Neoliberalismus im Alltag – Lexikon der Leistungsgesellschaft

Eine der erfolgreichsten und dauerhaftesten Bewegungen der jüngeren Zeit ist der Marathonlauf. In den 1970er Jahren begann er in New York und Berlin mit knapp 100 Teilnehmer_innen.  Heute hat er sich zu einem Massenauflauf entwickelt, der dafür sorgt, dass die Innenstädte weiträumig abgesperrt werden.

Für den Publizisten Sebastian Friedrich ist das eine Konsequenz des Neoliberalismus.

„In Leistungsgesellschaften symbolisiert ein erfolgreicher Marathon besondere Leistungs- und Leidensfähigkeit“, schreibt der Redakteur der Monatszeitschrift „analyse und kritik“ (ak) in seinem in der Edition Assemblage erschienenen „Lexikon der Leistungsgesellschaft“. Dass der Marathon unter den 26 Stichworten auftaucht, mag manche zunächst überraschen.

Doch es ist gerade die Stärke des Lexikons, dass Friedrich Stichworte aufgreift, die manche nicht sofort mit Politik in Verbindung bringen.

Für zusätzliche Irritation dürfte bei manchen Leser_innen beitragen, dass  Friedrich unter den Stichworten auch manche Alltagspraxen aufgenommen hat, die unter Linken einen  guten Ruf haben und als politisch völlig unverdächtig gelten. Gleich das erste Stichwort heißt „Auslandsaufenthalt“, der in Zeiten des Neoliberalismus schon längst nichts mehr mit Aussteigen und Flucht aus dem kapitalistischen Alltag assoziiert werden kann, sondern mit der Schaffung von Karrierevorteilen. Besonders, wenn der Aufenthaltsaufenthalt mit einer sozialen Tätigkeit kombiniert wird, macht sich das gut im Lebenslauf.

Bei vielen GWR-Leser_innen dürfte das Konzept der „gewaltfreien Kommunikation“ einen guten Klang haben. Doch Friedrich verortet es, wenn es in Unternehmen angewandt wird, als oft effektive neoliberale Managementstrategie. Damit soll verhindert werden, dass sich Beschäftigte zusammenschließen und eigene Interessen wie mehr Lohn und weniger Arbeit formulieren und womöglich auch durchsetzen. Auch in linken Zusammenhängen verhindere das Konzept gewaltfreie Kommunikation häufig, dass über Argumente gestritten wird. Es gehe dann oft mehr um die Form der Diskussion als um den Inhalt. Einen klaren Standpunkt auszudrücken, gelte als verpönt, immer müsse in der Diskussion besonders betont werden, dass man nur seine eigene Meinung ausdrücke. Im Lexikon der Leistungsgesellschaft finden sich weitere Schlaglichter auf Alltagspraxen, die sich in der Linken ebenso großer Beliebtheit erfreuen wie in neoliberalen Think Thanks.  Friedrich gelingt es, das Buch in allgemein verständlicher Sprache zu halten. In manchen Texten ist die Ironie nicht zu überhören. Er verzichtet  meist auf moralische Wertungen, wenn er beschreibt, wie der Neoliberalismus unsere Alltagspraxen prägt und strukturiert.  Das ist besonders wirkungsvoll in den Bereichen, in denen wir die Verbindung zur Politik gar nicht  vermuten würden. So gelingt es Friedrich einleuchtend zu erklären, was der Hype um die Rennräder oder ein wachsendes Ernährungsbewusstsein mit dem Neoliberalismus zu tun haben. Andere Themenbereiche wie das Self-Tracking werden hingegen schon deutlicher als Teil einer Lebensplanung im Neoliberalismus betrachtet.

Auf einer theoretischen Ebene hat sich Simon Schaupp in seinen im Oktober 2016 im Verlag Graswurzelrevolution erschienenen Buch „Digitale Selbstüberwachung“ mit dem Boom um die Self-Trecking-Methoden auseinandergesetzt. Friedrich belässt es auch hier bei einemkurzen aber informativen Eintrag. Das Büchlein „Lexikon der Leistungsgesellschaft“ muss zwangläufig unvollständig sein.

Wahrscheinlich bräuchte man einen dicken Wälzer, wenn man alle Stichworte der neoliberalen Leistungsgesellschaft auflisten wollte.

Schließlich ist es ja ein Kennzeichen des Neoliberalismus, dass er nicht einfach ein Kontrollregime ist, das den Menschen gegenübersteht. Schon lange wird die Floskel vom „Neoliberalismus in den Köpfen“ verwendet. Aber vor allem ist der Neoliberalismus in unseren oft scheinbar unpolitischen Alltagspraxen eingeschrieben. Er strukturiert auch unsere Art des Lebens und Arbeitens. Daher greift es auch zu kurz, wenn Friedrich im Schlusskapitel schreibt, dass das Buch mit helfen soll, nicht vom Neoliberalismus vereinnahmt  zu werden. Wichtiger ist zunächst, dass die Leser_innen erkennen, was ihr alltägliches Handeln mit der Stabilität des Neoliberalismus zu  tun hat, den nicht wenige nach der letzten Krise voreilig schon für erledigt gesehen haben. Ein nächster Schritt bestünde darin, sich mit einer solidarischen Alltagspraxis ganz bewusst der neoliberalen Agenda zu verweigern. Das kann auch darin bestehen, dass man sich den Self-Tracking-Methoden verweigert und statt am Marathon teilzunehmen, mit Freund_innen und Kolleg_innen eigene sportliche Betätigungen organisiert. Vielleicht schreibt jemand dann auch ein Lexikon des solidarischen Verhaltens. Das ist ja im Gegensatz zur neoliberalen Lebensführung viel schwieriger umzusetzen und muss täglich in der Praxis gelernt werden.

Sebastian Friedrich, Lexikon der Leistungsgesellschaft. Wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt, Edition Assemblage, Münster 2016,  92 Seiten, 7,80 Euro, ISBN 978-3-96042-001-9

Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 414, Dezember 2016, www.graswurzel.net

Peter Nowak


Kommentare sind geschlossen.