ist. Unter dem Titel Einmal Türke, immer Türke[4] stellte FAZ-Autor Michael Martens ausgerechnet am Fall von Yücel die Entsendepolitik deutscher Medien infrage.

Zunächst führt er zwei Beispiele an, wo Journalisten mit türkischem Hintergrund für große deutsche Zeitungen aus der Türkei berichten. Neben Yücel für die Welt schreibt Özlen Topku für die Zeit[5]. Dann stellt Mertens die Frage:

Warum reduzieren deutsche Verlage die Kinder oder Enkel türkischer „Gastarbeiter“ so oft auf die Rolle von Türkei-Erklärern? Weil sie Türkisch sprechen? Hoffentlich nicht, denn es gibt viele Menschen, die die Sprache eines Landes gut beherrschen und das Land dennoch oder just deshalb fließend missverstehen. Enge emotionale oder gar familiäre Verbundenheit mit einem Land muss kein Vorteil sein, wenn man über das Land berichtet.

FAZ-Autor Michael Martens

Danach folgt eine Passage, die gleich in zweifacher Hinsicht eigenartig ist:

Topcu schreibt über ihren Freund Yücel, der sei „einer, der die Türkei liebt“. Natürlich darf man die Türkei, Deutschland, Nordkorea oder Hintertupfingen „lieben“ – aber ist es gut, ein Land zu lieben, über das man berichtet? Gilt da nicht weiterhin der schöne Satz Gustav Heinemanns, der sagte, er liebe keine Staaten, er liebe seine Frau? Schon Nietzsche hatte in diesem Sinne geraten, man solle Völker weder lieben noch hassen.

FAZ-Autor Michael Martens

Es wäre in der Tat besser für die Medien und die Welt, wenn die Menschen Menschen und nicht Länder und Nationen lieben. Doch dann sollte Mertens mal in seinem Blatt eine Umfrage machen, wie viele seiner Kollegen erklären, Deutschland nicht zu lieben. Bei den meisten der FAZ-Kommentare trieft der Patriotismus aus jeder Zeile. Bei anderen großen Zeitungen sieht es nicht viel besser aus.

Da bleibt von Mertens starkem Appell der Vaterlandslosigkeit von Journalisten nur übrig, in deutschen Zeitungen sollten gefälligst auch Deutsche über die Türkei berichten. Nicht dass uns da auch die Türken noch reinreden. Deniz Yücel wird von Mertens erst zum Türken gemacht.

Denn es ist eigentlich zu erwarten, dass sich Deniz Yücel auch als deutscher Staatsbürger qua Pass weiter als der Kosmopolit versteht, als welcher der in der antideutschen Antifa sozialisierte Journalist in der Wochenzeitung Jungle World und später auch in der Taz bekannt geworden ist. Ihm muss man also nicht erst mit Gustav Heinemann kommen, um ihm klar zu machen, dass Vaterlandsliebe eigentlich dumm ist.

Es ist zu hoffen, dass Yücel mit dem Wechsel seines Auftraggebers nicht seine antinationale politische Gesinnung an der Eingangspforte des Springerkonzerns abgegeben hat.

Es ist auffällig, dass in der „Free Deniz Yücel“-Kampagne genau diese linke Sozialisation des Journalisten eher kleingeredet wird. Auch Topcus‘ wohl gutgemeinte Aussage, dass Yücel die Türkei liebe, gehört zu diesem Bemühen, Yücel in die Mitte der Gesellschaft zu rücken.

Damit aber wird unterschlagen, dass er mit seiner Verhaftung das Schicksal vieler Kollegen teilt, die eben auch links von der Mitte sind, ob in der Türkei oder in Deutschland. Nicht nur Journalisten mit türkischen Pass verloren für den Kampf um die Rechte von Unterdrückten sogar ihr Leben. Fast vergessen ist die Ermordung der Journalistin Lissy Schmidt[6] im Jahr 1994 in Kurdistan.

Sie schrieb für die Frankfurter Rundschau über den türkischen Staatsterror, als an Erdogan noch niemand dachte und die Türkei mit ihrem Terror auch völlig im Einklang mit Deutschland und der EU lag. Lissy Schmidt konnte nicht „mittig“ gemacht werden. Ihre Artikel, ihr Leben[7] hätten das auch nicht zugelassen.

Auch Deniz Yücel hat es nicht verdient, in diese deutsche Mitte eingemeindet zu werden, welche die Türkei vor allem deshalb kritisiert, weil der Bosporus unter der Herrschaft der Islamkapitalisten mehr sein will als die Pforte der Deutsch/EU, die ihr Berlin zubilligen will.

Daher wäre es auch ganz im Sinne des verhafteten Journalisten, wenn all die Kolleginnen und Kollegen mitgenannt werden, die Repressalien erleiden müssen, die aber kaum wahrgenommen werden, weil sie nicht bei der Springerpresse arbeiten und so für die deutsche Mitte nicht akzeptabel sind.



https://www.heise.de/tp/features/Muss-ein-Journalist-bei-der-Springerpresse-arbeiten-um-so-viel-Solidaritaet-zu-bekommen-3634580.html

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-3634580

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.zeit.de/kultur/2017-02/deniz-yuecel-festnahme-tuerkei-migranten-journalismus-hate-poetry-deutschstunde
[2] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/welt-journalist-deniz-yuecel-in-der-tuerkei-verhaftet-14890778.html
[3] http://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2017/02/autokorso-fuer-journalist-deniz-yuecel-berlin.html
[4] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kommentar-einmal-tuerke-immer-tuerke-14885078.html
[5] http://www.zeit.de/autoren/T/Oezlem_Topcu/index.xml
[6] https://www.medico.de/die-ermordung-der-lissy-schmidt-13754/
[7] http://www.videowerkstatt.de/nc/europa/detailseite_europa/artikel/lissy-schmidt

Die Kritik bleibt weg

URTEIL

Polizei muss ein von ihr übermaltes kritisches Wandbild nicht wieder herstellen

Den Prozess hat der Antirassist Sebastian F. vor dem Berliner Verwaltungsgericht in der Sache verloren. Doch politisch hat er ihn trotzdem gewonnen: Der seit Jahren gegen Rassismus aktive F. hatte die Polizei wegen der Zerstörung eines politischen Wandbildes im Jahr 2014 verklagt. Am Donnerstag wurde das Urteil gefällt. Das Bild war zum zehnten Jahrestag des neonazistischen Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße an einer Häuserwand in der Kreuzberger Manteuffelstraße angebracht worden. „9. 6. 2004 Terroranschlag: Danach Ermittlungsterror gegen die Betroffenen – NSU: Staat und Nazis Hand in Hand“, lautete seine Inschrift. Schon kurze Zeit später rückten Polizei und Feuerwehr und übermalten einen Teil des Schriftzugs.

Keine Entschuldigung

Die Polizei sah in der Parole „NSU: Staat und Nazis Hand in Hand“ eine Verunglimpfung des Staates. Dabei hatte auch das Berliner Landeskriminalamt (LKA) in dem Schriftzug keinen Straftatbestand erkennen können. Mit der Klage wollte Sebastian F., unterstützt von der Antirassistischen Initiative (ARI), die Berliner Polizei zur vollständigen Wiederherstellung des zerstörten Wandbildes am ursprünglichen Ort verpflichten. Das lehnte das Verwaltungsgericht am Donnerstag allerdings ab. Die Begründung: Das ursprüngliche Plakat sei nicht mehr vorhanden. Zuvor hatte die Polizei in einer Erklärung vor Gericht eingeräumt, dass sie mit der Zerstörung des Wandbildes rechtswidrig gehandelt habe. Entschuldigt hat sich die Behörde dafür allerdings nicht. Immerhin gibt’s neue Farbe. Die Kosten für Farbe und Material des Wandbilds sollen dem Kläger nun erstattet werden. Doch ob damit der Rechtsweg zu Ende ist, bleibt offen. Der Kläger will nach Eingang der Urteilsbegründung weitere juristische Schritte prüfen. „Würde die Polizei zur Wiederherstellung des Wandbildes verurteilt werden, wäre das ein öffentliches Zeichen, ähnlich wie eine Gegendarstellung im Presserecht“, erklärte Rechtsanwältin Anna Luczak, die den Kläger vor Gericht vertreten hat, gegen über der taz.

TAZ.DIE TAGESZEITUNG,  FREITAG, 24. FEBRUAR 2017

PETER NOWAK

»Nicht aufmuksen«

»Georbeit’ hamma viel.« Dieser Satz ist der rote Faden der 1988 von der österreichischen Historikerin Ingrid Bauer veröffentlichten Studie über die Zigarettenarbeiterinnen im Städtchen Hallein im Salzburger Land. Der Verlag »Die Buchmacherei« hat mit der Neuauflage ein Zeitdokument der Frauengeschichte wieder zugänglich gemacht. Im Zentrum von Bauers Interviews stehen 18 Frauen aus Hallein. Zwölf von ihnen ­haben von 1921 bis zur Schließung 1940 in der Zigarettenfabrik ge­arbeitet. Die in österreichischem Dialekt belassenen Interviewpassagen und die Erläuterungen von Bauer ermöglichen einen Einblick in das ­Leben einer Frauengeneration, das hauptsächlich aus Unterordnung, Demut und viel Arbeit bestand. Schon in jungen Jahren mussten sie zu Hause mit anpacken und sich später als Bedienstete bei reichen Leuten verdingen. Daher empfanden viele die ­Arbeit in der Zigarettenfabrik als Befreiung. In den Gesprächen wird der Stolz deutlich, für ihre Arbeit entlohnt zu werden und sich mit ihren Kolleginnen austauschen zu können. Dabei ging es auch um damals tabuisierte Themen wie Schwangerschaftsverhütung. Noch 50 Jahren später ­erinnern sich die Frauen an kleine Akte der ­Solidarität in der Fabrik und als Höhepunkt an den kurzen Streik ­gegen den Austrofaschismus 1934. Es war ein kurzes Intermezzo des Widerstands. Die Zusammenarbeit des Unternehmens mit dem national­sozialistischen Regime ist gut dokumentiert. Wurden die Frauen in den Interviews jedoch dazu befragt, seien sie ausgewichen, so Bauer. »Nicht aufmuksen« war die Devise. Eine der wenigen Ausnahmen ist die kommunistische Gewerkschafterin Agnes Primocic, über deren ­widerständiges Leben ein Dokumentarfilm informiert, der auf einer DVD dem Buch beigelegt ist.

http://jungle-world.com/artikel/2017/08/55786.html

Peter Nowak

Ingrid Bauer, Tschikweiber haus uns g‘nennt…“, Die Zigarettenarbeiterinnen von Hallein, Die Buchmacherei Berlin 2015, 325 Seiten, 20 Euro, ISBN: 978-3-00-049940-1

»Wir erlauben uns die Freiheit…«

– Neuer Film mit Originaldokumenten aus der Zeit der Autonomia“  in Italien

„Ich habe diesen Film gemacht, damit die ArbeiterInnen, die die Kämpfe führten,  nicht vergessen werden“, erklärte Pietro  Perroti bescheiden nach einer besonderen Filmpremier, auf der  über 300 Menschen in Berlin ein besonderes Dokument der  ArbeiterInnenbewegung gesehen haben. „Wir brauchen keine Erlaubnis“, lautet der programmatische Titel eines Films, der eine subjektive Geschichte der bewegen Jahre der ArbeiterInnenautonomie in den Jahren 1969 bis 1980  bei Fiat in Turin zum Thema hat.  Ohne Pietro Perroti wäre der Film nicht entstanden.  Als junger Arbeiter zieht er wie viele von Süditalien nach Turin, um bei Fiat zu arbeiten. Wie viele seiner KollegInnen wird er dort politisch aktiv und  kommt bald nicht nur mit dem Fabrikmanagement, sondern auch mit den klassischen Gewerkschaften in Konflikt, die die ArbeiterInnen vertreten wollen und mit  dem Engagement und dem Selbstvertrauen der jungen ArbeiterInnen wenig anfangen können. Denn diese wollten  sich keine Erlaubnis einholen, wenn sie aktiv werden wollen, weder vom Boss, noch von den VorarbeiterInnen noch von der Gewerkschaftsbürokratie.  So begann ab 1969 ein Jahrzehnt der Streiks, Besetzungen und Kämpfe, die Perroti mit einer kleinen Kamera  dokumentierte.
Dieses  wichtige Zeugnis  eines ArbeiteInnenaktivismus , an der sich Zehntausende über Jahre beteiligten, wurde nun auf Deutsch untertitelt.    Viele  der Beschäftigten kamen wie Perroti aus Sizilien   und gerieten mit den Normen des rigiden Fabrikregimes bei FIAT in Konflikt. „Immer wieder wurden Kollegen  beim Verlassen der Fabrik von Aufsehen kontrolliert, nur die Haare zu lang schienen. Überall  waren Zäune wie im Gefängnis, “ erinnert sich Perroti. Das von ihm kreierte Symbol eines von starken Arbeiterfäusten auseinandergedrückten Zauns war häufig zu sehen.  Perroti dokumentiert  den Aufschwung der Bewegung, als die Bosse in der Defensive waren und  Zugeständnisse machen mussten. Deutlich wird aber auch die politische Breite, die nicht konfliktfrei war. Während UnterstützerInnen der  sich damals schon staatstragend gebenden Kommunistischen Partei ihren Vorsitzenden bei einer Rede zu jubelnden, setzten viele linke Gruppen auf die Selbstorganisation. .  Ende der 1970er Jahre schlugen Staat und Konzernleitung zurück. Während die Justiz zunehmend auch gewerkschaftliche Kämpfe verfolgte, wollte das FIAT-Management mit Massenentlassungen die Ordnung im Betrieb wieder herstellen. Höhepunkt war          ein von ihnen gesponserter Marsch der sogenannten „Schweigenden Mehrheit“. Mit italienischer Flagge vorneweg  demonstrierten sie für das Ende der Arbeitskämpfe. Hier wurde  die historische Niederlag der Turiner ArbeiterInnenaktivisten   besiegelt.  Viele der Beteiligten  wollten mit Politik nichts mehr zu tun haben Doch Perroti distanziert sich nicht von den Utopien und Idealen, die die Bewegung prägte.  Das war auch der Grund, warum  er die Aufnahmen, die jahrelang im Schrank lagen, doch noch zu einem Film verarbeitete. Das wäre ohne die Unterstützung  des Istoreco Institut Reggio Emilia nicht möglich gewesen. Er zeigt auch, welche  künstlerischen Mittel die ArbeiterInnen bei ihren Aktionen einsetzen. So wurden auf Demonstrationen große Gummipuppen getragen, die die Fiat-Chefs darstellen und karikieren sollten. Später verlagerte sich der Protest auch an die Toilettenwände. Einige der frechen Sprüche gegen Management, VorarbeiterInnen und später auch StreikbrecherInnen werden im Film gezeigt.  Der Film ist aber nicht nur von  historischem Interesse. In der Diskussion nach der Berliner Premiere erinnerte ein Zuschauer  auf die aktuellen Arbeitskämpfe im Logistiksektor Norditaliens.
Peter Nowak

Wir brauchen keine Erlaubnis, von Pietro Peretti und Pier Milanese, Original mit deutschen Untertieln, 87 Minuten

Informationen und Bezug über: htpps://senzachiederepermesso.org/ Email: WirbrauchenkeineErlaubnis@gmx.de

http://www.labournet.de/express/

express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

Ausgabe: Heft 01-02/2017


Warum überlässt man es Trump, die Nato für obsolet zu erklären?

Am Ende waren sich alle einig, dass weiter aufgerüstet werden muss

„Die Nato braucht immer eine Herausforderung, um ihre Kräfte gut zur Geltung zu bringen.“ Dieses unfreiwilligenehrlichen Satz sagte[1] die entschiedene Nato-Befürworterin Jeanine Hennis-Plasschaert[2] auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende.

Das Statement der Politikerin sorgte kaum für große Diskussionen. Dabei ist hier die Erklärung für die Suche nach Konflikten, die notfalls propagandistisch aufgeblasen werden. Sie schaffen den inneren Zusammenhalt und verhindern, dass sich jemand die einfache Frage stellt, warum es nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Vertrags die Nato überhaupt noch gibt. Schließlich gingen noch in Zeiten des Umbruchs viele davon aus, dass die Nato nun, wo ihr der Gegner abhanden gekommen war, obsolet geworden sei.

Lange bevor ein entsprechendes Trump-Zitat für Furore und viele Deutungsansätze hervorrief, gab es eine große Antikriegsbewegung, die die Nato für überflüssig erklärte. Auch in den Programmen der Grünen der 1980er Jahre war die Forderung nach der Auflösung der Nato enthalten. Linke Sozialdemokraten und Gewerkschaften argumentierten ähnlich und verwiesen auf die hohen Kosten durch die Militärausgaben. Diese Forderungen waren am stärksten, als es noch einen Warschauer Vertrag gab. Man forderte damals, dass sich die beiden Militärblöcke auflösen und dadurch die Gefahr von Kriegen und militärischen Konflikten zumindest minimiert ist.

Im Jahr 2017 will kaum jemand daran erinnert werden. Gerade die heutigen Grünen wollen möglichst nicht daran erinnert werden, dass eine Partei gleichen Namens mal die Nato für obsolet erklärt hatte. Gerade die heutigen Grünen hyperventilierten besonders, als Trump sich in diesem Sinne äußerte, und waren mit die ersten, die darauf die Konsequenzen zogen, dass dann eben die von Deutschland dominierte EU die Speerspitze der neuen Nato sein müsste.

In der Linkspartei gibt es zumindest in der Programmatik noch die Beschlüsse gegen die Nato. Wie schnell sie aber bei einer möglichen rot-rot-grünen Koalition der Regierungslogik geopfert werden, wird zu beobachten sein. Jedenfalls ist klar, dass der Preis für das Mitregieren in Deutschland ein Bekenntnis zur EU und zur Nato, nicht unbedingt zur USA gehört.

Historische Amnesie und Reaktivierung der alten Bündnisse

Nun argumentieren die neuen Freunde der Nato mit der veränderten Sicherheitslage und verweisen vor allem auf die Rolle Russlands unter Putin. Russland präsentiert sich nicht mehr als die willfährige Mittelmacht, zu der sie unter Jelzin herabgestuft wurde. Doch selbst zu diesen Zeiten, kamen von der Nato keine Anzeichen, sich auflösen zu wollen. Insofern ist das neue Feindbild Russland vorgeschoben, um im Sinne der eingangs zitierten niederländischen Politikerin die eigenen Kräfte besonders gut zur Geltung zu bringen.

Zudem zeigt der Konflikt mit Russland auch, dass die Nato nach 1989 nicht zu siegen aufgehört hat. Man muss sich nur mal kurz vergegenwärtigen, dass sich Helmut Kohl 1990 nicht sicher war, ob er dem damaligen sowjetischen Präsidenten Gorbatschow das Zugeständnis abringen könne, dass auch auf dem Territorium der ehemaligen DDR Nato-Truppen stationiert werden können. Hinterher hat er das als besonderen Verhandlungserfolg hingestellt, und es gab wohl auch einen Plan B, wenn die russische Seite damit nicht einverstanden ist.

Heute steht die Nato nicht nur an der russischen Grenze, sondern sogar auf ehemals sowjetischem Territorium. Man braucht nur zwei Schlagzeilen der letzten Tage als Illustration dieses Nato-Durchmarsches heranzuziehen: „USA verlegen 1000 Soldaten zur Abschreckung nach Polen“[3] titelte NTV unter einem Foto, das US-Soldaten samt Flagge zeigen, als hätten sie gerade einen großen Sieg errungen. In der Oberüberschrift heißt es: „Litauen hofft auf Luftabwehr“. „Bundeswehr verlegt Panzer nach Litauen“[4] lautet eine Spiegel-Meldung dieser Tage, wo man Bundeswehrsoldaten vor den neuesten Militärgerät sieht. In dem Spiegel-Artikel heißt es lapidar:

Insgesamt wurden damit seit Mitte Januar bereits etwa 120 Container und 200 Fahrzeuge verladen. Die Bundeswehr führt in Litauen ein Nato-Bataillon zur Abschreckung Russlands. Litauen fühlt sich wie die beiden anderen baltischen Staaten und Polen durch den mächtigen Nachbarn Russland bedroht.

Der Spiegel

Vor 27 Jahren hätten es wohl selbst die Kritiker einer neuen deutschen Großmachtpolitik, die vor einem Vierten Reich warnten, kaum für möglich gehalten, dass die Bundeswehr wieder dort militärisch in Erscheinung tritt, wo ihre Vorläufer von der Wehrmacht erst mit großen Opfern vertrieben wurden.

Es wird auch kaum noch jemand darauf hinweisen, dass sich hier im Wesentlichen die alten historischen Bündnisse wieder reaktivieren. Denn die baltischen Staaten waren auch enge Verbündete der Wehrmacht, ließen sich auch Judenmorden von den Nazis nicht übertreffen und nach 1945 wollten sie keine Nazis gewesen, sondern nur gegen die sowjetische bzw. russische Aggression gekämpft haben. Deswegen werden auch immer noch SS-Angehörige in diesen Ländern geehrt.

Doch darüber macht man sich heute in Deutschland kaum noch Gedanken, wenn es um das neue Feindbild Russland geht. Es ist erstaunlich, dass auch bei kritischen Zeitgenossen eine historische Amnesie eingesetzt hat.

Man kann die Putin-Regierung kritisieren, ohne antirussische Töne anzuschlagen

Kritische Zeitgenossen verknüpfen die berechtigte Ablehnung des Putin-Regimes und die Unterstützung einer emanzipatorischen Opposition auch in Russland mit geostrategischen Interessen, reden von einer russischen Gefahr und befinden sich dann mit im Lager der Nato-Befürworter, die genau so argumentieren.

So wiederholt sich die Geschichte wieder einmal als Farce. Schon im Vorfeld des 1. Weltkriegs war es die geschürte Angst vor dem zaristischen Russland, die die anfangs militärkritische Sozialdemokratie ihren Frieden mit Staat und Militär machen ließ. Dabei war es damals wie heute nicht schwer, zwischen einer Ablehnung eines Regimes und einer Einreihung in eine antirussische Fronde zu unterschieden.

Wenn man emanzipatorische Oppositionelle in Russland unterstützen will und das sind in der Regel nicht die Liberalen, die wir hier immer präsentiert bekommen, sondern oft Anarchisten und Anhänger von Basisbewegungen, die hierzulande kaum bekannt sind und etwa in dem Buch „Isolation und Ausgrenzung als postsowjetische Erfahrung“[5] vorgestellt werden, braucht man nicht mit den neuen und alten Freunden der Nato heulen. Schließlich kommt man nicht in Verlegenheit, für das gleiche wie die Rechten einzutreten, die seit einigen Jahren Putin als ihren Hoffnungsträger erkoren haben und auch manchmal Transparente mit der Parole „Frieden mit Russland“ schwenken.

Die Rechten unterstützen Putins illiberale Gesellschaft. Eine linke Kritik an der antirussischen Kampagne hingegen würde auf einer antimilitaristischen Grundlage argumentieren und vor allem auch die Verbrechen der deutschen Wehrmacht anführen, um die Anmaßung der Deutsch-EU entgegenzutreten, wieder als Schutzmacht der einstigen Bündnispartner der Wehrmacht aufzutreten.

Gerne wird auch bei den neuen Freunden der Nato auf den Willen der osteuropäischen Staaten verwiesen, die sich von Russland bedroht fühlen. Auch hier wird unhistorisch argumentiert. In all diesen Ländern gab es vor allem nach der Oktoberrevolution Kräfte, die ein enges Bündnis mit der Sowjetunion anstrebten und Kräfte der Oberschicht, die mit Deutschland verbündet waren. Bis 1945 hatten sich Letztere blutig und mit vielen Repressalien durchgesetzt. Nach der Niederlage der Wehrmacht und ihrer Verbündeten trug der stalinistische Terror allerdings mit dazu bei, die prosowjetischen Kräfte in den Ländern nachhaltig zu diskreditieren. Ihre Gegner bekamen so wieder Oberwasser und setzen sich nach 1989 durch.

Nur ein Geschichtsbild, dass in all den Ländern die Sowjetunion nur als Aggressor sieht und alle innenpolitischen Differenzierungen ausblendet, dient vor allem den neuen Freunde der Nato als Vorlage, hat aber nichts mit den historischen Realitäten zu tun.

Die größten Grenzverschiebungen in Europa nach 1989 stärkten Deutschland und schwächten Russland

Anfang der 1990er Jahre argumentierten noch die Gegner dieser Entwicklung mit Rosa-Luxemburg-Zitaten gegen die Welle von Staatsneugründungen in Osteuropa. Heute scheint diese Kritik vergessen.

In Jugoslawien trug Deutschland mit seiner Anerkennungspolitik einzelner Staaten wie Slowenien und Kroatien mit neuen massiven Grenzverschiebungen in Europa bei. Am Ende war der Staat Jugoslawien, der sich historisch mit dem Widerstand gegen die deutsche Besatzung legitimierte, erledigt. Auch in diesem Fall stärkten die GrenzverschiebungenDeutschland und seine Verbündeten.

Die Grenzverschiebung, die durch die russische Annexion der Ukraine bewirkt wurde, liegt hingegen nicht im Interesse Deutschlands. Deshalb wird sie auch als die große Bedrohung hingestellt und die Nato kann sich damit umso besser legitimieren. Deutschland und die von ihm dominierte EU haben spätestens seit Trumps Regierungsantritt auch schon deutlich gemacht, dass sie notfalls auch ohne und gegen die USA die Führung in der Nato beanspruchen.

Dahinter verbergen sich unterschiedliche geopolitische Interessen beider Länder, die immer unzulässig personifiziert werden. Natürlich wird der erratische Charakter von Trump seinen Teil dazu beitragen, aber die Ursachen für die Konflikte sind unterschiedliche Interessen, über die nur kaum geredet wird. Das konnte man gerade im Vorfeld der Münchner „Sicherheitskonferenz“ beobachten. Alle Medien erweckten die Erwartung, dass sich dort klären wird, ob die neue US-Administration jetzt zur Nato steht oder nicht. Doch das stand gar nicht zur Debatte. Das Ergebnis war, dass sich alle Nato-Staaten auf die weitere Aufrüstung verständigten. Das fordert nicht nur die USA, das liegt auch ganz im Interesse der maßgeblichen Eliten der Deutsch-EU.

Hinter dem Nebelvorhang eines Konflikts zwischen Trump und anderen EU-Staaten wurde so die weitere Aufrüstung vorangetrieben. Die Nato-freundliche FAZ zog eine positive Bilanz: „Europas neue Liebe zum alten Verteidigungs-Bund“[6] Natürlich werden die Konflikte zwischen den USA und vor allem Deutsch-EU damit nicht ausgeräumt sein, weil ihre Grundlagen eben unterschiedliche Interessen sind. Doch bisher haben sie im Zweifelsfall als „Brothers in Crime“ gemeinsam kooperiert, beispielsweise in Osteuropa. Die USA zeigt in Polen Flagge, die Bundeswehr in Litauen – und so bleiben auch hier die alten Bündniskonstellationen gewahrt.

Doch der Konflikt EU versus Deutsch-EU, der schon älter ist und sich unter Trump zugespitzt hat, bedeutet keinesfalls das Ende der Nato. Im Zweifel würde Deutschland auch im internen Streit mit den osteuropäischen Verbündeten davon profitieren Auch hier gilt die Devise: „Die Nato braucht immer eine Herausforderung, um ihre Kräfte gut zur Geltung zu bringen.“

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https://www.heise.de/tp/features/Warum-ueberlaesst-man-es-Trump-die-Nato-fuer-obsolet-zu-erklaeren-3632354.html

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/sicherheitskonferenz/sicherheitskonferenz-2017-europa-besinnt-sich-auf-nato-wert-14885810.html
[2] http://www.jeaninegoeseurope.nl/
[3] http://www.n-tv.de/politik/USA-verlegen-Soldaten-nach-Polen-article19708766.html
[4] http://www.spiegel.de/politik/ausland/bundeswehr-verlegt-panzer-nach-litauen-a-1135689.html
[5] https://www.edition-assemblage.de/isolation-und-ausgrenzung-als-postsowjetische-erfahrung/
[6] http://www.faz.net/aktuell/politik/sicherheitskonferenz/sicherheitskonferenz-2017-europa-besinnt-sich-auf-nato-wert-14885810.html

„Das ist nicht nur ein historisches Thema“

GEDENKEN Werner Gutsche hat sein Leben lang zum antifaschistischen Widerstand in Neukölln geforscht. Nun ist ein Buch über ihn erschienen. Ein Gespräch mit dem Herausgeber Matthias Heisig

taz: Sie gehören zu den Mitherausgebern des Buches über Werner Gutsche. Was interessiert Sie an ihm?

Matthias Heisig: Ich habe ihn in der politischen Arbeit zur Zwangsarbeit beim Bau des Flughafens Tempelhof in der Nazizeit näher kennengelernt. Es war eine der vielen Initiativen, in denen Werner Gutsche in seinem langen politischen Leben aktiv war. Er war damals bereits 85 Jahre alt, doch man merkte ihm sein Alter nicht an.

Wie entstand die Idee zu dem Buch über Werner Gutsche?

Sie wurde von Freunden und Genossen bei seiner Beerdigung geboren. Wir wollten mit ihm einen Mann ehren, der über Jahrzehnte bis an sein Lebensende an zahlreichen politischen Aktionen beteiligt war. Neben dem Kampf gegen die Aufrüstung war der Antifaschismus ein roter Faden seines politischen Lebens. Werner Gutsche war Initiator von Forschungen und Ausstellungen über Widerstand und NS-Verfolgung im Bezirk Neukölln. Dafür wurde er 2004 mit der Neuköllner Ehrennadel geehrt.

Wie sind Sie bei den Forschungen zu dem Buch vorgegangen?

Für das Buch haben wir knapp vier Jahre ohne jegliche finanzielle Unterstützung geforscht. Werner Gutsche hatte keine Angehörigen und lebte allein. Doch er hatte langjährige Weggefährten und Freunde, die indem Buch zu Wort kommen. Ein wichtiger Schwerpunkt dabei ist die Geschichte des NS-Unrechts und des antifaschistischen Widerstands in Neukölln. Das war das große Thema in Werner Gutsches Leben. Er wollte das NS-Unrecht aufdecken, seien es die in Neukölln lange verschwiegenen Zwangsarbeitslager, die vergessenen SA-Folterstätten oder das verschmähte Erinnern an

den kommunistischen Widerstand.

Können Sie ein Beispiel für Gutsches Arbeiten nennen?

Im Buch ist ein Beitrag über Zwangsarbeit bei der Neuköllner Fabrik National Krupp zu finden. Es stammt aus Gutsches Nachlass und ist das Manuskript eines Textes, den er bei einer Berliner Friedens-Fahrrad-Tour im Jahr 2003 gehalten hat. Ein weiterer großer Schwerpunkt von Werner Gutsches Arbeit war die Erforschung der antifaschistischen Widerstands gruppe an der Rütli-Schule.

Spielte für Sie auch eine Rolle, dass Antifaschismus auch in Neukölln kein historisches Thema ist? Schließlich gab es in den letzten Monaten eine Serie von rechten Anschlägen gegen linke Einrichtungen und bekannte AntifaschistInnen.

Davon sind mit Claudia und Christian von Gelieu auch zwei der AutorInnen des Buches betroffen. Sie sind MitarbeiterInnen der Galerie Olga Benario die 1984 von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der AntifaschistInnen gegründet wurde. Sie forschen zum antifaschistischen Widerstand. Dieser Neonaziterror zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, an Menschen wie Werner Gutsche zu erinnern und seine Arbeit gegen alte und neue Nazis fortzusetzen.

Interview. PETER NOWAK

Matthias Heisig

60, ist freier Historiker. Das Buch: „Da müsst ihr euch mal drum kümmern“, Werner Gutsche (1923–2012) und Neukölln, Spuren, Erinnerungen,  Anregungen, Metropol Verlag

Abkehr von der Zweistaatenlösung

Trumps Vorstoß könnte Chancen für eine Lösung im Konflikt zwischen Israel und Palästina eröffnen

Wie bei vielem, was zurzeit über die Trump-Administration berichtet wird, ist auch die Diskussion um die Zweistaatenlösung im Konflikt Israel-Palästina mit viel Alarmismus verknüpft. Tatsächlich hat Trump erklärt, nicht mehr auf einer Zweistaatenlösung zu bestehen, sondern die Konfliktparteien ohne vorherige Festlegung eine Lösung finden zu lassen.

Diese Position klingt doch erst einmal ganz vernünftig. Schließlich hat die Festlegung auf diese Zweistaatenlösung nicht zum Friedensprozess beigetragen. Die Festlegung stammt noch aus der Zeit, als mit dem Osloer Abkommen eine Friedenslösung auf der Grundlage von zwei Staaten in absehbarer Zeit möglich erschien. Seitdem wird das Mantra der Zweistaatenlösung immer wieder hoch gehalten und jede Seite wirft der anderen vor, dagegen verstoßen zu haben.

So wird Israels Siedlungspolitik immer als größtes Hindernis für diese Zweistaatenlösung bezeichnet. Israels Ministerpräsident lenkt demgegenüber den Fokus auf die Aktivitäten verschiedener bewaffneter Gruppen unter den Palästinensern, auf ihre Verbindungen zur Hamas, aber auch zur Abbas-Regierung, die sich eigentlich längst hätte Wahlen stellen müssen. Wegen des Dauerkonflikts zwischen der PLO und der Hamas wurden die immer wieder abgesagt.

Genauso waren die verschiedenen Versuche, Hamas und PLO wieder zu einer Einheitsregierung zu bringen, nur Show. Dass sie nicht funktioniert, zeigt auch die Schwäche einer palästinensischen Staatlichkeit. Es fehlt einfach eine bürgerliche Schicht, die der Kitt für einen solchen Staatsaufbau ist. Selbst das gemeinsame Feindbild Israel hat es nicht vermocht, Hamas und PLO an einen Regierungstisch zu bringen. Im Gegenteil, beide haben sich einen blutigen und brutalen Krieg geliefert. Propagandistisch versuchen beide Seiten natürlich Israel die Schuld zu geben, dass es zu keiner Einigung kommt. Damit wird der Frage ausgewichen, warum nicht mal die Gegnerschaft zu Israel dieses Staatsbewusstsein schafft.

Es gab eine Zeit. als die israelische Arbeiterpartei an der Regierung war, und auch in den letzten Jahren der Scharon-Regierung, wo eine Zweistaatenlösung große Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, wenn auf palästinensischer Seite Gesprächspartner vorhanden gewesen wären, die gangbare Wege dazu aufgezeigt und auch der israelischen Seite das Vertrauen gegeben hätten, dass sie sich damit nicht nur neue Raketenabschussbasen an ihrer Grenze einhandeln.

Es wird bei der schon rituellen Schuldzuweisung an Israel bei der Frage nach dem Scheitern der Zweistaatenlösung vergessen, dass diese Raketenangriffe sowie die Selbstmordattentate ein wesentlicher Grund dafür waren, dass große Teile der israelischen Gesellschaft von der Zweistaatenlösung keine Konfliktlösung erwarten. Dieser Rechtsruck drückt sich natürlich in der Zusammensetzung der israelischen Regierung aus.

Doch von palästinensischer Seite gab es zu der Zeit, als Israel bereit für eine solche Lösung war, keinerlei taktische Überlegungen, diese moderaten Kräfte zu stärken. Im Gegenteil, Attentate und Raketenangriffe haben im Vorfeld von Wahlen die Rechten gefördert und das Vertrauen in eine Zweistaatenlösung minimiert.

Zudem gibt es die Erfahrung mit dem einseitigen Rückzug Israels aus dem Gazastreifen unter der Regierung von Scharon, der als Ultrarechter begann und sich zur Mitte bewegte. Dort hätte eine palästinensische Staatlichkeit in Miniaturform entstehen und daran gezeigt werden können, dass sie in der Praxis möglich und gewollt ist.

Doch bereits wenige Stunden nach dem Abzug machten islamistische Kräfte Tabula rasa, zerstörten die Häuser und Synagogen, die nach dem Rückzug noch vorhanden waren, bauten den Gazastreifen zur Abschussrampe für Raketen aus, Tunnel wurden gegraben und schließlich etablierte sich das Hamastan, das wir jetzt kennen und manchen Palästinenser insgeheim nach den Zeiten der israelischen Besatzung nachtrauern lässt. Die Willkür ist heute größer.

Ein Modell für eine Zweistaatenlösung im großen Maßstab ist also der Gazarückzug nicht geworden. Mittlerweile sind viele Israelins der Meinung, wenn es kein Übereinkommen gibt, dann wird der Konflikt einfach eingefroren. Das nutzen natürlich ideologisch motivierte Gruppen, die den Siedlungsausbau vorantreiben und damit auch faktisch die Grundlage für eine Zweistaatenlösung schmälern. Denn die Vorstellung, tausende Siedler ließen sich nach einer Vereinbarung räumen, ist naiv.

Andererseits wird eine Frage zu wenig gestellt. Warum wird vorausgesetzt, dass ein zu gründender palästinensischer Staat judenfrei sein muss? Warum wird nicht an ein Szenario gedacht, dass eben ein solcher Staat genauso multiethnisch wie Israel sein kann. Dort leben neben Juden auch Palästinenser und andere Araber und haben bei Diskriminierungen in bestimmten Bereichen insgesamt mehr Rechte als die Menschen in den meisten umliegenden arabischen Staaten, die nicht mal bürgerliche Demokratien genannt werden können.

Wenn man sich einen solchen palästinensischen Staat als judenfrei denken kann, geht man auch davon aus, dass der Konflikt nicht gelöst, nicht einmal befriedet, sondern nur auf eine staatliche Ebene geschoben würde. Das hätte aber möglicherweise fatale Konsequenzen. Kriegerische Konflikte sind immer möglich, und auch unterhalb dieser Schwelle würde ein permanenter kalter Krieg toben. Von einer Politik der Kooperation könnte dann kaum die Rede sein.

In einem solchen Klima gedeiht auch regressiv antizionistische und antisemitische Propaganda, wie sie heute auch in palästinensischen Schulbüchern und Medien nicht nur im Gazastreifen, sondern auch im Westjordan verbreitet wird. Auf israelischer Seite würde eine solche Perpetuierung des Konflikts auch jene ultrarechten Kräfte[1] stärken, die sich an vorderster Front in einem weltweiten Krieg gegen den Islam wähnen. Ultrarechte in Europa haben daher mittlerweile ihren Antisemitismus taktisch gezügelt und wollen ein Bündnis mit Israel im Kampf gegen den Islam[2]. Sie haben in Israel Ansprechpartner. Doch die Mehrheit der Israelis ist zu solchen Positionen bisher nicht bereit

Auch wenn Israels Rechte darüber jubelte[3], dass die US-Administration die Zweistaatenlösung nicht mehr als einzige Grundlage für Verhandlungen anerkennt, so kommt auch von anderer Seite Unterstützung. Linke arabische Abgeordnete haben schon mal angekündigt, dass sie in einem Jahrzehnt für die israelische Präsidentschaft kandidieren wollen und sich Chancen ausrechnen.

Der Hintergrund ist die demografische Entwicklung, die auch der Grund war, warum Konservative wie Scharon die Zwei-Staaten-Lösung favorisierten. Sie wollten verhindern, dass in einem gemeinsamen Staat die Juden in der Minderheit sind. Denn nach den Erfahrungen der Shoa wurde Israel als jüdischer Staat zu einem Schutzraum für diese von Antisemitismus in aller Welt bedrohten Menschen.

Das war auch der Grund, warum die Einstaatenlösung, die immer von linken Gruppen in Palästina und Israel gefordert wurde, von israelsolidarischen Kreisen vehement abgelehnt wurde. Es wurde gesagt, dass damit eben die Existenz von Israel als jüdischer Staat infrage gestellt würde.

Tatsächlich würde eine Einstaatenlösung die Frage aufwerfen, wie die unterschiedlichen Ethnien zusammen oder zumindest miteinander leben. Ein Abrücken vom Besatzungsstatus und das Prinzip einer gleichen und geheimen Wahl wären dafür die Grundlagen. Hier aber könnte sich ein Vorteil gegenüber der Zweistaatenlösung auszahlen. Die Menschen leben in einem Staat, haben auch gemeinsame Probleme und Interessen, beispielsweise am Arbeitsplatz oder bei anderen Situationen im Lebensalltag. Dadurch könnte die ausschließlich ethnische Zuordnung aufgeweicht werden.

Dass solche Prozesse auch heute schon in Israel von statten gehen, aber hierzulande kaum wahrgenommen werden, zeigt eine Meldung[4] vom letzten Jahr, dass die israelische Regierung mehr arabische Menschen in den Staatsapparat und die Verwaltung integrieren möchte. Das kann ein Schritt für ein gemeinsames binationales Bewusstsein sein.

Im Gegensatz zur Zweistaatenlösung, wo die gegenseitige Abgrenzung fast schon zum Nationbuildung mit seinen Ausschlüssen gehört, könnte eine anvisierte Einstaatenlösung also tatsächlich auf mittlere Frist eine Kooperation fördern. Dabei könnten die zivilgesellschaftlichen Organisationen in Israel eine wichtige Rolle spielen. Daher ist es umso fataler, dass Teile der gegenwärtigen Regierung in diesen Organisationen ein Feindbild sehen und mit Schwarzen Listen und ähnlichen Mitteln ein Klima der Einschüchterung gegen eine kritische Szene entfalten wollen.

Dabei haben viele dieser Organisationen Erfahrungen in der Kooperation von Palästinensern, Juden und Menschen, die sich in diesen Kategorien nicht definieren. Wenn eine Einstaatenlösung zumindest nicht mehr undenkbar ist, könnten diese Organisationen eine wichtige Rolle spielen. Denn eine wichtige Voraussetzung wäre dann auf palästinensischer Seite die Zurückdrängung der islamistischen und antisemitischen Kräfte und auf israelischer Seite die Isolierung einer Rechten, die das Land als Vorposten im Kampf gegen den Islamismus begreifen.

Israelsolidarische Kreise haben die Einstaatenlösung immer vehement abgelehnt, weil sie eben mit der Gefahr verbunden ist, dass Israel seinen Charakter als jüdischer Staat verliert. Allerdings hat sich etwa der Sozialwissenschaftler Micha Brumlik in letzter Zeit positiv auf die Einstaatenlösung bezogen[5]. Tatsächlich könnte sich die Diskussion auch in der israelsolidarischen Linken verändern, wenn die Zweistaatenlösung nicht mehr als alleiniger Lösungsansatz verhandelt wird.

Dass und wie sich die Diskussion um Antisemitismus und Antizionismus wandelt, wenn sich das politische Koordinatensystem ändert, hat die Sozialwissenschaftler Sina Arnold[6] in ihrem kürzlich in der Hamburger Edition erschienenen Buch „Das unsichtbare Vorurteil“[7] nachgezeichnet, in dem sie sich mit den Antisemitismusdiskursen der US-Linken befasst.

Anders als der Titel vermuten lässt, beginnt Arnold mit ihrer Analyse schon vor dem 1. Weltkrieg. Die Autorin weist auf regressiv antizionistische und auch offen antisemitische Diskurse in Teilen der US-Linken hin. Doch sie skizziert immer den gesellschaftlichen Kontext, in dem diese Diskurse entstehen konnten und zeigt auch, wie und warum sich die Diskurse über Israel und Antisemitismus in den USA wandeln. In der alten Linken war jeglicher Bezug auf ethnische, nationale und religiöse Besonderheiten verpönt.

Linke Jüdinnen und Juden sahen sich als Kosmopoliten und wollten ihre Herkunft nicht thematisieren. In der Neuen Linken hingegen bekamen ethnische, religiöse und nationale Besonderheiten eine Bedeutung, wenn es sich um Angehörige von unterdrückten Minderheiten handelte. Doch Jüdinnen und Juden gehörten nicht zu dieser Gruppe. Sie wurden und werden in großen Teilen der US-Linken nicht als Opfer, sondern als Täter gesehen.

Dafür führt Arnold unterschiedliche Erklärungsansätze an. So war offener Antisemitismus in den 1950er Jahren in der USA nur in wenigen rechten Refugien zu finden. Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 galt Israel für viele Aktivisten der Neuen Linken als Vorposten der USA im Nahen Osten und wurde bekämpft. Ähnliche Entwicklungen gab es zeitlich auch in der außerparlamentarischen Bewegung der BRD und Westberlin.

Arnold zeichnet kritisch nach, welche Auswirkungen das Wachsen des Dschihadismus, die islamistischen Anschläge vom 11. September und die staatlichen Reaktionen auf den Antisemitismusdiskurs in den USA hatten. Vielleicht könnte in einigen Jahren Forschungsarbeit im Sinne von Sina Arnold eruieren, wie sich die Haltung zu Israel und die Debatte über Antisemitismus verändern, wenn die Zweistaatenlösung nicht mehr als der einzige Weg zur Lösung des Nahostkonflikts dargestellt wird.


https://www.heise.de/tp/features/Abkehr-von-der-Zweistaatenloesung-3630446.html

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[1] http://nahost-forum-bremen.de/?p=1254
[2] http://www.endstation-rechts.de/news/kategorie/antisemitismus/artikel/die-reisen-nach-jerusalem-ein-geschaeft-auf-gegenseitigkeit.html
[3] http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/israel-donald-trump-zwei-staaten-loesung-alternativen-annexion
[4] http://www.welt.de/politik/ausland/article160521895/So-sollen-Araber-und-Juden-sich-naeherkommen.html
[5] http://michabrumlik.de/?s=Einstaatenl%C3%B6sung
[6] https://www.euroethno.hu-berlin.de/de/institut/personen/arnold
[7] http://www.his-online.de/verlag/9010/programm/detailseite/publikationen/das-unsichtbare-vorurteil/?sms_his_publikationen%5BbackPID%5D=1252&cHash=f52971f68ac0d29416cce48c863e8b24

Linke Demonstrationen zu verschiedenen Themen

Am Wochenende gab es in Neukölln und Kreuzberg linke Proteste. So demonstrierten am Sonnabend mehrere hundert Menschen in Neukölln gegen die Bedrohung durch Neonazis. Wie »nd« berichtete, gab es seit vergangenem Herbst über 20 rechte Attacken, neben Schmierereien auch immer wieder Brandanschläge. Eine weitere linke Kundgebung in Kreuzberg richtete sich gegen die Verdrängung von Kleingewerbe aus dem Wrangelkiez.

Am 25. Februar soll es zudem um 14 Uhr auf dem Heinrichplatz um eine weitere Demonstration gegen die sogenannte Gentrifizierung, also die Verdrängung von Alteingesessenen geben.

Rund 250 Linksradikale beteiligten sich außerdem am Samstagnachmittag an einer Demonstration, die von Kreuzberg zum Potsdamer Platz zog. Unter dem Motto »Smart Resistance« wurde das Digitalisierungskonzept Smart City kritisiert. Auf Transparenten und Flugblättern wandten sich die Teilnehmer gegen ein Smart-Lab von Google, das Ende 2017 in einem Kreuzberger Umspannwerg erricht werden soll.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1042396.linke-demonstrationen-zu-verschiedenen-themen.html

Peter Nowak

Die andere Seite Neuköllns

GENTRIFIZIERUNG

Wie geht es armen Menschen in dem hippen Kiez? Das war Thema einer Diskussion

Neukölln ist für InvestorInnen schon längst ein lukrativer Bezirk. Wie sieht es aber mit den einkommensschwachen Menschen in dem Stadtteil aus? Dieser Frage widmete sich amDonnerstagabend eine Veranstaltung der Berliner Mietergemeinschaft. Der Titel „… und am Ende wohnungslos?“ machte schon deutlich, dass Zwangsräumungen durchaus zum Alltag vieler Menschen im Kiez gehören.Zu Beginn zeigte die an der Alice-Salomon-Hochschule lehrende Armutsforscherin Susanne Gerull an Beispielen aus Politik und Medien auf, wie eikommensarme Menschen abgewertet werden, weil sie der Gesellschaft angeblich nicht nützten. Die Bild-Zeitung wurde ebenso erwähnt wie der ehemalige Wirtschaftsminister und Hartz-IV-Architekt Wolfgang Clement (früher SPD). Der Neuköllner Stadtteilaktivist Thilo Broschell berichtete dann, wie diese Abwertung konkret auch im Stadtteil umgesetzt werde. So seien auf Veranlassung des Quartiersmanagements Schillerkiez Bänke und Tische abgebaut worden, sagte Broschell. Dort hätten sich einkommensschwache Menschen niedergelassen, die sich einen Restaurantbesuch nicht leisten könnten Die Sozialwissenschaftlerin Nora Freitag erzählte von ihrer Arbeit als Leiterin der mobilen Erwerbslosenberatung „Irren istamtlich“ des Berliner Arbeitslosenzentrums. Die Beratung wirdderzeit temporär vom Senat finanziert. Das Thema Wohnen sei das Hauptproblem der Menschen, die Rat suchten, betonte Freitag. Dabei gehe es häufig um die Übernahme von Wohnkosten. Anträge auf ein Darlehen, um bei Mietschulden einen Wohnungsverlust zu vermeiden, würden teilweise so spät bearbeitet, dass die Betroffenen ein Kündigung erhielten, berichtete Freitag. Dann lehne das Amt den Antrag mit dem Argument ab, dass jetzt die Wohnung nicht mehr gesichert sei. Betroffene bestätigten, dass sie sich im Jobcenter öfters diskriminiert fühlten. Andere BesucherInnen informierten über die Aktion „Niemand muss allein zum Amt“. Dabei nehmen Betroffene Personen ihres Vertrauens mit zu den Jobcenterterminen, um der Behörde nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Der Stadtteilladen Lunte etwa bietet mit seinen Erwerbslosenfrühstücken diese Form der Unterstützung an.

Taz 18/19. FEBRUAR 2017

Peter Nowak

Hausverbot für AfD-Rechtsaußen Höcke in Maritim-Hotels

Linke, die sich jetzt freuen, könnten selbst bald Ähnliches erleben. Denn hier werden bedenkliche Präzedenzfälle geschaffen

Das Management des Maritim-Hotels[1] ist unter Druck geraten. Grund ist der für den 22. April geplante Bundesparteitag der AfD, der in einem Hotel dieser Kette stattfinden soll. Seit Wochen gibt es dagegen Proteste[2] und Mahnwachen[3].

Mit einer bundesweiten Antifa-Mobilisierung[4] wird gerechnet. Schon beim letzten AfD-Bundesparteitag in Stuttgart mobilisierten bundesweite Antifa-Gruppen[5]. Ein großes Polizeiaufgebot[6] sorgte dafür, dass der Parteitag mit einigen Störungen stattfinden konnte. In Köln wird mit einer größeren Mobilisierung gerechnet. Schließlich hat sich die AfD in der Zwischenzeit noch deutlicher als Rechtsaußenpartei positioniert.

Nun hat sich das Maritim-Management in einer Stellungnahme gegenüber der AfD positioniert[7]. In der Erklärung heißt es, dass die Hotels allen Kräften des demokratischen Spektrums zur Verfügung stehen, es aber Grenzen gebe. Hintergrund ist die Rede, in welcher Björn Höcke das Holocaustmahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnete und von einer „dämlichen Bewältigungspolitik“ sprach.

Es gibt jedoch Einschränkungen. Beispielsweise hat Maritim als inhabergeführtes privatwirtschaftliches Unternehmen unter anderem dort Grenzen gezogen, wo andere wegen ihrer Herkunft, Rasse oder Religion diskriminiert wurden, wo der Holocaust geleugnet oder sonst die Gräuel des NS-Regimes in Abrede gestellt oder verharmlost wurden. Bei der AfD als demokratisch legitimierter Partei hat die Maritim Geschäftsführung diese Grenzen bislang nicht als überschritten angesehen. Das gilt jedoch nicht für die Äußerungen von Herrn Höcke am 17.01.2017 in Dresden (unter anderem „Denkmal der Schande „). (…) Die Maritim Hotelgesellschaft hat deshalb Herrn Höcke am 10.02.2017 ein Hausverbot für alle Maritim Hotels ausgesprochen. Dies gilt auch für den Bundesparteitag im April im Maritim Hotel Köln. Der Vertrag für diese Veranstaltung ist bereits im Frühjahr 2016 geschlossen worden. „Nach eingehender juristischer Prüfung ist ein Zurücktreten seitens Maritim leider nicht möglich“, bedauert Maritim-Geschäftsführer Gerd Prochaska. „Wir haben der AfD bereits angeboten, kostenfrei vom Vertrag zurückzutreten, wovon bedauerlicherweise bisher kein Gebrauch gemacht wurde.“Erklärung Maritim-Hotel[8]

Das Bündnis „Köln gegen Rechts“ fordert[9]. weiterhin die Kündigung des Vertrags mit der AfD. „Auch wenn uns der Begriff ‚gegenwärtig‘ etwas irritiert, freuen wir uns, dass die breiten Proteste Wirkung zeigen und hoffen, dass die Ankündigung sich nicht damit erledigt, wenn Herr Höcke am 22. 4. nicht zum Parteitag erscheint und/oder aus der AfD ausgeschlossen wird. Es gibt viele Höckes in der AfD. Bei aller Freude über diesen Schritt der Maritim Zentrale fordern wir weiterhin das Maritim auf, den Parteitag in Köln abzusagen“, fordert das antifaschistische Bündnis.

Dafür müsste das Hotel auch notfalls eine Vertragsstrafe riskieren, die ein Bruch schon unterschriebener Verträge zur Folge hätte. Erinnert wird an das Angebot des Kölner Karnevalsvereins, ein großes Festival zu organisieren, mit dem auch solche Kosten gedeckt werden. Wenn sich die Proteste ausweiten, könnte es sein, dass das Hotel auf das Angebot eingeht.

Das Management wird sich überlegen, was sich geschäftlich besser rechnet. Wenn es die AfD auslädt, könnte es auch neue Kundenkreise erschließen. Bisher machte die Maritim-Kette den Anschein, dass es keine Berührungsängste gegenüber der AfD gebe. Zumindest wenn es nach Behauptungen von Köln gegen Rechts geht. Dort spricht man sogar von einer „privilegierten Maritim-Hotelkette und der AfD“ in der Vergangenheit.

Nun mögen manche die spezielle Ausladung von Höcke als Erfolg oder Schritt in die richtige Richtung sehen. Doch damit wird eigentlich ein Kernbereich bürgerlicher Politik aufgegeben. Wenn das Hotel der AfD die Räume zum Parteitag nicht kündigen will, will sie mit der Höcke-Ausladung eine Botschaft kommunizieren. Doch was ist deren Inhalt?

Ein Hotel-Management will sich anmaßen, bei Veranstaltungen in ihren Räumen zu entscheiden, wer reindarf und wer nicht. Das ist schon juristisch äußerst fraglich und dürfte auch schnell durch Gerichte gekippt werden. Sollte der Vertrag Bestand haben, hat die AfD während des Parteitages über die gemieteten Räume das Hausrecht und kann entscheiden, wer sie betreten darf und wer nicht.

Es müsste also schon die AfD selbst Höcke Hausverbot auf ihrem Parteitag geben, was kaum zu erwarten ist, weil sich das Ausschlussverfahren ja über Monate hinziehen dürfte und zum Zeitpunkt des Parteitags nicht abgeschlossen ist.

Ob die AfD-Spitze, die insgeheim sicher gerne Höckes Auftritt verhindern würde, zu solchen Maßnahmen greift, dürfte nach der Intervention von Maritim noch fraglicher sein. Schließlich kämen sie selber schnell in Verdacht, nur dem Druck nachzugeben. Es ist eher zu vermuten, dass dieses Hausverbot Solidarisierungseffekte bei der Parteibasis auslöst und so zumindest innerparteilich Höcke eher nützt als schadet.


Dass nun das Maritim-Management die Erklärung nachgeschoben hat, künftig gar nicht mehr an die AfD zu vermieten, dürfte diese Tendenz noch verstärken. Sie müsste eigentlich von den AFD-Gegnern begrüßt werden. Denn die müssten deutlich machen, dass nicht Höcke, sondern eine rechtspopulistische Partei und die Verhältnisse, die sie hervorbringt, das eigentliche Problem sind.

Eine AfD ohne Höcke und seinen Flügel wäre sogar gefährlicher. Denn die Höcke-Gegner wollen sich in der Mitte der Gesellschaft festsetzen und gehen gegen Höcke auch deshalb vor, weil sie fürchten, dass ihre Partei oder zumindest Teile vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Höcke wird von seinen innerparteilichen Kritikern weniger seine Meinung zur Gedächtnispolitik vorgehalten, sondern seine Vision einer Bewegungspartei, die sich nicht als Mehrheitsbeschaffer der Union zur Verfügung stellt.

Das ist tatsächlich der Hauptunterschied der unterschiedlichen Flügel. Die einen wollen möglichst schnell mitregieren und die Republik nach rechts drängen. Sie sind für eine demokratische Entwicklung in Deutschland gefährlicher, weil sie die Republik konkret nach rechts drängen. Die Konzepte von Höcke und Co. sind langfristig angelegt, müssen von Antifaschisten sehr genau beobachtet werden, führen aber dazu, dass die AfD erst mal nicht Bündnispartner anderer konservativer Kräfte werden kann.

Hier liegt auch der Grund des Flügelstreits und weniger in den unterschiedlichen politischen Positionen. Auch die Höcke-Gegner in der AfD, namentlich Frauke Petry und Marcus Pretzell, sind schon öfter durch ultrarechte Äußerungen aufgefallen. Wie sich die Partei intern zerlegt, ist ihr Problem. Doch ein Hotelmanagement sollte da nicht hineinregieren.

Das sollte generell bei sämtlichen Veranstaltungen gelten. Linke, die sich jetzt im Fall der AfD darüber freuen, könnten selber bald unter diese Klausel fallen. Denn hier werden Präzedenzfälle geschaffen, die auch für anders geartete Veranstaltungen zur Anwendung kommen könnten.

Das Medienecho zu Höckes viel kritisierter Rede in Dresden verortet dessen Äußerungen völlig außerhalb des bürgerlichen Spektrums. Doch genau das ist eine Verkehrung der Tatsachen.

Es lassen sich mühelos Zitate des Schriftstellers Martin Walser[10] und des Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein[11] zum Holocaust-Denkmal finden, die dem sehr ähnlich sind, was Höcke in Dresden verlautbarte.

Augsteins Ausführungen[12] übertreffen mit ihrer antisemitischen und antiamerikanischen Volte noch Höcke.

Nun soll in der Mitte der wiedergewonnenen Hauptstadt Berlin ein Mahnmal an unsere fortwährende Schande erinnern. Anderen Nationen wäre ein solcher Umgang mit ihrer Vergangenheit fremd. Man ahnt, dass dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet ist. Man wird es aber nicht wagen, so sehr die Muskeln auch schwellen, mit Rücksicht auf die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand, die Mitte Berlins freizuhalten von solch einer Monstrosität.

Und Franz Joseph Strauß erklärte[13] schon 1969: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen!“

Er war also in der Vergangenheitspolitik noch radikaler als Höcke. Würde er, wenn er noch lebte, nun auch aus den Maritim-Hotels ausgeladen?


Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Hausverbot-fuer-AfD-Rechtsaussen-Hoecke-in-Maritim-Hotels-3628159.html?seite=2

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[1] https://www.maritim.de/de/startseite
[2] http://gegenrechts.koeln
[3] http://gegenrechts.koeln/2017/mahnwache-vor-maritim-hotel-in-koeln-mit-100-demonstranteninnen
[4] http://gegenrechts.koeln/2017/gemeinsam-gegen-den-bundesparteitag-in-koeln
[5] https://umsganze.org/termin/gegen-den-afd-programmparteitag-in-stuttgart
[6] http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.afd-parteitag-in-stuttgart-gegendemonstrationen-mit-spektakulaeren-zwischenfaellen.f185fb88-f0ee-413e-b1c4-c424be97d162.html
[7] http://presse.maritim.de/news/maritim-hotelkette-positioniert-sich-gegenueber-afd-220392
[8] http://presse.maritim.de/news/maritim-hotelkette-positioniert-sich-gegenueber-afd-220392
[9] https://de-de.facebook.com/Koeln.gegen.Rechts/posts/1819750031576037
[10] http://www.tagesspiegel.de/kultur/martin-walser-gegen-holocaust-mahnmal/57464.html
[11] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7085973.html
[12] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7085973.html
[13] http://www.zeit.de/1988/41/worte-von-franz-josef-strauss/seite-3

Wie antisemitisch ist die US-Linke?

Die Autorin Sina Arnold setzt mit ihrer Untersuchung Maßstäbe für eine differenzierte Auseinandersetzung

»Wie ist es zu erklären«, fragt sich die in Berlin und Manchester lehrende Politologin und Erziehungswissenschaftlerin Sina Arnold, »dass eine selbst ernannte Streiterin für eine rassismus- und diskriminierungsfreie Gesellschaft stolz darauf ist, als antisemitisch bezeichnet zu werden?«

Diese Frage steht am Anfang ihrer Studie »Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11«, die kürzlich in der Edition Hamburg erschienen ist. Für die Autorin ist der verstörende T-Shirt-Aufdruck ein Ausdruck für das ambivalente Verhältnis, welches linke soziale Bewegungen in den USA zum Antisemitismus haben und welches Gegenstand der vorliegenden Studie ist.

Auf 450 Seiten beschäftigt sich Arnold mit der Frage, ob und wo antisemitische Argumentationsmuster bei den sozialen Bewegungen in den USA zu finden sind.

Dabei ist die im Titel ausgedrückte zeitliche Begrenzung auf die US-Linke nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 eigentlich untertrieben. Denn im ersten Teil des Buches gibt Arnold einen knappen aber prägnanten Überblick über die Antisemitismusdiskurse der US-Linken vom Ende des 19.Jahrhunderts bis zur Bürgerrechtsbewegung. Dabei arbeitet sie den Unterschied zwischen der alten, an der Arbeiterbewegung orientierten kommunistischen und anarchistischen Linken gegenüber der »Neuen Linken«, die im Aufbruch der späten 1960er Jahre entstanden ist, gut heraus.

Die »Old Left« war durchdrungen von Universalismus, Kosmopolitismus und einem positiven Bezug auf die Moderne. Sie sah sich selbst im Erbe der westlichen Zivilisation. »Genau dieses Erbe wurde von einer wachsenden Zahl von Studierenden nun als Problem betrachtet«, so Arnold.

Diese Veränderungen hatten wiederum gravierende Auswirkungen auf den Antisemitismusdiskurs. In der alten Linken war jeglicher Bezug auf ethnische, nationale und religiöse Besonderheiten verpönt. Linke Jüdinnen und Juden sahen sich als Kosmopoliten und wollten ihre Herkunft nicht thematisieren. In der »Neuen Linken« hingegen bekamen ethnische, religiöse und nationale Besonderheiten eine Bedeutung, zumindest dann, wenn es sich um Angehörige von unterdrückten Minderheiten handelte.

Jüdinnen und Juden wurden dieser Gruppe nicht zugerechnet. Vielmehr wurden und werden sie in großen Teilen der US-Linken nicht als Opfer sondern als Täter gesehen. Hierfür führt Arnold unterschiedliche Erklärungsansätze an. So war offener Antisemitismus in den 1950er Jahren in der USA nur in wenigen rechten Refugien zu finden. Das änderte sich nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967. Nun galt Israel für viele Aktivisten der »Neuen Linken« als Vorposten der USA im Nahen Osten. Der Staat wurde bekämpft.

Ähnliche Entwicklungen gab es auch in der außerparlamentarischen Bewegung der BRD und Westberlins. Liberale Intellektuelle warnten bereits Ende der 1960er Jahre vor einem neuen Antisemitismus der Linken. Es gab auch kurzzeitige Versuche von linken jüdischen Aktivisten, den Zionismus als progressive nationale Befreiungsbewegung zu interpretieren. Die Sichtweise setzte sich allerdings nicht durch.

Auch während der Occupy-Proteste wurde die Warnung vor einem neuen Antisemitismus wieder laut. In den 30 Interviews, die Arnold mit Aktivisten der außerparlamentarischen Linken in den USA kürzlich führte, finden sich Argumentationselemente, die für den Antisemitismus anschlussfähig sind.

Doch die Autorin zieht in ihrer sehr um Differenzierung bemühten Analyse das Fazit, dass in der US-Linken kaum manifester Antisemitismus anzutreffen ist – dafür häufig eine einseitige Kritik an Israel wiewohl eine Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit gegenüber dem Antisemitismus und seinen Opfern.

Arnold hat mit ihrem Buch auch Maßstäbe für eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Antisemitismusdiskursen hierzulande gesetzt.

Sina Arnold: Das unsichtbare Vorurteil. Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11,  2016, 487 S., geb., 38,00 €

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1041901.wie-antisemitisch-ist-die-us-linke.html

Peter Nowak

Abschiedsbrief einer verlorenen Generation

Italien: Das Schreiben eines Mannes, der Suizid beging, hat in Italien eine große Resonanz. Sie zeigt, dass die Krise längst nicht vorbei ist

„Ich habe dreißig Jahre lang (schlecht) gelebt, einige werden sagen, dass es ein zu kurzes Leben war. Diese Leute aber können nicht die Grenzen der Geduld und des Erträglichen bestimmen, denn diese Grenzen sind subjektiv, nicht objektiv. Ich habe versucht, ein guter Mensch zu sein. Ich habe Fehler begangen. Ich habe viele neue Versuche gestartet. Ich habe versucht, meinem Leben einen Sinn zu geben und mir selbst ein Ziel zu setzen und dabei meine Fähigkeiten einzusetzen. Ich habe versucht, aus dem Unbehagen eine Kunst zu machen.“

Mit diesen Zeilen[1] beginnt ein Brief[2], der in Italien für Aufsehen, Trauer und Empörung sorgt. Es ist der Abschiedsbrief eines 30-Jährigen, der Suizid verübte und in diesen Schreiben seine Gründe darlegte.

Dass der sehr persönlich gehaltene Brief so große Resonanz erfährt, liegt daran, dass dort etwas formuliert wurde, das die Erfahrungen von vielen Menschen in Italien wiedergibt. Es sind die Menschen, die als „Generation Praktikum“ bezeichnet werden. Von der Kindheit an wird ihnen eingebläut, dass sie flexibel sein müssen, dass sie autonom und selbstständig für ihr Leben verantwortlich sind und dass sie, wenn sie sich anstrengen, auch Erfolg haben können.

Und sie machen eine Erfahrung, die der Verfasser des Briefes, der auf Wunsch seiner Eltern veröffentlicht wurde, aber anonym bleiben soll, so zusammenfasst:

Ich bin es leid, den Erwartungen Anderer gerecht zu werden, obwohl meine eigenen Erwartungen nie erfüllt wurden. Ich bin es leid, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, Interesse vorzutäuschen, mich selbst zu enttäuschen, auf den Arm genommen zu werden, aussortiert zu werden und mich selbst sagen zu hören, dass Sensibilität eine besonders tolle Charaktereigenschaft ist. Alles Lügen.

Brief eines Unbekannten

Da nimmt einer die ideologischen Prämissen des modernen Kapitalismus auseinander und erkennt, dass das Gerede über Sensibilität, Diversität, Individualität und Flexibilität die zeitgemäße Ideologiesegmente sind, hinter denen sich die aktuelle Ausbeutung gut verbirgt.

Gerade Italien war Pionier bei der Zerschlagung der teils von der Arbeiterbewegung erkämpften, teils als Kompromiss zugestandenen Rechte. Die Prekarität der Lebens- und Arbeitsverhältnisse bekamen vor allem junge gut ausgebildete Menschen zu spüren. Sie waren es auch, die vor ca. 20 Jahren zum Anwachsen der starken Protestbewegungen in Italien führten[3]. Bekannt wurden die blutig niederschlagenen Proteste der Globalisierungsgegner in Genua im Jahr 2001.

Doch sie waren nur der Höhepunkt eines Protestzyklus, der danach repressiv niedergekämpft wurde. Es gab auch danach neue Versuche, sich zu organisieren und für Rechte zu kämpfen: Die Euromayday-Bewegung [4]ging unter anderem von Italien aus und strahlte auf andere Länder aus. Es waren Suchbewegungen, so flexibel wie die aktuellen Verhältnisse.

Vielen waren diese Organisierungsversuche zu langwierig oder sie hatten schlicht in ihrem prekären Alltag keine Zeit dafür. Tausende gut ausgebildete junge Menschen wanderten aus Italien aus, viele nach Deutschland, wo sie sich erneut im Niedriglohnsektor wiederfanden. In Berlin ist es die Gastronomie, und es gibt auch dort Organisierungsversuche von Menschen, die an den Protestzyklus beteiligt waren.

So gründete sich in Berlin das Netzwerk der Migrantstrikers[5]. Doch viele der Prekären resignierten und versuchten, nur noch zu überleben. Nicht alle schafften es, wie der Brief zeigt, der ausdrückt, was viele denken und fühlen.

Heute wissen wir, dass die Entsicherung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse zum Kennzeichen der gegenwärtigen Regulationsphase des Kapitalismus gehört und sie sich in allen Ländern ausbreitet. Daher ist das, was der Verfasser des Briefes ausdrückt, durchaus auch über Italien hinaus aktuell. Wenn der Schreiber die sinnlosen Bewerbungsgespräche beklagt, dann fühlen sich auch viele Menschen, die im Hartz IV-Regime gefangen gehalten werden, angesprochen.

Das Gefühl, einer staatlichen Instanz hilflos ausgeliefert zu sein, ist auch das Erfolgsgeheimnis des preisgekrönten Films Ich, Daniel Blake[6] von Ken Loach. Er zeigt, dass das Prekariat längst sämtliche Segmente der Lohnabhängigen erfasst hat. Die Generation Praktikum wird zur Erfahrung einer ganzen Klasse.

Es stellt sich nun die Frage, ob aus der Betroffenheit und Trauer, die der Brief in Italien ausgelöst hat, eine neue Bereitschaft zum Widerstand gegen diese Verhältnisse erwächst. In Marokko hatte schließlich der Suizid eines jungen Prekären mit zur Aufstandsbewegung geführt, die zum kurzzeitigen arabischen Frühling wurde.

Auch in Europa sind die Platzbesetzungen und die Krisenproteste der Jahre 2011- 2013 noch nicht vergessen. Damals gehörten Selbstmorde der Krisenbetroffenen in vielen Ländern der europäischen Peripherie zum Alltag. Heute versuchen die Regierungen und die EU-Instanzen alles, um uns glauben zu machen, es gebe gar keine Krise. Damit aber werden die Menschen, die im System nicht aufsteigen, zu Schuldigen erklärt, was in Krankheit und Suizid enden kann. Der Brief aus Italien macht noch einmal deutlich, dass für viele Menschen in Italien und anderswo in der EU die Krise nie vorbei war. Es ist die Frage, ob sich daraus neues Widerstandsbewusstsein gibt.

Die EU-Kommission hat gerade Italien wieder im Visier[7] und fordert die Radikalisierung der Austeritätspolitik. Doch es ist gerade diese Politik, die für die Entsicherung der Lebensverhältnisse vieler Menschen verantwortlich ist.

So ist auch dieser Abschiedsbrief eine Anklage gegen eine Politik, in der alles darauf gerichtet ist, dass die Banken, der Dax und die Börse nicht verärgert werden. Wenn Menschen nicht mehr mitkommen ist das in diesem System nicht mal eine Fußnote wert.


https://www.heise.de/tp/features/Abschiedsbrief-einer-verlorenen-Generation-3624069.html

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[1] http://www.huffingtonpost.de/2017/02/08/verlorene-generation-selbstmord_n_14638152.html
[2] http://messaggeroveneto.gelocal.it/udine/cronaca/2017/02/07/news/non-posso-passare-il-tempo-a-cercare-di-sopravvivere-1.14839837?ref=hfmvudea-1
[3] https://prekaer.at/san-precario-history-best-practice
[4] http://euromayday.at
[5] https://berlinmigrantstrikers.noblogs.org/
[6] http://www.imdb.com/title/tt5168192/
[7] http://www.n-tv.de/politik/Italien-will-EU-Strafen-abwenden-article19565681.html

Randalierer oder Stasi-Agent?

Die Argumente, Andrej Holm loszuwerden, sind austauschbar

Es ist schon einige Jahre her, dass Studierende in Berlin Universitätsräume besetzt haben, um Verbesserungen ihrer Studienbedingungen erkämpfen. Seit dem 17.Januar sind nun wieder Hochschulräume besetzt, nämlich die des Instituts für Sozialwissenschaft. Die Studierenden protestieren gegen die Entlassung des Stadtsoziologen Andrej Holm, der Mitte Januar nach wenigen Wochen als Staatssekretär zurücktreten musste.

Die Präsidentin der Humboldtuniversität erklärte, nicht die kurzzeitige Stasi-Mitgliedschaft von Holm sei der Grund für die Entlassung:

«Die Kündigung beruht nicht auf der Tätigkeit von Herrn Dr.Holm für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), sondern einzig darauf, dass Herr Dr.Holm die HU hinsichtlich seiner Biografie getäuscht und auch an dem wiederholt vorgebrachten Argument der Erinnerungslücken festgehalten hat.» Diese Erklärung wurde jedoch als Beispiel bürokratischer Willkür wahrgenommen, wie schon zuvor seine erzwungene Entlassung als Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Wohnen.

Seine Ernennung hatte bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt, weil mit Andrej Holm ein Mann diesen Posten bekommen hatte, der sich seit Jahren für die Interessen von Mietern einsetzt, und auch wusste, wo die Stellschrauben liegen, an denen Investoren gezwungen werden können, sich an Gesetze zu halten. Das passte der mächtigen Investorenbranche nicht. Schon unmittelbar nach seiner Ernennung warnte sie vor einem Staatssekretär, der gute Verbindungen zur außerparlamentarischen Linken hat, und erinnerte daran, dass er 2006 kurzzeitig verhaftet und angeklagt worden war, weil man ihn mit militantem Widerstand in Verbindung bringen wollte. Holm wurde damals freigesprochen.

Jetzt wurde seine kurzzeitige Stasitätigkeit zum Anlass für die Kampagne gegen ihn genommen. Dabei war die gar kein Geheimnis. Bereits 2007 hatte er sich mit linken DDR-Oppositionellen, die selber von der Stasi verfolgt worden waren, darüber auseinandergesetzt, dass er als Sohn von Kommunisten bereits mit 14 Jahren auf eine MfS-Tätigkeit vorbereitet worden war. Er hatte angegeben, als Mitglied des Wachregiments «Feliks Dzierzynski» auf eine MfS-Tätigkeit vorbereitet worden zu sein.* So steht es auch in dem Fragebogen, mit dem Holm sich für seine Tätigkeit als Stadtsoziologe an der Humboldt-Universität beworben hatte. Nach Aktenlage aber war er bereits von Anfang an Teil des MfS.

Viele außerparlamentarische stadtpolitische Initiativen und auch die protestierenden Studierenden haben die Maßnahmen gegen Holm als Angriff auf einen Kritiker der herrschenden Verhältnisse verstanden. Nicht für die Aufarbeitung des DDR-Repressionssystems, sondern für die Profite der Immobilienwirtschaft war Holm ein Problem, erklärten verschiedene stadt- und mietenpolitische Gruppen. Sie sahen in der Ernennung Holms eine Chance, eine Politik im Interesse der Mehrheit der Mieterinnen und Mieter in Berlin umsetzen. Die Studierenden befürchten nun, dass mit Holm ein letzter Rest von kritischer Wissenschaft von der Hochschule verschwinden soll, die heute in Forschung und Lehre weitgehend nach den Prämissen der Marktwirtschaft ausgerichtet ist.

Viele Studierende, die sich heute für den Verbleib von Holm einsetzen, werden sich nicht mehr darin erinnern, dass schon einmal, vor 25 Jahren, ein kritischer Theologe, Heinrich Fink, aus der Humboldt-Universität entlassen wurde, weil ihm MfS-Mitarbeit vorgeworfen wurde. Eine solche hat Fink stets bestritten, dabei aber immer betont, dass er für eine Demokratisierung, nicht für die Abschaffung der DDR eingetreten sei. Gemeinsam ist beiden Fällen: Hier wurden Menschen sanktioniert, die für eine kritische Wissenschaft und für eine demokratische Universität stehen. Deshalb besetzen im Jahr 2017 Studierende wieder Unigebäude wie Anfang der 90er Jahre.

Doch eine Schwäche hat die aktuelle Protestbewegung: Eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit und die Grenzen einer Reformperspektive, wie sie sich in der Unterstützung von Holm ausdrückt, findet nicht statt. Nachdem für Holm selber das Kapitel Staatssekretär abgeschlossen war, hätte die Forderung nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin aus der stadtpolitischen Bewegung den Druck auf die Berliner Koalition erhöhen können. Stattdessen konzentrierte man sich ausschließlich auf Andrej Holm. Nach seiner Entlassung heißt es jetzt, es zeige sich, dass Reformpolitik nichts bringt. Eine Strategiedebatte wäre angesichts dieser Widersprüche sinnvoll.

Soz Nr. 02/2017

http://www.sozonline.de/2017/02/randalierer-oder-stasi-agent/

von Peter Nowak


*Das Wachregiment unterstand dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS).