Billiglohnland Knast

Im Gefängnis arbeitende Insassen werden von Justizbediensten oft noch zusätzlich ausgebeutet, wie im Zuge eines kürzlich auf­gedeckten Schmuggelskandals bekannt wurde. Doch auch die Grundrechte von drogen- und medikamentenabhängigen Gefangenen werden verletzt.

Im Gefängnis arbeitende Insassen werden von Justizbediensten oft noch zusätzlich ausgebeutet, wie im Zuge eines kürzlich auf­gedeckten Schmuggelskandals bekannt wurde. Doch auch die Grundrechte von drogen- und medikamentenabhängigen Gefangenen werden verletzt.

»Routine oder Einzelfall?« fragte die Gefangenenzeitung Lichtblick, nachdem Mitte September durch einen Bericht des ZDF-Magazins »Frontal 21« bekanntgeworden war, dass Bedienstete der Justizvollzugsanstalt (JVA) Berlin-Tegel im Gefängnis hergestellte Waren aus der Anstalt geschmuggelt und verkauft hatten. In einer Sonderausgabe berichtete die Gefangenenzeitung, dass die beiden Insassen, die in dem Fernsehbeitrag zitiert wurden, von Mithäftlingen als »Anscheißer« beschimpft worden seien.

Zudem würden sie von der Gefängnisleitung mit Repressalien belegt. »Heute konnten sie sich über Durchsuchungen ihrer Zellen und all ihrer Körperöffnungen freuen«, schrieb Lichtblick mit einem Anklang von Schadenfreude.

Die in Tegel gegründete Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) solidarisierte sich hingegen in einer Pressemeldung mit den »engagierten Inhaftierten in der JVA Tegel, die anstaltsintern einem zunehmenden Repressionsdruck seitens der JVA Tegel ausgesetzt sind«. GG/BO-Sprecher Oliver Rast bezeichnet es im Gespräch mit der Jungle World als absurd, dass die Gefangenen, die den Tegeler Schmuggel aufzudecken halfen, mit Zellenrazzien und Verhören konfrontiert sind. Er betont, dass es sich beim Schmuggel nicht um Einzelfälle handele, und widerspricht damit dem Berliner Justizsenator. »Die uns vorliegenden Ausführungen des Hauptbelastungszeugen Timo F. legen nahe, dass es sich um ein organisiertes Netzwerk von 20 bis 30 Bediensteten handelt«, so Rast.

Für ihn ist die Schmuggelwirtschaft keine Überraschung, sie gehört in allen Haftanstalten zum Alltag. »Es ist längst an der Zeit, die Selbstbedienungs- und Selbstbereicherungsmentalität der JVA-Bediensteten öffentlich zu skandalisieren«, sagt der Gewerkschafter. Er kritisiert, dass die Knastarbeiter in der teilweise reißerischen Berichterstattung kaum vorkämen. »Dabei handelt es sich um eine zusätzliche Entwertung der menschlichen Arbeitskraft Inhaftierter, wenn auf der Billiglohninsel Knast von Gefangenen gefertigte Produkte gratis von Bediensteten entgegengenommen und womöglich in Eigenregie weitervertrieben werden.«

Die Gefangenengewerkschaft, die vor zwei Jahren gegründet wurde, sieht sich außerdem häufig gezwungen, die Grundrechte von Gefangenen zu verteidigen, die von Drogen oder Medikamenten abhängig sind. Mitte September beispielsweise berichtete die »Gefangenensolidarität Jena« über den seit Monaten erfolglosen Kampf von Oliver Gresenz, dem stellvertretenden GG/BO-Sprecher in der JVA Untermaßfeld, in ein Haftkrankenhaus nach Leipzig verlegt zu werden. Dort will Gresenz, der seit zwei Jahren von verschiedenen Medikamenten abhängig ist, eine Entzugstherapie beginnen. Die Gefängnisleitung lehnt die Therapie mit der Begründung ab, es gebe im Gefängniskrankenhaus zu wenige Betten. »Anstatt die Menschen zu behandeln, werden sie von der Knastmedizin mit harten Medikamenten ruhiggestellt, die selbst zu Abhängigkeit führen«, kritisiert die Jenaer Solidaritätsgruppe.

Auch die JVA Würzburg zwingt drogen- oder medikamentenabhängige Gefangene zum kalten Entzug (Jungle World 30/16). Die Rechtsanwältin Christina Glück, die einen der betroffenen Würzburger Häftlinge vertritt, spricht von einer Verletzung der Menschenwürde. Die Häftlinge litten vor allem am Anfang unter starken Entzugserscheinungen, klagten über schweren Durchfall und Erbrechen. Die in der JVA zuständigen Ärzte hielten trotzdem an dieser Form des Entzugs fest. Im Juli 2016 waren in der JVA Würzburg aus Protest gegen diese Haftbedingungen 47 Insassen elf Tage lang in einen Hungerstreik getreten. Ein Methadonprogramm für Gefangene im Entzug gehörte zu den Forderungen. Der Hungerstreik musste jedoch erfolglos beendet werden.

http://jungle-world.com/artikel/2016/39/54920.html

Peter Nowak

Codierte Hetze

Kevin Culina und Jonas Fedders über »Compact«

Die AfD hatte dieses Jahr einen handfesten Antisemitismusstreit. Ausgelöst wurde er durch die Schriften des mittlerweile zurückgetretenen AfD-Landtagsabgeordneten von Baden-Württemberg Wolfgang Gedeon. Für den hatte u. a. der Chefredakteur der Monatszeitschrift »Compact« Partei ergriffen – mit einem »Appell an die Einheit der AfD«: »Schließt keine Personen aus, deren Ausschluss der politische Gegner fordert, sondern stellt Euch gerade hinter solche Angegriffenen, auch wenn sie in der Vergangenheit politische Fehler gemacht haben.«

»Compact« habe sich innerhalb kurzer Zeit zu einem der relevantesten Querfrontorgane im deutschsprachigen Raum entwickelt, betonen die Sozialwissenschaftler Kevin Culina und Jonas Fedders. Vor allem Jürgen Elsässer wiederhole dort gebetsmühlenartig, Rechte und Linke sollten gemeinsam für »die Souveränität Deutschlands« kämpfen. Gegen wen? Washington, Brüssel – und »die Juden«. Culina/Fedders interessierten sich vor allem für den codierten Antisemitismus des Magazins. »Während der offen neonazistische Antisemitismus bisweilen aus politischen Diskursen ausgegrenzt wird, haben sich gewisse Artikulationsformen für antisemitische Ressentiments herausgebildet, welche zwar auf das starke Fortbestehen von antisemitischen Positionen in der Gesellschaft verweisen, aber nicht immer als solche (an)erkannt werden und daher bis weit in die selbst ernannte bürgerliche ›Mitte‹ hineinreichen.« Der codierte Antisemitismus sei de facto der kleinste gemeinsame Nenner.

Offen antisemitische Äußerungen wie sie von Gedeon zu lesen sind, wird man in »Compact« kaum finden. Es wird mit Metaphern und Bildern gearbeitet, die der Leser zu deuten versteht. Das offenbaren einige im Band nachgedruckte Leserbriefe, in denen »Compact« als letzter Verteidiger des freien Wortes hochgelobt wird. »Für den judenfeindlichen Gehalt einer Aussage über die ›Rockefellers‹ oder die ›Rothschilds‹ ist deren tatsächliche Religionszugehörigkeit von keinerlei Bedeutung, solange in einem breiteren Rezipient_innenkreis die Auffassung vorherrscht, es handele sich um einflussreiche Familien mit jüdischen Wurzeln. Adorno schrieb einst sehr treffend, der Antisemitismus sei ›das Gerücht über die Juden‹«, heißt es bei Culina/Fedders. Zum Schluss gehen sie noch auf die Kontroversen um die Friedensmahnwachen ein und mahnen, dass der Gefahr von »Compact« »viel mehr Widerspruch entgegengestellt werden muss«.

Kevin Culina/Jonas Fedders: Im Feindbild vereint. Zur Relevanz des Antisemitismus in der Querfront-Zeitschrift »Compact«. Edition Assemblage, Münster 2016. 96 S., br., 9,80 €.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1027175.codierte-hetze.html

Peter Nowak

Freizeitsperre nach Skandal im Gefängnis

Timo F. und Benny L. filmten in der Justizvollzugsanstalt Tegel, um nachzuweisen, dass dort hergestellte Produkte auf eigene Rechnung verkauft wurden. Nach Angaben der Gefangenengewerkschaft haben die beiden Häftlinge nun einen Monat lang nur anderthalb Stunden Aufschluss, da sie die Aufnahmen ohne Genehmigung gemacht hätten. Ihre Beschäftigungsverhältnisse seien beendet und ihre Fernsehgeräte eingezogen worden. »Es ist offensichtlich, dass es der JVA-Leitung nicht nur darum geht, vom anstaltsinternen Skandal des Schmuggels und der Hehlerei durch Bedienstete abzulenken, sondern die beiden aktiven Gefangenen regelrecht mundtot zu machen«, kritisiert der Pressesprecher der Gefangenengewerkschaft, Oliver Rast, in einer Pressemitteilung am Mittwoch.

Die Pressesprecherin der Justizverwaltung, Claudia Engfeld, bestätigt, dass gegen die beiden Häftlinge eine Freizeitsperre verhängt wurde. Ihre Beschäftigungsverhältnisse seien allerdings nicht beendet worden. Die Freizeitsperre sei eine Standardmaßnahme bei Regelverstößen. »Die beiden Männer werden exakt so behandelt wie andere Gefangene auch, die illegalerweise ein Handy besitzen«, sagt Engfeld. Sie sieht auch keinen Zusammenhang zwischen den Aufnahmen und dem Aufdecken des mutmaßlichen Schmuggels. »Die Videoaufnahmen sind nicht aus dem Gefängnis geschmuggelt worden, um ein mutmaßliches Fehlverhalten aufzudecken. Zu der Zeit, als die Aufnahmen mutmaßlich entstanden sind, hat die Polizei bereits seit Monaten ermittelt«, so Engfeld. Auf Bitten der Polizei seien die Ermittlungen geheim gehalten worden.

Peter Nowak

Ist die Zerstörung alter Kulturdenkmäler ein Verbrechen?

Die Frage müsste lauten, warum werden nicht soziale Sicherheit, Bildung und Kultur zum Weltkulturerbe erklärt?

„Malischer Kulturschänder verurteilt“, titelte[1] die bürgerliche FAZ und die TAZ, das schon längst dem Teenageralter entwachsende Blatt der Bürgerkinder, hat fast den gleichlautenden Aufmacher „Haft für den Kulturschänder“[2]. Beide Autoren betonen gleichermaßen, dass der malische Tuarag-Aktivist Ahmad al Faqi al-Mahdi noch recht glimpflich davon gekommen ist, weil er für seinen Anteil an der Zerstörung von Mausoleen in Timbuktu (siehe Islamistischer Bilderstürmer vor Gericht[3]) nur neun Jahre Haft bekommen hat. Wäre er nicht voll geständig gewesen und hätte er sich für die Zerstörungen nicht entschuldigt, wäre die Strafe sicher härter ausgefallen.

Nun scheint mit dem Urteil niemand ein Problem zu haben. Schließlich gehört der Angeklagte zu den Tuareg-Aktivisten, die zeitweise mit den Islamisten verbündet waren und in den von ihnen eroberten Gebieten eine Terrorherrschaft errichteten[4]. Tatsächlich gäbe es viele Gründe, den Islamisten und ihren Verbündeten den Prozess zu machen.

Dazu zählt ihr Terror durch eine brutale Scharia-Auslegung, die Verfolgung von Frauen, die sich nicht von den Islamisten unterdrücken lassen wollten, Grausamkeiten gegen Andersdenkende. Doch statt den Angriff auf Würde und Rechte der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, wird vom Internationalen Strafgerichtshof die Zerstörung alter Gemäuer als Kriegsverbrechen verurteilt.

Ein katholischer Heiliger als Kriegsverbrecher?

Dabei gehörte die Zerstörung von Kirchen und Gebäuden und Orten, die zu heiligen Städten erklärt worden waren, jahrtausendelang zur Praxis jeder Armee, die ein Gebiet besetzt hat. Es war in der Regel eine Machtdemonstration und sollte die Unterlegenen demoralisieren. Als sich in Europa das Christentum ausbreitete, war die Zerstörung von Heiligtümern der zu Heiden erklärten Indigenen ein wichtiger Bestandteil der Expansion.

Bonifatius soll einen für die Bewohner einer germanischen Provinz heiligen Baum gefällt haben, um ihnen zu demonstrieren, dass dort nicht der Donnergott wohnt, der Blitz und Verderben über die Menschen bringt. Bonifatius wird von Katholiken bis heute verehrt[5]. Teile seiner Reliquien werden noch immer im Dom zu Fulda von Gläubigen angebetet. Verehren sie damit einen Verbrecher, sogar einen Kriegsverbrecher?

Nach dem Urteil des Internationalen Strafgerichtshof könnte seine Tat so klassifiziert werden. Schließlich ließ Bonifatius den „heiligen Baum“ fällen, um die bisherige Kultur und Religion der Indigenen nachhaltig zu erschüttern. Das waren aber gängige Methoden aller Propheten, die eine neue Religion etablieren wollten. Dazu mussten erst die alten Glaubenssysteme und ihre heiligen Orte entweiht werden.

Daneben wurden solche Zerstörungen seit jeher in eroberten Gebieten durchgeführt. Das galt bei Kriegen in Europa, mehr noch aber in den von den Europäern eroberten Gebieten auf den afrikanischen, amerikanischen und asiatischen Kontinenten. Die noch heute heuchlerisch als Entdecker gefeierten Eroberer wären nach dem Urteil aus Den Haag alle Kriegsverbrecher.

Zerstörung von Kulturdenkmälern kann auch Befreiung zum Motiv haben

Doch gab es auch ein anderes Motiv der Zerstörung von alten Kulturdenkmälern. Bei Revolutionen kann damit der Sturz der alten, verhassten Ordnung symbolisiert werden. In der kurzen Zeit der Macht der Wiedertäufer in Münster, die in dem historischen Roman Q[6] des Künstlerkollektivs Luther Blissett als eine Mischung aus religiösem Wahn und Diktatur des frühbürgerlichen Proletariats beschrieben wird, war der Abriss des monumentalen Doms ein demonstratives Zeichen dafür, dass die alten Mächte verloren haben.

Es dauerte allerdings nur wenige Monate und die alten Herrscher eroberten die Stadt zurück und ließen den Dom noch monumentaler wieder aufbauen. Auch später zerstörten aufbegehrende Menschen Kulturstätten, Kirchen und Schlösser der alten Mächte, um damit deutlich zu machen, dass diese auch architektonisch ihren Einfluss verloren haben. Das war zum Beispiel während der spanischen Revolution der Fall, als vor allem die Landbevölkerung den verhassten Klerus und die Feudalgesellschaft damit bestrafen wollte, indem viele Klöster, Schlösser und Kirchen zerstört wurden.

Der Roman Ästhetik des Widerstands[7] von Peter Weiss beginnt mit einem langen Kapitel, in dem sich drei deutsche Antifaschisten vor dem in Berlin ausgestellten Pergamonaltar[8] über die Rolle von Kunst unterhalten.

Sie interpretieren die Motive des Altars als antike Klassenkämpfe und sehen in ihm ein Denkmal der Inspiration für ihre Kämpfe, das sie bewahren wollen. An einer Stelle kommt die alte Mutter eines der drei Antifaschisten kurz zu Wort, die einwirft, dass die Unterdrückten diese alten Steine weniger kulturphilosophisch betrachten würden. Für sie wären sie eher gute Barrikaden bei den Revolten. Auch für den Hausgebrauch könnten sie verwendet werden.

Weltkulturerbe ist eher ein Programm zur Förderung des Tourismus

So berichten immer wieder Archäologen, dass Dorfbewohner in Peru und Mexiko Steine für den Hausbau aus Stätten mitnehmen würden, die zum Weltkulturerbe erklärt worden sind. Kritiker sehen im Weltkulturstatus vor allem eine Förderung für zahlungskräftige Touristen, die sich an den alten Kulturen erfreuen wollen. Für die Bewohner der Umgebung habe das nicht immer positive Folgen.

Wenn nun der Internationale Gerichtshof sein Urteil damit begründet, dass die Denkmäler für die Bewohner von Timbuktu einen „hohen symbolischen und moralischen Wert“ haben, sind sicher die Ausrichter der Tourismusprogramme auch gemeint. Die meisten Menschen in dieser Umgebung aber profitieren davon nicht, dass alte Gemäuer zu Kulturdenkmälern erklärt werden. Was sie brauchen, ist eine soziale Versorgung, Bildung und Gesundheit.

Solche Forderungen wurden immer wieder von einer starken sozialen Bewegung in Mali gestellt, was in dem Film Bamako[9] von Abderrahmane Sissako[10] deutlich wird, der ein fiktives Sozialforum in Malis Hauptstadt zum Thema hat.

Dort werden viele drängende Probleme der malischen Bevölkerung angesprochen: Armut, Unterernährung, Perspektivlosigkeit und die Migration vieler junger Menschen. Der Schutz von alten Gemäuern gehört nicht dazu.

So sollte doch die Frage gestellt, warum nicht das Zur-Verfügung-Stellen sozialer Versorgungssysteme, von Bildung und Gesundheit zum Weltkulturerbe erklärt wird und alle die Kräfte in Politik und Wirtschaft, die dafür verantwortlich sind, dass dies nicht gewährleistet wird, juristisch zur Verantwortung gezogen werden?

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49549/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[0]

https://www.flickr.com/photos/magharebia/8456723770/in/album-72157627453032919/

[1]

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afrika/malischer-kulturschaender-in-den-haag-verurteilt-14455909.html

[2]

http://www.taz.de/!5339596/

[3]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49217/

[4]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49217/

[5]

http://www.bistum-fulda.de/bistum_fulda/bistum/bistumsheilige/heiliger_bonifatius.php

[6]

http://www.assoziation-a.de/buch/186

[7]

http://www.suhrkamp.de/buecher/die_aesthetik_des_widerstands-peter_weiss_45688.html

[8]

http://www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/antikensammlung/sammeln-forschen/3d-modell-des-pergamonaltars.html

[9]

http://www.archipel33.fr/site/index.php?option=com_content&task=view&id=287&Itemid=2&lang=fr

[10]

http://www.imdb.com/name/nm0803066

Rassistische Übergriffe im Berliner Mauerpark


Anfang September haben mutmaßlich rechte Fans des BFC Dynamo in Berlin Teilnehmer eines Grillfests des Kameruner Vereins angegriffen und verletzt – dass der Staatsschutz ermittelt, wurde in der Öffentlichkeit erst jetzt bekannt.

„Ich bin 22 Jahre in Deutschland und ich hätte nicht für möglich gehalten, dass ich mitten in Berlin angegriffen  werde und das mich die Polizei nicht schützen kann“, erklärte  Patrice Alain Zombou.  Der in Kamerun  geborene Berliner  ist noch immer empört, wenn er berichtet, was sich am 3. September gegen 20.00 Uhr im Berliner Mauerpark zugetragen hat. Dort hatte der Kameruner Verein ein Grillfest gefeiert. „Viele meiner Freunde,  darunter Frauen und Kinder waren fröhlich und entspannt. Dann brach Panik aus“, berichtete Zombou über die Situation,  als eine Gruppe von rund 200 Fans vom FC Dynamo die Gruppe attackierte.  „Erst beschimpften sie uns mit  rassistischen Sprüchen, dann griffen sie uns mit Flaschen an“, erinnert sich  Zombou. Er wurde dabei im Gesicht verletzt. Ein anderer Gast des Grillfestes erlitt so schwere Gesichtsverletzungen, dass er 12 Tage stationär im Krankenhaus behandelt werden musste. Er erstattete sofort Anzeige  wegen Körperverletzung.

Doch erst zwei Wochen nach der Tat wurde bekannt, dass der Staatsschutz ermittelt und dabei den Fokus auf rechte Fans des BFC Dynamo legt. Der Kameruner Verein  kritisierte am vergangenen Samstag auf einer Pressekonferenz am Tatort Mauerpark das Verhalten der Polizei. Gäste des Grillfeses hätten die Beamten, die die Abreise der Fußballfans absicherten, über den Angriff informiert, als die Täter noch vor Ort waren. Da die Polizei deren Personalien nicht aufgenommen hat, konnten bisher keine Tatverdächtigen festgestellt werden.

Überfall kein Einzelfall in der Gegend

Dass erst zwei Wochen nach dem Überfall bekannt wurde, dass der Staatsschutz die Ermittlungen aufgenommen hat, kritisiert auch die Opferberatungsstelle „Reach Out“. Der Pressesprecher der Berliner Polizei Thomas Neuendorf erklärte gegenüber der Zeitung „Der Tagesspiegel“, die Vorwürfe würden geprüft. Unmittelbar nach der Tat, sei der Polizei „eine Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe von Dynamo-Fans und einer Gruppe Menschen mit dunkler Hautfarbe“ bekannt geworden. Hinweise auf Straftaten habe es zunächst nicht gegeben.

Zivilgesellschaftliche Gruppen machten auf der Pressekonferenz am Samstag darauf aufmerksam, dass der Überfall vom 3. September kein Einzelfall in der Gegend rund um den Mauerpark ist, der eigentlich als  ein Ort gilt, an dem sich viele Touristen aus aller Welt treffen. „People of Color“, die mit der Situation vertraut sind,  meiden  an Sonntagen, an denen Fußballspiele im  angrenzenden Jahnstation stattfinden, die Gegend wegen der zunehmenden Präsenz rechter Fußballfans. Beschimpfungen vor allem von BFC-Anhängern seien an diesen Tagen keine Seltenheit. Davon betroffen waren in den letzten Monaten auch nichtdeutsche Mitarbeiter von Imbissen und das alternative Kneipenkollektiv Baiz.

http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/rassistische-bergriffe-im-berliner-mauerpark
Peter Nowak

Warum ist der Rassismus in Ostdeutschland so stark?

Wäre es nicht mehr als 25 Jahre nach dem Untergang der DDR Zeit für die Frage, welchen Anteil die Art und Weise der Wende am Aufkommen der Rechten hat?

Seit 1990 wird über diese Frage diskutiert. Namen wie Hoyerswerda und Rostock haben sich schließlich eingeprägt. Das Besondere dort waren nicht die rassistischen Anschläge, sondern die offensichtliche Tatsache, dass sich Teile der Bevölkerung offen als rassistischer Mob präsentieren.

Dass nur wenig später auch in Mannheim-Schönau ein rechter Mob aus Nazis und „besorgten Bürgern“ gegen Migranten vorgingen, ist schon weniger präsent. Auch aktuell sind rassistische Tatorte, die nicht in Ostdeutschland liegen, oft kein Thema. So wurde am 3. September 2016 mitten Touristenmagnet Mauerpark im „bunten“ Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg ein Grillfest von Menschen aus Kamerun von rechten Fußballfans überfallen.

Es gab mehrere Schwerverletzte. Die Polizei nahm zunächst die Daten der Angreifer nicht auf. Die Öffentlichkeit nahm kaum Notiz[1] davon. Erst zwei Wochen nach dem Angriff begann der Staatsschutz zu ermitteln[2].

Rassismus als Standorthindernis

Nun ist die Diskussion über die Ursachen des Rassismus in Ostdeutschland erneut laut geworden Anlass ist der jüngste Jahresbericht Deutsche Einheit der Bundesregierung, der „vom bedrohten Frieden“ spricht und den Rassismus als Malus bei der Entwicklung des Wirtschaftsstandorts Deutschland bezeichnet (Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland: „Es gibt nichts schönzureden“[3]).

Berlin, 10. November 1989. Bild: Sue Ream/CC BY 3.0

Hier zeigt sich schon, was die Verfasser des Berichts als eigentliches Problem ansehen. Nicht dass Menschen, die als Nichtdeutsche klassifiziert werden oder die einer deutschen Norm in anderer Hinsicht nicht entsprechen, um Gesundheit und Leben fürchten müssen. Vielmehr könnte Deutschland als Wirtschaftsstandort Schrammen bekommen.

Eine solche Sichtweise ist nicht neu. Immer wieder haben Kommunal- und Landespolitiker der verschiedenen Parteien in der Berichterstattung über den Rassismus mehr als in den Angriffen einen Imageschaden für ihre Gemeinde, die Stadt oder das Bundesland gesehen. Daher wurde eine kritische Zivilgesellschaft, eine antifaschistische Gruppe oder Medienvertreter schnell zum Feindbild von Politikern aller Parteien, die sich nur um das Image ihres Standorts sorgen.

Im Jahresbericht Deutsche Einheit wird vordergründig offen mit den Rassismus und den rechten Aktivitäten in Ostdeutschland umgegangen. Doch die Diskussion über die Ursachen machte schnell den Eindruck, als befänden wir uns in einer Zeitschleife und wiederholten die alten Debatten noch einmal.

Welchen Anteil hatte die DDR-Politik?

Vor 25 Jahren war es natürlich naheliegend zu fragen, welchen Anteil die Politik der DDR daran hatte, dass in Ostdeutschland ein Teil der Bevölkerung kein Problem damit hatte, vor brennenden Flüchtlingsheimen gemeinsam mit Nazikadern zu feiern. Es gab schließlich tatsächlich Anknüpfungspunkte für die Frage. In der DDR gab es keine 68er-Bewegung, der Anteil der Nichtdeutschen war geringer als in Westdeutschland etc.

In den letzten mehr als 25 Jahren sind sehr verdienstvolle Arbeiten über die Defizite im antifaschistischen Teil Deutschlands erschienen, der die DDR nach der Lesart der DDR ja gewesen ist. Zu erinnern sei nur an die Arbeiten des Historikers Harry Waibel[4], der kürzlich einige Fälle von Rassismus in der DDR aufarbeitete, die nicht ins offizielle Geschichtsbild der DDR-Führung passen.

Viele andere Arbeiten zu Antisemitismus und regressiven Antizionismus in der DDR wurden ausführlich diskutiert. Sie waren notwendig und auch politisch sinnvoll, wenn sie nicht dazu dienten, gegen die Realität das Vorbild BRD in hellem Licht erstrahlen zu lassen.

Die akribische Recherche über die blinden Flecken in der DDR hat höchstens das Ergebnis gebracht, dass es dort in puncto Rassismus und Antisemitismus in großen Teilen der Bevölkerung nicht so viel anders als in Westdeutschland aussah. Da brauchen wir nur das Thema, das Harry Waibel untersuchte, als Beispiel zu nehmen. Über die mangelhafte Aufarbeitung von rassistischen Verbrechen in Westdeutschland können zivilgesellschaftliche Gruppen sehr viel Aktuelles berichten.

Seit Jahren gibt es zwischen ihnen und der Polizei heftigen Dissens darüber, wann ein von Rechten verübter Anschlag[5] rassistisch und neonazistisch motiviert ist. In den 1950 und 1960er Jahren war es mit einer oft noch im NS sozialisierten Polizei und Justiz oft noch viel schwerer für Opfer rassistischer und antisemitischer Gewalt, Gerechtigkeit zu erlangen.

War die DDR nicht einfach zu deutsch?

Was zudem bei der Diskussion über Rassismus in der DDR oft auffällt, ist ihre Konzentration auf die SED und die von ihr beeinflussten Institutionen bei der Verantwortlichkeit. Ausgeblendet wird, dass es in West- wie in Ostdeutschland um die gleiche deutsche Bevölkerung handelte, die sich selber als deutsches Volk imaginiert, den NS-Staat bis zum Schluss weitgehend getragen hat und bis im Mai 1945 noch die letzten versteckten NS-Gegner und Juden nicht verschonte.

Da sich, wie Bert Brecht bereits 1953 feststellte, auch die SED kein anderes Volk wählen konnte, wäre doch die Frage, wie man im Osten und im Westen versuchte, dieser NS-sozialisierten Gesellschaft zivilisatorische Maßstäbe beizubringen. Im Westen wurden die hoffnungsvollen Ansätze der Reeducation, die wesentlich von deutschen Emigranten erarbeitet wurden, im Kalten Krieg bald zurückgedrängt, weil man das alte NS-Personal wieder brauchte.

In der DDR wurde in der Bildungsarbeit gründlicher mit der NS-Ideologie abgerechnet. Doch stalinistische Strukturen mit ihrem Autoritarismus, der Versuch, einen spezifischen DDR-Nationalismus zu entwickeln, sowie ein auch regressiver Antizionismus in der SED waren hier Hinderungsgründe.

Was das Thema Rassismus in Ostdeutschland angeht, muss aber zumindest im Jahr 2016 auch die Frage gestellt werden, wie die Politik der Wende, die Art der Übernahme und des Elitenaustausches dazu beigetragen hat, dass die Rechte in Ostdeutschland so stark wurde. Anfang der 1990er Jahre äußerten die Neonazis, was zuvor in der DDR verboten war, und gerierten sich damit als Widerstandskämpfer gegen die DDR und ihre Lesart des Antifaschismus.

Welchen Anteil hatte die Politik der Wende für den Rassismus in Ostdeutschland?

Zudem müsste bei einer Analyse des Rassismus in Ostdeutschland auch die Sozialpolitik betrachtet werden. Schließlich wurde Ostdeutschland politisch gewollt zum innerdeutschen Niedriglohnsektor mit hoher Abwanderung und geringer gewerkschaftlicher Organisierung. Soziale Einrichtungen aus der DDR wurden zum großen Teil geschlossen.

Es gibt schon seit mehr als zwei Jahrzehnten auch dazu Analysen und es fehlte auch nicht an Warnungen, dass sich hier aus politischen und sozialen Gründen eine rechte Szene etablieren könnte. Mit den rassistischen Pogromen sowie Pegida und ihren Ablegern hat sich diese Prognose bewahrheitet. Der Historiker Dirk Borstel[6] hat sich kürzlich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk[7] diesen Aspekten zumindest gestellt.

Man muss ein bisschen gucken, wie die Demokratie übers Land kam. Ein Teil der Bevölkerung hat sie erkämpft mit großen Hoffnungen und viele dieser Hoffnungen sind zumindest im Einzelnen, im Klein-Klein enttäuscht worden. Das sieht man am besten, wenn man ein bisschen mal vergleicht, wie in den 50er-Jahren im Westen die Demokratie kam. Da kam sie zusammen mit dem Wirtschaftswunder. Das heißt, man wusste, dieses System ist in der Lage, Arbeit zu schaffen, Wohlstand zu schaffen, eine positive Zukunft, diese Idee, dass es zumindest den eigenen Kindern später einmal besser gehen würde.

Das hat im Osten nicht stattgefunden, sondern im Osten wurde es für viele verbunden mit sozialem Abstieg, mit Ängsten, mit Unsicherheit, aber auch mit dem Wissen, dass die Perspektive in den einzelnen Regionen auch sehr unterschiedlich, in einigen ja bis heute auch sehr, sehr schlecht bis schwach ist.Dirk Borstel

Dirk Borstel

Borstel hätte noch deutlicher werden können. Viele derjenigen, die wirklich gegen den autoritären DDR-Staat gekämpft haben, wollten keine Wiedervereinigung, sondern eine demokratische DDR. Diese in der DDR-Oppositionsbewegung weit verbreitete Vorstellung wurde von den BRD- Institutionen nie ernst genommen.

Mit einer Bevölkerung, die sich mit Fahnen und Helmut-Helmut-Geschrei als Deutsche imaginierte, wurde das Klima für die Wiedervereinigung geschaffen. Nur dann kam eben kein Marshallplan, der im Westen den Wirtschaftsaufschwung brachte, sondern der Kapitalismus mit seinen Deregulierungen und seinen stummen Zwängen der Verwertung über die Menschen. Weil Borstel diesen Aspekt ausblendet, bleibt sein Schlussstatement doch mindestens naiv:

Und wir haben auch einen Teil der Bevölkerung, der sich mit der Demokratie tatsächlich nie wirklich arrangiert hat, der eigentlich was anderes wollte, früh schon auch völkische Vorstellungen hatte, andere Vorstellungen eines Zusammenlebens, und uns ist es in den 25 Jahren nicht gelungen, dieses Milieu, was heute zum Teil eben AfD wählt, tatsächlich auf die Seite einer liberalen, weltoffenen Vorstellung von Demokratie zu ziehen.Dirk Borstel

Dirk Borstel

Hier wird ein idealistischer Demokratiebegriff eingeführt, wie er vielleicht in Universitätsseminaren gelehrt wird. Denn in den letzten 25 Jahren haben die Menschen eben nicht mit der Demokratie, sondern mit Kapitalismus und seinen stummen, gar nicht demokratischen Zwängen Bekanntschaft gemacht. Eine Analyse, die diesen Aspekt ausspart, wird immer einen blinden Fleck haben.

Heute müsste also die Frage nicht mehr lauten, welche Verantwortung hatte die Politik der DDR daran, dass die Rechte heute in Ostdeutschland so stark ist, sondern welche Verantwortung die Politik nach der Wende als Ursache dafür hatte, dass für die meisten Menschen heute nicht die idealen Gesetze der Demokratie, sondern die Zwänge des Kapitalismus auf ihren Alltag einwirken.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49515/2.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[0]

https://en.wikipedia.org/wiki/German_reunification#/media/File:BerlinWall-BrandenburgGate.jpg

[1]

https://linksunten.indymedia.org/de/node/191102

[2]

http://www.reachoutberlin.de/de/content/mutma%C3%9Flicher-%C3%BCbergriff-im-mauerpark-dynamo-fans-sollen-kameruner-verletzt-haben

[3]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49485/

[4]

http://www.harrywaibel.de/

[5]

http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990

[6]

http://www.fh-dortmund.de/de/fb/8/personen/lehr/borstel/index.php

[7]

http://www.deutschlandfunk.de/deutschland-rechts-gibt-es-eine-voelkische-mobilisierung.694.de.html?dram:article_id=366448

Hooligans im Edelkiez

RASSISMUS 150 Menschen erinnern an Übergriff von Dynamo-Hools auf Fest im Mauerpark

„Das Problem heißt Rassismus“, stand auf dem Transparent, das am Samstagnachmittag am Eingang des Mauerparks in Prenzlauer Berg hing. Davor hatten sich etwa 150 Menschen versammelt, darunter auch Mitglieder des Kameruner Vereins in Berlin. Deren Grillfest war Anfang September von etwa 200 Fans des BFC Dynamo, der im Jahnstadion gegen den Hamburger
SV spielte, angegriffen worden (taz berichtete). Mehrere Menschen wurden verletzt, ein Mann musste mit Gesichtsverletzungen
zehn Tage stationär im Krankenhaus behandelt werden. Patrice Alain Zombou wurde bei dem Angriff von einer Flasche am Kopf getroffen. Am Samstag berichtete er über die Panik, die bei den Gästen des Fests – darunter viele Frauen und Kinder – ausbrach, als sie von dem rassistische Parolengrölenden Mob attackiert wurden. „Ich bin 22 Jahre in Deutschland und hätte nicht für möglich gehalten, dass ich mitten in Berlin angegriffen werde und dass mich die Polizei nicht schützen kann“, erklärte Zombou. Die Opferberatungsstelle Reach Out hatte die Kundgebung gemeinsam mit Antifagruppen vorbereitet. „Wir müssen
nicht auf Orte in Ostdeutschland zeigen, wenn es um rechte Übergriffe geht. Sie passieren auch im angeblich so bunten
Prenzlauer Berg“, erklärte eine Sprecherin der  (NEA).

Rechtes Duell am 2. Oktober

Antifagruppen wollen auch am kommenden Sonntag rund um das Jahnstadion präsent sein. Dann spielen dort mit BFC Dynamo
gegen Lokomotive Leipzig zwei Vereine mit einer rechten Fanszene.

aus Taz vom 26.9.2016

Peter Nowak

Linke EU-Kritik wieder möglich

Ein Kongress der Linkspartei in Berlin wirft Fragen auf

Nach der knappen Entscheidung für einen Brexit beim Referendum in Großbritannien brach in allen politischen Lagern zunächst das große Schweigen über die europäische Perspektive an. Nur die Rechten jubilierten. Selbst Parteien wie die FPÖ in Österreich taten so, als wäre die Entscheidung für den Brexit auch ihr Erfolg. Besonders in die Bredouille gerieten nach der strukturell rechten Entscheidung für den Brexit linke EU-Kritiker. Sollten sie aus Angst, den Rechten in die Hände zu spielen, ganz auf die eigene Kritik verzichten? Oder sollten sie im Gegenteil, ihre eigene linke Kritik stärker ausformulieren, gerade um den Rechten nicht das Monopol auf die EU-Kritik zu überlassen.

Diese Frage hat die von der Linken im Bundestag am Freitag organisierte Konferenz letztlich nicht beantwortet, die unter dem Titel „Krise der EU – Zeit für einen Neustart“ (https://www.linksfraktion.de/termine/detail/krise-der-eu-zeit-fuer-einen-linken-neustart/) offen gelassen. Die Konferenz wurde von Gregor Gysi eröffnet, der zunächst weit in die Geschichte zurückging. Er verordnete die Losung von den Vereinigten Staaten von Europa bei den Pazifisten und den NS-Gegnern. Dabei blendete er aus, dass es auch ein NS-Konzept eines unter Deutscher Hegemonie vereinigten Europas, ein Konzept, dass Brexit-Befürworter in Großbritannien sehr zur Empörung deutscher Medien in letzter Zeit immer wieder mal anführten.

Die Mär von den Millionen Migranten

Dabei waren auch von Gysi merkwürdige Thesen zu hören, wenn er mit dem Argument gegen den Bau einer Mauer zur Flüchtlingsabwehr eintrat, weil die in kurzer Zeit von Millionen Flüchtlingen gestürmt würde. Dabei scheint er nicht berücksichtigt zu haben, dass er damit selber das Bild von der „Flüchtlingsflut“ bedient, die auch unterschiedliche Rechte Gruppen bedienen.

Zudem hat Gysi nicht erklärt, woher er die empirischen Daten für diese Behauptung nimmt. In einen Passage malte der Politiker das Schreckensbild einer französischen Präsidentin Le Pen an die Wand, die in einer günstigen Stimmung ein Referendum über den EU-Austritt ihres Landes starten würde und dann wäre die Gemeinschaft endgültig tot. Die Beschwörung der Gefahr von Rechtsaußen dient meistens dazu, die Linke auf noch mehr Bündnisfähigkeit und Kompromisse mit der bürgerlichen Mitte einzustimmen und diese Absicht war bei Gysi klar erkennbar.

Wenn in der stärksten Macht der EU in Deutschland ein Politikwechsel gelänge, wäre das nach Gysis Meinung ein wichtiger Beitrag für diesen Neustart, so warb er für seine Lieblingsidee einer Regierung von SPD, Grünen und Linken.

Neustart statt radikaler EU-Kritik

Das Muster seiner Rhetorik war klar zu erkennen. Erst sparte er nicht mit klarer Kritik an der gegenwärtigen Verfasstheit der EU, um im nächsten Satz zu betonen, es gehe um einen Neustart und nicht um einen Abriss und Neubau.

Die Europäische Union sei undemokratisch, unsozial und in einer tiefen Krise, gab Gysi den scheinbar konsequenten Kritiker, um im nächsten Satz zu betonen, dass er nicht für eine Auflösung dieser EU, sondern für einen Neustart plädiere. Sein Hauptargument lautet, dass der Hauptverdienst der EU darin bestände, dass zwischen ihren Mitgliedsorganisationen keine Kriege geführt worden seien.

Auch den Euro kritisierte Gysi zunächst scharf. Er sei falsch konstruiert, betonte er mit Verweis auf seinen innerparteilichen Kontrahenten Lafontaine, der auf diese Missstände früh hingewiesen habe. Vor einer gemeinsamen Währung hätte eine Sozialunion stehen müssen, betonte Gysi. Im nächsten Augenblick warnte er allerdings vor einem Zurück zu nationalen Währungen. Also auch hier war die Absicht erkennbar, klare Missstände zu benennen, um dann vor einen radikalen Bruch zu warnen. Am Ende bekam er für die Absichtsbekundung, für ein soziales Europa zu kämpfen und die Linke in Europa zu stärken, viel Applaus.

Mit diesem Einleitungsreferat gab Gysi die Linie vor, auf der dieser Kongress beruhte. Eine auch scharfe Kritik an der Verfasstheit der EU wird dazu genutzt, um sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene einer entschiedenen Reformpolitik das Wort zu reden. Daher war es auch klar, dass Vorstellungen, wie sie im Zuge der Eurokrise durchaus nicht von radikalen Linken, sondern von Ökonomen, aber auch von Liberalen wie Soros formuliert[1] wurden, wie ein Ausscheiden Deutschlands aus dem Euro, auf der Konferenz ignoriert wurden. Solche Diskussionen passen nicht zum Bemühen, die Linke auch in Europa als konstruktive Reformkraft zu präsentieren.

Der allgemein dem linken Flügel der Linkspartei zugeordnete Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko formuliert in einem Interview[2] die Aufgabe der Linken in der europäischen Perspektivdiskussion ebenso allgemein wie nebulös: „Unsere Aufgabe ist es, darin eine alternative Form der europäischen Kooperation einzubringen.“

Auch Sahra Wagenknecht, die zu dem EU-kritischeren Teil der Linkspartei gerechnet wird, belässt es beim Aussenden widersprüchlicher Signale, die ausdeutbar sind. So forderte sie bereits unmittelbar nach der Brexit-Entscheidung einen Neustart der EU[3], kritisierte dort die schrillen Töne, mit denen die rassistische Grundierung umschrieben wird und sah im Brexit gleichzeitig sogar „die historische Chance, den Menschen ihre Stimme zurückzugeben“.

Syriza-Vertreter fehlten auf der Konferenz

Der Ausgangspunkt dieser Neustart-Diskussion war die Brexit-Entscheidung, ein Ereignis, bei dem die Linke nur eine geringe Rolle spielte. Ein Jahr zuvor gab es einen anderen linken Neustart-Versuch, der kurzzeitig viele Menschen motivierte. Das war die Wahl in Griechenland, die mit Syriza eine Partei an die Regierung brachte, die in der gleichen Europafraktion wie die Linkspartei ist. Kurzzeitig versäumte die Linkspartei es auch nicht, Tsipras als ihren Freund und Genossen herauszustellen.

Da fällt es schon auf, dass auf der Neustart-Konferenz weder Tsipras noch seine Kritiker zu finden waren. Auch der Kurzzeitfinanzminister Varofakis, der Schäuble und Co. auf die Palme brachte, aber viele in Europa mit seinem unkonventionellen Politikstil begeisterte, fehlte auf der Konferenz. Das wirft Fragen auf. Will man sich heute mit Tsipras nicht mehr zeigen, weil er dem Druck von Deutsch-Europa nicht standhalten konnte? Oder hat Tsipras kein Interesse mehr an einer zu engen Bindung an die Linkspartei. Schließlich hat er sich in letzter Zeit den europäischen Sozialdemokraten angenähert. Interessant wäre auch, ob die Neugründungsversuche von Varoufakis bei der Linkspartei eher als Konkurrenz oder als Unterstützung betrachtet werden-

Keine Experimente in Europa

Dabei dürfte sich die europäische Linke eine weitere Zersplitterung kaum leisten können. Schließlich bekam Gysi viel Applaus, als er die Schwäche der Linken auf europäischer Ebene beklagte.

Die dürfte sich auch den Einfluss der Linken auf die europäische Perspektivdiskussion auswirken. Schließlich haben auch wirtschaftsnahe Kreise den Brexit-Schock erholt und entwickeln neue Pläne für Europas Zukunft. Dazu gehören das Jaques Delors-Institut[4] in Berlin, dessen Direktor Henrik Enderlein in der Taz das Gegenprogramm zu den Plänen der Linken verkündete[5], ohne sie selber anzugreifen.

Neustart für europäische Proteste?

„Europa ist das Bindeglied zwischen dem Nationalstaat und der Globalisierung. Wer die offene Gesellschaft will, sollte Europa stärken. Und Europa stärken, das heißt nicht, das ganze EU-Projekt noch einmal neu aufzusetzen, sondern die kleinen, aber wichtigen pragmatischen Schritte zu gehen. Den großen Wurf, der alles noch einmal ganz neu und viel besser macht, wollen in der Regel nur theorieverliebte Wissenschaftler – und Populisten. Er würde Europa und Deutschland mehr schaden als nützen.“

Die wirtschaftsnahen Denkfabriken sehen das Wegbrechen Großbritanniens als Chance für eine Anpassung Europas[6], die mit den von der Linken geforderten Neustart wenig zu tun hat. So hoffen manche EU-Politiker die Militarisierung der EU nun zügiger vorantreiben zu können. Schließlich hat die britische Regierung aus Gründen der Souveränität hier eher gebremst.

Eine linke Europapolitik sollte auch diese Projekte nicht aus den Augen verlieren. Und sie sollten einen Neustart Europas nicht in erster Linie als Kooperation von Institutionen begreifen sondern als Lernprozess, wie es möglich ist, auf europäischer Ebene gemeinsame Proteste, Streiks und Arbeitskämpfe zu koordinieren.

Wie schlecht es damit bis heute bestellt ist, zeigte sich an der Nichtreaktion auf den Tod von Abd Elsalarm Ahmed Eldanf, der in der Nacht vom 14. auf den 15. September als Streikposten von Streikbrechern überfahren und tödlich verletzt wurde. Während in Italien Tausende Menschen dagegen protestierten, gab es in Deutschland überhaupt keine Reaktionen. Dabei richten sich die Arbeitskämpfe in der norditalienischen Logistikindustrie[7] gegen Konzerne, die in allen europäischen Ländern vertreten sind. Gemeinsame Proteste auf europäischer Ebene wären ein wichtiges Signal für einen linken europäischen Neustart. Bezeichnend, dass diese Aspekte bei der parlamentarischen Linken nicht erwähnt wurden.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49508/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/nachrichten/george-soros-eine-eurozone-ohne-deutschland-haette-weniger-probleme/8043396-2.html

[2]

http://www.jungewelt.de/2016/09-23/005.php

[3]

http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2377.referendum-in-gro%C3%9Fbritannien-zeit-f%C3%BCr-einen-neustart-der-eu.html

[4]

http://www.delorsinstitut.de/

[5]

http://www.taz.de/!5339040/

[6]

http://www.delorsinstitut.de/publikationen/alle-publikationen/brexit-als-chance-fuer-eine-konstitutionelle-reform-der-eu/

[7]

http://de.labournet.tv/video/6673/der-kampf-der-logistikarbeiterinnen-italien

Wärmedämmung verdrängt Mieter

Studie zu energetischer Sanierung in Pankow

Führt energetische Sanierung zu Verdrängung? Dieser Frage widmeten sich am Mittwochabend im Bildungsverein Helle Panke der Stadtsoziologe Christoph Schiebe und die Rechtsanwältin Carola Handwerg. Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Technischen Universität Berlin hatten sie die Verdrängung von Bestandsmietern durch die energetische Modernisierung in Pankow untersucht. Bisher gab es darüber kaum Daten. »Viele energetische Sanierungen sind den Behörden gar nicht bekannt«, sagte Schiebe. Informationen bekam er letztlich vom Mieterforum Pankow, das sich schwerpunktmäßig mit den Folgen von energetischer Sanierung auf die Bewohner befasst. Zudem führte er Interviews mit Betroffenen.

Besonders von Verdrängung betroffen waren seinen Ergebnissen zufolge Alleinerziehende, ältere Menschen, Hartz-IV-Empfänger und Studierende, die in Wohngemeinschaften leben. 107 Mieter waren 18 Monate nach Beginn der energetischen Modernisierung in ihren Häusern ausgezogen. Schiebe spricht von einer Reduzierung der Bewohner um 30 Prozent. Doch die Zahl der verdrängten Mieter sei höher, betonte Schiebe. Nicht erfassen konnte er die Bewohner, die sofort ausgezogen seien, nachdem sie von der geplanten energetischen Sanierung erfahren hatten. Es sei regelmäßig zu beobachten, dass vor allem Menschen mit geringen Einkommen aus Angst vor hohen Mieten schnell ausziehen.

Schiebes Fazit: Trotz individueller Beratung, Kappungsgrenzen und Härtefallregelungen konnte die Verdrängung von Mietern in Pankow durch energetische Sanierung nicht substanziell verhindert werden. Beraten lassen sich viele von Verdrängung bedrohte Mieter von der Rechtsanwältin Carola Handwerg. Ihr zufolge wird energetische Sanierung oft bewusst zur Verdrängung genutzt. Handwerg ist Mitglied des Arbeitskreises »Mietrecht« im »Republikanischen Anwältinnen und Anwälte Verein«. Der fordert die Abschaffung des Paragraphen 559 des Bürgerlichen Gesetzbuches, der die Grundlage für die energetische Sanierung bildet. »Damit werden günstige Wohnungen dem Markt entzogen und Menschen mit geringen Einkommen haben keine Chance.«

Dass energetische Sanierung nicht immer sinnvoll ist, zeigte Handwerg am Beispiel eines Hauses in der Pestalozzistraße. Ein Teil der Mieter hatte die energetische Sanierung akzeptiert, der andere Teil verweigerte sie. Mittlerweile stellte ein Gutachten fest, dass der Energieverbrauch in den sanierten Wohnungen sich nicht von dem in den unsanierten Teilen des Hauses unterscheidet. Handwerg bezeichnete dass Ergebnis als Glücksfall, das helfen könne, auch juristisch weiter gegen eine Methode vorzugeben, die sich auf die Umwelt beruft und der Verdrängung dient.

aus: Neues Deutschland, 23.9.2016

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1026472.waermedaemmung-verdraengt-mieter.html

Peter Nowak

„Nicht bunt, sondern schwarz und rot sind unsere Fahnen“

KAMPF Jahrelang war Bernd Langer in der autonomen Antifa. Jetzt hat er ein Buch geschrieben

taz: Herr Langer, warum veröffentlichen Sie Ihre eigene Geschichte der autonomen Antifa-Bewegung?
Bernd Langer: Ich möchte die Entstehung der heutigen Antifa authentisch erzählen. Dies kann ich am ehrlichsten anhand meiner Entwicklung. Ich war seit Ende der 70er Jahre, also von Beginn an, beteiligt. Das Buch geht aber weit über Biografisches hinaus, thematisiert die politischen und gesellschaftlichen
Entwicklungen jener Zeit.


Sie schreiben über Ihre Bemühungen Ende der 1980er, die autonome Antifa für andere politische Kräfte bündnisfähig  zu machen. Wo lagen die Probleme?
Vor allem im Dogmatismus pseudoradikaler Szene-Apologeten. In den 80er Jahren war die autonome Antifabewegung nur ein kleiner, militanter Haufen mit einer gut organisierten,  aber sehr abgeschotteten Struktur. Das führte in die Sackgasse. 1988 war ich maßgeblich an der  Organisierung einer Antifa-Demonstration im niedersächsischen Mackenrode beteiligt, welche durch ein Bündnis von Autonomen bis hin zu Teilen des DGB und der Sozialdemokratie zustande kam. Diese Kooperation traf allerdings bei vielen Autonomen auf Widerstand, man versuchte mich durch politische Machtspiele kaltzustellen,
die Bündnispolitik wurde zunächst nicht aufgegriffen.

Welchen Zweck verfolgten Sie Ende der 1980er Jahre mit der Initiative Kunst und Kampf, die mit Agitprop-Aktionen und Plakaten für Aufsehen sorgte?
Dabei ging es um Kulturfähigkeit, das heißt, aus den Kämpfen entstehen eine neue Kunst und Kultur. Nicht individuelle Urheberschaft, sondern das politische Kollektiv ist entscheidend. So war es auch wichtig, eigene
Symbole zu kreieren und zu verbreiten, wie das Logo der Antifaschistischen Aktion. Das traf damals bei großen Teilen der autonomen Szene auf Ablehnung.


Die heutige autonome Antifaist bündnis- und kulturfähig. Ein später Erfolg für Sie?

Kulturfähig? Na ja. Bündnispolitik wird heute allerdings von und mit großen Teilen der Antifa betrieben. Doch oft droht die eigene politische Kontur in einem diffusen bunten Allerlei aufzugehen. Nicht bunt, sondern schwarz und rot sind unsere Fahnen!

INTERVIEW PETER NOWAK


■■„Kunst und Kampf“. Unrast-Verlag, 256 Seiten, 19,80 Euro
■■Buchvorstellung, heute Abendab 20.30 Uhr im Stadtteilladen Zielona Gora, Grünberger Str. 73

■■ Bernd Langer geb. 1960 in Bad Lautenberg, lebt in Berlin. Er war in der autonomen Antifa aktiv und gründete die Initiative Kunst und Kampf.

Zwangsräumung der Ladenwohnung M99 in letzter Minute ausgesetzt


Das Berliner Landgericht korrigierte einen Beschluss des Amtsgerichts Kreuzberg-Tiergarten, das die Verwertungsinteressen des Vermieters vor die Mieterrechte setzte

Hans Georg Lindenau kann aufatmen. Die für den 22. September geplante Zwangsräumung seiner Ladenwohnung in der Manteuffelstraße wurde kurz vor dem Termin ausgesetzt. Das Berliner Landgericht hat am Mittwoch des 21. September entschieden, dass ein medizinisches Gutachten eingeholt werden muss.
In dem MieterEcho Online vorliegenden Beschluss heißt es:

„Es soll ein Gutachten eines Facharztes für Neurologie und/oder Psychiatrie zu der Behauptung des Schuldners eingeholt werden, die beabsichtigte Räumung sei für ihn mit einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben verbunden, da eine ernsthafte suizidale Handlung – im Falle einer Räumung – drohe.“

Mit dem Schuldner ist der rollstuhlabhängige Mieter Hans Georg Lindenau gemeint, der seit mehreren Monaten aktiv gegen seine drohende Räumung kämpft. Dabei  wird er von der Stadtteilinitiative Bizim Kiez und dem „Bündnis Zwangsräumung verhindern“ unterstützt  (siehe www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/m-99.html)

Wie sich  das Amtsgericht die Verwertungsinteressen des Vermieters zu Eigen macht

Doch genau dieser Widerstand wurde am  20. September vom Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg genutzt, um einen Räumungsaufschub aus medizinischen Gründen abzulehnen. In ihrer Begründung hatten sich die Richter/innen   die Verwertungsinteressen des Hauseigentümers vollständig  zu Eigen gemacht. Dort heißt es. „Das weitere Beherbergen des Schuldners könne nicht erfolgen. Neben nennenswerten finanziellen Verlusten (keine Neuvermietung möglich trotz  sehr guter Angebote, keine angemessene Nutzungsentschädigung) habe der Schuldner Haus und Mitbewohner gefährdet“. Ausdrücklich wurden Demonstrationen vor dem Haus als Beispiele für diese Gefährdung genannt.  Auch die Tatsache, dass Lindeau nicht in ständiger medizinischer Behandlung ist, wurde vom Amtsgericht als Argument gegen einen Räumungsaufschub herangezogen. „Obwohl es sich um „alte Leiden“ handelt, ist nicht ersichtlich, dass sich der Schuldner in ärztlicher oder therapeutischer  Behandlung befindet, um seine Gesundheit in einen „umzugsfähigen“ Griff zu bekommen. Dies hätte er aber tun müssen, denn es ist nicht Aufgabe seines ehemaligen  Vermieters, ihn ohne Mietvertrag zu beherbergen und ihm die Möglichkeit zu geben, sein Gewerbe zu betreiben“.
Mit dieser Entscheidung hebelte das Gericht die Möglichkeit eines Räumungsaufschubs für von Räumung bedrohtem Mieter/innen massiv aus. Das Landgericht hat in letzter Minute die Mieter/innenrechte wieder in den Mittelpunkt gestellt. Die Polizei hatte bereits rund um den Laden Gitter aufgebaut und Vorbereitungen für die Räumung getroffen. Nach dem Bekanntwerden der Aussetzung wurden die wieder abgebaut. Jetzt kämpfen Lindenau und seine Unterstützer/innen für einen Räumungsaufschub bis Ende Mai 2017 .Dann könnte Lindenau in eine Ladenwohnung in die Falkensteinstraße 46 umziehen. Der Vertrag ist bereits unterzeichnet. Dort ist explizit festgehalten, dass Lindenau die Räume für seinen „Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“  nutzen kann.

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/m-99-aufschub.html

MieterEcho online 21.09.2016

Peter Nowak

Das Fehlen einer linken Opposition


Ohne irgendwo zu regieren, bewirkt die AfD einen gesellschaftlichen Rechtsruck

Die Menschen haben die Bilder noch vor Augen, wie ein Zug von Tausenden von illegalen Migranten, angeführt von einem Polizeifahrzeug, über die Wiesen ins Land reingehen. Das sind die Bilder, die in den Köpfen sind.

Es war kein Politiker der AfD, der am Tag nach der Berlinwahl dieses Statement abgegeben hat. Nein, der CSU-Politiker Hans-Peter Uhl[1] hat im Deutschlandfunk-Interview[2] Bilder heraufbeschworen, die im Umfeld von Pegida verbreitet wurden und zum Aufstieg der AfD beigetragen hatten.

Unter dem Schlagwort „Das entgrenzte Deutschland muss beendet werden“, versuchte Uhl den Grundsatz seines politischen Ziehvaters Franz Joseph Strauß umzusetzen, wonach man rechts von der Union keine Partei aufkommen lässt, indem man deren Positionen mit übernimmt. Uhl konnte bei dem Interview gleich dokumentieren, wie gut das klappt. So erklärte er: „Die Menschen müssen wieder Vertrauen haben, dass wir eine Grenze ziehen

Hätte ein AfD-Politiker ähnliches von sich gegeben, wäre er sicher gefragt worden, ob er im Ernstfall auf Geflüchtete schießen lassen würde, um die Grenze zu sichern. Uhl wurde die Frage nicht gestellt.

Aufwind für rechte Positionen

Gönnerhaft erklärte Uhl, dass Merkel das Reizwort Obergrenze nicht aussprechen muss. Dafür muss sie aber „die Begrenzung, die Grenzkontrolle, die Zurückweisung an der Grenze, sie muss alles, was Schutz an den deutschen Grenzen bedeutet und auch natürlich an den europäischen Außengrenzen, an den Binnengrenzen in der Europäischen Union, all diese Grenzkontrollen muss sie wollen“.

Wenn Uhl erklärt, man müsse sich mit dem Wähler versöhnen, dann meint er, dass man den Rechtspopulisten die Wähler abspenstig machen will, indem man deren Programm übernimmt. Wenn er dann, an die Moderation gewandt, erklärt: „Denn am konservativsten, Frau Heuer, ist immer das Volk und das Volk will Schutz und Sicherheit und das Volk hat derzeit nicht das Vertrauen in die regierenden Parteien, dass sie Schutz und Sicherheit gewähren“, dann könnte man genau jene Rehabilitation des Völkischen raus hören, für die AfD-Vorsitzende Frauke Petry kürzlich scharf kritisiert wurde.

Und wenn Uhl auf die Frage, was passiert, wenn Merkel unter solchen Prämissen gar nicht mehr zur Wahl antritt, erklärt: „Das ist ihre ganz höchst persönliche Entscheidung. Das kann ihr niemand abnehmen. Nur das Desaster muss ein Ende haben, dass die CDU von Wahl zu Wahl verliert“, dann liest sich das wie eine direkte Aufforderung an Merkel zurückzutreten.

Nicht einmal die kleinste Floskel, dass der CSU-Politiker trotz aller Differenzen weiter hinter Merkel stehe, wurde eingefügt. Hier wird deutlich, dass der AfD-Erfolg wie zuletzt in Berlin auch den Rechten in der Union Auftrieb gibt. Die Unzufriedenheit mit Merkel verleiht in und außerhalb des Parlaments jenen rechten Kreisen Aufwind, die Merkel Verrat an alten konservativen Werten vorwerfen und eine stärker nach rechts orientierte Agenda fordern.

Mit jeder neuen Wahlniederlage werden die Angriffe von dieser Seite stärker. Teile der SPD und auch die FDP, die sich laut Diktion ihres Vorsitzenden Lindner wieder in den Bundestag schleicht, wollen von der Stimmung gegen Merkel profitieren.

Merkel rückt symbolisch nach rechts

Die Kanzlerin hat schon darauf reagiert und versucht sich in den letzten Tagen mit deutschnationalen Sprüchen in der Art von „Deutschland wird Deutschland bleiben“ – sowie mit einer halben Distanzierung von ihrer „Wir schaffen das“- Rhetorik, um bei ihrer eigenen Basis und der CSU-Führung für Entspannung zu sorgen.

Die CSU reagierte darauf mit hämischem Lob, das Merkel signalisiert: „Na, es geht doch. Langsam übernimmt sie unsere Linie.“

Diese Auseinandersetzung spielt sich auf einer symbolischen Ebene ab. Dort ist es oft besonders schwierig, sich davon zu verabschieden. Schließlich bekam Merkel gerade wegen dem „Wir schaffen das“-Spruch Unterstützung im liberalen und linken Lager. Doch inhaltlich sind die Positionen längst nicht so weit entfernt.

Schließlich wurden in den letzten Monaten mehrmals die Flüchtlingsgesetze verschärft. Die Zahl der angeblich sicheren Drittstaaten hat zugenommen und vor allem Roma aus Ostereuropa wurden in den letzten Monaten vermehrt abgeschoben. Ein Protest der Betroffenen am Denkmal für die im NS verfolgten und ermordeten Roma wurde von der Polizei schnell beendet. Könnte doch ein solcher Protest am geschichtlichen Ort manche Kontinuitäten aufzeigen, von denen das wieder erstarkte Deutschland nichts wissen will.

In der praktischen Politik der Flüchtlingsabwehr sind sich Merkels Anhänger und Kritiker also weitgehend einig. Es geht bei dem Streit um die Frage, wie man die Politik nach außen präsentiert. Will man eher ein tolerantes und weltoffenes Deutschland suggerieren, wie es Merkel und ein Großteil der exportorientierten Industrie vertritt oder soll sich das Land nicht vielmehr die Flüchtlingsabwehr zum Markenkern machen? Das sind im Wesentlichen die Fragen, über die seit letztem Herbst in der Union gestritten wurde.

Der Rechtsruck drückt sich auch an der Debattenkultur in Deutschland aus

„Besorgte Bürger“ heißt die Überschrift einer Kolumne in der Sächsischen Zeitung[3], bei der sich der als Pegida-Erklärer bekannt gewordene[4] Dresdner Politologe Werner Patzelt mit einen anderen Kommentator abwechselt Der zivilgesellschaftliche Blog Atticus warf ihm vor[5], in einem Kommentar Goebbels-Zitate und Nazivergleiche verwendet zu haben.

In der vergangenen Freitagsausgabe (16.09.) der Sächsischen Zeitung stellte Herr Prof. Dr. Patzelt von der TU Dresden in der Kolumne „Besorgte Bürger“ bedenkliche Vergleiche der Weltkriegsjahre ab 1914 und 1939 und unserer heutigen Zeit an. Damals wie heute würden Andersdenkende ausgegrenzt. Darin sieht Herr Patzelt eine Parallele zwischen den Gegnern des Nationalsozialismus und den heutigen Rechtspopulisten und betont im Umgang mit beiden gar eine Art „kulturelle Kontinuität“.Blog Atticus

Blog Atticus

Patzelt reagierte mit einer ausführlichen Antwort[6]. Es zeigt sich auf vielen Ebenen, dass die AfD-Erfolge den politischen Diskurs nach rechts verschieben, ohne dass sie irgendwo mitregiert. Allein die Tatsache, dass sie als die eigentliche Opposition wahrgenommen wird, die eine andere Republik will, sorgt dafür, dass sich Politiker, Medien und Öffentlichkeit mit den Thesen der AfD befassen.

Rechtsaußen in der Union wie Uhl bekommen durch einen AfD-Erfolg mehr Freiraum für ihre Thesen, natürlich noch mit der Erklärung, es gelte die AfD überflüssig zu machen. Sollte das in absehbarer Zeit nicht gelingen, wird in der Union eine Diskussion um die Kooperation mit der AfD beginnen. Einige Politiker aus der zweiten Reihe haben schon erste Testballons aufsteigen lassen (Wann wird es erste Bündnisse zwischen AfD und Union geben?[7]).

Einbeziehung der Parlamentslinken in die Regierung

Der AfD-Erfolg hat auch bei der parlamentarischen Linken einen Effekt, der einen Rechtsruck darstellt, auch wenn er als Linksruck gehandelt wird. Seit der Wahl in Berlin ist ein Projekt wieder im Aufwind, um das sich seit fast zwei Jahrzehnten Sozialdemokraten in den unterschiedlichen Parteien bemühen: eine Regierung links von der Union.

Nun ist zumindest Sahra Wagenknecht aufgefallen, dass rein rechnerisch eine solche parlamentarische Mehrheit im aktuellen Bundestag bestünde. Sie forderte[8] den SPD-Vorsitzenden Gabriel auf, noch vor der nächsten Bundestagswahl die rechnerische zu einer realen Mehrheit werden zu lassen.

Es gebe dafür sogar schon einen Fahrplan. Im nächsten Jahr stehen Wahlen im wichtigen Bundesland Nordrhein-Westfalen an. Sollten dort die drei Parteien der Reformlinken passabel abschneiden und die Union viele Stimmen an die AfD verlieren, könnte Gabriel einen der vielen Streitpunkte in der großen Koalition zum Anlass nehmen, aus der Regierung auszuscheiden und sich dann im Parlament zum Kanzler wählen zu lassen.

Dieser Paukenschlag würde, so die Hoffnung nicht nur von Wagenknecht, genügend Rückenwind für eine Mehrheit der Reformlinken im nächsten Bundestag geben. Der Fahrplan hört sich nicht schlecht an. Tatsächlich würde durch einen vorzeitigen Regierungswechsel der Eindruck erweckt, dass es bei den Wahlen tatsächlich um eine Richtungsentscheidung ginge.

Doch um welche Alternativen ginge es tatsächlich, in einem Land, in dem sich die Politik schon längst zugunsten der Wirtschaft selbst entmachtet hat? Welches Reformprogramm hofft Wagenknecht mit einem Kanzler Gabriel und einer neoliberalen Grünen Partei umzusetzen, die sich vielleicht lieber mit Kretschmann auf den Weg zu Schwarz-Grün machen will?

Erst zu Wochenbeginn hat Gabriel bei der Durchsetzung der CETA-Verträge in der eigenen Partei gezeigt, dass er ganz in der Tradition der SPD seit spätestens 1914 steht, die nie etwas beschließen wird, dass die Märkte und das Kapital verärgern könnte. Und wie hofft Wagenknecht neue Akzente in der Sozialpolitik zu setzen, wo aktuell die Bundesarbeitsministerin Nahles sich für angeblich sozialdemokratischen Akzente feiern lässt, bei der viele Erwerbslose und Migranten schlechter gestellt werden?

Ganz ausgeblendet wird zudem der gesamte Komplex der Außen- und Sicherheitspolitik. Dabei müsste die Linkspartei als Preis für eine Teilhabe an der Regierung auch offiziell ihren Frieden mit Marktwirtschaft und Nato schließen. Was bleibt dann noch übrig, von dem Mantra aller Linksparteipolitiker, dass die Linke die Friedenspartei bleibt? Tatsächlich würde eine solche Regierungsbeteiligung die letzten oppositionellen Elemente der Linkspartei tilgen.

Unterschiede zu Spanien und Griechenland

Dass wäre umso fataler, als es in Deutschland anders als in Spanien und Griechenland keine starke außerparlamentarische linke Opposition gab und gibt. Wie Nikolas Huke in seinen informativen Buch über die Krisenproteste in Spanien[9] darlegt, war dort der Aufstieg von linken Protestparteien eine Folge der Erschöpfung der außerparlamentarischen Bewegung.

Die Aktivisten brachten aber einen konfrontativen Politikstil auch in die neuen Parteien. Doch schon nach kurzer Zeit passten sich die Parteien den parlamentarischen Gepflogenheiten an.

Huke spricht trotzdem von „einem erfolgreichen Scheitern“, das die spanische Gesellschaft veränderte. Er meint damit, dass die Protestbewegung Menschen in ihren Alltagskämpfen am Arbeitsplatz und im Kampf gegen Zwangsräumungen ermutige. In Deutschland gibt es bisher nur wenig Ansätze solcher emanzipatorischer Selbstermächtigung.

Wie werden aus individualisierten Niedriglöhnern selbstbewusste Lohnabhängige?

Dem Co-Vorsitzenden der Linken Bernd Rixinger ist zuzustimmen, wenn er in einem Beitrag für die Wochenzeitung Kontext über die Gründe des gegenwärtigen Rechtsrucks schreibt[10]:

Die Ursache dafür, dass es überhaupt ein gesellschaftliches Klima geben konnte, in dem man den Höckes und Petrys plötzlich zuhört, ist das Ergebnis einer Politik, die aus selbstbewussten Kumpels erpressbare Lohnarbeiter gemacht hat, die Niedriglöhner gegen Erwerbslose ausspielt, die soziale Spaltung befeuert und statt die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen, Menschen zu hoch flexibilisierten Individualisten trimmt, die allein verantwortlich für ihr Schicksal und ihr Scheitern sein sollenBernd Rixinger

Bernd Rixinger

Der Linken-Vorsitzende hätte nur noch fragen müssen, wo seine Partei mehr dazu tun kann, dass aus flexibilisierten Lohnabhängigen wieder selbstbewusste kämpferische Lohnabhängige werden, die aus der Tradition der Arbeiterbewegung lernen können, ohne deren Pathos der Arbeit zu übernehmen.

Solange eine Linke innerhalb und außerhalb des Parlaments dazu nicht in der Lage ist, können AfD oder andere Rechte Erfolge verbuchen. Daher könnte ein neuer linksreformistischer Block, zu den ein Taz-Kommentator sogar die neue FDP zählt[11], in zweierlei Hinsicht einen Rechtsruck bedeuten. Zunächst werden die letzten transformatorischen Ansätze bei der Reformlinken über Bord geworfen und AfD und Co. können sich als die einzige Kraft gerieren, die die Gesellschaft noch verändern will.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49483/2.html

Anhang

Links

[1]

https://www.uhl-csu.de/

[2]

http://www.deutschlandfunk.de/csu-politiker-uhl-im-verhaeltnis-der-waehler-zu-den.694.de.html?dram:article_id=366278

[3]

http://www.sz-online.de/sachsen/besorgte-buerger-t67.html

[4]

http://www.heise.de/tp/news/Ist-Patzelt-Pegida-Erklaerer-oder-versteher-2542334.html

[5]

https://www.facebook.com/atticusdresden/posts/1227743873965416:0

[6]

http://wjpatzelt.de/?p=965

[7]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49339/

[8]

http://www.deutschlandfunk.de/rot-rot-gruen-wagenknecht-ermuntert-gabriel-zu-machtwechsel.447.de.html?drn:news_id=658126

[9]

https://www.edition-assemblage.de/krisenproteste-in-spanien/

[10]

http://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/285/kein-herz-fuer-reiche-und-rechte-3867.html

[11]

http://www.taz.de/!5337177

Schmuggel ist Knastalltag

Schiebereien von Beamten und Häftlingen in der JVA Tegel sind symptomatisch

Justizvollzugsbeamte des Männergefängnisses Tegel sollen seit Jahren in großem Stile Waren aus den Gefängniswerkstätten hinaus gebracht und auf eigene Rechnung verkauft haben. Zur Schmuggelbande in Deutschlands größtem Männerknast sollen auch Häftlinge im sogenannten Fahrdienst gehört haben. Diese Vorwürfe erhoben zwei Gefängnisinsassen vor den Kameras des ZDF-Politmagazins »Frontal 21«. Die Sendung wurde letzte Woche ausgestrahlt.

Aber auch in die andere Richtung soll geschmuggelt worden sein: Auf Bestellung habe die Fahrtruppe den Häftlingen »Handys, besseres Essen oder mal ein paar Pornos« mitgebracht. 70 Euro habe so ein Wunschpaket gekostet, erzählen die beiden Männer, im Fernsehvideo Timo F. und Benjamin L. genannt. Von ihren Mithäftlingen werden sie nun als »Anscheißer« beschimpft. Gegen mindestens einen Vollzugsmitarbeiter ermittelt jetzt der Staatsanwalt: »Verdacht der Bestechlichkeit« und »Erpressung« lauten die Vorwürfe.

»Routine oder Einzelfall?« fragt die traditionsreiche Gefangenenzeitung »Lichtblick« in einem »Extrablatt« zu den Tegeler Vorfällen. Während die Sprecherin des Justizsenators, Claudia Engfeld, das »wirklich nicht entschuldbare Verhalten eines einzelnen Beamten« konstatiert, interpretiert »Lichtblick« die Tegeler Geschäfte eher als Regel, denn als Sonderfall: »Gefangene und Beamte, die hier sauber bleiben und nicht die Chance nutzen, was zu drehen, sind eher die Ausnahme.«

Den Schmuggel sehen sie als Symptom eines kranken Justizapparates: »Überstunden, Aufgabenanhäufung, ein Dienstherr, der ihnen bei Problemen in den Rücken fällt, und zu guter Letzt die bescheidene Bezahlung« der Beamten trügen zu personellem Notstand bei. Die miesen Bedingungen müssten die Gefangenen dann ausbaden in Form gekürzter Besuchszeiten, reduzierter Ausführungen und gestrichener Freizeitangebote. Auf beiden Seiten wachse der Frust und münde in Aggressivität gegenüber den Bediensteten. »In den meisten Fällen die falsche Adresse«, schreibt der anonyme Autor des »Lichtblicks«.

Auch Oliver Rast von der Gefangenengewerkschaft BB/GO sieht in dem Tegeler »Skandal« keinen Einzelfall: »Die uns vorliegenden Ausführungen des Hauptbelastungszeugen Timo F. legen nahe, dass es sich um ein organisiertes Netzwerk von 20 bis 30 Bediensteten handelt«, erklärt Rast gegenüber »nd«. Ihn überrascht die Schmuggelwirtschaft keineswegs, vielmehr gehöre sie in allen Haftanstalten zum Alltagsgeschäft. In der jetzt durch die Fernsehsendung losgetretenen öffentlichen Debatte um Schmuggel und Hehlerei im Knast kommt dem Gewerkschafter Rast jedoch ein Aspekt zu kurz: die Ausbeutung von Häftlingen in der »Billiglohninsel Knast«.

Seine Gefangenengewerkschaft hatte übrigens erst am vergangenen Wochenende den Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union entgegennehmen dürfen. Die Menschenrechtsorganisation will damit auch auf die dringende Reformbedürftigkeit des deutschen Strafvollzugswesens hinweisen, so ist auf ihrer Homepage nachzulesen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1026149.schmuggel-ist-knastalltag.html

Peter Nowak

Proteste gegen TTIP statt soziale Kämpfe im eigenen Land

Mit dem Widerstand gegen TTIP und CETA kann man anscheinend gegen den Kapitalismus wettern, ohne die wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland oder anderswo auch nur anzukratzen

Als großartigen Erfolg „für die freihandelskritische Bewegung“ bewertet[1] das Netzwerk Attac die Demonstrationen von ca. 320.000 Menschen gegen TTIP und CETA am 17. September in sieben deutschen Städten. Dabei wurde in der Pressemitteilung schnell klar, dass es Attac darum geht, innerhalb der SPD die freihandelskritischen Kräfte zu stärken.
Diese Kritik von Peter Nowak ist berechtigt, aber sie ändert nichts daran, dass die Bewegung gegen CETA und TTIP – in ihren Auswirkungen – eine antikapitalistische Bewegung ist. Ganz gleich, welche Illusionen sich Teile der Bewegung machen, ist diese Bewegung antikapitalistisch, weil sie sich einen virtuellen Platz am Verhandlungstisch des Großkapitals erkämpft hat.

Profitproduktion und ihres Handelsaustausches, und sie können nicht verhindern, dass sich das „tumbe Volk“ in diese Verhandlungen einmischt. Mit dieser Einmischung in die Entscheidungen der globalen Großkonzerne wird das Eigentumsrecht der Kapitalisten auf höchster Ebene in Frage gestellt. „Eigentumsrecht“ heißt ja nichts anderes, als die freie Entscheidung über eine Sache.
Diese freie Entscheidung über die Produktions- und Handelssachen wird durch die Bewegung gegen CETA und TTIP gebrochen und durchbrochen.
Hinter der Bewegung gegen CETA und TTIP steht die Enteignung des Kapitals, steht die Aneignung der Produktionsmittel durch das lohnabhängige Volk.
Wir sollten falsche Ansichten in dieser Bewegungund mit dieser Bewegung kritisieren, aber wir sollten mit den falschen Ansichten nicht die ganze Bewegung in Frage stellen.

Die Überschrift über Peters Artikel konstruiert einen Gegensatz zwischen dem Kampf gegen TTIP und CETA und den sozialen Kämpfen in Deutschland.
Der Kampf gegen TTIP und CETA steht aber nur soweit in Konkurrenz zu den anderen sozialen Kämpfen in Deutschland, als man TTIP und CETA mit nationalistischen und sozialdemokratischen Beweggründen kritisiert.
Die Bewegung gegen TTIP und CETA steht nur dann in Konkurrenz zu anderen sozialen Kämpfen in Deutschland, wenn nicht genügend deutlich gemacht wird, dass es bei TTIP und CETA um ein Komplott des amerikanischen und europäischen Kapitals handelt zunächst gegen die erstarkende Konkurrenz der BRIC-Staaten, dann aber auch gegen die sozialen und ökologischen Interessen der Lohnabhängigen und aller NIchtkapitalisten in beiden Hemisphären,
meint Wal Buchenberg

Protestzug in Berlin. Bild: Stephanie Handtmann/attac.de

Die Vernunft und die SPD

Schon im Titel macht Attac deutlich, welche Botschaft von der Demonstration ausgegangen sein soll: „Gabriel muss zur Vernunft kommen“, heißt es da – und dann betont Roland Süss vom Attac-Aktionskreis noch einmal:

Die Demonstrationen sind zudem ein deutliches Zeichen, dass der Versuch von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel gescheitert ist, der Bevölkerung das geplante Abkommen mit Kanada als harmlos zu verkaufen. Jetzt ist es an den Delegierten des nicht öffentlich tagenden SPD-Parteikonvents am Montag, Gabriel zur Vernunft zu bringen.Roland Süss

Roland Süss

Davon abgesehen, dass sicher nicht alle derjenigen, die am Samstag gegen TTIP und CETA auf die Straße gegangen sind, ihr Engagement auf Spielgeld für Konflikte innerhalb der SPD reduzieren lassen wollen, ist es auch fragwürdig, dass Attac Gabriels Eiertanz um TTIP und CETA zur Frage der Vernunft erklärt. Solche emotionalen Anwandlungen sind Teil einer populistischen Rhetorik, die nicht nur Parteien wie die AfD gut beherrschen. Doch gerade emanzipative Kräfte sollten von Interessen reden, die hinter bestimmten politischen Entscheidungen stehen und könnten beispielsweise über die unterschiedlichen Kapitalfraktionen informieren, die mehr oder weniger Interesse an Abkommen wie CETA und TTIP haben.

Drückt sich in Gabriels Eiertanz gerade dieses Lavieren zwischen den unterschiedlichen Kapitalfraktionen und dann noch den Willensbekundungen einer SPD-Basis aus, die in der Frage von TTIP und etwas weniger auch bei CETA eine Renitenz an den Tag legt, die man beispielsweise bei von der SPD maßgeblich forcierten Entscheidungen wie der Agenda 2010 vermisst hat. Man könnte sogar die Vermutung äußern, dass für viele SPD-Mitglieder und auch Funktionäre, vor allem der mittleren Ebene, die Gegnerschaft zu TTIP und CETA der Ersatz dafür ist, dass nicht wenigstens versucht wird, den real existierenden Kapitalismus für den Großteil der Menschen etwas sozialer zu gestalten.

Genau das war über Jahrzehnte das sozialdemokratische Kerngeschäft und wurde mit Begriffen wie Humanisierung der Arbeitswelt und sozialer Kapitalismus bezeichnet. Reformen sollten nach diesen sozialdemokratischen Vorstellungen dazu beitragen, dass die Arbeitszeit verkürzt, die Mitbestimmung in den Betrieben ausgeweitet wird. So sollte der Kapitalismus für die Lohnabhängigen zumindest erträglicher gemacht werden. Doch spätestens in der neoliberalen Phase bekam der Begriff Reform einen neuen Klang. Er kündigte den Lohnabhängigen weitere Verschlechterungen ihrer Lebenssituation, Kürzungen von Leistungen und Verlängerungen von Renten- und Arbeitszeiten an. Die Hartz IV-Reform war dafür nur das prägnanteste Beispiel.

Dieser Wandel ist damit zu erklären, dass der weltweite Konkurrenzkapitalismus auf der Jagd nach immer besseren Verwertungsbedingungen auch nicht mehr die kleinsten Verbesserungen zulassen will. Damit begann aber auch der Niedergang der Sozialdemokratie, weil es eben die Hoffnung nicht mehr gab, durch kleine Reformen Verbesserungen der eigenen Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu erreichen.


Ersatzhandlung TTIP

Wenn schon die Kapitalverhältnisse und die Standortlogik selbst die kleinsten Verbesserungen für die Masse der Bevölkerung nicht mehr ermöglicht, bekommen Abkommen wie TTIP oder CETA die Funktion einer Ersatzhandlung. Man kann scheinbar gegen den Kapitalismus wettern, ohne den eigenen Standort auch nur anzukratzen. Im Gegenteil, man kann sich als Verteidiger des „eigenen“ Kapitalstandortes feiern lassen, den man gegen fremde Standorte, hier besonders die USA, verteidigen will. Damit gelingt es in Zeiten, wo es über den wichtigen Alltagswiderstand der Betroffenen hinaus kaum relevanten Widerstand gegen die ständigen Verschlechterungen für Erwerbslose, prekär Beschäftigte und Migranten in Deutschland gibt, Massen auf die Straße zu bringen.

Am ersten Septemberwochenende beteiligten sich maximal 800 Menschen an einer Protestaktion[2] vor dem Bundesarbeitsministerium (Erst herrscht Ruhe im Land[3]), das in der letzten Zeit zahlreiche Verschlechterungen für Erwerbslose und Migranten zu verantworten hat, eben die Reformen im Zeitalter des Neoliberalismus.

Wenn nun zwei Wochen später 320.000 gegen TTIP auf die Straße gehen, dann ist das kein Zufall. Im ersten Fall hätte man sich mit einen deutschen Staatsapparat anlegen müssen, der alles tut, um die Kapitalverhältnisse am Standort Deutschland zu verbessern. Ein Protest dagegen hätte eine Distanz oder sogar eine Kritik am Standort Deutschland zur Voraussetzung. Proteste gegen TTIP und CETA hingegen können den Standort Deutschland entweder ganz ausklammern oder ihn sogar verteidigen vor Angriffen aus Übersee. Das ist auch der Grund, warum sämtliche Parteien rechts von der Union gegen TTIP[4]. Die AfD liefert die Begründung[5] präzise mit:

Gerade bei den vielfältigen Interessen der EU-Staaten muss man darauf bestehen, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten, insbesondere Deutschland, direkt am Verhandlungstisch sitzen. In Bezug auf die USA sehen viele Bürger Deutschland und die EU als einen unterlegenen Junior-Partner und das Freihandelsabkommen als eine willkommene Gelegenheit für den Stärkeren, seine Macht noch weiter auszubauen.AfD

AfD

Die AfD befürwortet also eigentlich den Freihandel, sieht aber in den Vertrag die deutschen Interessen zu wenig berücksichtigt. Wenn man liest, wie auf rechten Webseiten gegeifert[6] wird, dass Konzerne wie VW in den USA für ihre Vertragsverletzungen in Sachen Umweltschutz zur Kasse gebeten werden, ahnt man, dass sich hier ein Antiamerikanismus mit einer Formierung zur deutschen Volksgemeinschaft paaren können, in der der ehemalige Nazikonzern VW natürlich eine besondere Rolle spielt.

Vergleich zur deutschen Anti-Pershing-Bewegung der 1980er Jahre

Ein Großteil der Gegner von TTIP und CETA, die am Wochenende auf die Straße gegangen sind, würden sich von einem solchen extremen Standortnationalismus distanzieren. Deswegen durfte die AfD-Führung auf den Demonstrationen auch offiziell nicht teilnehmen (AfD auf einer TTIP-Demo unerwünscht[7]). Wie viele AfD-Wähler dabei waren, ist natürlich nicht so leicht zu ermitteln. Aber wie bei den vorigen Anti-TTIP-Demonstrationen gab es auch am Wochenende Parolen, die zumindest auch einer deutschnationalen TTIP-Kritik gegenüber offen sind. Hier gibt es durchaus Parallelen zu den Massendemonstrationen der als Friedensbewegung firmierenden Anti-Pershing-Bewegung der 1980er Jahre. Auch damals war sie eher von der Traditionslinken dominiert, aber es gab auch genügend Raum für deutschnationale Untertöne, in denen sich diejenigen ausdrücken konnten, die den Alliierten nicht verziehen haben, dass sie 1945 gemeinsam das NS-Deutschland besiegten. Daher traf auch der Publizist Wolfgang Pohrt einen wunden Punkt, als er in der Friedensbewegung der 1980er Jahre eine deutschnationale Erweckungsbewegung[8] erkennen wollte.

Wenn nun die Taz in ihrer TTIP-CETA-Beilage über die Demonstrationen gegen TTIP und CETA schreibt: „Die Proteste sind damit so mächtig, wie einst die gegen die Stationierung von Atomwaffen, den Transport von Castoren oder die Globalisierung“, dann ist es auf jeden Fall angebracht, sich einige Fragen zu stellen. Wird mit dem Kampf gegen die Globalisierung nicht gerade gegen die Aspekte im Kapitalismus mobilisiert, die zumindest von Karl Marx noch auf dessen Positivseite verbucht worden sind? Und kann eine Bewegung, die die Globalisierung und nicht die Ausbeutung und die Verwertung im Kapitalismus zum Gegenstand ihrer Kritik macht, sich wirklich inhaltlich so klar von einer AfD oder einem Donald Trump distanzieren, wie es die Organisatoren der Demonstrationen verbal in den letzte Wochen getan haben?

Solche Fragen zu stellen, bedeuten nun keineswegs, etwa TTIP und CETA emanzipatorische Ziele und Zwecke unterzuschieben oder die Masse der Demonstranten, die am Samstag auf die Straße gegangen sind, in die rechte Ecke zu stellen. Es soll vielmehr deutlich werden, dass es nicht diese Verträge sind, die den Kapitalismus für viele Menschen so unerträglich machen. Wenn Kapitalismuskritiker mit dieser Intention auf die Demonstrationen gegangen sind, konnten sie sie vielleicht als Forum nutzen, um einigen TTIP-Kritikern diese Zusammenhänge näher zu bringen. Roland Röder von der Nichtregierungsorganisation Aktion 3Welt Saar[9] hat diesen Zusammenhang in einem Kommentar[10] in der linken Wochenzeitung Jungle World auf den Punkt gebracht:

Alles in allem gibt es gute Gründe, gegen TTIP zu sein – die leidigen informellen Schiedsgerichte, die noch nicht mal den Anschein von Öffentlichkeit wahren, sind einer davon. Aber es gibt keinen Grund, TTIP zum letzten Gefecht zu erklären. Das ist NGO-Propaganda im Katastrophenmodus. Gegen TTIP zu sein, ist so sinnvoll wie gegen Arbeitsverdichtung und für Lohnerhöhungen zu sein. Nur schafft man damit keine Ausbeutung ab, weder national noch international. Wie auch, schließlich gibt es einen fairen Kapitalismus genauso wenig, wie es faires Wetter gibt.Roland Röder

Peter Nowak
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49455/1.html

Anhang

Links

[0]

http://attac.de

[1]

http://www.attac.de/ceta-demos-impressionen

[2]

http://berlin.blockupy-frankfurt.org/

[3]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49322/

[4]

http://www.taz.de/!5338407/

[5]

http://www.alternativefuer.de/programm-hintergrund/hintergrundinformationen/freihandelsabkommen/

[6]

http://www.pi-news.net/2016/09/vw-bosch-und-deutsche-bank-sollen-milliarden-blechen

[7]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49252/

[8]

http://www.zeit.de/1981/45/ein-volk-ein-reich-ein-frieden

[9]

http://www.a3wsaar.de/

[10]

http://jungle-world.com/artikel/2016/36/54791.html

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Kommentar von Wal Buchenberg  zu den Artikel auf dem Blog marx-forum:

http://marx-forum.de/Forum/index.php/Thread/234-Was-uns-bl%C3%BCht-TTIP-und-CETA/?postID=3696#post3696

In den vergangenen Wochen und Monaten sind Hunderttausende gegen die geplanten Abkommen CETA und TTIP auf die Straße gegangen.
Peter Nowak hat ganz recht, manche Illusionen und Motive der Bewegung gegen CETA und TTIP zu hinterfragen. Es gibt tatsächlich Kräfte in dieser großen Bewegung, die diese beiden Abkommen mittels „Standortlogik“ kritisieren. In ihrer Logik sind das europäische Kapital und die EU-Bürokraten eigentlich gut, und werden vom „bösen“ US-Kapital auf die schiefe Bahn des Abbaus sozialer und ökologischer Standards getrieben.
Diese nationalistische „rosa Brille“ macht es möglich, dass sich auch antiamerikanische Anhänger der Rechten unter die Demonstranten mischen.

Nationalbefreite Zone Bautzener Kornmarkt

Opfer werden zu Tätern: Polizei verhängte ein Alkohol- und Ausgehverbot für Geflüchtete

„Jagdzeit in Sachsen“[1] titelte der Spiegel vor fast genau 25 Jahren, als in Hoyerswerda der „hässliche Deutsche“ sein Comingout hatte. „Fünf Terror-Nächte lang haben Halbwüchsige mit Flaschengeschossen, Leuchtspurmunition und Steinen die Asylantenunterkünfte sturmreif geschossen. Nun können die Behörden, die lange tatenlos zugeschaut haben, ‚die Sicherheit der ausländischen Mitbürger‘ nicht mehr länger garantieren und lassen evakuieren“, beschrieb der Spiegel damals die Situation sehr treffend.

25 Jahre später ist wieder Jagdzeiten in Sachsen. Im knapp 35 Kilometer von Hoyerswerda entfernten Bautzen konnten die Rechte erneut einen Sieg feiern. Nachdem extrem Rechte gezielt Jagd auf Migranten gemacht haben, die sich am Bautzener Kornmarkt aufgehalten haben, wies die Polizei nicht etwa diese in die Schranken, sondern verhängte ein Alkohol- und Ausgehverbot für Geflüchtete.

„Die Polizei in Bautzen lobt sich für die Wiederherstellung der Ruhe in der Stadt. Tatsächlich hat sie den Rechtsextremen das Feld überlassen, indem sie die Flüchtlinge in ihre Unterkünfte sperrt“, beschrieb[2] der Spiegel den erneuten Sieg der Rechten in Sachsen. „Die unschönen Szenen, wie sie an den vergangenen Abenden am Kornmarkt zu sehen waren, gab es heute nicht“, wird der Bautzener Polizeidirektor Uwe Kilz zitiert[3].

Während der Spiegel aufzeigte, dass die neue Ruhe in Bautzen heißt, dass die Polizei umsetzt, was ein rechter Mob fordert, hat die Zeit die Polizei-Version[4] komplett übernommen. „Gewalt ging von alkoholisierten Asylbewerbern aus“[5] titelte die Wochenzeitung ohne jede kritische Distanz und versuchte nicht einmal zu erklären, warum dann ein Foto von einem verletzten Flüchtling unter dem Artikel zu sehen ist. Da unterschied sich die Diktion des Zeit-Artikels kaum von den Beiträgen[6] der rechtspopulistischen PI-News, in denen die rassistischen Übergriffe als Zivilcourage der Bevölkerung verklärt werden und der parteilose Bautzener Oberbürgermeister angegriffen wird, weil er in Zeitungsartikeln erklärte[7], dass Bautzen nicht zur Spielwiese gewaltbereiter Rechte werden darf.

Wenn die Zeit nicht mehr von PI-News und Junge Freiheit zu unterscheiden ist

Wenn die Zeit kaum noch von PI-News in ihrer Berichterstattung zu unterscheiden ist, muss sie sich auch nicht wundern, dass sie auch deren Leser und Kommentatoren übernimmt, die gleich von drohendem Multi-Kulti-Weltbürgerkrieg schwadronieren. So zeigt sich am Fall Bautzen, dass sich 25 Jahre nach dem Pogrom von Hoyerswerda durchaus etwas geändert hat. Selbst eine als liberal gebende Zeitung wie die Zeit beteiligt sich daran, den von Rechten Angegriffenen die Schuld zu geben, und denkt gar nicht daran, die Polizeiversion zu hinterfragen.

Dabei hätten sie dazu nur die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen zur Grundlage nehmen können. So heißt es im letzten Abschnitt des Zeit-Artikels: „Flüchtlinge versammeln sich auch deshalb auf dem Kornmarkt, weil es dort freies WLAN gibt. Ausländerfeindliche Jugendliche versuchten, sie von dort zu vertreiben.“ Was war also die herbeigeredete Provokation und angebliche Schuld der Migranten? Dass sie sie es gewagt haben, sich auf einen zentralen Platz der Stadt zu treffen und dort das W-LAN zu nutzen, um mit ihren Freunden, Bekannten und Verwandten zu kommunizieren.

Für die Rechten ist die pure Existenz der Geflüchteten eine Provokation. Das ist nicht besonders verwunderlich. Zum politischen Skandal wird es aber, wenn die Polizei ihren Teil dazu beiträgt, dass die Rechten bei der Errichtung der national befreien Zone Kornmarkt Erfolg haben und die Geflüchteten quasi in Schutzhaft nimmt. Zum medialen Skandal wird das dann, wenn die Zeit diesem Treiben ihren publizistischen Flankenschutz gibt und nicht mehr von PI-News, Junge Freiheit und Co. zu unterscheiden ist.

25 Jahre nach Hoyerswerda werden die Opfer einer rassistischen Hetzjagd also wieder zu Tätern gestempelt. Darauf hat die Antirassistische Initiative Berlin in einer Presseerklärung[8] hingewiesen:

Alle im Internet veröffentlichten Videos zeigen Angriffe auf Geflüchtete; der Angriff rechter Gewalttäter auf einen Rettungswagen wird von der Polizei bagatellisiert, die Hetzjagd durch die Stadt schlicht ignoriert. Die Kinder und Jugendlichen seien die Täter. Eine Phalanx aus Polizeiführung und Stadtregierung redet sich die geduldeten Pogrome in Bautzen zurecht und macht die Opfer zu Tätern. Ihre absurde Variante bringt es bis in die Tagesschau. Als verlängerter Arm des rechten Mobs verhängt die Stadt eine Ausgangssperre über die Bautzener Geflüchtetenlager, so wird ein Lager zum Knast. Sie inhaftiert Minderjährige täglich ab 19 Uhr. Die minderjährigen Geflüchteten haben es gewagt, sich gegen den rechten Mob zu verteidigen.Antirassistische Initiative Berlin

Antirassistische Initiative Berlin

Blauhelme nach Bautzen

Angesichts dieser Szenen bekommt ein viel strapaziertes Merkel-Bonmot eine ganz neue Bedeutung. In diesen Tagen zeigt sich in Bautzen, dass „wir es schaffen“, Migranten, die sich auf den Bautzener Kornmarkt aufhalten, weil sie das Internet nutzen wollen, zu Tätern zu stempeln und Rechten bei der Errichtung einer nationalbefreiten Zone publizistischen und politischen Flankenschutz geben.

Da mit der Schutzhaft für die Opfer des Rassismus die Menschenrechte der Geflüchteten massiv verletzt werden, sollte über einen Blauhelm-Einsatz in Bautzen nachgedacht werden. Dieser Vorschlag wurde in den 90er Jahren gegen die deutschen Verhältnisse in Anschlag gebracht.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49452/1.html

Anhang

Links

[0]

https://www.youtube.com/watch?v=gtoNotDK5Gk

[1]

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13492516.html

[2]

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/kommentar-zum-rechtsextremismus-in-bautzen-a-1112648.html

[3]

https://www.polizei.sachsen.de/de/MI_2016_44876.htm

[4]

http://www.facebook.com/polizeisachsen.info/videos/546871808848986/

[5]

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-09/bautzen-minderjaehrige-fluechtlinge-alkoholverbot-polizei

[6]

http://www.pi-news.net/2016/09/michael-klonovsky-ueber-bautzen-wuerden-sie-das-tun-wenn-sie-irgendwo-asyl-suchten/

[7]

http://www.berliner-zeitung.de/politik/ob-von-bautzen–stadt-darf-nicht-zum-spielplatz-von-gewaltbereiten-rechten-werden-24748928

[8]

http://www.ari-berlin.org/aktuelles/2016-09-16-pm-bautzen-hoyerswerda.htm